Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-22833-5 (E-Book)
ISBN 978-3-26726-6 (Lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-verlag.de
Die Bibelverse wurden folgenden Ausgaben entnommen:
Tag 1 – Psalm 27,4: Hoffnung für alle® Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von `fontis – Brunnen Basel. (HFA)
Tag 5 – Jesaja 43,1: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)
Tag 12 – Psalm 46,11: LUT
Tag 26 – Matthäus 3,17 und Johannes 14,6: LUT
Tag 28 – Johannes 14,6: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten; Josua 1,6; Jesaja 43,1; Zefanja 3,17; Jeremia 31,3: Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten
Tag 29 – Jesaja 40,31: HFA
Redaktion: Christian Ebert, München
Gesamtgestaltung: Fabienne Sita, München
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Über die Autorin | Fabienne Sita
Tobias Teichen | Vorwort
Tag 0: Tagtraum
Tag 1: Die Enttäuschung
Tag 2: Das Candle-Light-Dinner
Tag 3: Die Hütte und der Tanz
Tag 4: Erwartungen
Tag 5: Entscheidungen
Tag 6: Die Galerie
Tag 7: Gottesdienst
Tag 8: Staub
Tag 9: Wendepunkt
Tag 10: Prüfungen
Tag 11: Der Tränensee
Tag 12: Drachensteigen
Tag 13: Das Abendmahl
Tag 14: Sein
Tag 15: Fesseln
Tag 16: Schönheit
Tag 17: Regen
Tag 18: Verlassen
Tag 19: Über Wunden
Tag 20: Schwerelos
Tag 21: Die Umarmung
Tag 22: Abgelenkt
Tag 23: Der Spiegel
Tag 24: Der Schwarm
Tag 25: Die Erschöpfung
Tag 26: Ein Bruchteil Gottes
Tag 27: Der Seiltanz
Tag 28: Frei sein
Tag 29: Der letzte Wunsch
Tag 30: Gott ist Gott
Nachwort
Danksagung
Bildnachweise
… Jahrgang 1986, ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Nach dem Fotodesign-Studium in München und einem Jahr im Ausland arbeitet sie heute als Art Director im ICF München. Obwohl Fotografie ihre erste große Leidenschaft ist, liebt sie alles, was mit Kreativität, Gestaltung und Kunst zu tun hat. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in München.
Der Himmel verdunkelt sich. Auf einmal reißt ein Stück Wolkendecke auf. Ein Engelchor schwebt herab und stimmt das Halleluja an. Dann ertönt eine Stimme, die sagt: „Gott hat dir etwas zu sagen!“
Vielleicht tragen wir diese Vorstellung, wie Gott zu uns Menschen spricht, unbewusst manchmal mit uns herum, aber mit der Realität hat das doch wenig zu tun. Dennoch redet Gott – auch heute noch! Ich bin Pastor und erlebe in meiner täglichen Arbeit, dass Gott auf verschiedene Art und Weise zu uns Menschen Kontakt aufnimmt. Durch Zeichen, Impulse und Worte, aber eben auch durch Bilder, die vor unserem inneren Auge erscheinen, wenn wir mit Jesus kommunizieren.
Mit der Autorin dieses Buches, Fabienne Sita, hat Gott in dieser Bildersprache geredet. Mich begeistert die Art und Weise, wie sie ihre inneren Bilder in einer fantasievollen und verständlichen Sprache verpackt hat. Doch genauso fasziniert mich, wie sich ihr persönlicher Weg mit Gott entwickelt hat. Von Unsicherheiten und Zweifeln hin zu einem tiefen Vertrauen zu unserem Schöpfer. Das hat mich ebenfalls herausgefordert, tiefer in mein Inneres abzutauchen und im Dialog mit Gott neue Dimensionen mit ihm zu entdecken.
Ich war beim Lesen immer wieder aufs Neue überrascht, wie oft ich mich selbst in den schonungslos ehrlichen Begegnungen der Autorin mit Gott wiedergefunden habe. Als Pastor muss ich regelmäßig biblische Prinzipien für Menschen neu begreifbar machen. Immer wieder Bilder und Beispiele in meine Predigten einbauen, die biblische Aussagen leichter verständlich machen. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch in einem Rutsch durchgelesen. Es hat mich einfach begeistert, denn Fabienne Sita zeigt, wie uralte Wahrheiten auf unerwartete Art und Weise lebendig werden können. Nicht in der Theorie, sondern ganz real in Bildern, in denen Gott der Autorin begegnet, sich ihr vorstellt und sein biblisches Wesen offenbart. Ein Gott, dessen Wesen aus Liebe und Güte besteht, der uns mit seinen Prinzipien immer wieder auf den richtigen Weg bringen kann und niemals müde wird, uns zu ermutigen.
