Dr. Margit Berg, Sprachheilpädagogin, Professorin für den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, mehrjährige Erfahrung als Lehrerin und stv. Leiterin einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Sprache.
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ISBN 978-3-497-02755-2 (Print)
ISBN 978-3-497-60469-2 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61004-4 (EPUB)
3., aktualisierte Auflage
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Inhalt
Einleitung
Grundlagen
1 Grammatikerwerb
1.1 Der ungestörte Grammatikerwerb in der frühen Kindheit
1.2 Die Weiterentwicklung grammatischer Fähigkeiten
1.3 Störungen des Grammatikerwerbs
1.4 Bedingungsfaktoren grammatischer Störungen
2 Einführung in das Therapiekonzept „Kontextoptimierung“
2.1 Kontextoptimierung als integratives Konzept
2.1.1 Gegenüberstellung mit dem Pattern Practice
2.1.2 Gegenüberstellung mit dem entwicklungsproximalen Ansatz
2.1.3 Gegenüberstellung mit reflexionsorientierten Vorgehensweisen
2.2 Prinzipien der Kontextoptimierung
2.3 Lehrersprache
2.4 Umsetzung des kontextoptimierten Vorgehens: Spiel zur Gruppenbildung
3 Therapieintegrierender Unterricht
3.1 Aufgabe der sprachheilpädagogischen Förderung im schulischen Kontext
3.2 Überlegungen zur Vorbereitung des therapieintegrierenden Unterrichts
3.3 Sozialformen im therapieintegrierenden Unterricht
3.4 Unterrichtsentwurf und Strukturskizze für den therapieintegrierenden Unterricht
3.5 Effektivität des therapieintegrierenden Unterrichts
Praxisbausteine*
4 Anpassung einfacher Spielformate an verschiedene Zielstrukturen
4.1 Grundsätzliche Überlegungen
4.2 Verdecktes Bauen
Akkusativmarkierung am bestimmten Artikel (mit Genusvariation)
Akkusativmarkierung am bestimmten Artikel und am Adjektiv
Dativmarkierung des Artikels in der Präpositionalphrase
Kontrastierung von Akkusativ und Dativ
4.3 Greifsack
Subjekt-Verb-Kongruenz und Verbzweitstellung
Akkusativmarkierung am bestimmten Artikel
Akkusativmarkierung am bestimmten Artikel und am Adjektiv
Komplexe Syntax (Kausalsätze)
4.4 Geschicklichkeits- und Fangspiele
4.4.1 „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?“
Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung im Hauptsatz
Dativmarkierung
4.4.2 Kegeln, Rollen, Werfen
Akkusativmarkierung am maskulinen Artikel
Dativmarkierung in Verbindung mit der Präposition „mit“
Dativmarkierung in Verbindung mit der Präposition „in“
4.5 Umgestaltung einfacher Regelspiele für den therapieintegrierenden Unterricht
4.5.1 Lesespiele
Subjekt-Verb-Kongruenz
Komplexe Syntax
4.5.2 Der große Preis
Akkusativ (ohne Genusvariation)
4.5.3 Nanu?
Dativ
4.5.4 Schwarzer Peter
Komplexe Syntax (Kausalsätze)
4.5.5 Stuhlkreisspiele
Komplexe Syntax (Relativ- und Konditionalsätze)
4.5.6 Sprachspiele
Komplexe Syntax (Inhaltssätze)
* (Sprachtherapeutische Ziele sind jeweils kursiv angegeben.)
4.6 Spielideen für die Sekundarstufe I
4.6.1 Wer bin ich?
Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung im Hauptsatz
4.6.2 Wo steckt Herr Rot?
Dativ
4.6.3 Finde jemanden!
Komplexe Syntax (Relativsätze)
5 Rahmenthemen
5.1 Das verliebte -st
Subjekt-Verb-Kongruenz
5.2 Klassenregeln und -ämter
Verbzweitstellung mit Verbtrennung
5.3 Sortieren und Klassifizieren
Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung im Hauptsatz
Akkusativmarkierung
Komplexe Syntax
5.4 Schlümpfe
Komplexe Syntax (Einführung der Relativsätze)
5.4.1 Schlumpfplakat
5.4.2 Schlumpf-Quiz
5.4.3 Rollenspiele
6 Märchen und Bilderbücher
6.1 „Es klopft bei Wanja in der Nacht“ (T. Michels/R. Michl)
Subjekt-Verb-Kongruenz
Verbzweitstellung
6.2 „Die Bremer Stadtmusikanten“ (Gebrüder Grimm)
Akkusativ mit Genusvariation
6.3 „Wo ist Friedo?“ (S. Smith)
Dativmarkierung
6.4 „Peter und der Wolf“ (S. Prokofjew)
Dativ mit Genusvariation
6.5 „Hans im Glück“ (Gebrüder Grimm)
Kontrastierung von Akkusativ und Dativ
6.6 „Hans Magnus Deubelbeiss – der Junge, der immer zu spät kam“ (J. Burningham)
Komplexe Syntax (Kausalsätze)
6.7 „Pezzettino“ (L. Lionni)
Komplexe Syntax (Relativsätze mit Beachtung der Kasuszuweisung)
6.8 „Warum?“ (L. Camp/T. Ross)
Komplexe Syntax (Kausalsätze)
7 Lieder und Gedichte
7.1 „Das große, kecke Zeitungsblatt“ (J. Guggenmos)
Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung
7.2 „Mein Wagen hat vier Räder“
Verbzweitstellung
7.3 „Es war eine Mutter …“ (Verfasser unbekannt)
Akkusativmarkierung
7.4 „Der Katzentatzentanz“ (F. Vahle)
Dativ
7.5 „Alles Banane!“ (U. M. Kindel)
Komplexe Syntax
7.6 „Alle Kinder lernen lesen“ (W. Topsch)
