Cover

Clemens Albrecht

Sozioprudenz

Sozial klug handeln

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Sozioprudenz ist die Lehre von der sozialen Klugheit. Sie reicht zurück bis in die ältesten Texte der Menschheit und begleitet seit jeher unser Handeln als Ratschlag für das richtige Verhalten in sozialen Situationen. Wer musste nicht schon einmal einen geselligen Abend organisieren, in der Familie Streit schlichten oder ein passendes Geschenk aussuchen? Soziologie und Sozialpsychologie stellen viele Erkenntnisse über soziale Beziehungen bereit – Sozioprudenz macht sie für den Alltag nutzbar. Dieser Band ist Lehrbuch, Ratgeber und Geschichtenbuch in einem. Er führt anhand zahlreicher Beispiele und Übungen, die von Studierenden entwickelt und erprobt wurden, in die Kunst des sozial klugen Handelns ein und stellt nebenbei die Theorien soziologischer Klassiker zu Themen wie Geselligkeit, Gabe oder Geheimnis vor.

Vita

Clemens Albrecht ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Bonn.

Inhalt

Leseanleitung

Zur Entstehungsgeschichte der Sozioprudenz – oder: Wie kann man Soziologie lehren, indem man sie handlungspraktisch interessant macht?

1.Sozioprudenz: die Kunst des klugen Handelns

1.1Inwiefern wir beim Handeln frei sind

1.2Warum wir über das Handeln etwas wissen sollten

1.2.1Werkzeug, Sprache, exzentrische Position, Introspektion

1.2.2Alltagswissen und Expertenwissen

1.3Über den Unterschied zwischen Verhalten und Handeln

1.3.1Arten des Handelns

1.4Warum soziales Handeln nicht nett sein muss und andere anders handeln

1.4.1Doppelte Kontingenz

1.4.2Interaktion, soziale Beziehung

1.4.3Identität und Interaktion

1.5Zweckrationalität und Strategie

1.5.1Strategisches Handeln

1.5.2Grenzen der Rationalität

1.6Nicht nur rational, auch klug sein: sozioprudentes Handeln

1.6.1Zweckrationalität und Klugheit

1.6.2Wertrationalität und Klugheit

1.6.3Außenführung

1.6.4Innenführung

1.6.5Durchführung

Lektürekompass

2.Gabentausch: Schenken und Beschenktwerden

2.1Die Auswahl von Geschenken

2.1.1Individuelle und kollektive Reziprozität

2.1.2Gabeninvestments

2.1.3Reziprozitätszyklen

2.2Ein ganz besondere Situation: die Geschenkübergabe

2.2.1Exkurs zur Korruption

2.2.2Gratifikationsperformanz

2.3Was man mit Geschenken sonst noch erreichen kann

2.3.1Gabeneffekte

2.4Sozioprudentes Schenken

Lektürekompass

3.Geselligkeit: Einladungen und Partys, Feste und Feiern

3.1Was man aus der Geschichte für die Geselligkeit lernen kann

3.1.1Lebensführung

3.1.2Salon als Reflexionsmedium von Geselligkeit

3.1.3Maximen

3.1.4Konversationskunst

3.2Was man allgemein über Geselligkeit wissen sollte

3.3Was ist der Anlass?

3.3.1Fest und Feier

3.3.2Die Festrede

3.4Wen soll ich einladen?

3.4.1Gemeinschaft oder Gesellschaft

3.5Wen habe ich eingeladen?

3.5.1Sozialtypus

3.5.2Lebensführung

3.5.3Lebenshorizont

3.6Wie ist der Ablauf?

3.6.1Spiel

3.6.2Essen

3.6.3Manieren

3.6.4Konversation

Lektürekompass

4.Alltagsdiplomatie: Vermitteln, Verhandeln, Manipulieren

4.1Was macht gute Diplomaten aus?

4.1.1Takt

4.2Alltagsdiplomatie in Zweierbeziehungen

4.2.1Konsensfiktion

4.2.2Wissen und Nicht-Wissen

4.3Alltagsdiplomatie in Gruppen

4.3.1Triade

4.3.2Figuration

4.3.3Triadische Figurationen

4.3.4Koalition

4.3.5Stellvertretung

4.4Alltagsdiplomatie in sozialen Situationen

4.4.1Weihnachtsdiplomatie

Ablauf

Regie

Dinge

4.5Alltagsdiplomatie durch Atmosphären

4.5.1Atmosphärenimpulse

4.5.2Räume

4.5.3Dinge

4.5.4Emotionen

4.5.5Performanz

Lektürekompass

5.Intrige: geheimes Handeln

5.1Täuschung und Betrug bei Tier und Mensch

5.1.1Lüge

5.2Elemente der Intrige

5.2.1Ablauf

Konflikt

Notsituation

Intrigenplan

Zwischenfälle

Gegenintrigen

Anagnorisis

5.2.2Personal

Intrigant

Intrigenopfer

Intrigenhelfer

5.2.3Intrigenmittel

Intrigenrequisit

Mimikry

Empathie

Intrigengeduld

5.3Figurationen der Intrige

Lektürekompass

6.Ethik der Sozioprudenz

6.1Soziologie als Moralbegründung

6.1.1Sein und Sollen

6.1.2Pluralität der Werte

6.2Sozioprudenz der Verführung

6.2.1Das Kierkegaard-Dilemma

6.3Elemente der Alltagsethik – oder: Ist Sören Kierkegaard ein Schwein?

6.3.1Norm und Alltagshandeln

6.3.2Reziprozität und Funktionalität

6.3.3Motiv und Handlungsfolgen

6.3.4Gesinnung vs. Verantwortung

6.3.5Nutzen und Schaden

6.3.6Die altruistische Nützlichkeitsethik

6.4Noch einmal: Ist Kierkegaard ein Schwein?

