Henriette Wich

Duell der Topmodels

Kosmos

Umschlagillustration von Ina Biber, München

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

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© 2008, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-13182-4

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Wirbel im Einkaufszentrum

»Wenn ihr hier nichts findet, seid ihr wirklich selber schuld!«, sagte Marie und lief mit ausgebreiteten Armen durch die automatische Glastür des Einkaufszentrums.

Franzi hakte sich gut gelaunt bei ihrer Freundin unter. »Ist echt nett von dir, dass du dein Taschengeld mit uns teilst! Ich war schon ewig nicht mehr shoppen.«

»Ich auch nicht«, seufzte Kim und betrachtete kritisch ihr Outfit in der Fensterscheibe eines Schmuckgeschäfts. Ihrer Lieblingsjeans sah man es leider an, dass sie fast täglich getragen wurde, und ihr rotes Top war auch schon mal farbenfroher gewesen. »Womit haben wir eigentlich deine Großzügigkeit verdient?«, fragte sie.

Marie runzelte die Stirn. »Wenn ich es mir recht überlege … Stimmt! Eigentlich habt ihr es gar nicht verdient! Ihr habt schon seit fast zwei Monaten keinen neuen Fall mehr an Land gezogen. Wie stellt ihr euch überhaupt die Zukunft der drei !!! vor? Könnt ihr mir das mal verraten? So werden wir nie ein professioneller Detektivclub!« Maries Stimme war immer lauter geworden. Am Ende klang sie richtig aggressiv.

Kim und Franzi zuckten zusammen. Dann rief Franzi empört: »Was soll das denn jetzt? Dasselbe könnten wir genauso gut dir vorwerfen.«

»Allerdings!«, stimmte Kim zu und sah Marie angriffslustig an.

Die prustete plötzlich los. »War doch nur ein Scherz! Ihr könnt euch wieder abregen.«

»Sehr witzig«, grunzte Franzi, aber als Kim anfing zu kichern, musste sie auch grinsen.

Kein Wunder, dass Marie später mal Schauspielerin oder Sängerin werden wollte. Sie hatte bereits jetzt ziemlich viele Showbiz-Tricks auf Lager, die sie auch bei den Ermittlungen der drei !!! schon öfter erfolgreich eingesetzt hatte.

Marie warf schwungvoll ihre langen blonden Haare nach hinten. »Habt ihr mir verziehen? Ist wieder alles okay? Super! Dann können wir ja loslegen. Ich brauche unbedingt einen neuen Bikini. Den vom letzten Sommer kann ich vergessen.«

Kim und Franzi verdrehten genervt die Augen. Im Gegensatz zu ihnen konnte Marie es sich leisten, dauernd shoppen zu gehen. Maries Vater war ziemlich berühmt und verdiente mit seiner Rolle als Kommissar Brockmeier in der Vorabendserie Vorstadtwache entsprechend gut. Außerdem liebte er seine Tochter über alles und verwöhnte sie mit einem üppigen Taschengeld, von dem zum Glück auch Kim und Franzi ab und zu profitierten.

»Wo bleibt ihr denn?«, fragte Marie. »Ich dachte, wir wollten shoppen?«

»Wir kommen!«, rief Kim und sprintete mit Franzi los.

Zwei Stunden später ließen sich die drei !!! mit ihren prallvollen Einkaufstüten in die Sessel des Eiscafés sinken. Sie hatten sämtliche Läden im Einkaufszentrum abgeklappert, aber die Anstrengung hatte sich gelohnt. Marie hatte statt einem gleich zwei Bikinis gekauft, einen in Pink und einen in Blau mit weißen Streifen. Franzi war bei einer coolen Skaterhose schwach geworden, und Kim hatte eine neue Jeans entdeckt, die ihr noch besser als die alte Lieblingsjeans gefiel.

»Mann, hab ich einen Durst!«, rief Franzi. »Jetzt brauch ich erst mal eine Cola.«

»Gute Idee«, sagte Marie.

