Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Vorwort
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11
  18. Kapitel 12
  19. Kapitel 13
  20. Kapitel 14

Über dieses Buch

Als Clarissa wegen ihrer kranken Mutter häufig zur Oma muss, wird das Leben der Dreijährigen zur Hölle. Im Schlafzimmer der Großeltern passieren furchtbare Dinge. Vor laufender Kamera und im Beisein weiterer Männer wird Clarissa missbraucht. Weil der Opa behauptet, ihr einen Sender in den Rücken operiert zu haben, vertraut sie sich keinem an. Als sie sich wehrt, schlägt er ihren Kopf auf eine Stuhllehne, bricht ihr die Nase. Zehn Jahre geht das so. Dann hat Clarissa die Chance, sich zu befreien.

Über die Autorin

Clarissa Vogel, Jahrgang 1985, hat in ihrer Heimatstadt Düsseldorf Sozialpädagogik studiert und einige Jahre in einer kirchlichen Einrichtung gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner in der Nähe von Düsseldorf. Um auf Kindesmissbrauch und dessen Folgen aufmerksam zu machen, betreibt sie den Facebook-Blog Kairies schwarz-weiße Seifenblasen, PTBS, Depression und Borderline.

CLARISSA
VOGEL
mit Andrea Micus

Manchmal
konnte ich vor
Angst nicht atmen

Zehn Jahre missbraucht und gepeinigt.
Mein Weg in ein glückliches Leben

Vorwort

Es sind diese Augen. Sie sind wasserblau mit einem eiskalten Glanz, und sie durchdringen jede Faser meines Körpers.

Nur wenige Sekunden lang treffen sich unsere Blicke, aber die Zeit reicht aus, um alle Energie aus mir zu pressen. Mein Herz rast. Mir wird schwindelig, und ich taste nach etwas, das mir Halt gibt.

»Verzeihen Sie, brauchen Sie Hilfe?« Eine junge Frau steht vor mir und sieht mich besorgt an. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Bitte?« Ich sehe sie irritiert an und kann im Moment nicht einordnen, was sie meint. Die Augen? Ich habe sie wiedererkannt und weiß genau, zu wem sie gehören.

Wo ist der Mann jetzt? Er trug einen schwarzen Anzug und eine rote Krawatte. Oder war der Anzug blau? Verdammt, ich kann mich nicht erinnern. Er stand an der Bushaltestelle, an der ich jeden Morgen auf dem Weg zum Bäcker vorbeikomme. Ich habe ihn doch gesehen, oder nicht?

Wie immer bin ich an der Hausseite auf dem Bürgersteig gegangen. Da kommen mir normalerweise nicht so viele Menschen entgegen. Aber an der Haltestelle hatte sich heute eine Menschentraube gebildet, und ich musste mir einen Weg hindurch bahnen. Vorbei an zwei Männern in Anzügen, die offenbar in Gedanken vertieft auf den Bus warteten. Einen von ihnen habe ich aus Versehen ganz leicht berührt. Er hat zu mir aufgeschaut, und da habe ich sie gesehen: Die Augen, die mir in meinem Leben schon so unfassbar viel Angst gemacht haben, dass ich jetzt aufgelöst nach Luft japse …

»Nein, nein, alles gut«, beruhige ich nach einer Pause die junge Frau, die immer noch neben mir steht und mir jetzt sogar fürsorglich den Arm um die Schulter legt.

»Entschuldigen Sie, es ist nur … mir ist schwindelig geworden«, stammle ich ausweichend.

Sie soll sich nicht sorgen. Ich muss nur weg von hier, ganz schnell. Denn vielleicht ist er gar nicht in den Bus gestiegen, sondern noch in der Nähe. Er hat garantiert gemerkt, dass ich ihn erkannt habe. Vielleicht will er mich töten, so, wie er es schon früher oft angedroht hat.

Ich muss hier weg, sofort.

Ich ringe nach Luft und röchle laut.

»Eins, zwei, drei, durchatmen – eins, zwei, drei, durchatmen, eins, zwei drei …«

Zählen beruhigt mich, hoffentlich auch jetzt.

»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen? Wo wollen Sie denn hin?« Die junge Frau ist immer noch bei mir, hält meine Hand.