6.4.1Klugheitsethik

6.4.2Sozioprudenz-Ethik

Kierkegaard, der Liebende

Kierkegaard, der Ästhet

Kierkegaard, der Moralist

Kierkegaard, der Philosoph

Kierkegaard, der Theologe

Letzturteil

6.5Die ethische Inversionspyramide

6.5.1Sozioprudenz-ethisches Reflexionsschema

Motive

Ziele

Nebenfolgen

Funktion

Lektürekompass

7.Epilog: die Grenzen der Sozioprudenz

1.Aus der Erfahrung lernen

2.An sich selbst arbeiten, das Leben führen

3.Ziele anpassen

4.Nichts tun

5.Sich überlassen

6.Haltung bewahren

Lektürekompass

Anmerkungen

Zur Entstehungsgeschichte der Sozioprudenz, oder: Wie kann man Soziologie lehren, indem man sie handlungspraktisch interessant macht?

1. Sozioprudenz: die Kunst des klugen Handelns

2. Gabentausch: Schenken und Beschenktwerden

3. Geselligkeit: Einladungen und Partys, Feste und Feiern

4. Alltagsdiplomatie: Vermitteln, Verhandeln, Manipulieren

5. Intrige: geheimes Handeln

6. Ethik der Sozioprudenz

7. Epilog: die Grenzen der Sozioprudenz

Literaturverzeichnis

Danksagung

Personen- und Sachregister

Leseanleitung

Liebe Leser,

dies ist ein Lehrbuch für Soziologie. Vielleicht ist es aber auch ein Ratgeber: Wie kann man sozial klug handeln? Alles wird an Beispielen erklärt. Sie sammeln viele kleine Geschichten, die aus dem Alltagsleben von jungen Leuten stammen, wie sie zufällig in meinen Seminaren zusammengewürfelt wurden. Also ein Alltagsgeschichtenbuch?

Schwer zu entscheiden. Dieses Buch ist eine Mischung aus all dem, ein Hybrid. Es enthält ganz unterschiedliche Textsorten. Mal ist etwas ganz einfach zu verstehen, mal wird es richtig kompliziert. Es gibt ziemlich viele, manchmal lustige, manchmal problematische Beispiele, und dann kommt wieder ein abstraktes Schema. Ich möchte ja Verständnis für einen theoretischen Stoff entwickeln, indem ich ihn wie eine Erzählung präsentiere. Narrative Didaktik nennt man das.

In einem solchen Mischwald muss man sich zurechtfinden. Deshalb habe ich die Textsorten getrennt.

Den Ratgeber finden Sie im normal gedruckten Text. Er sollte fortlaufend lesbar sein, Sie können also die anders gedruckten Textteile auch einfach überschlagen und verlieren nicht den Faden.

Um ein tieferes Verständnis für die Ratschläge zu bekommen, muss man allerdings verstehen, wie sie theoretisch begründet werden. Dafür gibt es Theorieblöcke. Sie fassen ein soziologisches Thema, das am Anfang genannt wird, knapp zusammen. Die Summe dieser Theorieblöcke ergibt ein soziologisches Lehrbuch. Welche soziologischen Theoreme und welche Theoretiker aufgegriffen wurden, ist aus dem Register ersichtlich. Wo im Text Theoreme genannt sind, die an anderer Stelle ausführlich erklärt werden, sind sie hervorgehoben. Über das Register findet man diese Stelle.

Beispiel

Und dann werden die Einsichten durch Beispielgeschichten erklärt. Sie sind meist Zitate aus Protokollen, in denen die Studierenden über ihre praktischen Versuche berichten, eine kluge Handlung auszuführen: einen Geschenkplan für Weihnachten, eine Party, einen Konflikt in ihrer Wohngemeinschaft, eine kleine Intrige. Wo es sich anbot, habe ich bei diesen Beispielen auch Stoffe aus Filmen, Serien oder Romanen aufgegriffen.

Man kann dieses Buch auf allen Ebenen lesen: Rat suchen, Soziologie lernen, man kann ihm aber auch nur schöne Geschichten entnehmen, wenn einen die soziologische Theorie langweilt und der Ratgeber nervt. Der allerdings ist eng mit den Geschichten verbunden, man versteht die Ratschläge nur, wenn man auch die Beispiele liest. Aber man kann hin- und herspringen. Sie können zum Beispiel das erste Kapitel einfach überschlagen. Sie brauchen nicht zu verstehen, was eine sozioprudente Handlung ist, um ein gelungenes Geschenk auszusuchen. Springen Sie also zwischen den Kapiteln, die Sie interessieren, hin und her. Die Kapitel in sich enthalten allerdings so etwas wie eine zusammenhängende Erzählung, durch die der Stoff entwickelt wird.

Und jetzt, liebe Leser, noch ein Vorschlag: Sie alle haben eigene Geschichten. Wenn Sie hier Beispiele für sozioprudente Handlungen lesen, dann fällt Ihnen sicher ein, wie Sie einmal geschickt einen Streit lösen konnten, wie Sie Ihre Gäste am besten unterhalten oder ein geniales Geschenk gefunden haben. Von gelungenen Intrigen erzählen die Leute selten, das behalten sie lieber für sich. Aber auch hier bin ich prinzipiell interessiert.

Schreiben Sie mir diese Geschichten! Schicken Sie mir Beispiele für Ihre Sozioprudenz – oder für die Klugheit anderer. Die Welt ist voll mit solchen Beispielen, ich sammle sie und verwende sie in meinen Seminaren und Büchern, damit andere sie auch kennenlernen können – und dadurch vielleicht sozial klüger werden.

Also, wenn Sie mitarbeiten wollen, hier meine Anschrift:

Prof. Dr. Clemens Albrecht

Universität Bonn

Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie

Lennéstr. 25

53113 Bonn

sozioprudenz@uni-bonn.de

Zur Entstehungsgeschichte der Sozioprudenz – oder: Wie kann man Soziologie lehren, indem man sie handlungspraktisch interessant macht?

Lehrbücher sollen anlockend sein;

das werden sie nur, wenn sie die heiterste,

zugänglichste Seite des Wissens

und der Wissenschaft hinbieten.

