1  Was wir für grundlegend halten

Alle 90 Minuten wird in Deutschland ein Kind geboren, das mit einer geistigen Behinderung leben wird: es entwickelt sich, aber langsamer; es denkt, wenn auch einfacher; es lernt, nur nicht so leicht. Ihr Leben lang werden diese Kinder Hilfen brauchen. Aber: Sie werden sich freuen, andere Menschen liebhaben und gerne leben ... Es sind Kinder wie andere auch! Ähnliche Aussagen wie diese finden wir in mehreren Schriften der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. Dabei wird gleichzeitig auf das umfangreiche Netz interdisziplinärer Frühförderstellen in Deutschland verwiesen.

Im Folgenden soll es aber gar nicht ausschließlich um Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung gehen, sondern um ein viel weiteres Spektrum, nämlich die Gesamtheit von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung.

Diese haben ein bis zu vierfach höheres Risiko, an psychischen Störungen zu erkranken. Die psychotherapeutische Versorgungssituation in Deutschland wird als unzureichend eingeschätzt (Metaxas et al., 2014). So zeigt z. B. die Erhebung der Versorgungssituation in Baden-Württemberg von 2013, dass nur 61% der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten überhaupt Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung behandeln. Die Mehrheit von ihnen behandelt ein bis zwei Kinder mit Lernbehinderung oder leichter geistiger Behinderung im Monat (Metaxas et al., 2014). Schwerer geistig Behinderte bleiben oft unversorgt.

Ähnliche Erhebungen liegen für andere Bundesländer leider noch nicht in ausreichendem Maße vor. In den letzten Jahren hat aber die Beschäftigung mit und ohne Forschungen zu diesem Thema in Wissenschaft und Praxis zugenommen (Ocker, 2013).

Das jahrzehntelange zögerliche Vorgehen auf diesem Gebiet impliziert natürlich einen enormen Nachholbedarf. Schließlich wurde bereits in den „Rodewischer Thesen“ (Rodewisch = Standort einer Psychiatrischen Klinik in Sachsen) von 1963 ein besserer Umgang mit Patienten mit Intelligenzminderung angemahnt.

„Es müssen folgende Punkte erarbeitet werden:

1. System einer gut organisierten Früherfassung aller intellektuell und charakterlich auffällig werdenden Kinder.

2. Einrichtung von Beobachtungskliniken: Teamarbeit: zwischen Pädiater, Psychiater, Neurologen, HNO- und Augenarzt, Orthopäden, Psychologen und Pädagogen mit folgenden Aufgaben:

a) umfassende klinische Diagnostik

b) Festlegung eines Ausbildungs-und Förderungsplanes

c) vorschläge zu einer guten Organisation einer Neuropsychiatrischen oder einer neurologisch und psychiatrischen Beobachtungsklinik“ (Rodewischer Thesen, 1963, S. 7).

Daraus ist ersichtlich, dass die Probleme in diesem Arbeitsfeld seit langem bekannt sind und es auch nicht an Überlegungen zu ihrer Behebung mangelte. Anfang der 1970er Jahre kam ein neues Leitbild über Skandinavien und die USA zu uns: das Normalisierungsprinzip. Es wurden Frühförderstellen, Sonderkindergärten, Schulen für geistig Behinderte eingerichtet. Damit sollte den Behinderten ein Leben ermöglicht werden, das dem des Nichtbehinderten möglichst nahekommt. Außer Acht wurde dabei gelassen, dass man dem Behinderten durch eine „Erziehung zur Unauffälligkeit“, durch eine falsch verstandene „Normalisierung“ zum einen nicht gerecht wird und zum anderen u.U. sein Leiden verstärkt.

1975 wurde der Ergebnisbericht der Psychiatrie-Enquête vorgelegt, der den Anlass zu umfassenden Reformen der Psychiatrie in Deutschland betonte (Deutscher Bundestag 1975).

Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich das Leitbild für den Umgang mit geistig Behinderten erneut gewandelt, indem nunmehr diese Menschen auf ihrem Weg zur Selbstbestimmung und Eigenständigkeit ermutigt und befähigt werden sollen. Auf der Weltkonferenz über die „Pädagogik für besondere Bedürfnisse“, die 1994 von der UNESCO organisiert wurde, wurde eine „Bildung für alle“ gefordert. Die daraus resultierende Salamanca-Erklärung, die immerhin von 77 Ländern unterzeichnet wurde, betont:

„Wir glauben und erklären:

■  dass jedes Kind ein grundsätzliches Recht auf Bildung hat und dass ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, ein akzeptables Lernniveau zu erreichen und zu erhalten,

■  dass jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse hat,

■  dass Schulsysteme entworfen und Lernprogramme eingerichtet werden sollten, die dieser Vielfalt an Eigenschaften und Bedürfnissen Rechnung tragen,

■  dass jene mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen haben müssen, die sie mit einer Kind zentrierten Pädagogik, die ihren Bedürfnissen gerecht werden kann, aufnehmen sollten,

■  dass Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen, die alle willkommen heißen, um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und um Bildung für Alle zu erreichen; darüber hinaus gewährleisten integrative Schulen eine effektive Bildung für den Großteil aller Kinder und erhöhen die Effizienz sowie schließlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des gesamten Schulsystems“ (UNESCO, 1994, S. 2).

Hatte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die Anzahl der verschiedenen „Sonderschulen“ zugenommen (ca. ein Dutzend), sprach man später nicht mehr von „Sonderschulbedarf“, sondern von „sonderpädagogischem Förderbedarf“, aber auch diesbezüglich gab es Befürworter und Gegner, wie die folgende Zeilen belegen.

Wenn das Verfahren der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs lediglich als Legitimation einer stigmatisierenden sonderpädagogischen Feststellungspraxis zu verstehen sein kann, hat sich seit der Gründung der ersten Hilfsschulen in der Art und Funktion der institutionellen Zuweisung nichts geändert (Albers, 2010).