Es war Sonntag, ich saß im Gottesdienst und der Pastor hatte gerade seine Predigt beendet. Während die Musik einsetzte, blieb ich in Gedanken versunken sitzen. Ein einzelner Satz aus der Predigt hallte noch in meinem Kopf nach und wollte nicht verschwinden, als wäre er der Meinung, er wäre der Ehrengast der Veranstaltung und dürfte meine ungeteilte Aufmerksamkeit einfordern.
»Wenn du deine Geschichte nicht erzählen kannst, dann schreib doch ein Buch darüber.«
Ein netter Gedanke. Ein Buch zu schreiben, war durchaus etwas, das ich gerne einmal ausprobiert hätte. Leider hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie man Bücher schreibt. Ich wusste auch nicht ansatzweise, wovon mein Buch handeln sollte. Oder wer es lesen sollte. Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, dass ich fürs Schreiben eine besondere Begabung besaß.
Wieder einmal spürte ich diesen alten Schmerz in mir. Meine Leidenschaft ist es, Neues zu erschaffen, meine Kreativität einzusetzen, um Menschen zu berühren. Die Realität machte mir jedoch schon seit geraumer Zeit einen Strich durch diese Rechnung. Ein Strudel negativer Gefühle zog mich nach unten und brachte mich emotional an den Punkt, dass ich langsam anfing, an meinem Selbstwert zu zweifeln. Doch nicht nur das. All die enttäuschten Hoffnungen, die wieder und wieder im Gebet bei einer weiteren Bewerbung auf eine Arbeitsstelle aufgekommen waren, ließen in mir langsam auch die Frage entstehen, wo denn eigentlich dieser Gott war, an den ich zu glauben behauptete.
Die Band spielte weiter. Der Strom der Musik drohte, sich mit dem meiner Tränen zu mischen, gegen die ich mit geschlossenen Augen ankämpfte. Wie ein kleiner Fleck blauen Himmels zwischen den Sturmwolken in meinem Kopf schob sich da ein kleiner, neuer Gedanke in den Vordergrund:
Dreißig Tage.
Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Ich wandte mich an denjenigen, den ich meiner Erfahrung nach hinter derartigen Geistesblitzen vermutete: »Gott? Was meinst du damit?«
Die Antwort bestand aus zwei weiteren rätselhaften Worten, die noch weniger Sinn ergaben:
Dreißig Tage im Thronsaal.
War das – eine Aufforderung? Eine Einladung? Ich konnte immer noch nicht viel damit anfangen. Während ich darauf wartete, ob Gott noch mehr dazu zu sagen hatte, schossen mir bereits die ersten Fragen durch den Kopf. Wo sollte sich dieser Thronsaal befinden? Und wie sollte ich dorthin kommen?
Bevor ich jedoch dazu kam, eine dritte Frage zu formulieren, spielten sich wie in einem Tagtraum Fragmente von Szenen und Eindrücken aus einem Thronsaal vor meinen geschlossenen Augen ab. Es war kurz, es war schnell wieder vorbei und es ergab noch nicht allzu viel Sinn. Es kam mir wie eine Vorschau zu etwas Größerem vor, etwas, das mehr Zeit verlangte, um vollständig erfasst zu werden. Aber die Bilder waren eindeutig und lebendig.
Dreißig Tage?
Also gut.
Anscheinend wollte Gott mir etwas zeigen. Ich wusste nicht, wo, ich wusste nicht, wie oder was, aber ich hatte um eine Idee gebeten und ich hatte eine Idee bekommen. Also entschied ich mich, Gott für den nächsten Monat eine neue Chance zu geben, mich zu überraschen. Dreißig Tage wollte ich mich bereit machen für eine Begegnung mit ihm.
Die Band spielte ihr letztes Lied, ich öffnete meine Augen und stand auf.