Goethe, Maximen und Reflexionen

Es war auf der Insel Reichenau am Bodensee, im September 2008. Der Lipp-Kreis hatte sich getroffen. Eine Runde älterer Soziologen, meist schon aus dem Dienst ausgeschieden, seit Jahrzehnten befreundet. Neben dem Mentor Wolfgang Lipp gehörten Horst Baier dazu, der das Treffen organisiert hatte, Bernhard Schäfers, Arnold Zingerle, Justin Stagl, Carlo Mongardini und Hartmann Tyrell. Zwei Jüngere waren dazugeladen, außer mir Joachim Fischer aus Dresden. Ich kannte ihn seit Jahren, wir hatten viel in der Sektion Kultursoziologie zusammengearbeitet.

Gleich zu Beginn trug Fischer unter dem Titel Soziologie als Sozioprudenz einen Gedanken vor, der mich faszinierte. Neben der Kameralistik, der ethnographischen Reportage und der Sozialkritik habe unsere Disziplin noch eine weitere Wurzel, die er in sozialen Klugheitslehren der frühen Neuzeit verortete. Baldassare Castigliones Hofmann, Machiavellis Fürst, später dann Knigges Über den Umgang mit Menschen und Schleiermachers Geselligkeitslehre stehen für einen eigenen Strang der Reflexion, der soziale Zusammenhänge durchschauen und den Menschen zugleich klüger im sozialen Umgang machen wolle. Die Soziologie könne diese Traditionslinie heute aufgreifen und zu einer eigenen Dienstleistung an der Gegenwartsgesellschaft weiterentwickeln.

Bei einigen der älteren Herren stieß dieser Gedanke auf Kritik: Die Soziologie mache sich dadurch zur Sozialpädagogik. Nicht erstaunlich, dieser Einwand, steht Soziologie als Sozioprudenz doch gegen eine grundlegende Intention, die in dieser Generation noch sehr lebendig ist: Soziologie muss als ernsthafte empirische Disziplin anerkannt werden und sich deshalb von allen Protosoziologien distanzieren.

Mich dagegen fesselte die Idee. Ich hatte mich Jahre zuvor durch die französische Moralistik hindurchgelesen, Autoren wie La Rochefoucauld, LaBruyère, Vauvenargues, Montesquieu, Chamfort. Auch Teile von Pascals Pensées und Montesquieus Aphorismen zählen dazu. Auch hier war ich auf viele proto-soziologische Gedanken gestoßen, wenn etwa La Rochefoucauld in seiner Reflexion De la société überlegt, durch welche persönlichen Eigenschaften freie Geselligkeit gelingen kann: Indem der Einzelne auf seinen gesellschaftlichen Rang verzichtet, sich zurücknimmt und durch Distanz zu sich selbst die gelingende soziale Beziehung in den Vordergrund stellt.

Plötzlich ging die Türe auf, ein alter Mann schlurfte herein. Er unterschied sich eigentümlich von den distinguierten Krawattenträgern im Raum: verschwitztes Flanellhemd mit aufgekrempelten Ärmeln, zerbeulte Hose, längere Haare. Als er an meinem Sitzplatz vorbeikam, kramte er aus den Plastiktüten, die er bei sich trug, zwei Äpfel heraus und legte sie auf den Tisch: »Da, habe ich am Acker aufgelesen. Bin mit dem Fahrrad gekommen. Wär schad, wenn sie verfaulen.«

Er wurde freundlich begrüßt und suchte sich einen Sitzplatz: Roland Girtler, Professor für Soziologie an der Universität Wien – eines der Originale im Fach, das sich wohltuend von den üblichen Schwarz-T-Shirt-Trägern abhebt, die zwischen ihren Bildschirmen und den Szene-Kneipen pendeln und sich auf ihre Karrieren, politische Projekte und Lebensprobleme konzentrieren, nicht aber auf die Gesellschaft.

Girtler – »Doktor der Philosophie, Vagabund, Feldforscher, Experte für Sandler & Sennerinnen, für Dominas & Pfarrköchinnen, für Aristokraten & Ganoven, Scholar in Gottes Weltuniversität, Universitätsprofessor«, wie auf seiner Visitenkarte steht, die er mir später in die Hand drückte – ein schlecht kopierter und schief zugeschnittener Zettel –, ist einer, der ›ins Feld geht‹. Er kennt die Gesellschaft an ihren unteren wie an ihren oberen Enden. Kein Milieu ist ihm fremd, er treibt sich unter Bauern, Wilderern, Huren und Adeligen herum, auf seine ganz besondere Art kann er mit allen. Er fährt mit dem Fahrrad auf Tagungen und hält dabei die Augen offen. Er spricht jeden an, dem er begegnet. In seiner kauzigen Art verbiegt er sich keinen Zentimeter und versteht es doch, dass andere ihm ihre Geschichten erzählen und soziale Wirklichkeiten öffnen, aus denen er dann seine Bücher strickt.

›Ist Girtler nicht sozioprudent?‹, ging mir durch den Kopf. ›Kann er nicht genau das, was wir schon rein methodisch unseren Studierenden beibringen müssten: Ein soziales Feld scharfsichtig beobachten und kommunikativ erschließen?‹ Wie viele von ihnen vibrieren vor Nervosität, wenn sie nur einer Oma an der Bushaltestelle ein paar Fragen stellen müssen, und ziehen sich auf Sprechformeln zurück, sobald sie ihresgleichen vor der Mensa interviewen. Wie wenig durchschauen sie die Besonderheiten ihres eigenen Milieus, wie schwierig ist es manchmal für sie, die theoretischen Kenntnisse der Gruppensoziologie, die sie am Morgen in der Vorlesung gelernt haben, am Abend in der Wohngemeinschaft oder in der Clique anzuwenden.

Mir wurde schlagartig klar: Soziologinnen und Soziologen,1 sofern sie nicht nur rechnen oder theoretisieren wollen (was anständige Beschäftigungen sind, ich möchte sie hier nicht denunzieren), sollten sich auch in verschiedenen sozialen Kontexten bewegen können, sie sollten eine scharfe Beobachtungsgabe haben, mit anderen ins Gespräch kommen, und sie sollten alles, was sie in den Vorlesungen und den Seminaren so lernen, auch in ihrem Alltag umsetzen und anwenden können.

