Über dieses Buch:

Im Alter ist so einiges anders: Da können auch längst vergangene Leidenschaften neu entbrennen. So geht es auch Joachim und der alles andere als taufrischen Thusi. Manchmal ist das innere Feuer allerdings nicht ausreichend – doch wofür gibt es diese blauen Pillen? Joachim hätte aber besser nicht eine ganze Packung eingenommen! Denn jetzt ist gleich sein ganzer Körper steif: Leichenstarre. Aber da er nun schon einmal tot ist, braucht er doch auch seine wertvolle Bildersammlung nicht mehr … Nachdem diese verkauft wurde, glauben die Freunde des Toten nicht mehr an die Geschichte vom sexuellen Erwachen des Seniors, sondern vermuten hinter dessen plötzlichen Ableben eine gierige Greisin …

Über die Autorin:

»Regula Venske gehört zu Deutschlands ungewöhnlichsten Krimiautoren, deren Romane großen Unterhaltungswert besitzen.« (literaturmarkt.info)

Regula Venske wurde 1955 in Minden geboren und wuchs in Münster auf. 1987 promovierte sie mit einer Studie über »Mannsbilder – Männerbilder. Konstruktion und Kritik des Männlichen in zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur von Frauen« zum Doktor der Philosophie.

Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u. a. mit dem Oldenburger Jugendbuchpreis, dem Deutschen Krimipreis und dem Lessing-Stipendium des Hamburger Senats ausgezeichnet, ihr Kurzgeschichtenband »Herzschlag auf Maiglöckchensauce« wurde für den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden nominiert.

Regula Venske lebt als freie Autorin in Hamburg und ist Mitglied im Autorenverband deutschsprachiger Kriminalschriftsteller SYNDIKAT (www.das-syndikat.com) und im PEN (www.pen-deutschland.de), dessen Generalsekretärin sie seit Mai 2013 ist.

Können Sie von rüstigen Schnüfflern nicht genug bekommen? Dann empfehlen wir Ihnen auch Regula Venskes Vorgängerroman Die garstigen Greise.


Bei dotbooks erscheinen außerdem die Romane Schief gewickelt – Das perfekte Verbrechen, Double für eine Leiche und Kommt ein Mann die Treppe rauf. Eine Übersicht über alle Romane von Regula Venske finden Sie am Ende dieses eBooks.


***

Neuausgabe Oktober 2015

Copyright © der Originalausgabe 2010 Suhrkamp Verlag, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Motivs von Thinkstockphoto/istock

ISBN 978-3-95824-238-8

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Ein allzu leichter Tod an: lesetipp@dotbooks.de

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

http://gplus.to/dotbooks

http://instagram.com/dotbooks

Regula Venske

Ein allzu leichter Tod

Die neuen Fälle der garstigen Greise

Kriminalroman

dotbooks.

Kapitel 1

»Da vorne ist es!« Die alte Thusi wedelte mit den Händen und ihre Armreifen klimperten im Takt. »Fahr doch mal rechts ran!«

Marthe bremste scharf ab, was dem jungen Mann im Wagen hinter ihnen eine schnelle Reaktion abverlangte. Aber warum musste der Bursche auch so dicht an ihrer Stoßstange kleben!

»Früher gab es hier einen hübschen Weg durch die Wiesen«, erinnerte sich Thusi. »Wir könnten uns ein wenig die Beine vertreten.«

»Wollen wir nicht lieber erst ins Hotel fahren?« Nach der langen Autofahrt lechzte Marthe nach Flüssigem, zum innerlichen wie äußerlichen Gebrauch. Eine kalte Dusche, ein kühles Erfrischungsgetränk, ein gepflegtes Glas Wein … »Spazieren gehen können wir doch später noch immer.«

Thusi fiel ihr ins Wort. »Wenn wir erst einmal im Hotel sind und der ganze Trubel beginnt, werden wir uns nicht mehr loseisen können. Ach, komm, Liebes, nur ein halbes Stündchen.«

Marthe unterdrückte einen Seufzer und lenkte ihren Wagen wie gewünscht auf den Parkplatz neben der alten Mühle, in der sich das hiesige Kunstmuseum befand. Die Kunstmühle Beekenau, ein Name, mit dem Thusi ihr in den letzten Tagen in den Ohren gelegen hatte. Morgen sollte hier eine Vernissage stattfinden, zu der Thusi eingeladen war.

Allmählich verfestigte sich Marthes Eindruck, dass Thusi die Begegnung, für die sie beide die lange Anfahrt vom Münsterland nach Mecklenburg-Vorpommern auf sich genommen hatten, nach Kräften hinauszögerte – so sehr sie sich auch danach sehnen mochte. An jeder Raststätte hatte sie anhalten wollen, um Kaffee zu trinken oder die Toilette aufzusuchen.

Aber war die Nervosität der alten Frau nicht allzu verständlich? Wie würde sie selbst sich wohl fühlen, wenn ihr nach so langer Zeit eine Begegnung mit ihrer Jugendliebe bevorstünde? Wobei Marthe nicht so recht hätte sagen können, wer diese Jugendliebe gewesen wäre, ihr fielen gleich mehrere Kandidaten ein. Bei Thusi hingegen schien es so etwas wie die große Liebe gewesen zu sein, die Liebe ihres Lebens, hatte die alte Dame behauptet – eine unerfüllte Liebe, das gehörte natürlich dazu.

Als Thusi Marthe darum gebeten hatte, sie auf einem »kleinen Nostalgie-Trip« zu begleiten, hatte Marthe nicht lange nachdenken müssen. Das war doch Ehrensache, nach all dem, was sie im Sommer gemeinsam überstanden hatten. Kaum hatten sie sich halbwegs in Rothenvenne eingelebt, hatten die Garstigen Greise, wie sich die Mitglieder von Marthes Wohngemeinschaft spaßeshalber nannten, eine mumifizierte Leiche im Keller des Schlosses gefunden. Vorübergehend hatten einige von ihnen sogar die alte Thusi des Mordes verdächtigt. Bei der Aufklärung des Falles waren sie sich alle ein wenig nähergekommen. Nur Richard – er hatte Marthe den Kontakt zu den Garstigen Greisen überhaupt erst vermittelt – und sie hatten sich leider entfremdet. Warum musste ihr Freund auch ausgerechnet mit der Tochter des Opfers anbändeln!