Seit einigen Jahren wird zunehmend eine sogenannte „inklusive Pädagogik“ gefordert. In der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 wird ebenfalls die Inklusion von Menschen mit Intelligenzminderung in die Gesellschaft und die Ausbildungseinrichtungen gefordert.

DEFINITION

Inklusion bedeutet dabei mehr als die reine Integration: der Behinderte soll als vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft unterschiedlichster Personen angenommen werden.

Dies ist ein selbstverständlicher und dennoch in seiner praktischen Umsetzung hoher Anspruch.

Wenn man meint, deshalb alle besonderen Fördereinrichtungen erst einmal „wegrationalisieren“ zu können und dann käme es schon zur Inklusion, so wird hierdurch „das Pferd von hinten aufgezäumt“.

Aus der Medizin kommend, vergleichen wir dies mit dem Versuch, die Krankenhäuser zu schließen und Schwerkranke mit Gesunden zusammenleben zu lassen. Medizinische Behandlung müsste dann dort erfolgen, wo die kranken Menschen leben, und dies gelte auch für die sogenannte „Apparatemedizin“. Diese meint eine Form der medizinischen Versorgung, die durch den Einsatz technischer Apparate zur Diagnostik und Therapie gekennzeichnet ist und bei der die Betreuung durch den Arzt selbst zurücktritt. Das mag im Idealfall funktionieren, wird gerade im Kinderbereich auch an einigen sehr wenigen Stellen modellhaft und mit hohem Aufwand erprobt, kann aber unter Umständen für alle Beteiligten zu nicht zu bewältigenden Belastungen führen. Sicher steht bei vielen noch die Idee des „Wegsperrens“ im Vordergrund, aber es sollte nicht vergessen werden, dass Sondereinrichtungen auch einen Schutzraum für Betroffene darstellen.

Wirkliche Inklusion ist ressourcenintensiv sowohl in personeller als auch finanzieller Hinsicht und solange von Inklusion nur geredet wird, sollte man auch in der Pädagogik Sondereinrichtungen tunlichst belassen.

Wichtig und realitätsorientiert finden wir allerdings folgendes Statement:

„Die Zeit der ,Grenzstreitigkeiten‘ zwischen den Disziplinen und Berufsgruppen (der für die betroffenen Menschen Verantwortlichen – Anmerkung d. Autoren) sollte endlich vorbei sein. Solche Konflikte tragen nur dazu bei, die Versorgungssituation zu verschlechtern. Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert in Artikel 25 eine bedarfsgerechte, über die üblichen Leistungen hinausgehende gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Dem sollten sich alle in diesem Bereich Tätigen verpflichtet fühlen“ (Seidel, 2011b,S.4).

Nachdem nach jahrelangem Kampf im Dezember 2016 die Würfel für das künftige Bundesteilhabegesetz gefallen sind, trat es am 30.12.2016 in seinen ersten Teilen in Kraft. Das Bundesteilhabegesetz ist ein Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Es basiert auf der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und soll schrittweise in vier Stufen (2017, 2018, 2020 und 2023) umgesetzt werden.

Es ist jedoch in vielen Punkten strittig, so wird noch immer oder schon wieder von vielen Behinderten, deren Angehörigen und Vertretern gegen die Inhalte protestiert. Dringend nötige Nachbesserungen werden angemahnt, viele Betroffene und ihre Verbände fühlen sich missverstanden und / oder nicht ausreichend berücksichtigt, empfinden sogar eine Verschlechterung der bisherigen Leistungen.

Eingliederungshilfe soll aus der Sozialhilfe herausgenommen und ein eigenes entsprechendes Leistungsrecht im SGB IX begründet werden.

Warum ist es so schwer, all die guten Gedanken und Vorsätze der vergangenen Jahrzehnte in praktisches Handeln umzusetzen?

Die aktuellen Ergebnisse sind immer wieder Erhebungen unzureichender Bedingungen und Möglichkeiten. Allein schon die Tatsache, dass bereits in der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) das Thema zu wenig Berücksichtigung findet, zeigt die bestehende Problematik auf. Eine Analyse von Ausbildungscurricula von 87 anerkannten Ausbildungsinstituten in Deutschland verdeutlicht, dass ca. nur ein Viertel der Ausbildungsinstitute entsprechende Inhalte verankert hat und darüber hinaus keine einheitlichen Standards bestehen (Simon & Jäckel, 2014).

Aber die oben erwähnte Erhebung brachte auch deutlich hervor, dass innerhalb der bestehenden rechtlichen Therapiebedingungen kaum Möglichkeiten von Therapeuten gesehen werden, den hohen Bedarf an Zusammenarbeit mit Bezugspersonen und Fachdiensten zu realisieren.

Fachkräfte der Behindertenhilfe wie Sonderpädagogen, Heilpädagogen und Heilerziehungspfleger arbeiten interdisziplinär und sind als Spezialisten für die Bildung, pädagogische Unterstützung, Begleitung und Beratung von Menschen mit langjährigen, oft dauerhaften Behinderungen zuständig. Dabei geht es ihnen darum, die Beziehungen dialogisch zu gestalten. Sie sollen sowohl in der Lage sein, emanzipatorische Prozesse anzuregen (Empowerment), als auch verantwortlich und fürsorglich in Abhängigkeitsbeziehungen zu handeln (Dieckmann, 2011). Menschen mit Behinderungen sollen also befähigt werden, Probleme und Krisen zunehmend aus eigener Kraft zu bewältigen.

Heilpädagogik stellt eine unverzichtbare Ergänzung der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Intelligenzminderung und mit psychischen Auffälligkeiten und Störungen dar. Trotzdem haben die einzelnen Bereiche ihre Spezifika.

Heilpädagogik hat den Anspruch, alle Lebensbereiche und sozialen Beziehungen eines Klienten, seine gesamte Ökologie in den Blick zu nehmen. D.h. Heilpädagogik hat es meistens mit komplexen Problemlagen im Alltag zu tun. Insofern gehören zu den Aufgaben der klinischen Heilpädagogik durchaus Therapieverfahren wie sie ähnlich der psychotherapeutischen Behandlung auf Alltagssituationen in der Gruppe angewandt werden. Ein Beispiel wäre die positive Verhaltensunterstützung mit ihrem lerntheoretischen Ausgangspunkt (Theunissen, 2011).

