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Buch

Seit die Kriminalreporterin Jimm Juree mit ihrer exzentrischen Sippe in das kleine Küstendorf Maprao im Süden Thailands übergesiedelt ist, vermisst sie die Lichter von Chiang Mai, ja, selbst die Großstadthektik fehlt ihr. Am meisten aber vermisst sie ihre Karriere als Reporterin. Schweren Herzens muss sie nun mit kleinen Aufträgen für die »Chumphon News«, das lokale Käseblatt, vorliebnehmen. Ihr aktueller Job: den Engländer Conrad Coralbank interviewen. Der hat die 50 überschritten, ist nach Thailand ausgewandert und schreibt preisgekrönte, vom Publikum gefeierte Kriminalromane. Kurz nach dem merkwürdigen Interview verschwinden plötzlich mehrere Frauen. Unter ihnen befindet sich – neben der Dorfärztin – auch Coralbanks thailändische Gattin. Und mit einem Mal haben Jimm und ihre schräge Sippe es nicht nur mit Vermisstenfällen und einem potenziellen Serienkiller zu tun, sondern auch mit einem Monstersturm, der direkt auf Maprao zusteuert und alles zu zerstören droht …

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sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

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Colin Cotterill

Mit Axt, Charme

und Melone

Ein Thailand-Krimi

Aus dem Englischen

von Jörn Ingwersen

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»The Axe Factor. A Jimm Juree Novel«
bei Quercus, London.
Copyright © der Originalausgabe
2014 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published in agreement with the author,
c/o Baror International Inc., Armonk, New York, U.S.A.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagbild: FinePic®, München
Redaktion: Gerhard Seidl
LT · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN 978-3-641-15275-8
V003
www.goldmann-verlag.de
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UNGEPOSTETER BLOG-EINTRAG 1

(zwei Wochen zu spät entdeckt)

Ich schreibe.

Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Früher dachte ich, man könnte nur entweder schreiben oder handeln, und der Unterschied sei so groß wie zwischen denen, die träumen, und denen, die ihre Träume leben. Heute Abend jedoch habe ich diese Grenze überschritten. Ich wurde von jemandem, der übers Sterben schreibt, zu jemandem, der Leben nimmt. Nie habe ich mich freier gefühlt als jetzt. Wenn sie mich verhaften, was eher unwahrscheinlich sein dürfte, könnte ich nicht mal vorgeben, es im Affekt getan zu haben: in einer Aufwallung von Zorn oder Leidenschaft. Ich hatte es mir plastisch vorgestellt. Ich hatte es mir ausgemalt, eher ein Ölgemälde als ein verwaschenes Aquarell. Seit Jahren schon sah ich es in bunten Farben vor mir, sodass es wohl nur eine Frage der Zeit war, bis es zur finsteren Realität wurde.

Zugegebenermaßen hatte sie ein solches Gemetzel nicht verdient. Sie war nicht nerviger als die meisten Frauen, die ich kenne. Vielleicht dachte sie ein wenig zu oft Dinge, die keines Gedankens würdig waren. Vielleicht sprach sie, wenn Schweigen die bessere Option gewesen wäre. Doch in mancher Hinsicht diente sie mir gut. Besucher mochten sie. Sie kochte erstklassigen Kaffee und erledigte die ihr zugewiesenen nächtlichen Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen. Wäre mir so etwas wie diplomatisches Geschick gegeben, hätte ich die jüngsten Schwierigkeiten vielleicht auch ohne die Hilfe einer Axt beheben können. Aber schließlich war da noch das Problem mit dem Verrat. Schwerlich zu verzeihen. Somit wurde alles durch den Wurf einer Münze entschieden. Bei Kopf sollte sie leben. Bei Zahl zerstückelt werden. Ungewöhnlich, könnte man meinen – das Werfen, nicht das Zerstückeln (obwohl man auch das Zerstückeln etwas ungewöhnlich finden könnte). Schließlich wirft man in Thailand eigentlich keine königliche Münze, weil man den Regenten nicht kränken möchte, für den Fall, dass sein Abbild unten landen sollte. Die Queen von England dagegen hatte schon weit schlimmere Demütigungen hinnehmen müssen, und so war es deren Rückseite, die entschied, dass die arme Frau ihrem Schicksal durch meine Klinge begegnete.