Komplexe Syntax
8 Unterrichtseinheiten
8.1 Obst
Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbzweitstellung
8.1.1 Tast- und Riechspiel
8.1.2 Obstsalat
8.2 Wasser
Subjekt-Verb-Kongruenz
Verbzweitstellung
8.3 Vögel im Winter
Akkusativ
8.3.1 Arbeit mit Klammerkarten
8.3.2 Zuordnung von Vogelfutter
8.3.3 Herstellen einer Futterglocke
8.3.4 Merkspiel: Futtersuche
8.4 Mittelalterliche Burg
Akkusativ ohne Genusvariation
8.4.1 Kim-Spiel mit Bildkarten
8.4.2 Zielpusten
8.4.3 Quartett
8.5 Jahreskreis und Kalender
Dativ
8.6 Farben
Komplexe Syntax (Konditionalsätze)
8.7 Wald
8.7.1 Planung eines Waldprojekts
Komplexe Syntax (indirekte Fragen)
8.7.2 Ratespiel in Partnerarbeit
Komplexe Syntax (indirekte Fragen)
8.7.3 Suchaufträge für die Walderkundung
Komplexe Syntax (Relativsätze)
8.7.4 Wahrnehmungsspiel im Wald
Komplexe Syntax (dass-Sätze)
8.7.5 Arbeitsblatt zur Ergebnissicherung
Komplexe Syntax (Kausalsätze)
8.7.6 Der Ja-Nein-Stuhl
Komplexe Syntax (dass-Sätze)
8.8 Zähne
Komplexe Syntax (Relativsätze)
Komplexe Syntax (Konjunktionalsätze)
Ausblick
Literatur
Quellennachweis
Sachregister
Einleitung
Kinder mit Spracherwerbsstörungen stellen den größten Anteil der Gesamtgruppe derjenigen Schüler dar, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Schwerpunkt „Sprache“ aufweisen. Im Laufe der kindlichen Entwicklung verschiebt sich in der Regel der Schwerpunkt des Erscheinungsbildes der Spracherwerbsstörung: Zunächst im Vordergrund stehende, markant ins Auge fallende Ausspracheprobleme werden erfahrungsgemäß zumeist mittels geeigneter therapeutischer Bemühungen überwunden. Auch fortbestehende Einschränkungen im semantisch-lexikalischen Bereich treten weniger offensichtlich zu Tage. Schwierigkeiten bezüglich der Grammatik werden dagegen im Schulalter immer deutlicher zum dominierenden Kennzeichen der Spracherwerbsstörung der betroffenen Kinder.
Die seit langem bekannte Brisanz eingeschränkter Sprachkompetenzen bei Kindern und Jugendlichen wurde in den letzten Jahren in groß angelegten Untersuchungen zum Lernerfolg von Schülern (so z. B. in der PISAStudie) erneut deutlich. Unterschiedliche Disziplinen wie beispielsweise die Linguistik, die Psychologie, die Sprachheilpädagogik und die Medizin lieferten neue Beiträge zum Themenkreis der grammatischen Störungen. Vor diesem Hintergrund wuchs das Interesse sowohl an der Therapie grammatischer Störungen als auch an der Möglichkeit, grammatisches Lernen im Rahmen des Unterrichts anzuregen und zu fördern. So stehen Sprachheillehrer, die sich dem Auftrag der Grammatikförderung stellen wollen, vor der Frage, wie die Ergebnisse der Grundlagenforschung in ein konkretes therapeutisches und unterrichtliches Handeln eingehen und zu einer effektiven Förderung beitragen können.
Das von H.-J. Motsch entwickelte Konzept der „Kontextoptimierung“ (2017) stellt eine geeignete und inzwischen umfangreich evaluierte Methode zur Förderung des grammatischen Lernens bei Kindern mit Spracherwerbsstörung dar. Von vornherein wurden bei der Konzeptentwicklung zwei Ziele verfolgt: zum einen die Steigerung und Beschleunigung der Therapieeffektivität, zum anderen die Integration gezielter sprachtherapeutischer Maßnahmen in den Unterricht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Anliegen der Kontextoptimierung von anderen Therapieansätzen, die sich ausschließlich auf die Gestaltung von Einzel- oder Gruppentherapiestunden beziehen und aus deren Perspektive die Grammatikförderung im Rahmen des Unterrichts skeptisch zu beurteilen oder gar ausgeschlossen ist. So war die Kontextoptimierung in doppelter Hinsicht herausgefordert: Denn es galt nicht nur, im Interesse der Kinder generell die Effektivität des kontextoptimierten Vorgehens zu überprüfen, sondern auch und speziell den Beitrag zu untersuchen, den der Unterricht dabei zu leisten vermag. Inzwischen liegen für das Handlungsfeld des kontextoptimierten Unterrichts Belege signifikanter Lernfortschritte spracherwerbsgestörter Kinder im Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz und Verbzweitstellung (Motsch/Schmidt 2009), des Kasussystems (Motsch/Riehemann 2008) und des Nebensatzerwerbs (Motsch/Berg 2003; Berg 2007; Motsch/Seiffert 2008) vor. Die Studien umfassen das Altersspektrum vom Vorschulalter über die Grundschulzeit bis in die Sekundarstufe und zeigen damit auch, dass kontextoptimierte Unterrichtsphasen an den unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsstand angepasst sowie mit ganz unterschiedlichen Unterrichtsinhalten verknüpft werden können.