Die S2k-Leitlinien 028-042 von Dezember 2014 betonen hierzu:

„Psychotherapie und Heilpädagogik haben eine Vielzahl von Überschneidungen und ergänzen sich in der Regel. Dies gilt umso mehr, wenn eine zunehmende Zahl von Heilpädagogen die Ausbildung zu Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten absolviert“ (Häßler, 2014, S. 62).

Die fachliche und personelle Voraussetzung für eine kooperative Zusammenarbeit von Psychotherapeuten und Fachkräften der Behindertenhilfe ist somit gegeben und bedarf der Umsetzung im Alltag zum Wohl des Menschen mit Intelligenzminderung. Voraussetzungen für eine gelingende Zusammenarbeit sind einheitliche Herangehensweisen, gemeinsame Zielsetzungen und gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen Fachlichkeit, die unterschiedlicher Kompetenzen bedarf. Es muss Hinweise und Absprachen geben, die die Arbeit in den unterschiedlichen Lebensbereichen transparent machen, um einheitliches Handeln zu ermöglichen.

„Eine Vision ist, dass Psychiater, Psychologen und Heilpädagogen mit ihren je unterschiedlichen Kompetenzen auf Augenhöhe zusammenarbeiten“, sowohl im stationären als auch im ambulanten Setting“ (Theunissen, 2011, S.73).

Muss es eine Vision bleiben?

Derzeit fehlen auch einfach die zeitlichen und finanziellen Ressourcen, und es sind letztendlich jetzt bereits Leistungen, die auf der Basis des guten Willens erbracht werden („Good-will-Leistungen“), die in der Therapie mit Patienten, die intelligenzgemindert sind, aufgebracht werden. Dazu gehören z. B. konkrete Anleitung von Fachkräften oder Angehörigen vor Ort, Besuche zu Hause und / oder in der Schule oder in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).

Nicht vergessen werden sollte auch, dass es gerade in der Anfangsphase einer ambulanten Therapie mitunter Sinn macht, den betreffenden Patienten in kürzeren als den üblichen wöchentlichen Intervallen zu sehen, zum einen, weil er vielleicht keine volle Therapiestunde durchhält und zum anderen, um kurzfristige Wiederholungen des Erarbeiteten zu ermöglichen und gleichzeitig möglichst rasch eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Die meisten Therapeuten helfen sich und dem Patienten ohnehin dadurch, dass ein Teil der Stunde zum Lernen durch „Arbeiten“ und ein zweiter Teil zum Lernen durch „Spielen“ genutzt wird, wie z. B. auch in unseren Fallvignetten deutlich wird.

Es war auch die Meinung von Therapeuten in der Erhebung in Baden-Württemberg, dass das ambulante Setting unpassend sei, bzw. nicht ausreiche. Konkret würden bereits erste Psychotherapiegespräche häufig an organisatorischen Problemen wie zum Beispiel aufsuchende Psychotherapie vor Ort, am Transfer oder den Transportkosten zur Praxis scheitern.

Das ist zweifellos schwierig, aber wenn das ambulante Setting unpassend ist, was bleibt dann? Soll das bedeuten, dass Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung besser im stationären Setting aufgehoben sind? Leider erlebten wir dies immer wieder. Aber anders gedacht wird es richtig:

Wenn Therapeuten es sich zutrauen und fachlich in der Lage sind, ambulant mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung zu arbeiten, ersparen wir ihnen Kontaktabbrüche und Heimweh in den Kliniken!

Darüber hinaus fehlt oftmals auch aus den unterschiedlichsten Gründen die Bereitschaft, mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung zu arbeiten, worauf in den folgenden Ausführungen noch näher eingegangen wird (Metaxas et al., 2014).

Ein großer Teil der befragten Therapeuten sieht außerdem in der eingeschränkten bzw. mangelhaften Introspektions- und Reflexionsfähigkeit der Patienten besonders große Schwierigkeiten. Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten der Patienten erschweren die Arbeit noch zusätzlich (Metaxas et al., 2014).

Anhand dieser angeführten Argumente wird besonders deutlich, wie groß die Unsicherheit, auch durch Nichtwissen, bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ist, Patienten mit Intelligenzminderungen individuell zu behandeln. Logisch, wenn sie es nie ausreichend gelernt haben und somit auch im Umgang mit diesen Patienten unsicher sind oder Ängste haben. Weiterbildungen zur Nachqualifizierung werden nur punktuell und noch nicht ausreichend angeboten.

Aber natürlich gibt es wie in jeder Berufsgruppe, die mit Menschen arbeitet, Skeptiker, die sich trotz vorliegender positiver Erfahrungen nicht vorstellen können, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Intelligenzminderung zu arbeiten. Einfach, weil ihnen das fachliche Wissen der psychotherapeutischen Arbeit unmöglich anwendbar erscheint.

Auch diesen Skeptikern wollen wir mit unseren Ausführungen und insbesondere mit den Fallvignetten helfen, eventuell eine veränderte Betrachtung vorzunehmen und ihnen Mut machen.

Die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung erfordert, wie vorher bereits beschrieben, eine enge Vernetzung von unterschiedlichen Einrichtungen, Fachdiensten und Berufsgruppen, die für und an einer angemessenen Versorgung und Betreuung eben dieser Patienten arbeiten.

Bisher kann jedoch von einer flächendeckenden regionalisierten Versorgung dieser Patientengruppe keine Rede sein (Ocker, 2013). Eine Ursache ist auch in der fehlenden Vernetzung der unterschiedlichen Bereiche zu suchen, denn Angebote der Betreuung und Versorgung gibt es vielfältige. Oft ist es aber dem Engagement von Eltern und einzelnen Mitarbeitern in Einrichtungen zu verdanken, dass tatsächlich eine psychotherapeutische Behandlung zustande kommt.