Um ein Beispiel zu geben: Wer im November in einer Vorlesung etwas über Marcel Mauss’ Theorie des Gabentausches gehört hat, sollte ein paar Wochen später ganz von alleine bemerken: Aha, Weihnachten ist ja ein Fest des Gabentausches! Wie wäre es, wenn ich einmal unter diesen Gesichtspunkten beobachte, was da so alljährlich in meiner Familie vor sich geht? Ob das nun Sozialpädagogik oder Methodenkompetenz genannt wird, ist mir eigentlich egal – aber müssen wir unseren Studierenden nicht beibringen, was Roland Girtler (und viele andere) können: Soziale Wirklichkeiten kommunizierend und handelnd erschließen?

In der Pause ging ich zu Joachim Fischer und schlug ihm vor, seine Idee in ein paar Modulen umzusetzen.2 Der Bologna-Prozess hatte gerade die Universitäten umgewühlt, und vielleicht bot sich hier die Möglichkeit, eine an sich idiotische Strukturvorgabe sinnvoll zu nutzen.

Jahre vergingen, 2013 kam die Gelegenheit. Im Zwei-Fach-Bachelor-Studiengang an der Universität Koblenz bat die Hochschulleitung alle beteiligten Institute, kleinere Wahlfächer einzurichten, die zur Profilierung das Studium der Hauptfächer ergänzen könnten.3 Ich entwarf zwei Module. Das erste heißt Grundlagen der Sozioprudenz. Es enthält neben einer Einführung in soziologische Grundbegriffe, die für Fachfremde gedacht war, ein Seminar Klassische Texte der Sozioprudenz, in dem wir Castiglione, Machiavelli, Gracián, La Rochefoucauld, aber auch Knigge, Kleist und Wilhelm Busch lasen, und ein Seminar Theorien der Sozioprudenz, in dem soziologische Klassiker wie Plessner, Elias, Simmel, Goffman u. a. behandelt wurden, alles natürlich unter dem Gesichtspunkt: Wie werden wir durch eine solche Lektüre auch sozial klug?

Im zweiten Modul Angewandte Sozioprudenz wurde es dann praktisch: Systematische Beobachtung der sozialen Umgebung im Alltagshandeln, generell Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit in sozialen Situationen, dann Kommunikationsanbahnung mit einzelnen und sozialen Gruppen.

Beobachtungs- und Kommunikationsfähigkeit bilden die Grundkompetenzen der Sozioprudenz. Über solche Skills muss auch verfügen, wer qualitative empirische Sozialforschung betreibt. Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Geschehen kann man schulen. Es gab Sonderpreise (meist in Form von Schokoladentafeln) für diejenigen, die den Mut hatten, sich an einen normalen Dorfstammtisch zu setzen oder unter die Bundeswehroffiziere, die regelmäßig in der Mensa zu Mittag aßen. Auch die Erkundung der Motive einer gepflegten alten Dame, die jeden Abend über den Campus lief und die Pfandflaschen einsammelte, wurde zur Aufgabe. Die wenigstens hatten sie bisher überhaupt bemerkt, und einer traute sich, sie anzusprechen. Siehe da: Die alte Dame suchte eine sinnvolle Beschäftigung, und war nicht auf das Geld angewiesen, das sie damit einlösen konnte. Anders war das mit den Wohnsitzlosen, die am Morgen nach den Sommerfesten über den Campus liefen und die Bierflaschen leertranken. Auch mit ihnen gab es interessante Gespräche.

Wir trainierten die Fähigkeit, nach einem Restaurant-Besuch die Personen an den Nachbartischen bemerkt zu haben und ihren Habitus skizzieren zu können. Wir wollten beobachten lernen, in welcher Situation sich die Personen befinden, denen wir flüchtig begegnen: Das ältere Paar am Nachbartisch, das sich miteinander langweilt und dies über mühsame Gespräche kaschiert, der Sitznachbar im Flix-Bus, die Freundinnengruppe, die uns auf der Treppe begegnet und eine aus ihrer Mitte tröstet. Wir versuchten, Atmosphären in sozialen Situationen systematisch beobachten und beschreiben zu lernen.

Diese Schulung der Grundkompetenzen der Sozioprudenz (Beobachtung, Beschreibung, Gespräch, Konversation, Verhandlung, situationsadäquate Selbstinszenierung, Sozioexperiment als Methode etc.) werden in diesem Buch nicht behandelt. Sie sollen in einer eigenständigen Publikation als Methoden der Sozioprudenz behandelt werden.

Das vorliegende Buch greift den Stoff auf, der im ersten Modul und zweiten Teil des praktischen Moduls gelehrt und in eigenen kleinen Experimenten (Sozioexperimente, auch darüber im Methodenbuch) als sozioprudente Handlung praktisch erprobt wurde.

Erste Aufgabe war, einen geselligen Abend zu planen und ihn so durchzuführen, dass er für alle Beteiligten in möglichst angenehmer Erinnerung bleibt. Wir diskutierten, welchen Stellenwert das gemeinsame Essen für Geselligkeit hat (und lasen dazu noch einmal Simmels Soziologie der Mahlzeit). Wir überlegten, ob ein Abend unter Freunden besser gelingen kann, wenn man ihn durch ein Spiel regelt, oder wenn man Gesprächen freien Lauf gibt. Wir besprachen, wie man entgleiste Gespräche (politische Differenzen!) wieder ins gesellige Miteinander zurückholt und Gäste, die gerne ihre Steckenpferde reiten (Fußball, Systemtheorie, GNTM) so einfängt, dass die anderen nicht entnervt die Augen verdrehen. Wer die Musik bestimmen darf, war ebenso wichtig wie die Frage, ob man schon gemeinsam kochen sollte.

Eine ernste ethische Debatte entzündete sich an der Frage, ob man Freunde belügen darf, damit der Abend besser gelingt. Fängt die Lüge nicht schon dort an, wo wir im Gespräch auch nur eine Nebenabsicht verbergen? Ja ist die Lüge nicht konstitutiv in das Handlungsprogramm des Menschen eingelassen, indem man latent andere Handlungsmöglichkeiten auf Vorrat hält und sein Tun erst später mit einem Sinn unterlegt? Interessante Fragen, sie werden in diesem Buch behandelt.