Kennzeichnend für den Ansatz der Kontextoptimierung ist die bewusste Gestaltung der plan- und veränderbaren Aspekte der therapeutischen und unterrichtlichen Kontexte. Diese bestehen
■ in der Auswahl des Sprachmaterials,
■ in einer gezielten Gestaltung der Therapie- oder Unterrichtssituation, in der das Sprachmaterial in seiner Funktion erlebt werden kann,
■ in der besonderen Sprechweise des Therapeuten oder des Lehrers und
■ im Angebot und Einsatz von Hilfen, die die Entdeckung und Anwendung der grammatischen Zielstruktur erleichtern und unterstützen (Motsch 2017, 109).
Ein sogenannter „Kick-Off“ (Motsch 2017) am Anfang der Arbeit an einem neuen grammatischen Förderziel lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder auf die relevante sprachliche Form. Darauf aufbauend folgt die Planung der kontextoptimierten Phasen systematischen Aufbaukriterien und ist gekennzeichnet durch die grundlegenden Prinzipien des Wechsels zwischen der Rezeption, der Produktion und der Reflexion der grammatischen Zielstruktur (Modalitätenwechsel), der Orientierung am Bedingungsgefüge der Spracherwerbsstörung (Ursachenorientierung) sowie dem Aufgreifen der kindlichen Fähigkeiten, Interessen und Stärken (Ressourcenorientierung). Diese Pfeiler der Kontextoptimierung bilden den Rahmen, in dem nicht nur Therapiestunden, sondern auch kontextoptimierte Unterrichtsphasen geplant werden.
Das vorliegende Buch richtet sich vor allem an Praktiker: an Lehrer, die die Grammatikförderung im Unterricht intensivieren und effektiver gestalten wollen, und an Studierende, die sich auf die Aufgabe der spezifischen Unterrichtsgestaltung für Kinder mit Spracherwerbsstörungen vorbereiten. So bildet eine umfangreiche Sammlung von Beispielen des kontextoptimierten Unterrichts das Zentrum des Buches. Damit ist keineswegs impliziert, dass Therapiestunden als überflüssig erachtet werden – im Gegenteil: Die effektivste Form der Förderung ist in der Kombination von Individualtherapie und therapieintegrierendem Unterricht zu sehen. Obgleich die Einzeltherapie also eine unverzichtbare Organisationsform in der Förderung von Kindern mit Spracherwerbsstörungen darstellt, konzentriert sich dieses Buch bewusst auf die Darstellung von Praxisbeispielen für den Unterricht. Denn gerade in diesem Bereich fühlen sich Sprachheillehrer häufig allein gelassen. Sie stehen vor der Anforderung, therapeutische Aspekte in den Unterricht einzubeziehen, finden jedoch dazu kaum konkrete Anregungen in der Fachliteratur, die sich größtenteils auf die – wichtige – Grundlagenforschung beschränkt.
Die Gefahr, dass dieses Buch zu einer rezeptartigen Anwendung der dargestellten Unterrichtsbeispiele verleitet, erscheint unbegründet. Schulpraktikern ist es durchaus zuzutrauen, diese zu reflektieren und sie gegebenenfalls den spezifischen Bedingungen der eigenen Klasse entsprechend umzugestalten! Gerade konkrete Beispiele regen häufig auch dazu an, selbst neue Ideen zu entwickeln, wie theoretische Anforderungen im Unterrichtsalltag ihre praktische Realisierung finden könnten.
Um für diese kreative Arbeit eine solide Grundlage zu schaffen, wird den Praxisbeispielen eine Einführung in den normal verlaufenden und den gestörten Grammatikerwerb, in das Therapiekonzept „Kontextoptimierung“ (Motsch 2017) und in den therapieintegrierenden Unterricht vorangestellt.
So will das Buch Sprachheillehrer in ihrer Unterrichtsarbeit und im Bemühen um die bestmögliche Förderung ihrer spracherwerbsgestörten Schüler unterstützen, Anregungen für die konkrete Gestaltung des therapieintegrierenden Unterrichts bieten und zur Entwicklung eigener kontextoptimierter Unterrichtsphasen anregen und ermutigen. Die Effektivitätsstudien zeigen: Es lohnt sich!
Im Hinblick auf einen besseren Lesefluss sind personenbezogene Bezeichnungen in männlicher Form dargestellt, meinen aber in gleicher Weise beide Geschlechter.