Der nächste Morgen war ein Montag. Ich war müde, meine To-do-Liste war lang und die Sache mit dem Thronsaal hatte ich schon wieder halb vergessen. Ich hatte andere Dinge vor, die hauptsächlich aus besagter To-do-Liste bestanden, und an die wollte ich mich möglichst schnell setzen. Stattdessen machte ich mir erst einmal ein Müsli und setzte mich an den Küchentisch.
Als Begleitlektüre für mein Frühstück wählte ich mein Andachtsbuch und schlug es dort auf, wo ich zuletzt stehen geblieben war. Noch bevor ich zu lesen angefangen hatte, schossen mir die Worte »Dreißig Tage im Thronsaal« durch den Kopf. Auf der Seite, die ich aufgeschlagen hatte, war ein Foto abgebildet, das mich augenblicklich an den Thronsaal aus meinem Tagtraum vom Abend zuvor erinnerte.
Stimmt, da war was gewesen.
Die Bibelstelle zur Andacht stammte aus Psalm 27: »Um eines habe ich den Herrn gebeten; das ist alles, was ich will: Solange ich lebe, möchte ich im Hause des Herrn bleiben. Dort will ich erfahren, wie gut der Herr es mit mir meint, still nachdenken im heiligen Zelt.«
Das brachte mich zum Nachdenken. Ein Thronsaal war für mich schon seit Langem ein Bild für den Ort, an dem Gott wohnt. Die Bibel beschreibt Gott häufig als einen König, der von seinem Thron aus das Schicksal dieser Welt lenkt. Für mich war dieser Thronsaal aber mehr als nur eine Audienzstätte oder ein Gerichtssaal – er war Gottes Wohnung. Der Ort, an dem er zu Hause war, wenn man das so sagen konnte.
Der Text des Psalms und mein Eindruck von gestern ergaben auf einmal etwas, das Sinn machte: Ich wollte Gott in seinem Haus besuchen, und das dreißig Tage lang.
Das hörte sich gut an.
Und ein wenig seltsam. Wie um alles in der Welt sollte ich Gott »in seinem Haus« besuchen? Am Ende war die Idee vom Thronsaal doch nur ein Bild. Ich konnte mir ja nicht Schuhe und Jacke anziehen und zu meinem Mann sagen: »Du, ich bin jetzt mal für eine Weile bei Gott im Thronsaal.« So viel war klar.
Aber wenn ich über die ganze Sache als Bild nachdachte, konnte ich ja eventuell auch meine »Besuche« bildlich verstehen. Wie man vielleicht bereits mitbekommen hat, bin ich ganz gut im Tagträumen. Es hat Vor- und Nachteile, eine stark visuell ausgeprägte Wahrnehmung zu besitzen. Das hier war einer der Vorteile. Als ich daher die Augen schloss und mich entspannte, war ich nicht allzu sehr überrascht, als sich nach einer Weile vor meinem inneren Auge ein Tagtraum abzuspielen begann.
Ich stand am Fuß einer weißen, steinernen Treppe. Sie führte auf einen Berg hinauf. Als ich den Stufen mit meinen Augen folgte, sah ich weit oben in großer Entfernung den winzigen Umriss eines Gebäudes, die Treppe dorthin schien endlos zu sein. Angesichts des Umstands, dass ich nicht wirklich das bin, was man für gewöhnlich als sportlich bezeichnet, verspürte ich keine große Lust, mich an den Aufstieg zu wagen. Hatte das Motto nicht »Dreißig Tage im Thronsaal« geheißen und nicht »Dreißig Tage auf einer weißen Treppe«?
Da ich jedoch außer der Treppe nichts anderes Sehenswertes ausmachen konnte und das Gebäude oben keine Anstalten machte, zu mir herunterzukommen, setzte ich dann doch widerwillig meinen Fuß auf die erste Stufe.
Während ich langsam die Treppe hinaufstieg, bemerkte ich einen Mann, der neben mir herging. Ich konnte nicht ausmachen, woher er auf einmal gekommen oder wie lange er schon neben mir gelaufen war. Er trug unauffällige, weiße Kleidung und war auch ansonsten eher unscheinbar. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig. Es fühlte sich seltsam natürlich an, ihn neben mir zu haben. Es war ein wenig, als wäre man einem alten Bekannten über den Weg gelaufen, dessen Anwesenheit man schon immer genossen hat, an dessen Namen man sich nur gerade nicht erinnern kann. Während ich noch damit beschäftigt war, meinen neuen Begleiter zu studieren, ergriff er das Wort.