»Vielleicht können wir uns auf der Museumstoilette ein wenig aufrüschen!« Thusi war schon im Begriff, auszusteigen. Woher nahm sie nur ihre Energie? Kaum zu glauben, dass die Frau nächste Woche ihren neunzigsten Geburtstag feiern sollte. »Aber erst möchte ich dir drüben am Fluss etwas zeigen.«

Hinter der Mühle führte ein Spazierpfad an einigen Kunstwerken vorbei. Wie passend zum Thema dieser Reise, dachte Marthe beim Anblick einer Skulptur, die Der Kuss hieß und einen Mann und eine Frau – in allerdings recht unvollkommener Umarmung – zeigte.

»Kannst du mir verraten, warum die Frau immerhin noch einen Armstumpf abbekommen hat, der Mann aber gar keine Arme mehr haben darf?«, kritisierte Thusi denn auch prompt. »Ist das nur ein Spiel mit der Kunstgeschichte, oder soll es etwas bedeuten?«

»Vielleicht ist er nicht mehr Manns genug, sie in den Arm zu nehmen und festzuhalten?«

»Klingt einleuchtend. Ach Liebchen, für moderne Kunst bin ich einfach zu dumm.«

»Oder zu klug für moderne Liebeswirren«, schlug Marthe vor, woraufhin Thusi nicht widersprach.

Bald erreichten sie eine Stelle, an der ein Bach in einen kleinen Fluss mündete.

»Das ist die Beke, die hier in die Warnow fließt. Hierhin sind wir damals immer gerudert.« Thusi ergriff Marthes Arm und hakte sich bei ihr ein. »Und dann haben wir unser Bötchen unter einer Weide festgemacht und die Seele baumeln lassen.«

»Klingt romantisch.«

War die Jugendliebe etwa doch nicht so unerfüllt geblieben, wie Marthe es sich vorgestellt hatte?

»Versteh mich nicht falsch, mehr als Händchenhalten war nicht drin damals.« Thusi zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Na ja, ein-, zweimal werden wir uns wohl auch geküsst haben.«

Die Erinnerung daran ließ sie plötzlich laut auflachen. »Ich war diejenige, die es ihm beibringen musste, ich war ja drei Jahre älter als er. Aber nicht dass du denkst, ich hätte wesentlich mehr Erfahrung gehabt, Gott bewahre!«

Marthe hätte gerne mehr darüber gehört, aber sie verbot sich, neugierig nachzufragen. Die alte Dame würde schon reden, wenn ihr danach war. So blieben sie ruhig nebeneinander stehen und ließen die Gedanken und die Blicke schweifen. Was für eine verwunschene Stimmung! Eine echte Huckleberry-Finn-Landschaft war das hier, und das noch sommerliche Septemberwetter, das schon den Herbst ahnen ließ, trug seinen Teil dazu bei.

Thusi schien ähnlich zu empfinden. »Als wäre die Zeit stehen geblieben«, sagte sie.

Das Paar, das soeben am gegenüberliegenden Ufer unter lautem Gelächter und Jauchzen in eines der dort vertäuten Ruderboote kletterte, konnte an diesem Eindruck auch nichts ändern. Der etwas untersetzte Mann sprang mit einem für seine Körperfülle erstaunlich sicheren Tritt als Erster in das schwankende Boot, um dann seiner nicht minder pummeligen Begleiterin zu helfen. Kaum war die Frau neben ihm im Boot gelandet, setzte er mit übertriebener Geste zu einem Handkuss an. Das Boot schaukelte wild hin und her, er hielt sie fest bei der Hand und lachte, sie kreischte.

»Der weiß seine Arme noch zu gebrauchen«, sagte Thusi. »In Wirklichkeit brauchen wir uns weniger Sorgen um Mann und Frau zu machen, als die Kunst uns weismachen will.«

Wie immer sprach sie eine Spur zu laut. »Jetzt lass uns mal weiterfahren, sonst dreht sich die Zeit hier noch so weit zurück, dass wir im Erbgroßherzog übernachten müssen oder im Deutschen Kaiser.«

Aus dem Augenwinkel fing Marthe einen lauernden Blick des jungen Mannes auf, den offenbar auch heftiges Knutschen nicht davon abhalten konnte, seine Umwelt im Auge zu behalten. Sie genierte sich stellvertretend für ihn und wandte sich ab.

Die Mühle lag nur wenige Kilometer von Beekenau, dem eigentlichen Ziel ihrer Reise, entfernt. Von der Hauptstraße des Ortes bogen sie kurz hinter einer alten Backsteinkirche in eine schnurgerade Allee, die von hohen Pappeln gesäumt war. Die Bäume erinnerten Marthe an Spalier stehende preußische Soldaten. Das passte, denn sie würden im ehemaligen Herrensitz derer von Kussewitz, Thusis weitläufiger Verwandtschaft, wohnen. Vor gut hundert Jahren, so erläuterte die alte Dame, während Marthe und sie sich auf der Hotelauffahrt langsam dem Haupthaus näherten, hatte ein entfernter Onkel diesen Klotz neben das alte Familienhaus setzen lassen. Das »noble Hotel im Landhausstil« entpuppte sich allerdings als eine recht monströse und bei genauerem Hinsehen ziemlich heruntergekommene Klitsche. Der Baustil war mit dem Begriff Eklektizismus kaum mehr zu fassen – eine Mischung aus Tudor und strengem Wilhelminismus.

»Wobei ich mit Wilhelminismus natürlich meinen Großonkel Wilhelm meine«, erklärte Thusi. »Geschmack hatte er keinen, Geld dafür mehr als genug. Was denkst du, werden wir es hier aushalten? Erwin gibt sich doch tapfer Mühe, es zu renovieren. Hoffentlich riecht der Teppichboden nur nicht mehr so nach DDR.«

Marthe parkte ihren kleinen Flitzer zwischen einem preußischblauen BMW mit Berliner Kennzeichen und einem silbernen Mercedes aus Dresden. Diesmal kam sie Thusi zuvor und half ihr beim Aussteigen, dann holte sie das Gepäck aus dem Kofferraum und folgte ihrer Reisegefährtin in die Eingangshalle. Wie eine brave Tochter, dachte sie. Oder eine folgsame Kammerzofe. Hatte es etwas zu bedeuten, dass sie neuerdings anscheinend nur mehr in Schlössern logierte? Nicht genug damit, dass sie seit ein paar Monaten in einem alten Wasserschloss im Münsterland lebte – nun also auch noch der Beekenauer Hof. Im Sommer hatte Thusi einmal beiläufig erwähnt, dass der alte Graf Enno, von dem ihr Vater Rothenvenne geerbt hatte, ein entfernter Verwandter gewesen sei. Dass sie selbst eine geborene von Kussewitz war, hatte sie damals verschwiegen. Mit ihren beinahe neunzig Jahren war die alte Dame immer noch für Überraschungen gut.