Einige Kopiervorlagen stehen zum Download auf der Website des Ernst Reinhardt Verlags zur Verfügung (www.reinhardtverlag.de) und sind über die Schnellsuche mit dem Suchbegriff „Berg“ rasch zu finden. Diese Kopiervorlagen sind im Buch mit dem Symbol „Computermaus“ gekennzeichnet. |
1 Grammatikerwerb
1.1 Der ungestörte Grammatikerwerb in der frühen Kindheit
Schon in den ersten Lebensjahren erwerben Kinder in einem erstaunlich kurzen Zeitraum grundlegende kommunikative, phonetisch-phonologische und semantisch-lexikalische Fähigkeiten. Auf grammatischer Ebene entdecken, verstehen und verwenden sie nach und nach die wichtigsten morphologischen und syntaktischen Strukturen ihrer Erstsprache. Das erste Auftauchen grammatischer Formen ist jedoch keineswegs mit dem vollständigen Erwerb der zu Grunde liegenden Regeln gleichzusetzen. Die Ergebnisse der GED-Studie (Ulrich et al. 2016; Motsch 2017), in der der Grammatikerwerb sprachunauffälliger Kinder im Alter von vier bis neun Jahren untersucht wurde, verweist hingegen auf einen mehrjährigen Verlauf von der ersten Verwendung einer grammatischen Struktur bis zu deren abgeschlossenen Erwerb. Dieser wird erst bei einem Niveau von 90 % korrekter Produktion angenommen.
Clahsen (1986) hat in seinem Phasenmodell den eindrucksvollen grammatischen Entwicklungsverlauf in den ersten 3;6 Lebensjahren beschrieben. Seinen Angaben liegt das jeweilige beobachtete erste Auftauchen der grammatischen Formen zu Grunde, das also nicht mit dem Erwerb der Regel gleichgesetzt werden darf.
Während in Bezug auf die Altersangaben durchaus Abweichungen zu beobachten sind und die Geschwindigkeit variiert, ist doch festzustellen, dass die einzelnen Entwicklungsschritte von Kindern mit ungestörtem Spracherwerb tatsächlich in der von Clahsen beschriebenen Reihenfolge durchlaufen werden. Damit bietet das Modell eine geeignete Basis für die Analyse und Beschreibung der individuellen grammatischen Fähigkeiten. Zur Ableitung eines Therapiebedarfs muss ergänzend jedoch in den Blick genommen werden, in welchem Alter ein vollständiger Erwerb der jeweiligen grammatischen Regel zu erwarten wäre. Hierzu bieten die Ergebnisse der GED 4–9 Studie die erforderliche Orientierung (Motsch 2017).
Die wesentlichsten Entwicklungsschritte in Bezug auf die beginnende Verwendung morphologischer und syntaktischer Formen lassen sich wie folgt skizzieren:
Phase I (etwa 1;6 Jahre) hat eine Vorläuferfunktion für das Erlernen der Syntax und ist durch Einwortäußerungen gekennzeichnet. Es werden noch keine morphologischen Veränderungen der Wörter vorgenommen. Gegen Ende dieser Phase tauchen erste Reduplikationen oder Kombinationen von Einwortäußerungen mit Intonationseinschnitten auf.
In Phase II (etwa 2 Jahre) wird das syntaktische Prinzip entdeckt: Die Kinder kombinieren Wörter zu Zweiwortäußerungen mit variabler Wortstellung („Da Papa!“, „Papa da!“). Ist allerdings eines der Wörter ein Verb, so wird dieses bevorzugt an das Ende der Äußerung gestellt („Mama komm“). Zusammengesetzte verbale Elemente werden als Einheit behandelt und nicht getrennt. Morphologische Veränderungen der Wörter treten noch nicht auf: Verben erscheinen in der Infinitiv- oder Stammform. Ein gelegentliches Auftauchen der -t-Endung am Verb ist nicht als Entdeckung der 3. Person Singular zu bewerten, da es allenfalls unsystematisch genutzt wird. Vollkommen entwicklungsnormal ist in dieser Phase das Fehlen obligatorischer Satzglieder.
In Phase III (2;6 Jahre) sind dann bereits Vorläufer der einzelsprachlichen Grammatik zu beobachten. Die Kinder erweitern ihre Aussagen zu Mehrwortäußerungen, in denen die Auslassung obligatorischer Satzelemente jedoch nach wie vor phasennormal ist. Die ersten Hilfsverben werden verwendet. Einfache Verben nehmen zwar gelegentlich schon die Zweitposition im Satz ein, bevorzugt wird jedoch eindeutig die Endstellung des Verbs („Tine Auto malt“). Auch Verben mit Halbpräfixen finden sich zumeist als ungetrennte Einheit am Satzende („Da Band abschneiden.“). Infinitiv- und Stammformen der Verben kommen immer noch ausgesprochen häufig vor. Daneben werden nun jedoch die -t-Endung als Markierung der 3. Person Singular und die -e-Endung zur Kennzeichnung der 1. Person Singular genutzt und bisweilen übergeneralisiert, indem sie auch auf andere Personen angewandt werden.