Unsere Erfahrungen auf diesem Weg sind positiv, wenn es gelingt, sich zu respektieren, kollegial eng zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig zu informieren und vor allem zu klären, wer woran arbeitet. Diese vorgeschalteten Helferkonferenzen sind insgesamt in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen empfehlenswert. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung sind sie jedoch unerlässlich!

Die im März 2017 stattgefundene Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) in Ulm hatte unter dem Motto „Dazugehören“ Fragen und Aspekte der Inklusion als ein zentrales Thema.

Studien haben ergeben, dass bei ca. 30 – 50% aller Menschen mit Behinderung zusätzlich eine psychische Störung diagnostizierbar ist.

„Geht es um Verhaltensauffälligkeiten, steigt die Prävalenz sogar auf 70% an. Bei Kindern und Jugendlichen geht man davon aus, dass 15–20% der Kinder und Jugendlichen mit Intelligenzminderung als behandlungsbedürftig eingeschätzt werden“ (Hennicke, 2011, S.26).

Zwischen diesem eingeschätzten Bedarf und den vorhandenen Möglichkeiten klafft eine deutliche Lücke, die es in den nächsten Jahren zumindest zu verringern, besser noch zu schließen gilt.

Nachhaltige Maßnahmen sollten ergriffen werden, um Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung gleiche Chancen auf psychische Gesundung zu verschaffen.

Dazu gilt es, die Ausbildungscurricula zu überarbeiten, bereits tätigen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten umfassende Weiterbildungen anzubieten, um sie mit den notwendigen Grundkenntnissen und Fachinhalten auszustatten. Und, genauso wichtig, mit den Kostenträgern notwendige Abrechnungsmodalitäten zu vereinbaren. Hier hält sich unser Optimismus allerdings in Grenzen, denn wenn Kostenträger nicht einmal verstehen, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mehr Bezugspersonenstunden ohne Patienten erfordert, wie sollen sie sich in dieses schwierige Arbeitsfeld hineinversetzen können?

Trotzdem sind wir der Meinung, dass sich etwas verändern muss, um emotionale Gesundung von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung als Chance für diese Patienten anzustreben.

Was verstehen wir unter Intelligenzminderung?

Beginnen wir den Versuch einer möglichst verständlichen Definition mit einem Rekurs auf bekanntes, in der modernen Diskussion aber leider zu selten beachtetes Wissen:

DEFINITION

Intelligenzminderung wird verstanden als wesentliche Entwicklungsbedingung und nicht als primär konstituierendes, d. h. auch pathologisierendes Persönlichkeitsmerkmal, das sämtliche weitere Eigenschaften eines Menschen bestimmt“ (Hennicke et al. 2009).

Luria (1976 in Eggers et al., 2004) hat mit der Herausarbeitung von grundlegenden funktionellen Systemen oder Einheiten des Zentralnervösen Nervensystems (ZNS) die Basis für das Verständnis der Entstehung von hirnorganischen Störungen und somit auch Intelligenzminderungen, aber auch der zumindest teilweisen „Reparatur“ derselben, unter anderem durch therapeutische Einflussnahme, geschaffen (Ettrich & Ettrich, 2006a).

Spätestens seit Spitzer (1996) ist bekannt, dass durch komplexe neuronale Verschaltungen im menschlichen Gehirn sogenannte „neuronale Landkarten“ entstehen, die bis ins Alter hochgradig flexibel sind und durch ständige Adaptation und Reorganisation das Gehirn zu höheren kognitiven Leistungen befähigen. Im Umkehrschluss bedeutet das, bei einer Intelligenzminderung ist im weitesten Sinne von einer suboptimalen neuronalen Verschaltung auszugehen, aus welchem Grund auch immer. Auch Petermann et al. (1998) favorisieren das Konzept der „neuronalen Plastizität“. Sie bezeichnet die Eigenschaft des Gehirns, durch Training veränderbar zu sein. Dies ist die Grundvoraussetzung für jede Form des Lernens.

Die moderne Auffassung von Intelligenzminderung stützt sich auf das Vulnerabilitätskonzept und geht konform mit dem Konzept der WHO (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF); DIMDI, 2002), das „Behinderung als Resultat einer Wechselwirkung von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren versteht“ (Berger, 2006, S. 1).

Die folgenden Ausführungen sind geeignet, das Geschehen, um welches es bei jeder Art der Entwicklung, auch der Intelligenz geht, nochmals zu verdeutlichen:

Menschliches Verhalten wird durch Interaktionsprozesse zwischen biologischen, psychologischen und Umweltfaktoren determiniert.

„Damit nicht genug. Es wird schließlich auch determiniert durch die vorangegangene Entwicklung bis zum Zeitpunkt X. Sinnbildlich ausgedrückt: Das bereits Entwickelte ist die Bühne, auf welcher sich das Zwei-Personen-Stück zwischen Anlage und Umwelt abspielt. Dabei ist es wie im Theater: Nicht auf jeder Bühne kann alles gespielt werden. Allerdings verwandelt sich – anders als im Theater – durch dieses Spiel die Bühne selbst, sodass es unmöglich wird, mehrmals hintereinander dasselbe Stück aufzuführen. Das heißt, jede Sequenz ist gültig, ist gestaltend wirksam – es ist eben kein Spiel!“
(Ettrich & Ettrich, 2006b, S. 6).

Dies kann sowohl Fluch als auch Segen für die künftige Entwicklung sein.

! „Die Entwicklungspsychopathologie beruht auf einem biopsychosozialen Ansatz, d. h. sie versteht die angepasste und fehlangepasste Entwicklung als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen biologischen Mechanismen, psychischen Prozessen und sozialen Einflüssen“ (Petermann et al., 2004, S. 3). „Das menschliche Gehirn bildet eine dynamische Einheit, die durch die Ereignisse einer individuellen Lebensgeschichte geformt wird und diese beeinflusst“ (Petermann et al., 2004, S. 259).