An der Rezeption empfing sie der Hotelier persönlich. Thusi stellte ihn als ihren »lieben Neffen, eigentlich ja Großneffen« Erwin von Kussewitz vor, und Marthe versuchte, höfliches Interesse für die verwinkelten Verwandtschaftsbeziehungen zu zeigen, die nun vor ihr ausgebreitet wurden. Ebenso wie die Pappeln draußen auf der Auffahrt erinnerte Kussewitz sie an einen alten Preußen. Jeden Moment bereit, die Hacken zusammenzuschlagen. Oder ähnelte er nicht überhaupt einer alten Pappel? Vielleicht hatte sich die karge Landschaft über Jahrhunderte hinweg in den Genen derer von Kussewitz niedergeschlagen – jedenfalls soweit sie männlich waren. Marthe konnte förmlich die Sprechblasen hören, die dieser Mann zu Themen wie »Fortschritt durch Tradition« oder »Tradition als Fortschritt« abzusondern beliebte. Auch der etwas abgestandene Tabakduft, der ihn umgab, gehörte in vergangene Zeiten.

Trotz des warmen Wetters trug Kussewitz ein grünes Lodenwams mit geschnitzten Hirschhornknöpfen, in dem er den geborenen Landjunker abgab. Oder vielmehr den typischen Wessi, dachte Marthe, der den Landjunker spielte, nachdem er das Gut seiner Vorfahren nach der sogenannten Wende billig ersteigert hatte. Er schien eigens auf sie gewartet zu haben, ganz der perfekte Hausherr.

»Du weißt, wir sind inkognito hier«, rief Thusi ihm in Erinnerung, während er bereits einen Mitarbeiter herbeiwinkte, der sie auf ihre Zimmer begleiten sollte.

»Aber selbstverständlich, meine Liebe«, versicherte Kussewitz. »Ihr seid nicht die ersten prominenten Gäste hier im Haus.« Er deutete eine Verbeugung vor Marthe an.

Marthe hielt stur am Bügel ihrer Reisetasche fest, die ihr der herbeigeeilte junge Mann gerade entreißen wollte. Sie fühlte, wie Ärger in ihr aufstieg. Was für ein Schleimer! Dass Kussewitz so tat, als müsse er Thusi und sie vor einer Meute nachstellender Fans beschützen, war an Penetranz nicht zu überbieten. Aber noch peinlicher war, dass sie es durchschaute – und sich trotzdem geschmeichelt fühlte.

Thusi hingegen lächelte huldvoll und schritt mit einer solchen Selbstverständlichkeit die Treppen hoch und durch die Gänge, als wäre in Wahrheit sie die rechtmäßige Erbin des Hauses. Und ebenso nonchalant knüpfte sie ein völlig überflüssiges Gespräch mit dem jungen Hotelangestellten an.

»Ist meine alte Nase schuld, oder liegt wirklich kein Lysolgeruch mehr in der Luft?«, fragte sie. »Bei meinem letzten Besuch hier …«

Aber da waren sie schon vor Marthes Zimmertür angekommen, und so verdrückte sie sich ohne abzuwarten, bis Thusi den Satz beendet hatte.

Für halb neun waren sie mit Joachim Michaelis und seiner Enkeltochter zum Abendessen auf der Hotelterrasse verabredet. Soweit Marthe wusste, war Thusis Jugendfreund als Sechzehnjähriger kurz vor Kriegsausbruch nach Schweden emigriert und hatte sich dort einen Namen als freischaffender Künstler gemacht. Aus heiterem Himmel hatte er sich vor kurzem bei Thusi gemeldet und ihr ein Treffen vorgeschlagen. Der – vielleicht nur vorgeschobene – Anlass war die Eröffnung einer Ausstellung, bei der auch einige Gemälde seines Großvaters gezeigt werden sollten; er war in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein angesehener mecklenburgischer Landschaftsmaler gewesen.

»Eigentlich sollte man denken, wir bräuchten keinen Anlass, um uns wiederzusehen«, hatte Thusi gemeint. »Jedenfalls nicht, seit Birgitta tot ist.«

Ihre letzte Begegnung mit Joachim hatte Anfang der siebziger Jahre in Stockholm stattgefunden, da war Thusi bereits von ihrem Spannagel geschieden gewesen, aber Joachims Frau hatte noch gelebt. »Leider, leider«, hatte Thusi geseufzt, als sie Marthe auf der Autofahrt davon erzählt hatte. »Wie ein Wachhund hat Birgitta über Jockel gewacht und jeden Kontakt zwischen uns unterbunden. Das war nicht mehr feierlich – Eifersucht ist gar kein Ausdruck dafür. Ich gebe ja zu, ich hätte ihn zu gerne mal alleine getroffen. Na, vielleicht hatte sie recht, als sie uns nicht traute.«

Marthe hatte dies als kleinen Wink mit dem Zaunpfahl verstanden: Natürlich hatte Thusi Nachholbedarf und den verständlichen Wunsch, endlich mit ihrem Freund unter vier Augen zu reden. Daher hatte sie beschlossen, den alten Herrschaften zunächst die Gelegenheit zu geben, sich allein auszusprechen. Sie vertrödelte sich mit Absicht und erschien erst eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit auf der Hotelterrasse. Doch wurde ihr das Feingefühl nicht gedankt. Thusi begrüßte sie mit einem bedeutungsvollen Augenrollen, das der Enkeltochter ihres Jugendfreundes galt, einer jungen Frau von ungefähr dreißig Jahren.

»Wärst du hier gewesen, hättest du sie ablenken können«, zischte Thusi, als Inga Michaelis sich vor dem Hauptgang anschickte, die Toilette aufzusuchen. »Stattdessen hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, Birgitta würde uns bewachen. Musste sie von ihrer Großmutter denn ausgerechnet diesen strengen Blick erben!«

Marthe schwieg betreten. Auch wenn Inga diese Bemerkung nicht mehr gehört oder vielleicht auch das Deutsch nicht ausreichend verstanden hatte – den alten Herrn Michaelis musste diese Bemerkung doch kränken. Ein Hotelgast, der allein an einem Tisch in ihrer Nähe saß, blickte von seiner Zeitung auf und schaute interessiert zu ihnen herüber. Marthe bemühte sich, Thusis Taktlosigkeit durch ein freundliches Lächeln zu mildern.