Beeindruckende Entwicklungsschritte sowohl in der Syntax als auch in der Morphologie kennzeichnen die Phase IV (3;0 Jahre), in der einzelsprachliche syntaktische Besonderheiten entdeckt werden. Zunächst fällt auf, dass die Sätze vollständiger werden: Die Subjektauslassungen gehen rapide zurück, die Auslassungen anderer Wörter allmählich. Die Kinder verwenden mit der Verbzweitposition (V2) die zentrale syntaktische Regel des deutschen Hauptsatzes. Dabei muss keineswegs das Subjekt den Anfang des Satzes bilden. Diesen Platz können auch andere Konstituenten des Satzes (z. B. Objekte, Adverben, Fragewörter) einnehmen, die – in Abgrenzung von Subjekt (S) und Verb (V) – im Folgenden zusammenfassend als X gekennzeichnet werden. So gelingt häufig in dieser Phase die Verbzweitstellung nicht nur in einfachen SVX-Sätzen („Tine malt eine Blume.“), sondern auch in Sätzen, in denen das Subjekt nicht die Erstposition einnimmt, so dass eine Subjekt-Verb-Inversion (XVS) erforderlich wird, um das Verb in der Zweitstellung zu belassen. Dies betrifft Fragesätze („Was machst du?“), Sätze mit einer Voranstellung des Objekts (der so genannten Objekt-Topikalisierung: „Mehr Saft will ich!“) und Sätze mit vorangestellten Adverben („Da ist mein Teddy!“).
In Sätzen, die Verben mit Halbpräfixen enthalten, nehmen die Kinder bereits die erforderliche Trennung des Verbs vor („Tim malt die Wand an.“). Ebenso gelingt die Bildung von Sätzen mit mehrteiliger Verbalphrase, bei denen nur das finite Verbelement die Zweitposition besetzt, das infinite hingegen am Satzende steht („Ich will noch Kekse essen!“).
Neben diesen anspruchsvollen syntaktischen Merkmalen werden nun auch wichtige morphologische Markierungen vorgenommen. Der Grundsatz, dass die Verbform sich am Subjekt orientiert und an dieses anzupassen ist (Subjekt-Verb-Kongruenz/SVK), wird entdeckt und in vielen Sätzen korrekt angewandt. Als letzte Form tritt dabei die-st-Endung für die Markierung der 2. Person Singular auf, die damit auch diagnostisch besonders interessant ist. Auch Vergangenheitsformen sowie Partizipien werden bereits gebildet und weisen dabei gelegentlich phasennormale Übergeneralisierungen auf („Ich habe getrinkt“, „Teddy schlafte“).
Bei den Nomen steigt der Anteil korrekter Pluralformen allmählich an; es finden sich jedoch ebenfalls noch Übergeneralisierungen („Apfels“). Die Genusmarkierung ist hingegen im Nominativ nun schon häufig korrekt. Die Kinder formen schon Sätze mit Akkusativ- oder Dativkontexten. Eine morphologische Markierung des Kasus wird jedoch zunächst noch nicht vorgenommen. Stattdessen ist zu beobachten, dass der (eigentlich zu markierende) Artikel ganz ausgelassen wird („Ich esse Apfel“) oder eine Übergeneralisierung des Nominativs erfolgt („Ich esse der Apfel“).
In Phase V (3;6 Jahre) ist nicht nur eine Zunahme der Äußerungslänge zu beobachten, sondern auch die Verwendung einer stetig komplexer werdenden Syntax. Zunächst verbinden die Kinder zwei Hauptsätze durch „und“ sowie „oder“ zu Satzreihen. Bald darauf werden die ersten Satz gefüge aus Haupt- und Nebensatz produziert. Die ersten Konjunktionen werden erworben und als einleitendes Element des Nebensatzes genutzt. Übergeneralisierungen der Konjunktionen sind in diesem Alter als entwicklungsnormal anzusehen und deuten auf den Versuch des Kindes hin, mit seinen noch eingeschränkten lexikalischen Kompetenzen komplexe Inhalte auszudrücken. Zu den frühesten Nebensätzen zählen die Kausal- und Finalsätze, daneben finden sich erste Temporalsätze.
Im Bereich der Kasusmorphologie beginnt die morphologische Markierung des Akkusativs („Ich esse den Apfel“). Diese wird typischerweise zunächst auch auf Dativkontexte übergeneralisiert („mit den Hund“). Im Anschluss an dieses Übergangsphänomen steigt schließlich auch die Fähigkeit zur korrekten Dativmarkierung („mit dem Hund“). Die Sicherheit in der Zuweisung und Markierung des korrekten Kasus nimmt stetig zu.
Vor allem für die in Phase V beschriebenen Entwicklungsschritte liegen allerdings auch Untersuchungen vor, die auf ein abweichendes Erwerbs alter verweisen. So ist der Beginn der Nebensatzproduktion offenbar schon bei deutlich jüngeren Kindern zu beobachten (Berg 2007, 41 ff). Der Dativerwerb scheint hingegen auch vielen älteren Kindern noch Schwierigkeiten zu bereiten (Motsch/Riehemann 2008).