Weiter ging es mit den tausend kleinen Verhandlungen, die wir im Alltag so führen, um ein soziales Problem zu lösen. Wir nannten das Alltagsdiplomatie. Wir machten kleine Planspiele, sahen uns historische Beispiele an, ermittelten, über welche Eigenschaften der perfekte Diplomat verfügen müsse. Wir überlegten, in welchem Grad bei Verhandlungen Wissen offengelegt und Wissen verborgen bleiben muss – und für wen – und lasen dazu das Geheimnis-Kapitel von Simmel.

Zum Abschluss dann die Königsklasse: Wie mache ich eine gute Intrige? Wir lernten mit Peter von Matt die Elemente und den Ablauf von Intrigen kennen und gingen dann in die Planung: Intrigenziel, Intrigenhelfer, Mimikry, Ablaufschema, unvorhergesehene Ereignisse, Anagnorisis. Einige mit großen ethischen Skrupeln, andere mit einer ungeheuren Lust an der Verstellung. Die ethische Generalfrage erledigte sich schnell in der Praxis, weil die meisten Intrigen eben doch ganz nett waren und nur für Gesinnungsradikale problematisch: Überraschungspartys für Freunde oder Eltern. Aber auch ethisch Zweifelhaftes war dabei, dies alles wird im Intrigen-Kapitel behandelt. Es sind einige Kolleginnen und Kollegen Opfer geworden, auch von anderen Universitäten. Selbstverständlich wurde auch ich Opfer – von netten Intrigen, die mir eher geschmeichelt haben. Vielleicht aber auch weniger netten, die ich noch nicht durchschaue. Genau das habe ich den Studierenden beigebracht – und sie mir.

Wir hatten viel Spaß. Hier nur ein Beispiel: Weil die Computerprogramme zur Verwaltung der Studiengänge, die mit der Bologna-Reform an den Universitäten eingeführt wurden, unfähig waren, vor einer Modulprüfung zu testen, ob die Kandidaten auch alle Lehrveranstaltungen des Moduls besucht haben, hatten wir eine Fake-Verwaltung eingeführt: Modulzettel, auf denen der erfolgreiche Besuch der einzelnen Veranstaltungen von den Dozenten abgezeichnet wurde. Unten standen dann Datum und Note der Prüfung, und alles wurde (ganz wichtig!) mit einem Stempel versehen.

Da diese Zettel keinen rechtlichen Status hatten, in der Prüfungsordnung nicht vorkamen, mussten sie auch nicht archiviert werden, sondern wurden nach erfolgreich bestandener Prüfung den Studierenden wieder ausgehändigt. Theoretisch hatten daran auch die Prüflinge ein Interesse, denn jetzt hatten sie etwas in der Hand, ein Dokument. Trotzdem türmte sich im Laufe der Semester in unserem Sekretariat ein immer höherer Berg an nicht abgeholten Modulzetteln.

Um diesen Berg kleinzukriegen starteten wir im Seminar eine gemeinsame Intrige. Das Mittel war ein Gerücht: dass am Institut für Soziologie nach drei Monaten die Zettel vernichtet würden. Wir verbreiteten das Gerücht kontrolliert: In der ersten Woche erzählte nur eine Studentin diese Neuigkeit einer Freundin aus einem anderen Studiengang, die bekanntermaßen zum Klatsch neigte. In der zweiten Woche schrieben es drei Studierende in Facebook-Gruppen, ab der dritten durften alle Seminarteilnehmer es bei jeder Gelegenheit verkünden. Gleichzeitig maßen wir im Sekretariat per Strichliste die Steigerungsquote der Abholer.

Ich muss gestehen: Das Experiment war nur mäßig erfolgreich, die Quote stieg zwar signifikant, erreichte aber nicht die erwünschte Höhe. Im Seminar analysierten wir die Situation und kamen zu dem Ergebnis, dass von den rund 30 Teilnehmern vermutlich zu viele parallel die Botschaft verbreitet hatten, man müsse dieses Gerücht nicht ganz ernst nehmen. Sozioprudente Schlussfolgerung: Minimiere die Anzahl deiner Intrigenhelfer, jeder ist eine potentielle Schwachstelle.

Daraus wurde aber ein Running Gag am Institut. Noch viele Semester später pflegten die Mitarbeiter, wenn sie nach einem Modulzettel gefragte wurden, eine besorgte Miene aufzulegen und zurückzufragen: »Oh, wie lange liegt der Zettel denn schon hier?«, um, wenn dann als Antwort kam: »Keine Ahnung, aber die Prüfung war im letzten Semester«, mit ernstem Blick und erläuterndem »wir schreddern die nämlich nach einer Weile« ins Sekretariat zu eilen, den Zettel aus dem Stapel herauszuziehen und ihn erleichtert zu übergeben: »Ah, da haben sie noch einmal Glück gehabt!«

Ist das harmlos und lustig? Oder ist fies, gemein, ethisch nicht vertretbar? Wir jedenfalls fühlten uns dabei nicht abgrundtief böse, und sagten uns mit Vauvenargues: »Es überrascht böse Menschen stets, die berechnenden Schlauheit auch bei den Guten zu finden.«4

Wer das nicht nachvollziehen kann, lege dieses Buch am besten jetzt zur Seite und schlage stattdessen – sagen wir: Dostojewskis Dämonen auf. Vielleicht doch nicht, freundlicher sind Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann, das ist lustiger, und übrigens sehr sozioprudent – authentizitätspolitisch jedoch auch nicht ganz korrekt. Also am besten (Grimms Märchen kommen schon gar nicht in Frage!): die Bibel. Aber dann bitte nicht die Geschichte von der Schlange am Anfang, von Kain und Abel etwas später, von Esau und dem Linsengericht weiter hinten (Gott belohnt durch seinen Segen die Intrigantin!), von Esther und Holofernes usw. – ja was bleibt übrig? Psalm 23! Lesen Sie dann bitte Psalm 23, da kann nichts passieren. Halt: Die Zeilen »Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde« sollten Sie auch überlesen oder schwärzen, oder vielleicht haben Sie ja die Bibel in gerechter Sprache und da ist das anders übersetzt als bei Luther …

Was will ich damit sagen? Der Stoff der Weltliteratur (zu schweigen von Film und Fernsehen, nehmen wir einmal die Teletubbies aus) ist durchtränkt mit Verstellung, Lüge, Bosheit, Intrige, die einmal im Mord und Totschlag enden, einmal aber auch nur im gemeinsamen Gelächter (Shakespeare, Molière, How I met your mother). Und alle sind verwoben mit den Handlungsabsichten, Zwecken, Zielen, manchmal diabolisch effektiv, manchmal kontraproduktiv, manchmal aber auch lächerlich inadäquat, oder tragisch mit Verwicklungen und nicht intendierten Folgen, die kein Mensch absehen konnte – weil so der Stoff des menschlichen Lebens ist.