»Weißt du, von unten sieht der Aufstieg für jeden unbezwingbar aus«, sagte er. »Das erste Mal ist immer am schlimmsten, weil man nur sieht, wie lang die Treppe ist und wie kurz die eigenen Beine sind. Man rechnet sich aus, wie viel Kraft man für den Aufstieg bräuchte, und kommt zu dem Schluss, es sei unmöglich. Dabei vergisst man lediglich, Gott in die Rechnung mit einzubeziehen.«
Im selben Moment, in dem er das Wort »einzubeziehen« aussprach, nahm mein Fuß die letzte Stufe und wir waren oben angelangt.
Verdutzt drehte ich mich um. Wie war denn das plötzlich so schnell gegangen? Ich war nicht einmal außer Puste. Die Treppe jedoch war von oben betrachtet noch genauso lang wie zuvor. Ich sah den Mann an. Er lächelte, ein wenig vergnügt.
»Viele Menschen wollen zwar Gott begegnen, aber sie vergessen dabei, dass er auch ihnen begegnen möchte. Deshalb sieht der Weg zu ihm aus ihrer Perspektive oft unüberwindbar aus. Viele geben auf, bevor sie überhaupt angefangen haben.«
Ich musste daran denken, dass auch ich beinahe in diese Kategorie gefallen wäre.
»Gott«, fuhr der Mann fort, »wartet jedoch nur darauf, dass wir einen ersten Schritt auf ihn zukommen. Den Rest des Weges kommt er uns ganz von allein entgegen.«
Gemeinsam gingen wir zu dem Gebäude, das sich aus der Nähe betrachtet als wesentlich größer herausstellte, als es vom Fuß der Treppe her den Anschein gemacht hatte. Es war vollständig aus grauem Stein. Zugegeben, ich fand es nicht besonders schön. Ein bisschen langweilig, wie bürgerliche Nachkriegsarchitektur. Der Mann führte mich zum Eingang. Auch wenn mich mein erster Eindruck hätte vorwarnen können, hatte ich doch insgeheim irgendwo ein großes, prächtiges Tor erwartet, mit goldenen Türflügeln und prunkvollen Rahmenverzierungen und himmlischem Licht, das aus dem Türspalt strahlte.
Wir kamen vor einer kleinen Holztür zu stehen.
»Hier ist der Eingang zum Thronsaal. Bist du bereit?«, fragte der Mann.
Was war denn das für eine Frage? Klar, von außen entsprach das Bisherige nicht ganz meinen Erwartungen, aber warum sollte ich nicht bereit sein? Ich hatte am Tag zuvor doch schon erste Bilder vom Inneren des Thronsaals gesehen; deswegen war ich schließlich hier. Das war bestimmt ein Trick, dachte ich, so wie mit der Treppe. Nichts ist, wie es scheint. Harte Schale, weicher Kern. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber –
Ich öffnete die Tür und ging hinein. Und war augenblicklich fassungslos. Mir stand die Enttäuschung nicht ins Gesicht geschrieben, sie war eintätowiert.
Das Innere des Gebäudes war dunkel und kahl. Die Innenwände bestanden aus demselben tristen Stein wie ihre Außenseiten, lediglich ein paar Fenster waren weit oben in die Mauern eingebracht, und das spärliche Licht, das durch sie fiel, reichte gerade aus, um einen Holzstuhl erkennen zu lassen, der im hinteren Drittel des Raums stand. Ansonsten war das Gebäude leer. Ich ging ein paar Schritte in die gähnende Leere hinein, spähte in die Ecken. Nichts. Ein Holzstuhl in einem leeren Zimmer.
Ich wurde wütend. Tatsächlich wurde ich derart wütend, dass ich mich auf der Stelle umdrehte, aus der Tür und am Mann, der danebenstand, vorbeistampfte und mich daranmachte, die Treppe wieder hinabzusteigen. Veräppeln konnte ich mich selbst.
»Ist es nicht das, was du erwartet hast?«, fragte der Mann, der noch dort stand, wo ich ihn stehen gelassen hatte. Ich entschied mich, eine derartige Frage nicht zu beantworten.