Neben der beschriebenen Entwicklung der grammatischen Fähigkeiten im Bereich der Sprachproduktion machen die spracherwerbenden Kinder aber auch Fortschritte in ihrer Verständnisfähigkeit (Hachul/Schönauer-Schneider 2012). So müssen die Kinder die früh eingesetzte Strategie, Sätze inhaltlich ausschließlich mit Hilfe einiger Schlüsselwörter zu interpretieren, aufgeben und zunehmend morphologische und syntaktische Merkmale als Mittel des Sprachverständnisses nutzen. Nur das Beherrschen des Kasussystems ermöglicht ihnen, etwa die Sätze „Der Kater jagt die Maus“ und „Den Kater jagt die Maus“ inhaltlich korrekt zu entschlüsseln. Das bereitet in der frühen Kindheit aufgrund der noch fehlenden linguistischen Kompetenzen zunächst Schwierigkeiten. Im frühen Vorschulalter orientieren die Kinder sich stark an der Äußerungsreihenfolge und gehen davon aus, dass der Handelnde jeweils zuerst genannt wird. Folglich interpretieren sie ein vorangestelltes Objekt als Subjekt. Im späteren Vorschulalter gehen die Kinder dann dazu über, Sätze auf der Grundlage ihres Weltwissens so zu interpretieren, wie es nach ihren bisherigen Erfahrungen wahrscheinlicher, logischer und sinnvoller ist. Beide Strategien führen jedoch bei dem Beispielsatz „Den Kater jagt die Maus“ nicht zum korrekten Verständnis. Hierzu bedarf es vielmehr der Fähigkeit, das kasusmarkierende Morphem –n am Artikel zur Satz interpretation zu nutzen.
Bei anspruchsvolleren Verständnisaufgaben wie dem Dekodieren von Temporalsätzen („Bevor ihr in die Pause geht, müssen wir noch aufräumen!“) nehmen die Kinder zum Teil sogar bis ins Grundschulalter hinein an, dass die im ersten Teilsatz genannte Handlung auch zeitlich zuerst erfolgt, und bedienen sich bei derartigen komplexen Sätzen noch über einen längeren Zeitraum hinweg einer Äußerungsreihenfolge-Strategie.
Generell geht das Verständnis einer grammatischen Struktur der eigenen produktiven Verwendung voraus – eine Tatsache, die sowohl von diagnostischem als auch von therapeutischem Interesse ist.
1.2 Die Weiterentwicklung grammatischer Fähigkeiten
Zweifellos sind die ersten vier Lebensjahre hinsichtlich der sprachlichen Entwicklungsschritte bedeutsam. Dennoch schließen die Kinder ihren Grammatikerwerb in diesem Zeitraum keineswegs ab. Bis ins Schulalter, ja sogar bis ins Jugendalter hinein bauen sie ihre morphologisch-syntaktischen Kompetenzen aus und passen damit ihre sprachlichen Fähigkeiten immer besser an die wachsenden kommunikativen Anforderungen an. Das ermöglicht es ihnen, auch komplexer werdende Inhalte zunehmend differenziert auszudrücken und ihre Sprachproduktion flexibel und kreativ zu gestalten. Tatsächlich schließen relativ viele Kinder aber auch den Erwerb der schon früh beobachtbaren grammatischen Formen erst im Grundschulalter mit einem Korrektheitsniveau von 90 % ab: Die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel wurde in der GED-Studie (Motsch 2017) erst im Alter von 7;0–7;11 Jahren von mehr als 85 % der Kinder beherrscht, die Verbzweitstellungsregel sogar erst im Alter von 8;0–8;11 Jahren. Noch länger zieht sich der endgültige Erwerb der Verbendstellungsregel im Nebensatz hin, der erst bei 75 % der achtjährigen Kinder nachzuweisen war, sowie insbesondere des Kasus, den nur etwa zwei Drittel der Achtjährigen auf dem Niveau einer 90 %-igen Korrektheit erworben hatten (Ulrich et al. 2016). Gelegentliche grammatische Fehlbildungen treten also auch bei sprachunauffälligen Kindern durchaus noch im Schulalter auf. Die Informationsdichte in den kindlichen Äußerungen steigt (Dannenbauer 2002b, 12), und es gelingt ihnen zunehmend, die Ausdrucksweise an die Gesprächssituation und den Kommunikationspartner anzupassen. Die Äußerungslänge steigt weiterhin, und mit dem wachsenden lexikalischen Bestand an Konjunktionen geht eine Erweiterung der Nebensatztypen einher, die zu einer häufigeren Verwendung komplexer Satzformen führt. So gibt Loban (1976) an, dass bei den untersuchten Neunjährigen in jedem fünften Satz Nebensätze vorkommen, bei Schülern der 12. Klasse sogar in jedem zweiten bis dritten Satz.
Mit dem Einstieg in den Schriftspracherwerb verändert sich im Schulalter aber auch die Art des Grammatikerwerbs: Als neue Aufgabe kommt nun die korrekte Verwendung morphologischer und syntaktischer Regeln in der Schriftsprache auf die Kinder zu. Das betrifft sowohl das Nutzen des grammatischen Wissens beim Lesen, insbesondere beim Satz- und Textverständnis, als auch die eigene schriftsprachliche Produktion, beispielsweise in Aufsätzen. Zugleich führt aber die Begegnung mit der Schrift zu einer deutlichen Weiterentwicklung im metasprachlichen Bereich, da sie eine ausdrückliche und bewusste Auseinandersetzung mit der Sprache mit sich bringt: Sprache wird zum Gegenstand der Reflexion und des Gesprächs selbst. Es ist anzunehmen, dass das wachsende Sprachbewusstsein sich auch auf den weiteren Grammatikerwerb auswirkt und so auf andere Weise als in den ersten Lebensjahren eine Regeleinsicht ermöglicht. Damit wird der ungesteuerte Spracherwerb der frühen Kindheit durch einen sprachbewussten Zugang ergänzt.