Und so liegt sie – das Opfer – hier und da. Hier ein Fuß. Dort ein Ellenbogen. Wie ein Bausatz – ein IKEA-Mensch. Faszinierend, sich die Einzelteile anzusehen und sich vorzustellen, dass sie einst so gut zusammenpassten. Nun sieh sie dir an. Und dann mich – blutverschmiert und schwitzend. Ich wünschte, ich hätte so ein Handy, mit dem man Fotos machen kann. Was wäre das für eine Inspiration! Nachdem mein Werk vollendet ist, muss ich nur diese Audioaufnahme transkribieren, solange die Ereignisse noch ganz frisch in der Erinnerung sind. Während das Blut noch an meinen Händen trocknet.

Zuerst der Ablauf. Man möge ihn als Erläuterung für Anfänger verstehen.

Die wasserdichte Unterlage kann gar nicht groß genug sein. Sechs Liter Blut können ziemlich weit spritzen. Zwei Schichten von schwarzen Müllsäcken aufrecht in einer Tonne für Schlachtabfälle, wie man sie an Schweine verfüttert. Und dann die einzelnen Arbeitsschritte:

A.Die Halswirbel, um sie ausbluten zu lassen.

B.Arme und Beine (Gelenke haben einer scharfen Axt überraschend wenig entgegenzusetzen. Erstaunlich, dass Krimiautoren das Zerteilen immer so arbeitsintensiv darstellen).

C.Die Beine waren etwas zu lang für die Kiste, also zweimal kurz von hinten in die Kniescheiben gehackt.

D.Der Rumpf war überraschend breit, sodass ich ihn in der Mitte zerteilen musste, indem ich erst das Brustbein und dann den Brustkorb aufhackte. Ich hatte mir überlegt, ich könnte eine Seite umdrehen und die beiden stapeln, eine auf die andere, wie Liegestühle am Swimmingpool. Doch als sie erst einmal getrennt waren, gaben sie sich unkooperativ. Am Ende machte ich vier Teile daraus, indem ich den Rumpf unterhalb des Brustkorbs zerteilte. Da kam ich dann aber doch ganz schön ins Schwitzen.

E.Was das Schnippeln und Würfeln angeht, so muss ich zugeben, dass es mir einfach nur Spaß gemacht hat.

Offen gesagt ist es ein verdammt gutes Gefühl. Es hatte etwas Sexuelles. Auf perverse Weise bösartig. Ganz sicher werde ich es wieder tun. Mal sehen, wie lange ich ungeschoren davonkomme. Der Durchschnittspolizist hier unten besitzt den IQ eines Schwamms, aber leider habe ich einige Fehler gemacht. Der schlimmste Fehler ist wohl, dass es eine Verbindung zwischen uns gibt. Ich zähle zu den Hauptverdächtigen. Und ich habe ein Motiv. Sie müssten nicht tief graben, um das herauszufinden. Das eine oder andere kommt mir jedoch zugute. Da ist erst mal der Umstand, dass ich aus dem Ausland bin. Bessergestellt als die verzweifelten Arbeiter aus den geschundenen Anrainerstaaten im Norden, aber dennoch nicht dazugehörig. Als solcher kann ich gleichzeitig sichtbar und unsichtbar sein. Ich falle auf, doch die Thais tauchen nie allzu tief in meine Angelegenheiten ein. Mörder würden sie erst mal unter ihresgleichen suchen, bevor sie mich beschuldigen. Und außerdem gibt es ohne Leiche auch kein Verbrechen. Mittlerweile passt sie perfekt in die Styroporkiste, und schon ist sie gar nicht mehr da. Man wird sie niemals finden. Sie hatte keine Verwandten. Vermisste Personen vermisst in diesem Land kein Mensch.