»Vielleicht hast du nicht alles gesehen?«
Wollte er mich jetzt auch noch für dumm verkaufen? Da gab es nichts zu übersehen! Der Raum war leer gewesen, bis auf diesen lächerlichen Stuhl. Ich war beleidigt, aber ich musste zugeben, dass ich mir dann doch nicht hundertprozentig sicher war. Der Raum war relativ dunkel gewesen und ich war sehr schnell wieder nach draußen gelaufen. Was, wenn ich tatsächlich etwas übersehen hatte? Etwas, das der ganzen Farce doch noch einen Sinn gab? Eine Kleinigkeit nur, die meine Wahrnehmung des Raums verändert hätte?
Blödsinn, der Raum war leer gewesen, ich war ja nicht blind. Außerdem ging es gar nicht darum. Die eigentliche Frage war ja: Wo war Gott? Um ihn ging es doch. Sah so sein glorreicher Thronsaal aus?
Ich bemerkte, dass ich stehen geblieben war. Ich war sauer, aber ich konnte, ja, wollte auch nicht einfach mit leeren Händen wieder die Treppe hinabgehen. Widerwillig gab ich der Sache also eine letzte Chance.
Ohne den Mann eines Blickes zu würdigen, ging ich an ihm vorbei erneut in das Gebäude. Es war immer noch leer. Leer und grau und dunkel und leer. Ich ging einmal von vorne nach hinten und wieder zurück, sah zur Decke hoch – vielleicht hatte sich ja dort etwas versteckt – und unter den Stuhl, aber es war nichts da. Ich hatte nichts übersehen.
Ich klammerte mich an das Einzige, was in der Lage war, dem Ganzen doch noch einen kleinen Fetzen Sinn zu geben.
Den Stuhl.
Ich setzte mich ihm gegenüber auf den kalten Boden und starrte ihn an, während ich auf eine Eingebung wartete.
Stuhl. Braun. Holz. Vier Beine. Lehne. Stuhl.
Stuhl Stuhl Stuhl Stuhl.
Blöder Stuhl.
Mein Kopf blieb so leer wie dieser Stuhl, so leer wie das ganze Gebäude. Ich löste meinen Blick von dem nichtssagenden Ding und entdeckte ein kleines Holzkreuz, das hinter dem Stuhl an der Wand hing. Hatte das davor auch schon dort gehangen?
Ganz langsam, nach und nach, dämmerte es mir und das Licht des Verständnisses begann, meinen Kopf zu erhellen.
Was, wenn der Thronsaal nicht wegen Gott so schlicht gehalten war, sondern wegen mir? Wäre ich tatsächlich vor einem grandiosen Dom angekommen, mit diamantbesetzten Toren, goldstrahlenden Kapitellen, einem majestätischen Thron und Gottes blendender Herrlichkeit – hätte ich mich jemals getraut, auch nur einen Fuß in solch ein Gebäude zu setzen? Vor diesem Gott hätte ich höchstwahrscheinlich die Beine in die Hand genommen, die Zimmertür hinter mir verriegelt und mich unter meiner Bettdecke verkrochen. Zu gut wusste ich um meine Unzulänglichkeiten, darum, wie klein ich war und wie groß meine Schwächen waren – wie viele Absagen ich in letzter Zeit auf meine Bewerbungen bekommen hatte. Im Angesicht von Gottes Vollkommenheit wäre meine Unvollkommenheit so deutlich zutage getreten wie Erde unter einer zu dünnen Schicht Schnee.
Gott aber wollte nicht, dass sich all das zwischen ihn und mich stellte. Er wollte sich mit mir treffen. Deshalb, so war mir nun klar, hatte er sein Zuhause für unsere erste Begegnung so gestaltet, dass ich auch nicht im Entferntesten gezögert hatte einzutreten. Er hatte seine ganze königliche Großartigkeit und Herrlichkeit für mich abgelegt, damit ich ihn ohne Vorbehalte besuchen konnte.
Ein weiterer Gedanke kam mir. Eigentlich hatte Jesus ja dasselbe getan (vielleicht lag das ja in der Familie): Er hatte all seine Göttlichkeit aufgegeben, damit er uns einfach besuchen kommen konnte. Wäre er im göttlichen Rolls Royce aufgefahren und hätte seine himmlischen Heerscharen vor sich auflaufen lassen – wie es ihm meiner Meinung nach durchaus zugestanden hätte –, hätte sich wohl kein Mensch auch nur in seine Nähe getraut. Sie wären ihm vielleicht nachgefolgt, aber doch aus Angst und nicht aus Überzeugung.