Schauen wir uns diesen Stoff an, riskieren wir, es zu leben, und das heißt eben auch immer: verantworten, was ethisch problematisch ist. Bis zu welcher Schwelle man dabei einigermaßen guten Gewissens (ein blütenreines haben nur Wesen ohne Bewusstsein) vordringen kann, wird im Ethik-Kapitel diskutiert. Wer damit umgehen kann, ist schon in gewisser Weise sozioprudent. Versuchen wir also, diese Fähigkeit und damit auch den Bewusstseinsgrad riskierenden menschlichen Handelns zu erhöhen. Es kann zum Guten wie zum Schlechten ausschlagen, aber das ist nichts Neues am Menschen.

Dieses Buch fasst zusammen, was ich in mehreren Semestern gemeinsam mit den Studierenden entwickelt habe. Es ist ein Resümee lernenden Forschens oder forschenden Lehrens – in praktischer Absicht. Sozioprudenz ist der Versuch, einen neuen, handlungspraktischen Zugang zum soziologischen Wissen zu legen. Dieses Wissen wird nur insofern aufgegriffen, als sich daraus praktische Folgerungen ableiten lassen. Deshalb ist dieses Buch in erster Linie als neue Form eines Lehrbuches gedacht, das handlungstheoretische und mikrosoziologische Wissensbestände an Beispielen aus der Alltagspraxis erläutert, die nicht deskriptiv, sondern präskriptiv ausgewählt sind: ein Lehrbuch als Ratgeber.

Welche soziologischen Theoriebestände aufgegriffen wurden, erschließt das Namens- und Theorem-Register. Es enthält natürlich bei weitem nicht alles, was aufgegriffen werden könnte, selbst dann, wenn man den Stoff nur unter den alltagspraktischen Themenfeldern Gabentausch, Geselligkeit, Alltagsdiplomatie und Intrige ordnet. Module haben Grenzen. Akademische Lehrer auch.

Das Lehrprojekt Soziologie als Sozioprudenz hat zwangsläufig einen hybriden Charakter. Manches ist lehrbuchartig zusammengefasst, manches umgeformt, manches von mir erfunden. Ich kann die Grenzen zwischen den Wissensbeständen der Soziologie und den verschiedenen Transformationen und Rekombinationen, die sich aus der praktischen Lehre ergeben haben, nicht mehr exakt ziehen. Das Ergebnis, das ich hier präsentiere, ist ein erster Ansatz, eine laufende Baustelle, auf der sich sowohl ganz konventionelle Bausteine (Mauss’ Gabentheorie, Goffmans Theaterbuch etc.) finden lassen, als auch unkonventionelle Überlegungen (Atmosphärenforschung, ethische Inversionspyramide). Generell habe ich mich an den Klassikern orientiert und nur hier und dort, wo ich anderes kannte und sich der Stoff anbot, aktuelle Theorien einbezogen. Auch Ausflüge in Philosophie und Literaturwissenschaft waren nötig. Achtung: Wer den aktuellen Kenntnisstand der Soziologie erwartet, muss enttäuscht werden!

Und zusätzlich möchte dieses Buch eben auch plausibel machen, inwiefern in den frühneuzeitlichen Weltklugheitslehren protosoziologische Erkenntnisse stecken. Sie haben als Maximen eine konstitutive Beziehung zur Sozioprudenz als praktischer Handlungswissenschaft, die im ersten Kapitel erläutert wird. Deshalb findet sich immer wieder Zitate von Machiavelli, Gracián, La Rochefoucauld oder Wilhelm-Busch-Gedichte dazwischengestreut, aber auch Schlagertexte, Filmszenen und anderes Material, das die Themen verdeutlichen und an Beispielen anschaulich machen kann. Puristen der Wissenschaft mögen mir das verzeihen. Ich bin aber der Überzeugung, dass das Lamentieren über vergessenen Bildungsstoff, das Stöhnen über »Die jungen Leute lesen nichts mehr!« wenig hilft, sondern dass es unsere Aufgabe ist, ihn in einer Form wieder interessant zu machen, die Lust auf die Lektüre alter Texte macht, indem sie auf den Stoff und den Lebensvollzug bezogen werden, mit dem die Netflix-Generation aufwächst.

Unendlich viel, liebe Fachkolleginnen und Kollegen, ist nicht berücksichtigt, was zweifellos dazu gehören könnte. Wenn Sie etwas sehen: Greifen Sie’s auf, machen Sie’s besser, machen Sie’s anders. Das hier ist nur ein Anfang, mehr oder weniger zufällig ein paar Steine aufeinandergesetzt, die ich am Wegrand gefunden haben. Nehmen Sie andere und bauen Sie weiter. Oder daneben. Oder was auch immer. Ich selbst arbeite gerade im gleichen Stil an einer Sozioprudenz in Organisationen.

Forschendes Lehren bringt es mit sich, dass man viel improvisiert. Manchmal bin ich ins Seminar gegangen und hatte außer einer vagen Idee über das Thema keinen Plan – weil keine Zeit zur Vorbereitung war, weil der Vorbereitungsstoff bei genauer Durchsicht nichts getaugt hat oder aus tausend anderen Gründen. Ich stand an der Tafel und erfuhr, was Kleist mit dem »allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden« gemeint hat. Dann habe ich die Tafel abfotografiert. Andere etwas zu lehren kann kreativ sein. Oder ich habe im ersten Seminar gemerkt: So geht’s nicht und es beim nächsten anders gemacht. Oder die Studierenden haben mich auf eine Idee gebracht, ich habe sie aufgegriffen und zum Stoff gemacht.