Kim schloss sich ihren Freundinnen an. Da der Kellner nicht gleich kam, blätterte sie durch die Eiskarte. »Hmm, sieht das alles lecker aus! Zum Beispiel dieser Schokobecher mit Amarenakirschen und Kokosraspeln …« Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber dann dachte sie wieder an ihre neue Jeans und die Pölsterchen an ihren Hüften und klappte die Karte schnell zu. »Ich hab heute schon einen Schokoriegel verdrückt, das muss reichen!«

»Sei doch nicht immer so streng zu dir!«, sagte Franzi. »Du siehst toll aus. Ich mag jedes Gramm an dir.«

»Ich auch«, sagte Marie. »Außerdem brauchst du Süßigkeiten als Nervennahrung. Schließlich bist du der Kopf unseres Detektivclubs. Ohne deinen brillanten logischen Verstand wären wir total aufgeschmissen.«

Kim wurde rot. »Übertreib doch nicht so …«

»Ich übertreibe überhaupt nicht«, sagte Marie. Dann griff sie zur Eiskarte und grinste. »Mädels, heute lassen wir es krachen! Ich spendier euch den großen Freundschaftsbecher.«

Bei so viel Großzügigkeit waren Kim und Franzi machtlos. Als der Becher kam, tauchten sie gleichzeitig ihre Löffel in die köstliche Kreation aus Erdbeer-, Vanille- und Schokoeis, frischen Früchten, Sahne und Kokosraspeln.

Franzi war als Erste satt und stieß einen wohligen Seufzer aus. »Also meinetwegen könnten die Sommerferien genauso weitergehen: Eis essen, shoppen, ab und zu ein bisschen skaten und reiten – und mit euch zelten natürlich. Ich freu mich schon total auf unsere Zeltwoche Anfang August.«

»Ich auch«, sagte Kim, während sie die Sahnereste vom Rand kratzte. »Aber noch mehr würde ich mich freuen, wenn wir endlich wieder einen neuen Fall hätten.«

Marie nickte. »Ich hab schon richtig Entzugserscheinungen. Seit wir das Geheimnis der Nebelmühle gelüftet haben, ist absolut tote Hose. Es wird echt höchste Zeit für unseren 15. Fall.«

Manchmal konnte sie es selber kaum glauben, dass die drei !!! bereits 14 Fälle gelöst hatten. Dabei hatten sie es schon mit diversen Verbrechern zu tun gehabt: Betrügern, Einbrechern, Erpressern, Schmugglern und Grabräubern. Inzwischen waren sie richtige Profis und arbeiteten mit ausgefeilten Techniken und Hilfsmitteln: mit Gips für Fuß- und Reifenspuren und einem Fingerabdruck-Set, mit Taschenlampen und Lupe, mit Digitalkamera und Aufnahmegerät. Aber was nützte ihnen die ganze tolle Ausrüstung, solange sie keinen Fall an der Angel hatten?

»Dabei wären die Sommerferien ideal für uns«, sagte Franzi. »Wir hätten genug Zeit und würden nicht dauernd durch die doofe Schule von den Ermittlungen abgehalten.«

Kim seufzte. »Stimmt! Endlich keine Konflikte und kein nerviges Hin und Her zwischen Schule, Detektivarbeit und der Liebe.«

Beim Wort »Liebe« wurde Marie hellhörig. »Ich dachte, du hast dich längst mit Michi ausgesöhnt? Er hat doch eingesehen, dass der Detektivclub im Zweifelsfall vorgeht und du auch mal ein Date mit ihm absagen musst, oder?«

»Schon …«, sagte Kim, aber es klang nicht besonders überzeugend. »Ich hab trotzdem oft ein schlechtes Gewissen. Ich weiß einfach nicht, ob Michi auf Dauer mit meinem Job als Detektivin klarkommt. Natürlich ist das Quatsch, aber manchmal hab ich echt Angst, dass ich ihn verlieren könnte.«

Marie spürte, wie eine warme Welle Mitleid sie überflutete. »Das versteh ich total. Vielleicht tröstet es dich ja ein bisschen: Ich hab auch manchmal Angst, Holger zu verlieren. Zwischen uns steht nicht nur der Detektivclub, uns trennen auch noch dauernd diese bescheuerten 25 Kilometer. Aber ich bin selbst schuld. Warum musste ich mich auch ausgerechnet in einen Jungen verlieben, der in Billershausen wohnt?«

Kim lachte. »Ganz einfach: Weil er genau der Richtige für dich ist!«

Marie wurde warm uns Herz. Sie machte die Augen zu, und plötzlich war Holger ganz nah bei ihr. Sie hörte seine tiefe Stimme, sein Lachen, sie sah seine pechschwarzen Haare und seine wunderschönen grünen Augen … Es tat unheimlich gut, an ihn zu denken, aber gleichzeitig tat es auch unheimlich weh. Marie machte die Augen wieder auf und räusperte sich. Dann lächelte sie Franzi an. »Erzähl du doch mal von dir! Geht es dir immer noch so super als Single?«

Franzi, die gerade noch mit Kim gelacht hatte, schüttelte auf einmal düster den Kopf. »Geht so …« Dann biss sie sich auf die Lippen und schwieg.