»Ach, das kann mein Jockelchen ruhig hören«, fuhr Thusi ungerührt fort. Sie legte ihre rechte Hand auf den Arm ihres Jugendfreundes, eine gepflegte Pianistinnenhand, die mit kleinen braunen Sprenkeln übersät war. »Dass Birgitta manchmal übertrieben moralisch war, weißt du doch selbst, nicht wahr, Jockel?«

»Sie ist ein gutes Kind«, sagte Joachim Michaelis.

Er hatte markante Gesichtszüge und dabei einen weichen Ausdruck in den Augen, der Marthe anrührte. Überhaupt war er ein gutaussehender alter Mann mit seinem schlohweißen, aber immer noch recht vollen Haar. Nur hätte ihm einmal jemand die Flusen von seinem Jackett abbürsten müssen. Es war aus schwarzem, wenngleich etwas verschlissenem Samt – ganz, wie es sich für einen Künstler gehörte.

»Aber gewiss doch«, versicherte Thusi.

»Hat es nicht immer leicht gehabt, die Kleine.«

»Wer hat das schon?«

Thusi tätschelte seinen Arm und gab ihm einen kleinen Klaps, bevor sie mit spitzen Fingern ein an seinem Ärmel hängen gebliebenes Haar aufklaubte. »Du wirst dich heute noch mit einer blonden Frau amüsieren.«

Sie schnipste das Haar auf den Boden und ergriff seine Hand. »Ist trotzdem kein Grund, mucksch zu sein – vielleicht ja auch ein mecklenburgisches Erbteil?«

Fasziniert beobachtete Marthe, wie vertraut die Beiden miteinander umgingen. Wie alte Eheleute. Jetzt bedauerte sie es doch, dass sie den ersten Moment des Wiedersehens versäumt hatte. Wie konnte es angehen, dass sie sich so gar nicht fremd zu sein schienen? Ohne Umschweife waren sie im Gespräch gleich zum Wesentlichen vorgedrungen. Und wie selbstverständlich Joachim Michaelis jetzt seine Hand unter Thusis wegzog, um nach seinen Zigaretten zu greifen! Fasziniert beobachtete Marthe, wie er eine Zigarette aus dem Päckchen schüttelte – er rauchte eine starke, filterlose Sorte –, sie zwischen Daumen und Mittelfinger drehte und mehrmals leicht auf die Tischplatte klopfte. Mit der Linken setzte er gleichzeitig schon sein Feuerzeug in Gang. Obwohl seine Hände leicht zitterten, wirkten seine Bewegungen doch immer noch spielerisch, ja elegant. Sicherlich hatte er diese Handgriffe im Laufe seines Lebens viele tausend Male praktiziert. Noch ehe Thusi ihre Hand, die jetzt etwas verloren auf der weißen Tischdecke lag, wieder ganz für sich in Besitz genommen hatte, hatte ihr Freund ihr bereits eine Qualmwolke ins Gesicht geblasen.

September, I’ll remember … Marthe ertappte sich dabei, leise vor sich hin zu summen. Das Lied von Simon and Garfunkel – sie hatten es auf der Autofahrt im Radio gehört – dudelte ihr im Kopf herum. Auch beim Auspacken ihres Koffers hatte sie es gesungen. A love once new has now grown old … Diese Liebe aber schien frisch und jung geblieben.

»Musst du andauernd rauchen?«, sagte Thusi.

Joachim Michaelis lächelte. »Statt küssen«, antwortete er.

Thusi drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Immer noch der Alte. Man sollte denken, das Leben hätte dir den Charmeur ausgetrieben.«

»Das Leben?« Er nahm einen weiteren Zug. »Mein Leben sieht so aus, dass mir gerade zwei hübsche Mädchen gegenübersitzen. Pardon, drei hübsche Mädchen.«

Seine Enkelin war an den Tisch zurückgekehrt. Joachim Michaelis erhob sich und nahm erst wieder Platz, nachdem Inga sich hingesetzt hatte.

»Über das Leben an sich will ich mich nicht beklagen.« Er ließ den Rauch dezent aus der Nase quellen. »Nur über die Menschen, einige Menschen im Besonderen, aber das ist ein anderes Thema.«

»Wir haben gestern in der Kunstmühle schon einen Blick auf die Ausstellung geworfen«, bemerkte Inga. Offenbar hatte sie die Äußerung ihres Großvaters als Aufforderung, das Thema zu wechseln, verstanden. Sie sprach englisch, schien aber Deutsch recht gut zu verstehen. »Es sind mehrere Bilder dabei, die der Großvater meines Großvaters gemalt hat. Sehr eindrucksvoll. Allerdings dürften sich einige Stücke von Rechts wegen gar nicht in dieser Sammlung befinden.«

Thusi hatte recht, dachte Marthe. Diese Inga wirkte schlecht gelaunt. Als hätten Thusi oder Marthe sie persönlich beleidigt. Dabei war sie doch noch zu jung, um verbittert zu sein.

»Jemand hat zwei der Bilder hinter unserem Rücken an das Museum verkauft.« Inga guckte Thusi herausfordernd an. »Du wolltest mir noch erzählen, was es damit auf sich hat, Farfar?«

»Ach, das tut doch jetzt nichts zur Sache«, winkte der Alte ab.

Die Frage schien ihm peinlich zu sein. Als im nächsten Moment der Kellner an ihren Tisch trat, eine große Schüssel Bratkartoffeln und zwei Platten mit in Speck gebratenen Schollen balancierend, wirkte er wie erlöst. Ohne seine Enkeltochter zu fragen, schnappte Joachim Michaelis sich die goldumrandete Untertasse, auf der Ingas Teeglas stand – sicher ein Kussewitz’sches Erbstück, dachte Marthe, echt Meissener Porzellan, vermutlich – und drückte seine zur Hälfte gerauchte Zigarette darauf aus. Dann ließ er das zum Aschenbecher degradierte Tellerchen unter dem Tisch verschwinden und griff kampfeslustig nach Messer und Gabel.