Laucht (2001) konnte zeigen, dass der Anteil schwerer Entwicklungsbeeinträchtigungen bei schwer organisch und psychosozial belasteten Kindern sprunghaft von durchschnittlich 4,4% auf 26,2% ansteigt.

Aber zurück zur Intelligenzminderung: Biologische Grundlage intellektueller Behinderung sind zerebrale Funktionsstörungen unterschiedlicher Ätiologie:

  genetisch-chromosomal (etwa 10%)

  prä- und perinatale Läsionen (etwa 60%)

  postnatale Läsionen (etwa 6%)

  unbekannte Ätiologie (etwa 24%)

Zu beachten ist aber, dass nicht jede zerebrale Läsion auch eine intellektuelle Behinderung zur Folge hat (Berger, 2006).

Eine umfassende Darstellung möglicher Ursachen von geistiger Behinderung findet sich bei Esser (2003).

! Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO versteht unter einer Intelligenzminderung eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehengebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, wobei insbesondere Beeinträchtigungen von Fertigkeiten vorliegen. Diese Fertigkeiten tragen zum Intelligenzniveau bei, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.

Dabei unterscheiden wir nach der ICD-10 die Kategorie der niedrigen Intelligenz mit einem Intelligenz-Quotienten (IQ) zwischen 85 und 70. Es ist hier angeraten, den Begriff der Lernbehinderung zu verwenden.

Weiterhin unterscheidet die ICD-10 bei den weiteren Intelligenzminderungen zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer Ausprägung:

DEFINITION

Bei einer leichten Intelligenzminderung liegt der IQ zwischen 50–69, d. h. der Spracherwerb ist verzögert, alltägliche Konversation ist möglich. Die meisten Patienten erreichen eine volle Unabhängigkeit in der Selbstversorgung und in praktischer häuslicher Tätigkeit. Schwierigkeiten treten beim Erlernen schulischer Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen auf. Auch bei sozialen und interaktiven Fähigkeiten treten Schwierigkeiten auf (Hennicke et al., 2009, S. 10).

Gustav Peter Hahn (1995) bezeichnet diese Gruppe als sozial handlungsfähig, erkenntnisfähig geistig Behinderte.

DEFINITION

Bei einer mittelgradigen Ausprägung der Intelligenzminderung liegt der IQ nach der ICD-10 im Bereich zwischen 49–35. Die Leistungsprofile dieser Patientengruppe können sehr unterschiedlich sein. Die Sprachentwicklung reicht von der Fähigkeit, an einfachen Unterhaltungen teilzunehmen bis dahin, sich nur nonverbal verständigen zu können. Die Fähigkeiten der Selbstversorgung entwickeln sich verzögert, einige Personen benötigen ein Leben lang Aufsicht. Sie sind aber in der Lage, aus Erfahrungen zu lernen. Schulisch erwerben sie einige grundlegende Fertigkeiten beim Lesen, Schreiben und Zählen.

Diese Personengruppe nennt Hahn (1995) erfahrungsfähig geistig Behinderte.

DEFINITION

Eine schwere Intelligenzminderung wird in der ICD-10 bei der Personengruppe vorgefunden, die einen IQ zwischen 34–20 aufweist. Neben den intellektuellen Problemen, die in der vorher beschriebenen Gruppe genannt sind, weisen diese Personen außerdem motorische Beeinträchtigungen auf.

Sie lernen überwiegend durch Gewöhnung, weshalb Hahn (1995) diese Gruppe als gewöhnungsfähig geistig Behinderte bezeichnet.

DEFINITION

Eine weitere Klassifikationsgruppe ist die Gruppe der Personen mit schwerster Intelligenzminderung. Dies sind in der Regel schwerstmehrfachbehinderte Menschen. Der IQ wird auf unter 20 eingeschätzt. Das bedeutet, dass diese Personen unfähig sind, Aufforderungen oder Anweisungen zu verstehen oder sich danach zu richten. Meistens sind sie immobil oder sehr bewegungseingeschränkt. Sie sind auch nonverbal nur begrenzt kommunikationsfähig und auf ständige Versorgung und Hilfe angewiesen.

Hahn (1995) bezeichnet diese Gruppe als ein- und ausdrucksfähig geistig Behinderte. Sie können Eindrücke aufnehmen und sich und ihre Befindlichkeiten ausdrücken.

Wie vorher bereits beschrieben, haben Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung ein vielfach höheres Risiko, an psychischen Störungen zu erkranken. Dabei sind alle Arten von Störungen möglich, die sie aufweisen können.

„Die Prävalenzraten für psychische Störungen bei Menschen mit Intelligenzminderung sind drei bis vier Mal so hoch wie in der allgemeinen Bevölkerung. Der Schweregrad einer Intelligenzminderung sowie begleitender somatischer Störungen haben aber zweifelsfrei Auswirkungen auf die Ausprägung einer Psychopathologie und damit auf die Prävalenz psychischer Störungen“ (Hennicke et al., 2009, S.4).

Und bei Warnke (2006) finden wir, dass in Deutschland schätzungsweise 150.000 Menschen leben, die neben einer Intelligenzminderung aufgrund einer psychischen Störung behandlungsbedürftig sind.

Es kann beim Verständnis des Zusammenhanges zwischen intellektueller Behinderung und psychischer Störung von folgenden Grundlagen ausgegangen werden:

  Intellektuelle Behinderung allein ist keine psychische Krankheit.

  Menschen mit Intelligenzminderung können, wie alle anderen Menschen auch, psychisch erkranken.

  Menschen mit Intelligenzminderung sind den belastenden Einflüssen des Alltagslebens häufig relativ schutzlos ausgeliefert, da ihre Möglichkeiten, diese Bedingungen zu kontrollieren, eingeschränkt sind. Deshalb müssen bei der Diagnostik die spezifischen Lebensbedingungen stärker mit einbezogen werden.