Ihnen gebührt ein großer Verdienst an diesem Buch, sie haben mich mit ihrem Interesse, mit ihrer Phantasie beflügelt – und soziale Phantasie zu entwickeln ist eine zentrale Fähigkeit der Sozioprudenz! Sie haben großartige Sozioexperimente entwickelt und Seminararbeiten von einer Originalität geschrieben, die man im normalen Betrieb kaum findet. Auf alles das kann ich in diesem Buch zurückgreifen. Studentische Protokolle aus den Sozioexperimenten sind das Material, an dem die soziologischen Theoreme anschaulich gemacht und mit dem Alltagsleben verbunden werden können.

Die Verbindung von theoretischem Lernen und praktischem Tun hat jedenfalls einen ganz eigenen Lerneffekt erzeugt. Und wenn auch ein Kommilitone, der dieses Wahlfach nicht belegt hat, einmal über seine Freunde zu mir sagte: »Sie haben da lauter kleine Monster großgezogen«, so hoffe ich, dass es die freundlichen Monster aus den Disneyfilmen und Kinderbüchern bleiben. Ich denke hier nicht an soziologische Superhelden, sondern eher an den Halbdrachen Nepomuk aus Jim Knopf, der ab und zu mal lila Rauch aus den Nüstern bläst, um jemand zu erschrecken, im Grunde aber ein herzensguter Kerl ist, genügend beschäftigt mit den kleinen und großen Katastrophen, die unser aller Leben ausmachen.

Auch bei den Studierenden der Sozioprudenz schimmerten die Tragödien des Alltags immer mal wieder zwischen reflektierten Erfahrungen hervor. Ich kann nur hoffen, dass sich durch dieses Studium die meisten trotz allem, was ihnen das Leben vorgelegt hat und noch vorlegen wird, ein wenig von der kindlichen Lust am sozialen Spiel bewahren, Schiller und Huizinga lesen, natürlich auch Weber und Plessner, ab und zu mal jemand ärgern, sich selbst noch weniger ernst nehmen als die Opfer ihrer kleinen Intrigen, über sich noch mehr lachen als über andere, aber ansonsten ihre Fähigkeiten zum Wohl der Menschheit einsetzen – worin auch immer es bestehen mag.

Blaise Pascal hat einmal geschrieben: »Manche Autoren sagen, wenn sie von ihren Werken sprechen: mein Buch … Sie sollten lieber ›unser Buch‹ … sagen, da meist mehr des Guten anderer als von ihnen darin steht.«5

In diesem Sinne widme ich unser Buch: Ramin Bahrami, Jennifer Behrens, Ragna Bertelsen, Patrick Binding, Ugur Bolat, Lisa-Maria Braun, Josef Brendel, Frederik Carstensen, Corinna Cerruti, Chao Lisa Cheng, Alwina Cischevski, Maria Dammann, Julia Efa, Valerie Enthaler, Sunay Erdem, Lara Erdmann, Isabelle Fedter, Madeleine-Sophie Ferger, Christian Frank, Tobias Ganter, Thomas Gil Toja, Janine Gläser, Carolyn Goerke, Noortje Grawunder, Phillipp Griener, Sedef Günes, Tania Günther, Katharina Heigel, Alena Herwartz, Eva Heuft, Tim Huyeng, Jennifer Imasuen, Clara Jäger, Philipp Jakobs, Henrike Katzer, Larissa Klee, Sarah Kraemer, Manuel Lude, Nadine Markert, Stella Medellias, Alexa Menzel, Hannah Meyer-Oeldig, Katharina Moraitou, Christina Morandell, Katharina Nicolas, Pia Oldvader, Ida Ostermeyer, Jessica Poh, Stefanie Rath, Kristin Reuter, Corvin Rick, Daniel Rief, Janine Robert, Franca Rösch, Sarah Ruszel, Sarah-Esmeralda Salbeck, David Schepkowski, Nina Schlager, Julia Schmidt, Jasmin Schmitt, Zoe Schmitz, Simone Schofenberg, Oliver Schröder, Mara Schulte-Ontrop, Ann-Kristin Specht, Valerie Spoo, Ronja Stege, Jakob Steinberger, Hannah Steuwer, Ann-Kathrin Vogt, Anna-Sophia Weier, Leona Weißgerber, Konstantin Wenning, Eva Wierschem, Anna Winterholler, Tatjana Winterholler, Melina Ziegler, Viola Zimmermann.

1.Sozioprudenz: die Kunst des klugen Handelns

Welt-Klugheit

Bleib nicht auf ebnem Feld!

Steig nicht zu hoch hinaus!

Am schönsten sieht die Welt

Von halber Höhe aus.

Friedrich Nietzsche,

Die fröhliche Wissenschaft

Wir alle sind sozioprudent, mehr oder weniger. Manchmal wollen wir jemandem helfen, aber das geht nur, wenn wir es geschickt anstellen. Manchmal wollen wir auch von anderen etwas, was sie nicht von alleine tun. Dann müssen wir ein bisschen nachhelfen. Und nicht selten müssen wir uns selbst austricksen, um ein Ziel zu erreichen. Darüber machen wir uns schon im Alltag erstaunlich viele Gedanken.

Aus dem Protokoll einer Studentin, die gerade angefangen hat, Sozioprudenz zu studieren und neu über das nachdenkt, was sie schon immer gemacht hat:

Beispiel

»Mir ist aufgefallen, dass ich mich im alltäglichen Handeln (also ohne Vorüberlegung und eher spontan) sozioprudenter verhielt (beziehungsweise der Verhaltensweise einen Namen geben konnte). Deshalb möchte ich zumindest ein paar dieser Handlungen festhalten: …

  • Eine Freundin von mir zog in eine andere Wohnung und hatte bereits Wochen zuvor Magenkrämpfe, wie sie den Umzug alleine stemmen könnte. Ich bot ihr meine Hilfe an, gab ihr aber auch den Tipp, andere Freunde anzurufen und zu fragen, ob sie helfen könnten, weil im persönlichen Gespräch die Hemmschwellen abzusagen größer sind. Im Anschluss daran solle sie die Leute sofort in eine Whatsapp-Gruppe aufnehmen und sich bei allen bedanken, damit die Zusage unter ›Augenzeugen‹ bestätigt ist. Letztendlich waren wir 15 Leute in der Gruppe und alle kamen zum Umzug.

