Vorwort

»Ist das wirklich alles im Leben?«, frage ich Fynn eher rhetorisch, während ich an meinem Bier nippe. Wir haben uns nach einer anstrengenden Skitour ins Gespräch vertieft und bemerken gar nicht, dass wir längst die letzten Gäste in der Après-Ski-Hütte sind und die zwei netten russischen Türsteher uns am liebsten rausschmeißen würden. Seit Stunden diskutieren wir über den »Sinn des Lebens«.

»Nein, das kann nicht alles sein«, antwortet Fynn, und auch ich bin mir sicher: Ich will kein Durchschnittsleben mit 1,3 Kindern, 2573,- Euro Gehalt und einem Golf vor der Tür führen.

Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel fliegen.

Dabei könnte man mein Leben als nahezu perfekt bezeichnen. Ich leite mit 22 Jahren den Customer Service eines renommierten Outdoorhändlers, wohne in einer schicken Vierzimmerwohnung in einem Trendviertel in München, habe die Berge, meine große Leidenschaft, fast direkt vor der Haustür und den wohl besten Freundeskreis der Welt. Fynn und ich lernten uns vor circa zwei Monaten bei unserem derzeitigen Arbeitgeber kennen. Die Chemie stimmte sofort, und bereits nach wenigen Wochen machten wir uns auf die Suche nach einer WG-geeigneten Wohnung. Bis jetzt war aber leider noch nichts Passendes dabei.

»Weißt du, wie viel so ein Umzug kostet und was wir mit diesem Geld alles anstellen könnten?«, fragt Fynn verträumt.

»Klar, eine neue Wohnung kostet uns Provision, Kaution, Einrichtung und natürlich Miete«, stimme ich zu. In einem Kalenderjahr sind das knappe 10.000 Euro pro Nase, und ich bin ja gerade erst umgezogen. »Irgendwo da draußen wartet der Sinn… wir müssen ihn nur finden«, sage ich und erzähle Fynn von meinem Schulabbruch vor dem Abitur. Damals habe ich mir fest vorgenommen, mit dem Fahrrad quer durch Europa zu fahren.

»Mann, warum hast du’s denn nicht gemacht?«, fragt Fynn, und seine Augen funkeln vor Abenteuerlust.

»Ach, du weißt doch, wie das ist, irgendwas kommt immer dazwischen«, seufze ich und nehme einen großen Schluck von meinem Bier.

»Ja, das stimmt. Aber wieso schuften die meisten Leute ein Leben lang, um sich dann irgendwann einen Lebensstandard leisten zu können, der ihnen eventuell, aber auch nur eventuell, Freiheit und Glück beschert?«, wirft Fynn ein.

»Ganz genau! Und warum sollte ich meinen Freiheitsdrang unterdrücken, wenn ich nicht mal weiß, ob ich später noch lebe, um die Früchte meiner Arbeit zu ernten?«, stimme ich ihm zu.

Den Traum von einer Weltreise habe ich, soweit ich mich erinnern kann, das erste Mal mit sechzehn Jahren geträumt. Ich wollte die Welt und ihre Bewohner entdecken, war dann aber doch nicht naiv und auch nicht alt genug, um einfach loszuziehen. Die Alternative war ein Austauschjahr in Amerika. Diese zwölf Monate waren die schönsten meines bisherigen Lebens und weckten das Reisefieber in mir. Damals habe ich mit dem Auto meines Gastvaters das Land erkundet. Auch deswegen kam mir später die Idee, das nächste Mal mit dem Fahrrad loszuziehen. Ich wollte noch intensiver reisen – langsamer und dadurch näher an Land und Leuten sein. Der Gedanke hat sich festgebissen, aber vor Fynn war mir kein Gegenüber verrückt genug, um ihn auszusprechen. Fynn hingegen hat als Kind sogar schon ein Jahr lang in einer ausgebauten Höhle auf Gran Canaria gewohnt und ist genauso neugierig auf die Welt wie ich. Dass er der Richtige für solche Späße ist, zeigt sich sofort:

»Wenn, dann machen wir es aber gescheit. In Europa waren wir ja schon fast überall«, platzt es aus ihm heraus, während uns die russischen Türsteher mit nicht mehr ganz so netten Blicken nach draußen drängen.

»Alles klar! Schlag ein, wir beradeln die Welt!«, antworte ich und füge lachend hinzu: »Morgen fangen wir an zu planen.«

Morgen sieht die Welt schon anders aus, sagt man. Als wir mit einem dicken Schädel aufwachen, gucken wir uns unsicher an. War das alles nur eine Schnapsidee, weil wir zu tief ins Glas geguckt haben? Meint Fynn es ernst? »Auf geht’s, Kaffee holen, und dann kaufen wir eine Weltkarte!«, sage ich lachend. Fynn schaut mich verschmitzt an und ist schneller aus dem Bett als ich gucken kann. Erleichtert stehe ich auf und strecke mich. Die Welt wartet auch heute noch auf uns.