–  Für eine eventuelle Therapie ist das allgemeine Inventar psychiatrischer / psychotherapeutischer Interventionsformen anzuwenden (Psychotherapie, soziale Therapie, Psychopharmakotherapie). Psychotherapie erfordert allerdings spezielle Voraussetzungen, um anwendbar zu sein. Dies sind besondere Kompetenzen der Therapeuten:

–  spezifische methodische Kompetenzen im Bereich nonverbaler und verbaler Methoden,

–  spezifische Strukturen und Ressourcen und

–  die Therapie muss, bei Wahrung des Vertrauensverhältnisses, in das Netz der Helfer eingebunden sein (Berger, 2006).

Eine grundlegende Frage, die sich Betreuer, Heilpädagogen, Lehrer, Bezugspersonen und natürlich auch Psychotherapeuten in der praktischen Arbeit stellen ist, wie Intelligenzminderung und Verhaltensauffälligkeiten zusammenhängen. Oft wird in der alltäglichen Auffassung oberflächlich davon ausgegangen, dass ein kausaler Zusammenhang besteht.

Dazu bedarf es aber einer wissenschaftlichen grundlegenden Betrachtung, um im Herangehen an Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung Ängste abzubauen und den Weg für eine genaue Diagnostik zu öffnen.

Dies ist eine Besonderheit der psychotherapeutischen Arbeit und ergibt sich auch aus dem Umstand, dass Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung ebenso wie Kinder und Jugendliche ohne Intelligenzminderung Verhaltensauffälligkeiten zeigen können. Auf Grund der Unfähigkeit der kognitiven Eigenreflexion ihres Verhaltens zeigen sich diese Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung oft extremer und länger andauernd. Deshalb ist es notwendig, sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Zusammenhänge sich zwischen Intelligenzminderung und Verhaltensauffälligkeit herstellen lassen (Hennicke et al., 2009).

„Bei Menschen mit Intelligenzminderung finden sich Verhaltensauffälligkeiten, z. B. auto- und fremdaggressives Verhalten, häufiger und in der Tendenz auch ausgeprägter als bei Menschen ohne Intelligenzminderung. Die Prävalenzangaben für fremdaggressives Verhalten schwanken zwischen 20–60%, sowie für autoaggressives Verhalten zwischen 20–25%“
(Hennicke et al., 2009, S. 6).

DEFINITION

„Nach der DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Falkai & Wittchen, 2015a) liegt bei einer Störung des Sozialverhaltens „ein repetitives und anhaltendes Verhaltensmuster vor, durch das die grundlegenden Rechte anderer oder wichtige altersentsprechende gesellschaftliche Normen oder Regeln verletzt werden“ (Falkai & Wittchen, 2015b, S. 252). Dies manifestiert sich im Auftreten von aggressiven Verhalten gegenüber Menschen und Tieren, Zerstören von Eigentum, Betrug oder Diebstahl und schweren Regelverletzungen.

Es werden hier vier Kategorien unterschieden:

  aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren (z. B. Bedrohung anderer, Schlägereien, Waffenbenutzung, körperliche Grausamkeiten, Tierquälereien)

  Zerstörung von Eigentum

  Diebstahl oder Betrug

  schwere Regelverstöße

DEFINITION

Die ICD-10 (1991) geht ebenfalls davon aus, dass eine Störung des Sozialverhaltens (SSV, F91) dann vorliegt, wenn die Symptome des DSM-IV vorliegen, ergänzt durch solche Verhaltensweisen wie Tyrannisieren anderer, exzessives Streiten, extreme Ausmaße an Ungehorsam, Widerstand gegen Autoritäten, fehlende Kooperationsbereitschaft und ausgeprägte Wut- und Zornausbrüche. (Dilling et al., 1991)

Einteilung:

  auf den Bereich der Familie beschränkt (F91.0)

  Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)

  Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2)

  bei jüngeren Kindern: Störung des Sozialverhaltens mit aufsässigem, oppositionellem Trotzverhalten (SOT, F91.3)

  kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92)

Für die Diagnosestellung ist keine Häufung der Symptome erforderlich, sondern dass das Verhalten als überdauerndes Muster gezeigt wird.

Wenn man sich diese Listen anschaut, wird das folgende Zitat zunächst verwundern. Wir geben es dennoch wieder, weil wir glauben, dass das Dilemma der in ihrem Sozialverhalten gestörten, auch intelligenzgeminderten jungen Menschen und die möglichen Entstehungswege der Störung nicht besser beschrieben werden kann:

„Als verhaltensgestört werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die in ihren sozialen Beziehungen erhöht auffällig werden. Sie erscheinen entweder als stark gehemmte Personen, die schüchtern und unsicher wirken, oder als „ausagierende“ Personen, deren aggressive Konfliktbewältigung als bedrohlich empfunden wird. Die gestörten Beziehungen dieser jungen Menschen führen sie zunehmend in eine Isolation, aus der sie sich nur durch ein sozial nicht statthaftes Verhalten glauben befreien zu können (z. B. durch aggressive Reaktionsbereitschaft, delinquentes Verhalten, Vermeiden von Leistungsanforderungen). Diesen Kreislauf zu durchbrechen ist Aufgabe sonderpädagogischer Bemühungen“ (Neukäter, 1996, S. 3).

Uns ist es wichtig, nochmals besonders darauf zu verweisen, dass Verstehen eines Verhaltens nicht gleich Akzeptieren desselben ist, diesen Kreislauf also wirksam zu durchbrechen, wie Neukäter es sagt. Aber der Versuch zu verstehen, ist die Grundlage aller erzieherischen und therapeutischen Bemühungen in diesem Feld.

Hier geht es besonders um das Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen. Verhalten meint aber die Gesamtheit unserer motorischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Handlungsmöglichkeiten. Wir sollten dabei immer bedenken, dass der wie auch immer behinderte Patient über ein anderes, oft eingeschränktes, Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoire im Vergleich zum nicht behinderten Kind oder Jugendlichen verfügt. Grundlage für das Verhalten bildet die Wahrnehmung.