Projektvorschlag:

Fürs nächste Mal überlege ich mir was. Eine Freundschaft. Ein Alibi. Ein Glas Rotwein mit einem sich schnell auflösenden Schlafmittel aus den Heroinlabors jenseits der Grenze. Und sie wird in diesem fensterlosen Betonraum sein. Kein Laut. Kein Entrinnen. So ein Raum, wie ihn berechenbare Autoren ihren Serienkillern und Kinderschändern zuschreiben. In dem die Schreie ersticken. Und genau wie diese berechenbaren Autoren werde auch ich mein nächstes Opfer um Gnade winseln lassen. Ja, beim nächsten Mal wird es noch besser. Und beim übernächsten. Und überübernächsten.

C. C.

KAPITEL EINS

Lippen- und Augenentferner

(Beschreibung auf einer Flasche Make-up-Entferner)

E-Mail an Clint Eastwood

Lieber Clint,

hier ist Jimm, Deine Thai-Freundin unten am Golf von Siam. Frohe Weihnachten Dir und Deiner Familie. Es ist schon eine Weile her, dass ich geschrieben habe. Ich hoffe, es geht Dir gut. Meiner Schwester (alias Bruder) Sissi und mir ist kürzlich aufgefallen, dass Du Deine persönliche Assistentin Liced gefeuert hast. Wir hoffen, es hatte nichts damit zu tun, dass wir uns in ihr E-Mail-Konto gehackt haben, um uns Zugang zu vertraulichen Informationen über Malpaso Productions zu verschaffen. Liced war selbst ein Opfer und wurde virtuell dazu erpresst, uns zu helfen. Ich hoffe, Du kannst ihr verzeihen und überlegst es Dir noch mal. Da wir jetzt keinen »Maulwurf« mehr haben, schicke ich dieses Paket an Dein privates Postfach. Ich verspreche, dass es die letzte vertrauliche Information ist, von der wir Gebrauch machen. Die beigefügte DVD enthält Aufnahmen unserer aufregenden Suche nach birmanischen Sklaven im Golf von Thailand. Unser Live Internet Feed hatte während seiner Ausstrahlung 1,3 Millionen Zuschauer. Sissi und ich sind überzeugt davon, dass jeder Einzelne davon liebend gern fünfzehn Dollar für eine Karte abdrücken würde, um es sich auf einer großen Leinwand anzusehen, besonders wenn Natalie Portman mich spielt. Aber die Besetzung will ich gern Dir überlassen. Ich habe mir die Freiheit genommen, die DVD in meine Drehbuchadaption der Ereignisse einzuwickeln.

Clint, sicher wirst Du Dich erinnern, dass dies das vierte Drehbuch ist, das ich Dir schicke, eins spannender als das andere. Zwar habe ich von Dir persönlich bisher noch nichts gehört (nicht, dass ich mich beklagen will – das Alter geht wohl an keinem spurlos vorüber), doch konnten wir eine Nachricht von einem Deiner Gutachter abfangen, in der von ernsthaften Zweifeln hinsichtlich der Qualität der Charakterisierungen in unserem zweiten Drehbuch die Rede war. Zunächst einmal war es ermutigend zu erfahren, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, unsere Arbeit intern beurteilen zu lassen. Dennoch fühlen wir uns bemüßigt, dieses Thema anzusprechen, besonders da es sich bei den Charakteren im zweiten Drehbuch um meine Familie handelt. Wir fanden die Bemerkungen ungerechtfertigt grausam und würden Deinem Gutachter gern mal die Meinung geigen.

Es mag ja sein, dass die scharfen Zähne der Demenz an unserer Mutter Mair nagen, aber deshalb ist sie noch lange keine »komische Heilige«, wie Dein Mitarbeiter schrieb. Es gibt durchaus Phasen, in denen sie keineswegs unterschiedliche Schuhe anzieht oder gebrauchte Hasenkostüme von eBay trägt. (Das hat sie nur einmal gemacht, um die Bindung zu ihren Hunden zu stärken.) Unter uns gesagt war sie jahrelang ein »Blumenkind« und hat eine ganze Weile mit systemfeindlichen Elementen im Dschungel verbracht. Möglicherweise wurden damals auch Rauschmittel konsumiert, doch möchte ich gern davon ausgehen, dass diese sie zu einem vollständigeren und sanftmütigeren Menschen gemacht haben und nicht zu einer komischen Heiligen.