Stattdessen ließ er sich so weit herab, dass Menschen sich sogar über ihn stellen konnten. Wie ich gerade, als ich voller Arroganz und Blindheit seine Absichten falsch verstanden hatte, aus dem Zimmer gestürmt war und mir das Recht herausgenommen hatte, auf ihn sauer zu sein, anstatt seinen schlichtesten, reinsten Annäherungsversuch wertzuschätzen.
Jesus hatte sich den Beruf des Schreiners als Tätigkeit für seine Zeit auf dieser Welt ausgesucht. Ein Schreiner baut Dinge – unter anderem Holzstühle, fiel mir auf –, er repariert sie auch, wenn sie kaputtgehen. Kaputtgegangen war in letzter Zeit auch etwas in mir: mein Herz. Mein Herz, das enttäuscht und entmutigt war. Mein Herz, das angefangen hatte, zu zweifeln und zu hadern. Mein Herz, das aufgehört hatte, an sich und an Gottes Möglichkeiten zu glauben. Ich hatte ein kaputtes Herz. Und jetzt war ich genau deswegen hier. Stühle schreinern und Herzen reparieren … Es ging um mein Herz!
In mir löste sich mit einem Mal ein Druck, den ich bislang nicht einmal wahrgenommen hatte. Mein Herz atmete auf, als wäre es nach zu langer Zeit unter Wasser endlich an die Oberfläche gekommen. Die Anspannung, mich beweisen, mich durch Aussehen und Leistung hervortun zu müssen, mich andauernd zu vergleichen, all das hatte in diesem Thronsaal von Anfang an keinen Platz gehabt, und erst jetzt merkte ich, wie gut mir das tat. Ich konnte einfach so sein, wie ich war, genauso schlicht, simpel und leer wie dieser Raum.
Tiefe Ruhe und Wärme legten sich wie eine väterliche Umarmung um mich und hüllten mich ein. Es war ein göttlicher Moment und ich kostete ihn aus, solange es ging.
Schließlich spürte ich, dass es Zeit geworden war, zu gehen, und ich stand auf. Vor mir stand noch immer der Holzstuhl. An der Wand dahinter hing das Kreuz. Jetzt tat es mir tatsächlich ein bisschen leid, diesen prachtvollen Thronsaal verlassen zu müssen. Ein letztes Mal atmete ich die heilige Schlichtheit dieses Ortes ein, dann trat ich mit einem Lächeln ins Freie, wo mein Begleiter in Weiß bereits auf mich wartete und mich mit einem: »Du kannst wiederkommen, wann immer du willst«, verabschiedete.
Er machte keine Anstalten, mich auf meinem Rückweg die Treppe hinunter ebenfalls zu begleiten, was mir die Vorfreude auf den Abstieg ein wenig schmälerte. Doch als ich an der Treppe ankam, bestand sie zu meiner Überraschung nur noch aus einer einzigen Stufe. Der Mann hinter mir sah meine Verwunderung und lachte.
»Der Weg von Gott zurück in den Alltag ist immer leichter als andersherum, nicht wahr?«
Am heutigen Tag war ich beinahe nervöser als gestern. Da war ich mit der Ungewissheit des Neuankömmlings zum Thronsaal gegangen. Heute jedoch war es die Ungewissheit der Wiederkehrenden, die nicht sicher war, ob sie nicht doch nur etwas Einmaliges erlebt hatte. Was, wenn ich mich bei meinem Dreißig-Tage-Projekt doch geirrt hatte und mein erster Besuch alles gewesen war, was Gott für mich vorbereitet hatte – ein kleiner Ansporn nur, um wieder mehr Zeit mit ihm zu verbringen? Vielleicht war es ja besser, nichts zu erzwingen und ein paar Tage abzuwarten, ehe ich denselben Weg ein weiteres Mal beschritt.
»Du kannst jederzeit wiederkommen«, hatte der Mann in Weiß gestern Morgen gesagt.
»Aus Angst aufzugeben, kommt nicht infrage«, hatte mein Ehemann gestern Abend gesagt.
Also gut.
Mit einer neuerlichen Schüssel Müsli setzte ich mich an den Küchentisch, atmete dreimal tief durch und schloss meine Augen.