»Wie heißen Sie? Ich bin Ulrike!«

»Clarissa, Clarissa Vogel!«, antworte ich höflich. »Ulrike, bleiben Sie noch einen Moment bei mir, bitte«, flüstere ich. »Es geht mir gleich besser, ganz bestimmt.«

»Das Wetter ist heute so drückend. Da kann einem schnell mal schwindelig werden.«

Ich nicke und versuche dabei möglichst entspannt zu wirken.

»Eins, zwei, drei, durchatmen – eins, zwei, drei, durchatmen …«

Ob sie merkt, dass ich mich sehr zusammenreiße? Ob sie meine Angst bemerkt?

Ich zähle und atme, zähle und atme. Das habe ich in der Therapie gelernt. Man kann damit die Angst etwas kontrollieren. Normalerweise klappt das ganz gut. Aber heute ist es anders. Denn ich habe diesen Mann gesehen und weiß nicht, wo er jetzt ist.

»Ich möchte doch ein Taxi«, sage ich mit fester Stimme. »Könnten Sie mir bitte eins rufen und solange bei mir bleiben?«

Ulrike nickt und tippt schon die Nummer in ihr Handy. Hier, mit Ulrike an meiner Seite und im quirligen Morgenverkehr kann mir nichts passieren.

Durchatmen, ganz tief durchatmen, sage ich zu mir selbst und spüre, dass ich langsam ruhiger werde.

Es ist ein ganz normaler trüber Oktobertag, und ich wollte in dem kleinen Bistro in der Bäckerei nur einen Kaffee trinken. Denn heute früh habe ich kurz vor dem Spiegel gestanden, mich angesehen und gut gefühlt!

Ich bin 32 Jahre alt, eine erwachsene Frau mit langen dunklen Haaren, schlank, modisch gekleidet. Ich muss es doch endlich schaffen, ein halbwegs normales Leben führen zu können.

»Ich will, und ich werde«, habe ich mich lautstark selbst motiviert, meine Tasche gepackt und bin aus dem Haus gegangen.

Ich wollte stark und mutig sein. Und jetzt bin ich hier, an eine Hauswand gelehnt, und werde gestützt von einer jungen Frau, die sieht, wie schlecht es mir geht.

»Das Taxi!« Ulrike streichelt mir aufmunternd über den Arm. »Sie trauen es sich doch zu, nach Hause zu fahren?«

Ich nicke und lächle sie dankbar an. Es ist schön, dass sie bei mir geblieben ist. Das hat mir Sicherheit gegeben und etwas von meiner Angst genommen.

Als ich im Taxi nach Hause fahre, pocht mein Herz nach wie vor. Diese blauen Augen begleiten mich – und längst auch die dazugehörigen Bilder. Sie drehen sich jetzt immer schneller und schneller in meinem Kopf.

Ich versuche an etwas Schönes zu denken. Ich versuche mir eine Blumenwiese vorzustellen. Ich sehe roten Mohn und weiße Margeriten. Aber ich sehe auch Hände, höre Stimmen, spüre Schmerz.

Mir wird übel, furchtbar übel.

Ich muss mich übergeben.

»Bitte, können Sie anhalten!«

»Moment … sofort!«

Ich stoße hastig die Tür des Taxis auf, beuge mich hinaus, aber zum Glück nimmt mir die frische Luft die Übelkeit. Ich sauge zwei-, dreimal die Luft ein und ziehe die Tür wieder zu.

»Verzeihen Sie, bitte fahren Sie ruhig weiter. Es geht mir gut!«

»Wir sind auch schon gleich da!« Der sympathische Taxifahrer lächelt mich aufmunternd an.

Als ich aus dem Auto steige, beruhige ich mich mit der Vorstellung: »Der Mann im Anzug, er ist weg.« Immer wieder denke ich diesen Satz. Auch das habe ich in der Therapie gelernt. Man kann so viel durch Autosuggestion erreichen: »Der Mann im Anzug, er ist weg!«

Trotzdem sehe ich mich noch einmal um. Ist mir ein Auto gefolgt? Schnappen sie mich jetzt, weil ich einen von ihnen wiedererkannt habe?

Es muss ein ungewöhnlicher Zufall gewesen sein. Ich gehe so oft diesen Weg und habe noch nie jemanden dort gesehen.

Trotzdem werde ich die Gegend künftig meiden. Dieser Mann darf mich nie wieder sehen.