Marie und Kim tauschten einen besorgten Blick. Bis vor Kurzem war Franzi noch total happy gewesen. Seit sie sich von Benni getrennt hatte, weil sie nicht mehr verliebt in ihn gewesen war, waren die beiden wieder wie früher beste Freunde und Skaterkumpel.

»Was ist passiert?«, fragte Kim.

Franzi schluckte. Dann sagte sie leise: »Benni hat schon zweimal abgesagt beim Skaten. Und jedes Mal war er so komisch am Telefon.«

»Frag ihn doch einfach, was los ist«, schlug Marie vor. »Vielleicht hat es gar nichts mit dir zu tun.«

»Ja, vielleicht …«, murmelte Franzi. Mehr wollte sie anscheinend nicht sagen.

Am liebsten hätte Kim nachgehakt, aber sie verkniff es sich lieber und drückte nur kurz Franzis Hand. Danach sagte sie laut in die Runde: »Warum ist es immer so kompliziert mit den Jungs? Die Detektivarbeit ist viel einfacher.« Zur Bekräftigung trommelte sie auf die Tischplatte und sagte laut: »Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen!«

Da wurde sie plötzlich von einem Mädchen angerempelt. Es quetschte sich mit seiner Clique ausgerechnet am Tisch der drei !!! vorbei. Kim war erst mal sprachlos, aber Marie fuhr die Mädchen an: »He! Könnt ihr nicht aufpassen?«

Keine Reaktion, geschweige denn eine Entschuldigung. Die Clique lief einfach kichernd weiter. Kaum waren sie weg, rückten die nächsten Mädchen an. Verwundert drehten sich die drei !!! um. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatten, wie immer mehr Menschen ins Einkaufszentrum geströmt waren. Es wimmelte nur so von Besuchern, vor allem von jungen Mädchen.

»Was wollen die bloß alle hier?«, wunderte sich Kim. »Hab ich was verpasst? Gibt es irgendwo was umsonst?«

»Keine Ahnung«, sagte Marie. Sie verstand auch nicht, was den Massenansturm ausgelöst hatte und warum alle ein gemeinsames Ziel zu haben schienen: den großen Lounge-Bereich hinter dem Eiscafé. Dort gab es nämlich außer Knautschsesseln und Bänken nur ein paar knallgrüne künstliche Pflanzen in Kübeln.

Franzi warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann schlug sie sich mit der Hand gegen die Stirn. »Jetzt weiß ich’s! Heute findet doch dieses Sammelcasting für die Modelshow statt! Chrissie hat vor ein paar Tagen im Internet den Aufruf gelesen und ist seither total aus dem Häuschen. Ihr ist echt nicht zu helfen. Sie glaubt immer noch felsenfest, dass sie als Model ganz groß rauskommt.«

Kim musste grinsen. Ein Problem hatte Franzis große Schwester wenigstens nicht: Sie litt garantiert nicht an Minderwertigkeitskomplexen. Allerdings nützte ihr das nicht wirklich. Schon damals, als die drei !!! beim Popstar-Casting ermittelt hatten, hatte sie sich total euphorisch beworben, aber gnadenlos versagt, weil sie im Gegensatz zu Marie überhaupt nicht singen konnte.

Plötzlich stutzte Kim. »Sag mal, Marie: Du bist doch sonst immer so gut informiert. Stand in deiner Mädchenzeitschrift nichts von dem Aufruf?«

»Doch, klar«, sagte Marie. »Die Sweet hat schon vor einem Monat zu dem Casting aufgerufen. Die Show soll auf Kidstime gesendet werden, angeblich hat die Staffel sogar zwölf Folgen. Die ziehen das richtig groß auf.«

»Und?«, fragten Kim und Franzi wie aus einem Mund.

»Nichts und«, sagte Marie. »Ich hab es gelesen und gleich wieder vergessen.«

Kim und Franzi verstanden die Welt nicht mehr. Marie hatte den Aufruf gelesen und sich nicht sofort beworben?

»Du lässt dir so eine Chance einfach entgehen?«, fragte Franzi.

Marie winkte lässig ab. »Von wegen große Chance! Die Modelbranche ist doch total hohl und oberflächlich. Da bist du nur eine Kleiderstange für die Fotografen. Ich will später mal eine ernsthafte Schauspielerin werden – oder eine richtig gute Sängerin.«

»Klar«, sagte Kim. »Aber das eine schließt das andere doch nicht aus. Haben nicht viele berühmte Schauspielerinnen früher als Model gearbeitet? Marilyn Monroe zum Beispiel oder … oder …« Ihr fielen leider keine aktuelleren Namen ein, wobei Marie sich ohnehin nicht dafür zu interessieren schien.