Die Treppe war noch da. Das war bereits ein guter Anfang. Tausendstufig wie am Tag zuvor wand sie sich den Berg hinauf, doch nach meinen Erlebnissen von gestern machte sie trotz ihrer Länge nur noch wenig Eindruck auf mich. Mit großen Sätzen nahm ich mehrere Stufen auf einmal und befand mich kurz darauf bereits oben. Wie in aller Welt das funktionierte, sollte mir ein Rätsel bleiben, aber egal – ich war oben.
Ich sah mich um. Alles war wie am Tag zuvor. Nicht weit von mir entfernt stand das Steingebäude, an dessen Vorderseite ich die kleine Holztür erkennen konnte. Neben ihr wartete der Mann in Weiß. Ehrlich gesagt sah das alles dem gestrigen Tag ein wenig zu ähnlich. War das hier wirklich etwas Neues oder lediglich eine Wiederholung?
Ich ging auf den Mann in Weiß zu. Er begrüßte mich und führte mich um das Gebäude herum zur linken Seite, welche ich bisher noch nicht gesehen hatte. Dort war eine zweite Tür, die ein wenig größer war als die vorne und zudem mit feinen Schnitzarbeiten am Türrahmen versehen. Diese neue Tür schien mir ein gutes Zeichen dafür zu sein, dass heute nicht alles beim Alten bleiben würde. Gleichzeitig konnte die Tür nicht wirklich woanders hinführen als in denselben Raum wie gestern, und den kannte ich ja schon. Sicher, gestern mochte das alles noch neu und revolutionär gewesen sein, aber heute? Heute ging es nicht um meine Selbstzweifel. Heute ging es darum, dass ich ganz einfach Angst davor hatte, nichts Neues zu erleben und enttäuscht zu werden.
»Gott kennt deine Ängste«, sagte der Mann in Weiß, der anscheinend meine Gedanken lesen konnte. Er lächelte wieder. Er schien das gesamte Repertoire an freundlichen Gesichtsausdrücken zu beherrschen: Diesmal war es ein kleines, glückliches Lächeln wie das eines Vaters, der seiner Tochter beim Schlafen zusieht.
»Das mag ja sein«, entgegnete ich, »aber ich habe trotzdem Angst, dass alles gleich ist.«
»Ich kann dir nicht sagen, was dich auf der anderen Seite der Tür erwartet«, sagte er. »Was ich dir sagen kann, ist, dass der einzige Ort, an dem du sicherlich nichts Neues erleben wirst, auf dieser Seite der Tür liegt.«
Er hatte ja recht. Wie sollte ich etwas Neues erleben, wenn ich nicht einmal in den Thronsaal hineinging? Also öffnete ich die Tür und trat ein.
Ich gelangte in denselben steinernen Raum, doch er wirkte freundlicher, heller und wärmer. Durch große Fenster aus Buntglas drangen kräftige Sonnenstrahlen, die, in Dutzende Farben gebrochen, fließende Tänze auf Boden, Wänden und Decke vollführten. Für einen Moment stand ich da und genoss die Schönheit des Lichts, ehe ich mich daran erinnerte, dass ich ja hier war, um etwas zu erleben.
Noch immer war der Großteil des Raumes leer. Nur in der Mitte standen zwei Stühle und zwischen ihnen ein kleiner, viereckiger Tisch, über den ein Tischtuch gebreitet war. In zwei Kerzenhaltern steckten brennende Kerzen und es waren zwei Teller und Besteck gedeckt worden. Jemand hatte anscheinend ein Dinner geplant.
Wer und für wen blieb zu vermuten, doch ich ahnte, dass es für mich war. Wollte Gott selbst mit mir zu Abend essen? Ich konnte kein Anzeichen seiner Anwesenheit erkennen. Da jedoch auch nach einigen Minuten niemand kam und sich nichts tat, beschloss ich schließlich aus Mangel an Alternativen, mich auf einen der Stühle zu setzen, auch wenn ich nicht wirklich wusste, worauf ich warten sollte.
Lange Zeit passierte nichts. Je länger ich alleine an jenem leeren Tisch saß, umso mehr kam ich mir vor wie jemand, der im Restaurant sitzen gelassen wurde. Wer auch immer hätte kommen sollen, empfand es anscheinend entweder als nicht notwendig, pünktlich zu erscheinen, oder er hatte mich ganz vergessen. Meine Laune verdunkelte sich zusehends.