„Weil Wahrnehmungen als wahr akzeptiert werden (ich habe es doch selbst gesehen, selbst gehört, selbst erlebt), bilden diese Wahrnehmungen ungeprüft die Grundlage des weiteren eigenen Verhaltens, wodurch das Entwicklungsgeschehen beeinflusst und trotz der Bemühungen von Eltern, Lehrern, Erziehern geprägt wird. Ob eine Wahrnehmung aber „richtig“, die darauffolgende Handlung nützlich und zweckmäßig ist, hängt nicht so sehr vom subjektiven Empfinden des Wahrnehmenden ab, sondern von der sozialen Konvergenz (wie sehen, erleben Andere die Situation) und im Erziehungs- und Entwicklungsgeschehen von der Übereinstimmung mit gesellschaftlich akzeptierten Normen und Werten“
(Ettrich & Ettrich, 2011, S. 12).

In anderen Worten: Der wie auch immer Behinderte verfügt aufgrund seiner anderen Wahrnehmung auch über ein anderes Verhaltensrepertoire, das für ihn logisch und stimmig sein mag, aber die Umgebung hat Schwierigkeiten damit.

Kinder mit besonderem Verhalten, mit deutlich sichtbaren Merkmalen und / oder selten zu beobachtenden Eigenschaften haben es in Gruppen schwerer als andere Kinder, Kontakte herzustellen oder Freundschaften zu schließen. Oft werden Sie ausgeschlossen oder sogar abgelehnt (vgl. Albers et al., 2009; Sarimski & Schaumburg, 2010; Schirmer, 2015).

Auch der Terminus „Herausforderndes Verhalten“ (engl. challenging behaviour) verweist übrigens darauf, dass es sich weniger um eine individuelle „Pathologie“ der betroffenen Person als um eine bestimmte Interaktion mit der Umwelt und deren Zuschreibungen oder Interpretationen handelt. Die Verwendung des Begriffes Herausforderung kann dazu beitragen, unsere Aufmerksamkeit auf die Prozesse zu lenken, durch die die sozialen Probleme geschaffen werden. Dies kann dafür sorgen, die individuelle Pathologie in den sozialen und zwischenmenschlichen Kontext zu stellen (Emerson & Einfeld, 2011).

„Die Entstehung und Entwicklung psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung folgen grundsätzlich gleichen Prozessen wie bei Nichtbehinderten [...]Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die Intelligenzminderung selbst [...] wie auch die speziellen Lebensbedingungen intellektuell behinderter Menschen in der modernen Gesellschaft besondere, zusätzliche Risikobedingungen darstellen als auch typische, bekannte Risikofaktoren verstärken können“
(Hennicke, 2009, S.6).

Solche zusätzlichen Risikofaktoren können z. B. sein:

  biologische Faktoren, wie genetische Dispositionen, erhöhte Vulnerabilität, führen zu Folgebehinderungen. Diese können in Sprache, Wahrnehmung, Motorik eine permanente ärztliche und psychiatrische Behandlung nach sich ziehen.

  Psychologische Faktoren, wie dysfunktionale Problemlösestrategien, unreife Abwehrmechanismen in Konfliktsituationen, ungewöhnliche Copingstrategien, Bindungsstörungen, Selbstwertprobleme und unangemessene Selbstwirksamkeitseinschätzungen führen zu Problemen, z. B. soziale Kontakte angemessen einzugehen.

  Soziale Faktoren, wie über- oder unterforderndes Milieu, wechselnde Bezugspersonen, soziale und psychische Isolation, Missbrauch und Misshandlungen, fehlende Integration und Stigmatisierung (Hennicke, 2009, S. 6).

„Es wird angenommen, dass die beeinträchtigten kognitiven Fähigkeiten (Intelligenzminderung) als direkte Folge einer wie auch immer entstandenen und sich manifestierenden Beeinträchtigung der globalen Hirnfunktion im Wesentlichen alle Lebensäußerungen dieser Menschen bestimmen“
(Hennicke, 2009, S. 6).

Leiden Kinder und Jugendliche an psychischen Störungen, so haben auch sie ein Recht auf Psychotherapie, demzufolge auch Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung!

Die häufig beklagte aggressive oder herausfordernde Verhaltensstörung finden wir bei intelligenzgeminderten Personen häufig aus Unsicherheiten, Bedrohungserleben und Ängstlichkeit als verzweifelten Versuch, sich selbst zu behaupten, sich Respekt zu verschaffen. Wenn dies erst einmal gelingt, wird dadurch zunächst Angst abgebaut und in der Folge wird dieser Weg öfter genutzt, was zu einer „Bahnung“ dieses Weges, langfristig aber auch zu vermehrter sozialer Ablehnung führt.

Kinder und Jugendliche nehmen soziale Ablehnung von Seiten des sozialen Umfeldes als Bedrohung wahr und reagieren nicht selten mit aggressiven Verhaltensweisen. Oft erleben wir, dass hinter der Fassade eine total verängstigte kindliche oder jugendliche Persönlichkeit zu finden ist. Unsere Aufgabe besteht darin, diese „coolen“ Kinder und Jugendlichen zu erkennen und diesen emotionalen Störungen in der Therapie zu begegnen.

Wir finden hier aber auch die „aktive Variante“ in allen Abstufungen: den Patienten, der plötzlich aufspringt und dem „selbstgefällig“ auf ihn einredenden Therapeuten den Papierkorb über den Kopf stülpt bis hin zum jugendlichen Mörder, welcher der Gutachterin die Motivation zu seiner Straftat mit den Worten erklärt: „Den musste ich umbringen, weil der mich sonst immer so komisch angeguckt hätte“. Oder die jugendliche Delinquentin, die in der Hauptverhandlung auf die Frage, warum sie die alte Frau zu Boden geworfen und ihr die Handtasche entrissen habe, ohne Zögern erklärt: „Na, ich hatte keine Kippen mehr und Geld hatte ich auch nicht. Da musste ich doch so handeln, oder was hätten Sie denn gemacht, Frau Richterin?“

In letzteren Fällen sind Justiz, Therapie und Pädagogik gleichermaßen zum Handeln aufgefordert.