Da klopfte Franzi Marie auf die Schulter. »Du hast ja so was von recht! Für mich wär das sowieso nichts. Stell dir bloß den nervigen Zickenkrieg vor und die ewige Warterei und die Tonnen von Schminke, mit denen sie dein Gesicht zukleistern. Da freuen sich die Pickel und Mitesser!«

Kim musste kichern. »Von der Seite hab ich es noch gar nicht gesehen. Was mich immer so aufregt bei den Models, ist dieser eklige Schlankheitswahn. Manchen Mädchen würde ich am liebsten heimlich eine Tafel Schokolade zustecken, weil sie so verhungert …«

Weiter kam sie nicht, weil plötzlich eine top gestylte Frau in High Heels auf sie zustöckelte und sich vor Marie aufbaute. »Das gibt’s doch nicht! Nein, das glaub ich jetzt einfach nicht.«

Marie zog gelangweilt ihre linke Augenbraue hoch. »Was glauben Sie nicht?«

Die Frau ging nicht auf Maries Frage ein. Sie klatschte in die Hände, brachte die dünnen, goldenen Reifen an ihren Armgelenken zum Klirren und rief immer wieder: »Nein, das gibt’s nicht, das gibt’s wirklich nicht!«

Kim nutzte die Zeit, um sich die Personenbeschreibung der Frau einzuprägen. Das machte sie mittlerweile ganz automatisch, weil man nie wissen konnte, ob jemand später ein Verdächtiger oder Zeuge in einem Fall sein würde. Die Frau war Anfang 30, ungefähr 1,75 Meter groß und ziemlich attraktiv. Sie hatte glatte rote Haare, die ihr als schimmernde Pracht über den Rücken flossen. Ihr Gesicht war herzförmig und sehr schmal, genau wie ihr übriger Körper. Kim schätzte, dass die Frau höchstens Kleidergröße 36 trug, wenn nicht sogar 34.

Später würde Kim die Personenbeschreibung in ihr Detektivtagebuch eintragen, das sie immer mit sich herumtrug. Das Heft war inzwischen ganz schön abgegriffen, aber ihr größter Schatz – neben den geheimen Dateien in ihrem Computer natürlich, wo sie ebenfalls ein Detektivtagebuch führte.

Je länger die Frau ihre entzückten Schreie losließ, umso genervter wurde Marie. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Wer sind Sie überhaupt?«

Die Frau ließ ein perlendes Lachen los. »Aber Marie! Wie kannst du so etwas fragen? Wir kennen uns doch!«

Sosehr Marie in ihrem Gedächtnis kramte, sie konnte sich an diese Frau absolut nicht erinnern. Vielleicht war sie ja irgendein verrückter Fan der drei !!!, die über ihre Tochter von dem Detektivclub gehört oder in der Zeitung einen Artikel über sie gelesen hatte?

Die Frau machte einen Schmollmund. »Marie! Marie Grevenbroich! Das kannst du mir nicht antun! Du kannst dich wirklich nicht mehr erinnern? Wie schade! Dabei haben wir uns doch so nett unterhalten, damals, bei der Party deines Vaters. Ich werde diesen wunderbaren Abend vor einem Jahr nie vergessen. Die laue Sommernacht, die coole Musik des Barpianisten, die Drinks und das Glitzern des Wassers im Pool auf eurer Dachterrasse …«

Plötzlich blitzte aus dem hintersten Winkel von Maries Gedächtnis ein heller Funke auf. »Ach Sie sind das! Wie war gleich noch mal Ihr Name?«

»Annabelle Winter«, sagte die Frau und lächelte, »aber Freundinnen wie du dürfen gern Annabelle zu mir sagen.«

Ein unglaubliches Angebot

Nachdem Maries Gedächtnis erst mal in Schwung gekommen war, fiel ihr auch der Rest wieder ein: Annabelle Winter hatte damals auf der Party ihres Vaters tatsächlich immer einen Drink in der Hand gehabt und mindestens drei männliche Verehrer an ihrer Seite. Kein Wunder, mit ihren roten Haaren war sie ja auch eine aparte Erscheinung. Außerdem strahlte sie das Selbstbewusstsein einer erfolgreichen Geschäftsfrau aus: Annabelle Winter war nämlich die Chefin der größten Modelagentur in der Stadt.

»Schön, dich zu sehen!«, rief Annabelle. »Ich dachte mir schon, dass du dir das Casting nicht entgehen lässt. Hast du dich …«

»Ich mache nicht mit beim Casting«, unterbrach Marie sie.