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass mich jemand sitzen gelassen hätte. Als wäre eine Filmrolle eingelegt worden, spulte sich in meiner Erinnerung eine Situation nach der anderen ab, in der ich im Stich gelassen, vergessen und als nicht wichtig genug erachtet worden war. Meine aufkeimende Melancholie wurde durch die verblassenden Sonnenstrahlen noch verstärkt, denn von den ehemals kräftigen Farbspielen blieben nichts weiter als matte Schatten zurück.
Ich begann mich zu schämen. Dieser Tisch war doch offensichtlich für zwei Personen gedeckt und hier saß ich nun allein, während imaginäre Leute um mich herum verstohlene Blicke zu mir herüberwarfen. Auch wenn nicht wirklich jemand da war, so blieb doch das Gefühl, belächelt zu werden. Die Stille wurde mir unerträglich.
Ich wollte aufstehen und verschwinden, als mein Blick auf ein kleines Kärtchen fiel, das in der Mitte des Tisches lag. In einer großen, festen Handschrift waren acht Buchstaben darauf geschrieben:
ICH BIN DA.
Wenn die Worte das bedeuteten, was ich dachte, hieß das, dass Gott wohl schon die ganze Zeit am Tisch gesessen hatte und bereits da gewesen war, noch bevor ich den Raum betreten hatte.
»Wieso kann ich dich nicht sehen?«, fragte ich laut. Mir waren die Worte auf der Karte kein großer Trost. »Wäre das nicht einfacher?«
Augenblicklich erhielt ich eine Antwort. Sie kam in Form einer Frage, die ich ganz deutlich in meinen Gedanken hörte.
»Zeige ich mich dir dieses Mal, was passiert dann in der nächsten Situation, in der du dich einsam und im Stich gelassen fühlst? Wirst du dann nicht wieder erst dann in der Lage sein, mir zu vertrauen, wenn ich mich dir zeige?« Natürlich hätte Gott sich mir zeigen können. Aber er kannte mich und ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir neulich erzählt worden war.
Vor Kurzem war eine Freundin von mir zum ersten Mal Mutter geworden. Als ich sie einige Monate nach der Geburt zum Frühstück besuchte, erzählte sie mir unter anderem, dass sie kaum für zwei Minuten das Zimmer verlassen konnte, ohne dass ihre neugeborene Tochter innerhalb kürzester Zeit zu schreien anfing. Das Baby war darauf angewiesen, die Mutter ständig im Blickfeld zu haben, um sich ihrer Anwesenheit sicher sein zu können. Erst später würde es lernen, darauf zu vertrauen, dass die Mutter in der Nähe und zur Stelle war, sobald es sie brauchte, selbst wenn es sie nicht sah.
Ich blickte erneut auf die Karte. Es schien, als sagte Gott zu mir: »Tochter, wenn du mich nicht siehst, bedeutet das nicht, dass ich nicht da bin, ich dich nicht höre oder nicht zur Stelle bin, wenn du mich brauchst. Und ich denke, du bist alt genug, um das zu verstehen.«
Meine dunkle Miene verwandelte sich in ein selbstironisches Lächeln. Ich hatte mich tatsächlich ein wenig wie ein kleines Baby benommen. Gott jedoch traute mir anscheinend mehr zu. Er wusste, dass ich mich im Alltag nur an sein Versprechen zu erinnern brauchte, dass er bei mir sein würde, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Eben genauso wie ein Kind weiß, dass seine Eltern auf es aufpassen, egal, wo es ist.
Ich blickte auf die beiden Teller vor mir, auf denen inzwischen ein perfektes Abendessen vor sich hin dampfte. Stimmt, dachte ich, ich bin ja eigentlich zum Essen eingeladen worden.
»Wie unhöflich von mir«, entschuldigte ich mich bei meinem unsichtbaren Gastgeber und ließ mir das Essen schmecken. Zwischendurch erzählte ich Gott, was ich die letzten Tage erlebt hatte. Die Wolken, die sich noch vor Kurzem vor die Sonne draußen geschoben hatten, hatten sich aufgelöst und die Farben der Fenster erstrahlten wieder in aller Kraft.
Als ich mein Essen beendet hatte, stellte ich fest, dass der Teller mir gegenüber ebenfalls leer war.
»Freut mich, dass es dir auch geschmeckt hat«, sagte ich und fügte mit ernster Miene hinzu: »Wäre sonst ja auch seltsam, du hast es ja schließlich selbst gekocht.«