Diagnostik und Differenzialdiagnostik richten sich bei der hier beschriebenen Klientel nach denselben Verfahren und Gesetzmäßigkeiten wie bei psychisch gestörten, aber nicht intelligenzgeminderten Kindern.

Zur umfassenden und nachvollziehbaren Beschreibung eines Patienten und seiner Störungssymptomatik dient in der ICD-10 das sogenannte Multiaxiale Klassifikationssystem (MAS) oder das Multiaxiale Klassifikationssystem im Kindes- und Jugendalter (MAK).

Dieses beschreibt den Patienten auf folgenden sechs Achsen:

Die klinisch-psychiatrischen Syndrome werden auf der MAS-Achse I erfasst (einschließlich der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen F84), umschriebene Entwicklungsrückstände auf der Achse II, körperliche Störungen (einschließlich der sogenannten Verhaltensphänotypen) auf Achse IV, die begleitenden abnormen psychosozialen Bedingungen auf Achse V und die Beurteilung der psychosozialen Anpassung auf Achse VI.

Bei Skeptikern der psychotherapeutischen Behandlung mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung sind neben methodischen Unsicherheiten auch oft gezeigtes herausforderndes Verhalten Gründe für Unsicherheiten und Ablehnungen.

Herausforderndes Verhalten macht die Arbeit mit allen Kindern und Jugendlichen schwer, aber bei Kindern mit Intelligenzminderung ist eine weit verbreitete Annahme, dass sie sich so verhalten, weil sie intelligenzgemindert sind.

Im Folgenden sollen verschiedene Modellvorstellungen die Betrachtungsweisen differenzieren. Klaus Hennicke führt vier grundlegende Konzepte an:

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1.  Verhaltensauffälligkeiten sind Ausdruck der Intelligenzminderung.

2.  Verhaltensauffälligkeiten sind Reaktion auf / Bewältigung von unpassenden Umweltbedingungen, daher sinnvoll und deuten Lösungen an.

3.  Verhaltensauffälligkeiten sind Ausdruck sozialer Isolation.

4.  Verhaltensauffälligkeiten sind Ausdruck (Symptomatik) von inne liegenden krankhaften seelischen Prozessen“ (Hennicke, 2009, S. 6f.).

Alle diese Erklärungsmodelle erfassen wesentliche Teilaspekte des eigentlichen Problems. Dabei ist jedes Konzept für sich betrachtet sicher einleuchtend, kann aber nicht für sich allein das Problem erklären (Hennicke, 2009). Dazu bedarf es einer allumfassenden Betrachtungsweise, wie wir auch in den Fallvignetten in den folgenden Kapiteln verdeutlichen werden.

Aber bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass es einer umfangreichen und möglichst genauen Diagnostik bedarf, um verursachende Faktoren zu identifizieren und sinnvolle und erfolgreiche Behandlungsansätze zu finden.

Für Kinder und Jugendliche mit leichten Intelligenzminderungen können nach der ICD-10 zusätzlich zur Diagnostik der F81 (umschriebene Entwicklungsstörungen der schulischen Fertigkeiten) Verhaltensauffälligkeiten mit der Codierung der F91 (Störungen des Sozialverhaltens, Dilling et al., 2015) vorgenommen werden.

„Für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung, wofür die Codierungen F70–F79 verwendet werden, können Zusatzkodierungen für zusätzlich auftretende Verhaltensstörungen angewandt werden.

Es sind die folgenden vierten Stellen möglich, wenn das Ausmaß der Verhaltensstörung angegeben werden soll:

  .1 keine oder nur geringfügige Verhaltensstörung

  .2 deutliche Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert

  .8 sonstige Verhaltensstörung

  .9 ohne Angabe einer Verhaltensstörung“ (Hennicke, 2009, S.4).

Dabei sei noch der Hinweis gestattet, dass diese Zusatzkodierung keinen Zusammenhang der Verhaltensauffälligkeiten mit der Intelligenzminderung impliziert.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie problematisch herausforderndes Verhalten im Behandlungskontext sein kann. Vor allem, wenn herausforderndes Verhalten als Reaktion auf die Bewältigung von unpassenden Umweltbedingungen gezeigt wird oder als Ausdruck sozialer Isolation zu bewerten ist.

Es wird dem Leser an dieser Stelle deutlich, dass dabei die psychotherapeutischen Behandlungsansätze differenziert zu wählen sind. Demzufolge brauchen Diagnostik und Behandlung Zeit und interdisziplinäre Arbeit, wie wir in Kapitel 3.2 darstellen und anhand praktischer Fallvignetten belegen werden.

Verhaltenstherapie als anerkanntes evidenzbasiertes und abrechnungsfähiges Therapiesystem eignet sich mit seinem weitreichenden und gut erprobten Methodeninventar für die Behandlung vieler emotionaler Störungen von Krankheitswert. Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen sind immer auch Ausdruck eines Entwicklungsgeschehens. D.h., es stellt sich nicht die Frage nach der Beseitigung der Störung, sondern wie angesichts der Störung neue konstruktive Entwicklungen eingeleitet werden können (Lauth et al., 2008).

Bei Kindern mit Intelligenzminderung, ob mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung und bei Kindern mit Entwicklungsstörungen eignen sich also verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze, die wie vorher angeführt, neue Entwicklungschancen geben können. Hier verweisen wir auf die vertiefende Darstellung in Kapitel 3.2.

Wie bereits in der Begründung für dieses Buch angeführt, ist das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung, an psychischen Störungen zu erkranken, deutlich höher als bei Kindern und Jugendlichen ohne Intelligenzminderung. Die genannten Risikofaktoren sprechen dabei für sich.

Aber auch nicht erkannte Schmerzen, die Unfähigkeit, diese zu kommunizieren, chronische Erkrankungen, Nichtverstanden werden, Schlafstörungen und traumatische Erlebnisse, die nicht kommuniziert werden oder nicht kommuniziert werden können, dürfen für psychische Auffälligkeiten nicht außer Acht gelassen werden (Sarimski & Steinhausen, 2008).