Der ältere Herr, der als »unsympathisch und zweidimensional« beschrieben wurde, ist in Wahrheit mein Opa Jah. Dem »unsympathisch« kann ich nur zustimmen, aber der Aussage, dass meinem Opa angeblich eine Dimension fehlt, muss ich deutlich widersprechen. Mangeln mag es ihm höchstens an dem einen oder anderen Sinn. Den Mangel an Humor und Umgangsformen macht er allerdings mit seinen angeborenen detektivischen Talenten mehr als wett. Man sollte meinen, dass vierzig Jahre bei der Königlich Thailändischen Polizei (deren Hauptaugenmerk darauf liegt, möglichst großen Reichtum anzuhäufen, statt Unheil abzuwenden) den Polizeiinstinkt abtöten. Doch Opa Jah besitzt verblüffende Fähigkeiten und ist so ehrlich, wie der Tag lang ist (was auch erklärt, wieso er nie einen Penny in der Tasche hat).

Das führt mich zu meinem Bruder Arnon, auch liebevoll Arny genannt, nach seinem Helden Arnold Schwarzenegger. Wären wir nicht meiner Mutter in die nördlichste der südlichen Provinzen Thailands gefolgt – aus Gründen, die ich erst kürzlich erfahren habe –, wäre er zweifelsohne der diesjährige »Mr Chiang Mai Body Beautiful« geworden. Daher ist die Bemerkung »Diese Figur besitzt keine Persönlichkeit, kein Talent und absolut keinen Grund, in dieser Geschichte aufzutauchen« in etwa so, als würde man sich darüber beklagen, dass Moby Dick keine große Sprechrolle hat. Im Grunde dreht sich alles um Arny. Er ist der Resonanzkörper meiner Geschichten, und obwohl er keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, ist er doch mein Beschützer. Wie Dir vielleicht aufgefallen sein wird, nimmt er es im letzten Drehbuch ganz allein mit einer kompletten Schiffsladung von Piraten auf. Möglicherweise habe ich ein wenig übertrieben, was die Zahl seiner Gegner und seiner Verletzungen anging, aber er hat vor den Augen seiner Verlobten zweifellos seinen Mann gestanden.

Die »Unglaubliche Königin der Hermaphroditen« ist meine »Schwester« Sissi, die weder mit widersprüchlichen Organen geboren noch gekrönt wurde. Hätte sich Dein Gutachter die Mühe gemacht, die Personenbeschreibung zu lesen, wüsste er (oder sie) es. Mir scheint, da wollte nur jemand clever klingen, um Dich zu beeindrucken. Bestimmt wollen sich viele Leute bei Dir einschleimen. Sissi ist transsexuell, was ein ärztliches Attest belegt. Angesichts ihrer besonderen Fähigkeiten am Computer klang Malpasos Drohung, sie »aufzuspüren und ihr das Handwerk zu legen«, doch ein wenig theatralisch, denn gewiss bist Du Dir darüber im Klaren, dass sie weder aufzuspüren noch zu vertreiben ist. Wie Du zugeben musst, waren wir beim Hacken ausgesprochen rücksichtsvoll, und obwohl Deine Konten für uns offen einsehbar und ohne Weiteres zugänglich waren, haben wir sie nicht geplündert. Und wenn wir erst gemeinsam an einem Tisch sitzen und die Details unseres ersten Filmdeals besprechen, werden wir alle an diese Tage zurückdenken und darüber lachen.