Marthe überlegte, wie sie das Gespräch in andere Bahnen lenken könnte. Sie war schon drauf und dran, die junge Frau nach schwedischen Rezepten für Scholle zu fragen, konnte sich aber gerade noch bremsen. Schließlich reichte es ihr, für die Dialoge ihrer Romanfiguren verantwortlich zu sein. Sollten die beiden Alten ihr Gesprächsthema selbst bestimmen. Gleich nach dem Dessert würde sie sich höflich verabschieden.

Als Joachim Michaelis seiner Enkelin während des Hauptgerichts zu verstehen gab, dass sie müde aussähe – »Brauchst keine Rücksicht auf uns alte Leutchen zu nehmen, Ingaherz. Sicher willst du heute früh schlafen gehen?« –, beschloss Marthe, auch auf den Nachtisch zu verzichten. Noch bevor Inga Anstalten machte, sich zurückzuziehen, schnappte sie sich ihr Weinglas und wünschte den Zurückbleibenden eine gute Nacht. Sie hatte ihren Laptop mit nach Beekenau genommen, ein paar ruhige Nachtstunden lagen vor ihr, die sie noch für sich nutzen konnte.

Wie es der Zufall wollte, lag Marthes Zimmer im ersten Stock nach hinten raus, direkt oberhalb der Hotelterrasse, so dass die Stimmen der beiden Alten bis zu ihr hinauf drangen. Da jeder den anderen für schwerhörig hielt, sprachen beide mit entsprechender Lautstärke. Marthe trat an das französische Fenster, um es zu schließen, hielt aber in der Bewegung inne. Täuschte sie sich, oder waren die beiden Turteltauben schon dabei, sich zu streiten?

»Denkst du wirklich, ich hätte die Bilder hinter deinem Rücken verkauft?« Thusi klang aufrecht empört. »Pfui, Jockel, ich schäme mich für dich.«

Der alte Mann sprach zwar geringfügig leiser, dafür aber besonders deutlich – beinahe schneidend.

»Alles, was ich weiß, ist, dass ich sie dir vor langer Zeit zu treuen Händen zur Aufbewahrung gegeben habe. Und dass sie sich jetzt im Besitz dieses Museums befinden und geradezu die Kernstücke der Ausstellung abgeben.«

»Ja, Kruzitürken!«

Marthe erschrak. Solch ein hässliches Wort hatte Thusi noch nie benutzt. Nicht einmal in der Nacht, als der verrückte Siegmund Lenzing sie beide in seine Besenkammer gesperrt hatte, weil er meinte, seine Mutter vor ihnen schützen zu müssen. Im Gegenteil hatte die alte Dame mit ihrer vorbildlichen Haltung damals großen Eindruck auf Marthe gemacht.

»Treue Hände, allerdings«, begehrte Thusi jetzt auf. »Erst habe ich die beiden Rollen aus der DDR rausgeschmuggelt, unter Einsatz meines Lebens – lach nicht, so habe ich es damals empfunden! Und seitdem – und das war 1955, bitte schön – hatte ich bei jedem Umzug nichts Besseres zu tun, als auf diese beiden Bilder aufzupassen. Komm du mir nicht mit treuen Händen, Jockel!«

»Natürlich bin ich dir …«

»Und ein treues Herz, das solltest du wissen! Denn wer zuerst untreu wurde – und wer nicht kam, um seine Bilder abzuholen –, das war ein gewisser Joachim Carl Theodor Michaelis!«

»Vielleicht, weil ich es schön fand, wenigstens diese Bilder in deiner Obhut zu wissen, wenn ich schon nicht weiß, wo der Feininger …«

»Quatsch. Weil du Angst vor Birgitta hattest.«

Etwas schepperte. Einer von beiden hatte mit der Faust auf den Tisch gehauen.

»Lass Birgitta aus dem Spiel.«

»Gut, also dann: Weil du genauso feige bist wie alle Männer. Weil du Angst hattest vor mir. Ist dir das lieber? Ich frage mich, wie man in der Liebe nur so zaudern kann!«

Marthe hörte ein Glas klirren. Sie beugte sich weiter vor. Schade, dass sie die beiden Streithähne von ihrer Position aus nicht sehen konnte! Hatte Thusi eben ihr Weinglas vom Tisch gefegt? Oder das Glas von Joachim Michaelis? Die zweite Alternative hätte Marthe besser gefallen.

»Verdammt. Du hast sie aus Trotz weggegeben?«

»Nein, sondern weil dein Sohn die Bilder bei mir abgeholt hat. In deinem Auftrag. Vielleicht hat der Herr einmal die Güte, sich zu erinnern – so lang ist es nun auch noch nicht her!«

»Mein Sohn?« Marthe tat der Ausruf fast körperlich weh. »Carl-Ingvar hat die Bilder geholt? Wie kommst du darauf?«

»Weil es so war«, schnaubte Thusi. »In deinem Alter« – es klang, als wäre sie selbst um Lichtjahre jünger – »sollte man eher an sich selbst und seinem eigenen Gedächtnis zweifeln als an der Integrität anderer Menschen. Guten Abend.«

»Bleib doch, bitte«, hörte Marthe.

Ein fast unterwürfiges Flehen. Welch ein Stimmungsumschwung von einem Moment zum nächsten! Der alte Mann tat ihr leid.

»Aber wieso denn nur – ich verstehe das nicht …«

Auch Thusi lenkte ein.

»Nun ja, genau genommen war es nicht dein Sohn, der die Bilder bei mir abgeholt hat, sondern seine Sekretärin. Aber das läuft ja aufs selbe hinaus.«

»Carl-Ingvar hat keine Sekretärin. Meinst du seine Frau?«

»Frau, Geliebte, Sekretärin, was weiß ich. Ich meine, sie hätte sich als seine Assistentin vorgestellt. Willst du sagen, du weißt gar nichts davon? Aber er – beziehungsweise sie – haben doch in deinem Namen gehandelt.«

»Hieß sie Harriet?«, fragte Joachim Michaelis.

Marthe hatte das Gefühl, einem Radiokrimi zu lauschen. Sie beugte sich zum Schreibtisch hinüber, langte nach ihrem Weinglas und gönnte sich einen Schluck. In der Zwischenzeit waren ihr ein paar Gesprächsfetzen entgangen.