Nicht nur die durch den Schriftspracherwerb angestoßene metasprachliche Weiterentwicklung, sondern auch die Schriftsprache selbst beeinflusst den Spracherwerb der Schul- und Jugendzeit. Gerade komplexere sprachliche Strukturen kommen in schriftsprachlichen Texten häufiger vor als in der gesprochenen Sprache. Die Schrift wird damit zu einem wichtigen Medium und Motor des Spracherwerbs. Gegenüber der gesprochenen Sprache weist die geschriebene zwei für den Spracherwerb wesentliche Merkmale auf, die insbesondere für Kinder mit Einschränkungen in der auditiven Differenzierungs-, Verarbeitungs- und Speicherfähigkeit eine Kompensationsmöglichkeit eröffnen:
■ Anders als die auditiv zu verarbeitende gesprochene Sprache wird die Schrift über den visuellen Kanal aufgenommen und verarbeitet.
■ Im Gegensatz zum flüchtigen Eindruck der gesprochenen Sprache hat die Schrift einen bleibenden Charakter und steht der Verarbeitung und Reflexion für einen längeren Zeitraum zur Verfügung.
Die Tatsache, dass die grammatischen Fähigkeiten – aber auch die entsprechenden Anforderungen – sich bis weit in die Schulzeit hinein weiterentwickeln, ist auch im Hinblick auf therapeutische Aspekte relevant. Vor diesem Hintergrund muss eine Reduktion der Therapieziele auf die Fähigkeiten der ersten Lebensjahre als unzureichend angesehen werden. Ein zu früher Therapieabbruch birgt das Risiko, dass spracherwerbsgestörte Kinder nicht die Fähigkeiten ausbilden, die zur Bewältigung der im Schul-, Jugend- und Erwachsenenalter steigenden kognitiven, sozialen und kommunikativen Anforderungen benötigt werden. Auch die Beobachtung lang anhaltender, vielleicht sogar dauerhafter sprachlicher Rückstände sind möglicherweise durch eine zu kurze Therapiedauer, eine zu geringe Therapieintensität oder ein nicht geeignetes therapeutisches Vorgehen mitbegründet.
1.3 Störungen des Grammatikerwerbs
Grammatische Störungen im Rahmen einer spezifischen Spracherwerbsstörung treten bei etwa 6–8 % der Kinder eines Jahrgangs auf. Viel auffälliger als Schwierigkeiten beim Grammatikerwerb sind in den ersten Lebensjahren jedoch andere sprachliche Probleme.
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Die Mutter von Tim (4 Jahre) berichtet: „Tim war schon anderthalb Jahre alt, als er die ersten Wörter gesprochen hat, und dann hat er lange Zeit auch nur ganz wenige Wörter benutzt. Bis er drei Jahre alt war, hat er noch gar keine Sätze gesprochen. Im Kindergarten verstehen die anderen Kinder ihn oft gar nicht, weil er so vieles noch falsch ausspricht. Jetzt spricht er ja schon Sätze, aber ich habe das Gefühl, dass er sich richtig abmühen muss. Wir haben gerade eine Baustelle vor dem Haus, und Tim ist ganz begeistert davon und will immer davon erzählen. Aber irgendwie ist er dabei ganz unbeholfen – das klingt manchmal ganz verdreht.“
Was Tims Mutter in diesem Beispiel schildert, ist typisch für den Verlauf einer Spracherwerbsstörung. Spezifisch spracherwerbsgestörte Kinder zählen zumeist zur Gruppe der sogenannten „Late talker“, die im Alter von zwei Jahren einen Wortschatz von weniger als 50 Wörtern haben und noch keine Wortkombinationen bilden. Vergleicht man dies mit der normalen kindlichen Entwicklung, liegt also eine deutliche Verzögerung beim Eintritt in die Phasen I und II des Grammatikerwerbs vor. Die grammatische Störung steht jedoch noch nicht im Vordergrund: Auffälliger sind zunächst die Probleme in der Erweiterung, Differenzierung und Strukturierung des Lexikons sowie Aussprachestörungen, die auf einen verlangsamten und erschwerten Erwerb des phonologischen Systems zurückzuführen sind. Da morphologische Veränderungen von Wörtern in diesen Phasen auch im ungestörten Spracherwerb noch nicht vorgenommen werden, sind diesbezügliche Probleme hier noch nicht zu beobachten. So wird diese Phase treffend als das „prädysgrammatische Stadium“ (Dannenbauer 2002a) bezeichnet.
Kinder mit Störungen des Grammatikerwerbs treten jedoch nicht etwa lediglich verspätet in den Spracherwerb ein, sondern erwerben auch die weiteren und nun komplexer werdenden jeweiligen phasenspezifischen Fähigkeiten verlangsamt und mühsam. Das Erscheinungsbild der grammatischen Störung ist dabei individuell unterschiedlich ausgeformt, umfasst aber typischerweise sowohl morphologische als auch syntaktische Aspekte. Gemeinsam ist Kindern mit spezifischen Spracherwerbsstörungen auch, dass ihnen die geeigneten sprachlichen Ausdrucksmittel für die Verwirklichung ihrer altersentsprechenden Kommunikationsabsichten nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Dies trägt zum Eindruck einer „unbeholfenen“ Sprache bei, die den Eltern häufig schon auffällt, bevor ihre Aufmerksamkeit sich im engeren Sinne auf die Grammatik richtet.