  • Ich wollte meinen Freund dazu bringen, die kaputten Glühbirnen in der WG auszuwechseln, da wir Mädels dafür schlichtweg zu faul sind und ohne Leiter ja auch gar nicht hinkommen. Als ich ihn fragte, ob er das bitte machen würde, reagierte er erst erstaunt, weil wir das ja wohl selber machen könnten, woraufhin ich ihn fragte ob man dafür die Sicherung rausdrehen müsse. – ›Ja, ok. Ich mach’s‹, war die Antwort. Heldenmethode: Er als begabter Handwerker. Dabei beließ ich es aber nicht. Ich wollte ja sicher gehen, dass er es wirklich macht. Also fragte ich ihn genau, wann er welche Birnen kaufen und wie er sie dann auswechseln würde. Und siehe da: Er hielt sich an seinen eigenen Plan.

  • Sozioprudenz, auf mich selbst angewandt: Allein die Tatsache, dass man anderen Menschen erzählt, dass man viel lernt, verpflichtet zum Lernen. Zum einen, weil man es ja gesagt hat und das menschliche Hirn ungern Inkonsistenzen zulässt, zum anderen, weil man nicht für dumm gehalten werden möchte: Wer viel lernt, müsste eigentlich gute Noten schreiben.«1

Sind solche Handlungen klug? Sie haben jedenfalls ihr Ziel erreicht. Nicht auf direktem Weg, sondern durch kleine Tricks, die vielleicht den entscheidenden Impuls zum Erfolg setzten.

Vielleicht. Denn es waren ja auch tausend andere Umstände daran beteiligt, dass viele beim Umzug halfen, dass der Freund die kaputten Glühbirnen auswechselte, dass die Studentin vor der Prüfung viel lernte. Und klug kann eine Handlung ja nur sein, wenn aus mindestens zwei Handlungsmöglichkeiten eine gewählt wurde, die in irgendeiner Weise besser zum Ziel geführt hat als die anderen. Kluge Handlungen gibt es nur, wenn es auch unkluge Handlungen gibt – und wenn man zwischen beiden entscheiden kann.

Im Alltagsbewusstsein gehen wir (jedenfalls heutzutage)2 davon aus, dass wir Menschen einen freien Willen haben und entscheiden können, ob wir spazieren gehen oder zu Hause bleiben (wenn uns nicht Hunde oder Partner dazu nötigen), ob wir etwas zu Abend essen oder lieber fasten (wenn uns der Arzt oder das neue Kleid nicht eine Fastenkur auferlegen), ob wir den Fernseher anschalten oder etwas lesen wollen (wenn nicht die Lieblings-Soap kommt und die WG vor dem Fernseher zusammenströmt). Aber auch dann könnten wir uns vor dem Spaziergang durch eine Ausrede drücken, einen anderen Arzt, ein neues Kleid suchen oder uns mit verächtlichem Blick für die Kulturindustrie-Infizierten zur Adorno-Lektüre in das eigene Zimmer zurückziehen – um dann dort vielleicht heimlich Rosamunde Pilcher zu schauen, weil wir das romantischer finden als Bauer sucht Frau, uns aber schämen, das vor den anderen zuzugeben.

Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen. Warum? »Weil er den Widerspruch begreift zwischen der Weise, nach der er in seinem Innersten existiert, und der Unmöglichkeit, diese in seinem Äußeren auszudrücken.«3 Schon allein aus diesem Grund sind wir in unserem Selbstverständnis durchdrungen von der Vorstellung: beim Handeln zu einem gewissen, aber entscheidenden Teil frei zu sein. Und wir glauben auch, dass es möglich ist, diese Handlungsfreiheit weiter zu erhöhen.

Hier setzt sozioprudentes Handeln an: Wir können dumm handeln. Wir können aber auch klug handeln. Und wir können beim Handeln noch klüger werden, wenn wir darüber nachdenken und uns an der Praxis erproben.

Handeln, so Thomas Luckmann, bildet die Grundlage der menschlichen Lebenswelt.4 In unserer Alltagswirklichkeit geschieht zwar vieles ohne Handeln. Wir schlafen, wir träumen, wir überlassen uns gedankenlos dem Geschehen. Ansonsten setzt sich unser Alltag aber aus einer Kette von Handlungen zusammen.

Wenn wir überlegen, wie eine bestimmte Situation entstanden ist, denken wir ihre Ursachen als Folge vergangener Handlungen, weil wir uns fragen, ob ein anderes Handeln in der Vergangenheit nicht zu einer anderen Situation geführt hätte. Über die Möglichkeit des Handelns schreiben wir die Wirklichkeit, wie sie ist, unseren vergangenen Handlungen zu. Wir übernehmen damit Verantwortung: sei es im Kleinen, indem wir uns fragen, ob wir Schuld an einem Streit haben und ihn bei anderem Handeln hätten vermeiden können; sei es im Großen, dass wir uns als Menschen für den Klimawandel verantwortlich fühlen und daraus Konsequenzen für unser künftiges Handeln ableiten.

Wenn wir mit der Wirklichkeit, wie sie uns gegeben ist oder wie wir sie erwarten, nicht zufrieden sind, dann reagieren wir durch Handeln, weil wir seinen Folgen zuschreiben, die Wirklichkeit verändern zu können. Handeln ist eine Bewusstseinsleistung, die auf Wirklichkeitsveränderung zielt. »Zweifelsohne ist Handeln die Grundform des gesellschaftlichen Daseins des Menschen. Wir leben mit und unter anderen Menschen, wir handeln für und gegen andere.«5