»… nicht mehr. Ich soll mir jeden einzelnen Namen merken, während du die ganze Geschichte vergisst?«

»Mein feiner Herr Sohn, wieder einmal.«

Bitterkeit und Enttäuschung in der Stimme des alten Mannes waren nicht zu überhören. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Joachim Michaelis wieder das Wort.

»Aber wann soll das denn gewesen sein?«

»Das soll nicht irgendwann so gewesen sein. Das ist so gewesen. Zweifle nicht andauernd an meinen Worten, Joachim.«

»Nein, natürlich nicht, so war es nicht gemeint. Entschuldige bitte, min Herzing.«

»Das fand ich ja gerade so feige von dir«, sagte Thusi. »Du hättest dich schon einmal persönlich melden können. Wie auch damals, lange bevor Erwin an den Bildern interessiert war, weißt du noch, als diese Anfrage aus Rostock kam.«

»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest.«

»Mitte der Achtziger war es doch, oder? Also, Interesse gab es genug an den Bildern. Wenn es nach Erwin gegangen wäre, würde das Mädchen in Hellgrün jetzt unten in der Hotelhalle hängen. Ewald muss ihm davon vorgeschwärmt haben, als er noch ein kleiner Junge war. Aber du hast es ja vorgezogen, dich nicht für deine Belange zu interessieren.«

»Ach, min Herzing, du hast ja recht.« Joachim Michaelis hustete. »Ich hätte mich kümmern müssen – vor allem um ein gewisses Mädchen in Hellgrün. Wie haben mir Carl-Ingvar und Birgitta die ganzen Jahre über in den Ohren gelegen, ihnen ging es vor allem um den Feininger, natürlich, aber ich wollte abschließen mit diesem Kapitel. Sicher ein Fehler. Tja, aber nun sitzen wir hier.«

»Ich hätte dir die Bilder natürlich damals nach Stockholm mitbringen müssen. Aber ich hatte die Hoffnung, wenn ich sie behielte, würden sie dich zu einem Gegenbesuch nach Rothenvenne locken …«

Marthe merkte, dass sie in Gedanken abgeschweift war. Was für ein herrlicher Duft. Wenn sie darüber nachdachte, war September ihr Lieblingsmonat. Die fünfte Jahreszeit, die Kurt Tucholsky so wunderbar beschrieben hatte. Plötzlich hörte sie ganz in ihrer Nähe ein Geräusch, als würde jemand ein Niesen unterdrücken. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die das Gespräch der beiden Alten belauscht hatte. Hatte nicht Inga ihr Zimmer auf derselben Etage? Marthe konnte nur hoffen, dass nicht umgekehrt auch sie bemerkt worden war. Lauschen war das eine, dabei erwischt zu werden das andere. Vorsichtig zog sie sich ins Innere ihres Zimmers zurück, das inzwischen im Dämmerlicht lag. Irgendjemand in ihrer Nähe schloss leise ein Fenster.

Kapitel 2

Er war der einzige Mann, der sie noch nie enttäuscht hatte: Farfar, der Vater ihres Vaters. Ihr bester Vater, wie die Norweger sagten.

Ihr Vater hingegen war noch nicht einmal ein guter Vater. Das Einzige, was sie mit ihm verband, war ihre Sehnsucht nach ihm, vielmehr die Sehnsucht nach einem Carl-Ingvar, wie sie ihn gern gehabt hätte – keine tragfähige Grundlage für eine gelungene Vater-Tochter-Beziehung.

Und die anderen Männer in ihrem Leben? Allesamt Reinfälle. Eine erstaunliche Trefferquote, bei den wenigen Versuchen, die sie überhaupt unternommen hatte. Immerhin fiel sie wenigstens nicht auf die ganz aussichtslosen Kandidaten herein, wie Britt-Marie. Die verliebte sich zwar auch nur höchst selten, aber wenn, dann ausdauernd. Gründlich. Extrem. Von dreizehn bis neunzehn hatte ihre Sehnsucht dem Pfarrer, der sie beide konfirmiert hatte, gegolten; überflüssig zu sagen, dass der Mann glücklich verheiratet war. Darüber hinweggeholfen hatte ihr dann eine Schwärmerei für Håkan Nesser, den Krimiautor. Oh ja, es waren stets distinguierte ältere Herren, für die Britt-Mari sich begeistert hatte. Und dies umso heftiger, je unerreichbarer sie waren, unerreichbar für Britt-Mari jedenfalls. Und um ihnen treu zu bleiben, ließ sie sich dann auf halbherzige Geschichten ein, mit Traumtänzern und Scharlatanen.

Aber wieso spottete sie eigentlich darüber? Auch sie selbst hatte sich mit einigen Traumtänzern und Scharlatanen eingelassen, jedoch nur, um nicht immer bloß danebenzustehen. Schließlich wollte man mitreden können. Immerhin war sie bislang niemandem begegnet, der ihr wirklich wehgetan hätte. Alles in allem hatte die Liebe ihres Großvaters sie wohl vor schlimmerem Schaden bewahrt. Nur – jemanden, dem sie ernsthaft hätte nachtrauern können, hatte sie eben auch nicht gefunden.

Manchmal war ihr, als würde die Sehnsucht, von ihrem Vater anerkannt zu werden, alle anderen Sehnsüchte in sich aufnehmen, so dass gar keine Kraft für weitere Gefühle mehr blieb. Das Traurigste aber war, dass ihr Vater, der weit weg, in der Nähe von Strömstad, in seiner Himmelsburg residierte, nichts von alledem ahnte.

Kapitel 3

Am Samstagmorgen fand Marthe sich allein im Speisesaal wieder. Wie üblich, war sie spät dran. Das Frühstücksbuffet war weitgehend geplündert und wurde bereits abgeräumt. Inga Michaelis war gerade im Aufbruch begriffen gewesen, und so blieb Marthe die Entscheidung erspart, ob sie sich zu ihr setzen oder demonstrativ Abstand halten sollte. Das Letzte, wonach sie sich am frühen, oder auch späteren, Vormittag sehnte, war Smalltalk – zumindest nicht vor dem ersten starken Kaffee.