Annabelle Winter fiel aus allen Wolken. »Was soll das heißen? Bist du verrückt? Du musst mitmachen!«

Marie hatte es noch nie leiden können, wenn andere Menschen ihr sagten, was sie tun sollte. Das empfand sie immer als persönlichen Angriff auf ihre Freiheit. Deshalb reagierte sie entsprechend kühl. »So, ich bin also verrückt?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Annabelle. »So hab ich das doch gar nicht gemeint. Sind das deine Freundinnen, Marie? Sehr schön, freut mich. Bitte helft mir, Marie zu überzeugen. Ihr findet doch auch, dass sie die perfekte Kandidatin ist, oder?«

»Äh …«, machte Franzi, und Kim nickte nur.

»Na, also!«, rief Annabelle triumphierend. Dann musterte sie Maries Outfit und nickte anerkennend. »Du hast ein unglaublich gutes Gespür für Mode. Wie du dieses weiße Basic-Sommerkleid mit den langen Muschelketten kombiniert hast – und dazu die coole Kappe und den eleganten XXL-Shopper! Besser hätte es ein Pariser Designer auch nicht stylen können.«

»Ach, das hab ich nur schnell übergeworfen«, sagte Marie.

Kim und Franzi kicherten. Immer wenn Marie behauptete, sie hätte nur wahllos in ihren Kleidschrank gegriffen, hatte sie in Wirklichkeit ein zweistündiges Wellness- und Stylingprogramm hinter sich.

»Aber weißt du, was mich noch viel mehr umhaut?«, sagte Annabelle zu Marie. »Dein Körper! Du hast die idealen Modelmaße, das seh ich auf einen Blick. Und das Schöne daran ist: Du bist nicht so knochig wie die Magermodels aus Paris. Und du bist absolut natürlich, hast eine irre Ausstrahlung und siehst aus wie sechzehn, obwohl du in Wirklichkeit erst – lass mich raten – dreizehn bist?«

»Ich bin vierzehn«, sagte Marie und lächelte zum ersten Mal, seit die Agentin zum Tisch der drei !!! gekommen war. »Aber Sie sollten nicht lauter solche Sachen sagen …«

Kim und Marie kannten den Augenaufschlag ihrer Freundin viel zu gut, um zu wissen, dass sie sich genau das Gegenteil wünschte. Prompt ging ihr Wunsch in Erfüllung. Annabelle überschüttete Marie mit noch mehr Komplimenten: dass sie genau der Typ sei, der im Modelbusiness gerade gefragt sei, dass sie große Chancen hätte, unter die letzten drei Kandidatinnen zu kommen, wenn sie nicht sogar das große Los zog und einen Exklusivvertrag bei ihrer Agentur gewann.

Mit jedem Wort schmolz Maries Widerstand dahin wie die letzten Eisreste im Freundschaftsbecher. Sie spielte mit einer blonden Haarsträhne und sagte so cool wie möglich: »Also eigentlich ist die Modebranche wirklich nicht mein Ding, aber wenn du unbedingt darauf bestehst, dass ich mitmachen soll, will ich dich nicht enttäuschen!«

Annabelle hauchte Marie zwei Luftküsschen auf die Wangen. »Du wirst es nicht bereuen! Deine Freundinnen werden stolz auf dich sein. Stimmt’s, oder hab ich recht?«

»Äh … klar«, sagte Kim, konnte sich aber noch nicht wirklich für Marie freuen. Eben war sie doch noch felsenfest davon überzeugt gewesen, dass die Modelbranche hohl sei, und jetzt hatte sich ihre Meinung auf einmal um 180 Grad gedreht. »Willst du es dir nicht noch mal überlegen?«, fragte Kim.

Marie zupfte selbstverliebt an ihrem perfekt gestylten Sommerkleid. »Nicht nötig!«

Franzi machte einen letzten Versuch und zeigte auf die Mädchen im Hintergrund, die schon jetzt den Konkurrenzkampf eröffnet hatten und sich mehr oder weniger offen angifteten. »Hast du wirklich Lust auf den Zickenterror?«

»Ach …«, sagte Marie. »So schlimm wird der schon nicht werden. Ich hab ein dickes Fell.«

Da gaben Kim und Franzi es auf. Marie war nicht mehr zu bremsen.

»Komm!«, sagte Annabelle. »Ich zeig dir, wo du die Bewerbungsunterlagen ausfüllen und ein kleines Video von dir aufnehmen kannst.«

»Ein Video?«, fragte Marie. »Aber ich bin doch gar nicht vorbereitet!«

»Umso besser«, sagte Annabelle. »Dann kommst du ganz natürlich rüber. Vertrau mir, und sei einfach nur du selbst.«