Auffällig und unüberhörbar werden die Schwierigkeiten auf der morphologisch-syntaktischen Ebene mit dem Eintritt in die Phase IV. So bereitet im dysgrammatischen Stadium der Erwerb der Verb-Zweitstellungsregel im Aussagesatz große Probleme: Spracherwerbsgestörte Kinder setzen weit über das normale Entwicklungsalter hinaus das Verb bevorzugt an das Satzende. Anders als im ungestörten Spracherwerb gilt dies oft auch dann, wenn bereits finite Verbformen gebildet werden. Obligatorische Satzglieder und in besonderem Maße Funktionswörter werden lange Zeit ganz ausgelassen, sodass viele Sätze unvollständig bleiben.
Der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz und anderer Kongruenzphänomene fällt spracherwerbsgestörten Kindern extrem schwer und wird zumeist nur mit einer mehrjährigen Verzögerung bewältigt. Damit stellen die Erwerbsschritte der Phase IV insgesamt hohe Anforderungen an spracherwerbsgestörte Kinder, die sie nur langsam, mühevoll und in vielen Fällen erst mit spezieller therapeutischer Unterstützung meistern. Dies ist dann häufig auch der Zeitpunkt, zu dem das Vorliegen einer grammatischen Störung bemerkt und diagnostiziert wird, obgleich in den früheren Entwicklungsphasen bereits Auffälligkeiten vorlagen.
Deutlich erschwert ist im Rahmen einer grammatischen Störung auch der Erwerb des Kasussystems. Nebensätze werden nicht nur später erworben, sondern auch deutlich seltener produziert als im ungestörten Spracherwerb. Im Gegensatz zur normalen Grammatikentwicklung treten bei einem Teil der spracherwerbsgestörten Kinder Verbstellungsfehler im subordinierten Nebensatz auf (Berg 2007). Hier wird das Verb also nicht wie erforderlich am Satzende positioniert.
Die Sprachproduktionen grammatisch gestörter Kinder entsprechen dabei nicht einfach den Äußerungen jüngerer Kinder, denn der Grammatikerwerb nimmt vielfach einen unausbalancierten Verlauf. Da nicht alle morphologischen und syntaktischen Strukturen in gleicher Weise betroffen sind, können etwa einzelne sprachliche Fähigkeiten schon der Phase IV oder V entsprechen, andere jedoch auf dem Stand der Phase III stagnieren.
Insgesamt besteht eine deutliche Tendenz zur Verwendung einfacher und im Spracherwerb früh anzusetzender grammatischer Strukturen. Dies gilt häufig auch dann noch, wenn anspruchsvollere Formen durchaus schon erworben wurden, und schlägt sich in der geringen sprachlichen Kreativität und Flexibilität nieder, die bei vielen grammatisch gestörten Kindern noch im Schul- und Jugendalter festzustellen sind.
Allerdings werden Störungen des Grammatikerwerbs in der Regel im Laufe der Schulzeit unauffälliger. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das erreichte Sprachniveau in vielen Fällen bei genauerer Überprüfung auch im Jugendalter unterhalb der altersnormalen Entwicklung liegt und dass Auswirkungen der Störung auf schriftsprachliche Kompetenzen, auf Lernprozesse und schulischen Erfolg sowie auf das Selbstbild und das Sozialverhalten zu befürchten sind.
Diese Beobachtung verdeutlicht eindrücklich die Notwendigkeit einer gezielten und umfassenden Therapie, um die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten zu erweitern und der Entstehung oder Verfestigung von Sekundärstörungen in der kognitiven und sozialen Entwicklung vorzubeugen.
In vielen Fällen werden die beschriebenen Probleme in der Sprachproduktion begleitet durch Einschränkungen in der Fähigkeit, grammatische Strukturen zu entschlüsseln, sodass sich auch Sprachverständnisprobleme ergeben. Als Ursachen für die verminderten Dekodierfähigkeiten werden sowohl sprachunspezifische kognitive Defizite als auch Einschränkungen im phonologischen Arbeitsgedächtnis diskutiert. Diese Verstehensprobleme werden allerdings häufig übersehen, da die Kinder auf Hilfsstrategien ausweichen, wenn die sprachliche Entschlüsselung nicht gelingt: Sie scheinen sich in erster Linie auf Hinweise aus dem situativen Kontext, auf ihr Vorwissen und auf ihre semantischen Erwartungen zu stützen. Syntaktische Informationen werden demgegenüber kaum oder nur unzureichend genutzt (van der Lely/Dewart 1986, 291).
Während situationsgebundene, konkrete Aussagen damit häufig korrekt interpretiert werden können, ist das Verständnis komplexerer, abstrakter und erwartungswidriger Inhalte oft nicht gewährleistet. Gerade für den Bereich des schulischen Lernens können sich daraus gravierende Probleme ergeben. Entsprechend deuten Untersuchungen sprachbehinderter Schulkinder und Jugendlicher darauf hin, dass das eingeschränkte Sprachverständnis eine schwerwiegende Begleiterscheinung des gestörten Grammatikerwerbs darstellt. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Verstehensleistungen im Laufe der Entwicklung denen im ungestörten Sprach erwerb angleichen: Auch hierbei handelt es sich offenbar um langfristige Schwierigkeiten (Aram et al. 1984; Bishop/Adams 1992).