Ihr Großvater und Frau Spannagel hätten sich bis zum Mittagessen verabschiedet, um einen Spaziergang zu machen, berichtete Inga. Sie musste sichtlich mit sich ringen, bevor ihr diese Information über die Lippen kam. Die junge Frau starrte Marthe an, als wäre es Marthes Schuld, wenn Joachim Michaelis auf seine alten Tage noch auf Abwegen wandelte. Ja, gönnte sie ihrem Großvater denn nicht das geringste Vergnügen? Dabei schien sie durchaus in der Lage zu sein, sich allein zu beschäftigen: Neben ihrem Frühstücksgeschirr lag ein Stapel Zeitungen, die sie beim Frühstück offenbar gründlich durchgearbeitet hatte.

Marthe überlegte, ob sie den Vorschlag machen sollte, sich die Zeit bis zur Vernissage gemeinsam zu vertreiben. Sie hätten einen Ausflug machen, ein Ruderboot mieten und die verwunschene Flusslandschaft erkunden können. So wie die beiden jungen Leute, die Thusi und sie gestern Nachmittag gesehen hatten – ein Vergnügen, das mit den älteren Herrschaften eher nicht mehr in Frage käme. Aber sie konnte ihren Impuls gerade noch rechtzeitig unterdrücken. Sie war schließlich nicht für den Zeitvertreib anderer Leute verantwortlich – und auch nicht zum eigenen Vergnügen hier, sondern sollte die freie Zeit nach Möglichkeit zum Arbeiten nutzen. Die neue Geschichte schrieb sich nicht von allein. Zumal in Sachen Krimi von einer solchen Unternehmung mit Sicherheit keinerlei Inspiration zu erwarten wäre.

Inzwischen deckte man die Tische um sie herum bereits fürs Mittagessen ein. Es kostete Marthe einige Mühe, die ungeduldigen Blicke des Personals weitgehend zu ignorieren und ihre Gedanken auf die Frage zu richten, wie sie ihrer Kurzgeschichte eine unerwartete Wendung verpassen konnte. Als sie es auch noch schaffte, das ihr zustehende Kännchen Kaffee, dessen Inhalt genau zweieinhalb Tassen bemaß, in aller Ruhe zu leeren, und erst dann den Rückweg auf ihr Zimmer anzutreten, jubilierte sie innerlich. Wenn sie weiter so an sich arbeitete, würde es ihr eines schönen Tages endlich gelingen, alle übertriebene Rücksichtnahme konsequent zu unterlassen und sich allein auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren – dem ihr zustehenden Erfolg stünde dann nichts mehr im Wege.

Ihr Triumph fand in der Eingangshalle sein Ende. Sie konnte einfach nicht der Versuchung widerstehen, sich im Vorübergehen einen der rotwangigen Äpfel zu schnappen, die in einer silbernen Schale auf dem Empfangstresen arrangiert waren. Im selben Moment, als Marthe in die Frucht hineinbiss – leider erwischte sie eine faulige Stelle –, tauchte wie aus einem Hinterhalt Erwin von Kussewitz hinter der Rezeption auf.

»Apropos, wenn Adam und Eva Chinesen gewesen wären, lebten wir heute noch im Paradies«, eröffnete er das Gespräch. »Sie wissen, warum?«

Da Marthe nicht mit vollem Mund sprechen wollte, war sie dazu verdammt, stehenzubleiben und den Kopf zu schütteln.

»Sie hätten die Schlange gegessen«, wieherte Kussewitz.

Vermutlich hatte er die Schale mit Äpfeln überhaupt nur hier aufgestellt, um seinen Lieblingswitz immer wieder an den Mann bringen zu können, dachte Marthe. Und dann musste sie es über sich ergehen lassen, dass der Hotelier sie nach Strich und Faden über Thusi Spannagel aushorchte. Wie es seiner Tante gesundheitlich gehe, ob sie nennenswerte Beträge in der Finanzkrise verloren hätte, und wer der alte Herr sei, mit dem sie sich so viel zu sagen hätte – alles wollte er ganz genau wissen. Marthe stand widerwillig Rede und Antwort, so höflich wie nötig und so ausweichend wie nur irgend möglich. Endlich wurde sie durch einen herannahenden Gast erlöst. Marthe erkannte in ihm den älteren Herrn wieder, der am Abend zuvor in ihrer Nähe gesessen hatte. Er telefonierte gerade mit seinem Handy und nahm keine Notiz von ihnen.

»Gut, kümmere dich darum, ich verlasse mich drauf.«

Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sein Gast beschäftigt war, begrüßte Kussewitz ihn emphatisch. »Ah, Herr Professor …«

Der Mann klappte sein Mobiltelefon zusammen. Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte er sich dem Hotelier zu. Eine solche Gelegenheit kam so schnell nicht wieder. In der Hoffnung, dass die nächste Frucht sich nicht auch als Reinfall entpuppte, schnappte Marthe sich einen weiteren Apfel und ergriff die Flucht. Da auf ihrer Etage jedoch die Staubsauger heulten, holte sie sich nur schnell ihren Laptop aus dem Zimmer und schlich kurze Zeit später abermals die Treppe hinunter, wobei sie jeden Blick in Richtung Empfangstresen krampfhaft vermied. Aus dem Augenwinkel nahm sie an der Rezeption aber nur eine Mitarbeiterin des Hauses wahr, der Hotelier hatte sich offenbar zurückgezogen. Aus seinem hinter der Rezeption gelegenen Büro drangen seltsame Geräusche, wie von einer Blockflöte. Kussewitz brachte doch nicht etwa seinen Mitarbeitern die Flötentöne bei? Eine echte Witzfigur, dachte Marthe. Gut gelaunt machte sie es sich für den Rest des Vormittags in der hintersten Ecke der Lobby bequem und übte sich weiter in der Kunst, ihre Umgebung zu ignorieren.

»Und du hast niemals daran gedacht, nach Deutschland zurückzukehren?«

Die Frage hatte Thusi schon an jenem Abend auf den Lippen gelegen, als Joachim und sie bei Champagner und Krebsen ihr erstes Wiedersehen im Stockholmer Opernkeller gefeiert hatten; bald vierzig Jahre war das nun schon her. Damals hätte sie sich freilich eher die Zunge abgebissen, als derart plump nachzufragen, aber sie waren ja auch noch vergleichsweise jung gewesen, kaum Fünfzig. Nun war ihr der Satz einfach herausgerutscht.

»Nach Rostock zurück? Himmel bewahre!« Joachims Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Das hätte ja die DDR bedeutet.«

»Andere sind auch vom Osten in den Westen gegangen«, sagte Thusi. »Ewald und Margitta zum Beispiel. Und die hatten auch noch ihre Schwiegertochter mit dem kleinen Erwin im Schlepptau, nachdem Hubert bei Stalingrad …«

»Das war etwas anderes.« Joachim Michaelis drehte den geriffelten Stiel seines Sektkelches zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Ich hatte es schließlich schon einmal hinter mir – ganz von vorn anfangen. Warum hätte ich mir das ein zweites Mal zumuten sollen?«

Sie saßen in einer Ecke der Bar, die sich in einem ehemaligen Pferdestall im alten Trakt des Hauses befand. Da Joachim die Bestellung aufgegeben hatte, musste Thusi sich mit der preiswerten Hausmarke zufriedengeben. Er schien noch genauso sparsam zu sein wie eh und je – damals im Stockholmer Opernkeller hatte sie den Champagner bezahlt. Aber Thusi war fest entschlossen, sich diesen Tag nicht verderben zu lassen. Immerhin konnten sie sich hier ungestört unterhalten. Allein schon, dass sie sich vor Marthe und Inga davongeschlichen hatten, wirkte enorm verjüngend. Aus dem Alter, in dem man Rücksicht auf andere Leute zu nehmen hatte, oder gar auf etwas, das sich Moral oder Anstand nannte, waren sie glücklicherweise heraus. Ingas Eifersucht hatte schon etwas Inzestuöses. Sie schien ihren Großvater für Privatbesitz zu halten. Heute aber war Jockels Tag. Als Ehrengast war er zur Eröffnung der neuen Ausstellung in der Kunstmühle eingeladen, ein Zeitzeuge, Enkel eines der ausgestellten Künstler – und ein Maler in seinem eigenen Recht. Und auch ihr, Thusi, galt die Ehrung, schließlich war sie als junges Mädchen von keinem Geringeren als dem alten Michaelis höchstpersönlich porträtiert worden. Im Prinzip war es nicht verkehrt, dass dieses Bild jetzt in Beekenau ausgestellt wurde – wenngleich es natürlich ein starkes Stück war, dass Jockels Sohn es hinter dem Rücken seines Vaters an die Kunstmühle verkauft hatte.

»Also in Schweden sterben?«

»Seltsam, dass du das fragst.«

Joachim Michaelis hörte auf, das Glas zu polieren, und legte seine Hände nebeneinander auf die Tischplatte. Gedankenverloren, fast zärtlich strich er über das Holz. Wieder wartete Thusi geduldig ab, bis er sich entschieden hatte, weiterzusprechen.

»Ich habe gestern Morgen mit Inga am Grab meines Vaters gestanden. Und tatsächlich kam mir dieser alte Vers in den Sinn. Min oll lütt Vaterstadt, ich hatte ihn ganz vergessen. Erinnerst du dich?«

»Der große Vorteil, wenn man erst gar nicht so viel weiß, lieber Jockel, ist: Man kann auch nicht so viel vergessen. Das haben meinesgleichen einem wie dir voraus. Manchmal ist das Leben gerecht.«

»Min oll lütt Vaterstadt, tüschen See und Barg: Hier hett min Weig dunn stahn, hier stah’ min Sarg.«

Er sprach mit weichen Konsonanten und hatte einen träumerischen Ausdruck in den Augen. Nein, nicht träumerisch, korrigierte sich Thusi. Traurig sah Jockel aus. Traurig und einsam. Immer noch das zu früh aus dem Nest verstoßene Kind.

»Hübsch, das kenne ich gar nicht. Aber so klein ist Rostock doch nun auch wieder nicht.«

»Rostock war nicht gemeint. Und da möchte ich auch nicht begraben werden. Es war ein kleineres Kaff, in dem der Verfasser wohnte. Josef Nathan, ein Verehrer von Fritz Reuter.«

»Dem Heimatdichter?«

»Genau. Nathan, verstehst du, ein jüdischer Mecklenburger Patriot. Wer weiß, was aus seiner Familie geworden ist.«

Sie schwiegen. Thusi ergriff als Erste das Wort. »Komm doch zu uns nach Rothenvenne!«

Auch diesen Vorteil brachte das Alter mit sich: Man musste keine Umwege mehr gehen. Angesichts der Niederlage, die ihnen allen unweigerlich bevorstand, konnte man nur noch gewinnen.

»Da hättest du dein eigenes Reich und wärst trotzdem in bester Gesellschaft. Sehr nette junge Leute, alle so um die fünfzig, sechzig, die im Notfall für einen sorgen.

Joachim Michaelis lächelte. »Das klingt ja fast wie ein Heiratsantrag. Lass das nur nicht meine Enkelin hören.«

»Ach, die soll sich mal nicht so anstellen. Du gehörst ihr ja nicht. Weißt du was, fahr doch am Montag mit Marthe und mir nach Rothenvenne zurück!«

»Ich bin … wir sind ja doch …«

»Was willst du noch in Schweden? Birgitta lebt nicht mehr, und einem Sohn, der dich so dreist hintergeht, willst du doch nicht ausgeliefert sein. In deinem Alter …« Sie merkte selbst, dass die Formulierung etwas anmaßend klang. »Ich meine, es kann jederzeit was passieren.«

»Da ist ja immer noch Inga, die mich zur Not …«

»Das ist nicht gut, Jockele. Das Mädchen muss freier werden. Hat sie denn keinen Mann?«

»Tut sich etwas schwer, den Richtigen zu finden. Du weißt ja, die jungen Männer sind heutzutage oft …«

»Ach, papperlapapp. Die jungen Männer waren nie besser als heute.«

»Wir hatten früher aber doch mehr Verantwortungssinn.«

»Schöne Verantwortung, die halbe Welt in Schutt und Asche zu legen.«

»Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas in Schutt und Asche gelegt zu haben.«

»Natürlich nicht du persönlich. Aber deine Generation.«

»Herrje, musst du immer noch so rechthaberisch sein?«

»Ich bin nicht rechthaberisch. Es ist lediglich so, dass ich häufiger recht habe.«

»Kein Wunder, dass dein Spannagel es vorzog, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen.«

Thusi griff nach ihrem Glas und bedauerte, dass es in wenigen Schlucken geleert war. »Spannagel? Die Flucht ergriffen? Schön wär’s. Andersherum wird ein Schuh draus, ich hatte Mühe, ihn wieder loszuwerden. Bestellst du uns noch zwei Gläser, Jockel?«

»Ich muss ein bisschen aufpassen …«