Was mich zu mir – Jimm Juree – bringt. Vielleicht hätten mich die Bemerkungen Deines Gutachters am schlimmsten treffen und kränken sollen, doch bin ich von Haus aus daran gewöhnt, den Fußabtreter zu spielen. Da ich erst vierunddreißig bin, war ich gezwungen, eine andere Bedeutung für »alte Jungfer« nachzuschlagen. Nachdem diese nun gefunden ist, muss ich doch aufs Schärfste protestieren. Ich war immerhin verheiratet, und während unserer 3,7 Jahre währenden Ehe haben wir diese sehr wohl auch vollzogen. Mindestens einmal im Monat, wenn ich mich recht erinnere. Zugegebenermaßen nicht eben rekordverdächtig, doch auch nicht so selten, dass ich mit einer Frau gleichzusetzen wäre, »die noch keine Paarbindung eingegangen ist, wenn sie sich ihrer Menopause und damit dem Ende ihrer reproduktiven Lebensphase nähert oder diese bereits erreicht hat« (Wikipedia). Mein Mann wollte unbedingt verheiratet sein, und ich wollte unbedingt geheiratet werden, was vielleicht keine vernünftige Basis für eine Paarbindung sein mag, aber das gehört der Vergangenheit an. Ich habe noch gut zehn Jahre prämenopausaler Pirsch vor mir.

Außerdem stoße ich mich an dem Ausdruck »als Thailänderin eher unglaubwürdig«. Sollte er damit meinen, dass ich weder in einer Reisbude noch in einer Go-go-Bar arbeite, nicht auf Dating-Seiten im Internet geführt werde und weder trippelnd gehe noch mich in männlicher Gesellschaft einer gesitteten Ausdrucksweise befleißige, dann – okay –, dann muss ich ihm recht geben. Tatsache ist allerdings, dass man uns thailändischen Mädchen mittlerweile den Zugang zum 21. Jahrhundert gewährt hat. Wir dürfen online chatten und im Ausland studieren und Fremdsprachen sprechen. Ist das zu fassen? Wir dürfen sogar Firmen gründen und uns ins Parlament wählen lassen. Nein, Clint, mein Held, ich glaube keinen Augenblick daran, dass Du Dir Drehbücher voller Stereotype wünschst, und ich bin davon überzeugt, dass Du dieses vertrauliche Gutachten in den Müll befördert hast, wo es hingehört.

Na gut. Wahrscheinlich kannst Du es kaum erwarten, Dich der beigefügten DVD zu widmen, also will ich mich kurzfassen. Da Sissi und ich der Ansicht sind, dass die nordamerikanische Post seit Einführung der E-Mails so gut wie überflüssig ist, haben wir beschlossen, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Du dieses Drehbuch auch wirklich bekommst, indem wir siebenunddreißig Kopien an Deine Arbeitskollegen, einige der wichtigeren Anteilseigner der Firma und an Freunde und Familie geschickt haben. Jedem Paket haben wir eine kleine Blumentopfmatte beigelegt, handbestickt von Hmong-Frauen, einem Bergvolk aus dem Norden. Wie gesagt, wenn wir erst die Dollars unserer filmischen Zusammenarbeit scheffeln, wirst Du unser Vorgehen nicht mehr als Belästigung empfinden, sondern dessen Charme erkennen. Irgendwann während Deines Kommentars auf der DVD wirst Du dann erwähnen, wie genervt Du anfangs warst, dass aber diese gottverdammten, durchgeknallten Thais einfach ein mörderisches Produkt anzubieten hatten.

Frohes Fest, und möge Dir der Weihnachtsmann den nächsten Oscar bringen.

In Liebe, Jimm und Sissi

(ohne Postanschrift, aber Du hast ja unsere E-Mail-Adresse)

KAPITEL ZWEI

Bitte geben Sie Ihre Werte am Empfang ab

(Landhotel)

Unser ganzes Leben war zu einem einzigen »Hätte« geworden. Meine Mutter Mair hätte eigentlich Dienst im Nicht-so-Supermarkt unserer Ferienanlage gehabt. Stattdessen bemalte sie die Sitzbänke in ihrer Schule für Kinder birmanischer Tagelöhner. Arny hätte den Müll vom Strand wegräumen sollen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Gäste kamen, aber er war unterwegs auf der Suche nach Gewichten für seine achtundfünfzigjährige Verlobte Gaew. Opa Jah hätte … nun, er spielte weder eine Rolle, noch hatte er eine Aufgabe im Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant, also saß er am Straßenrand und behielt den Verkehr im Auge, der doch eher spärlich daherkam.

Somit hatte ich – die ich so ziemlich überall anders hätte sein sollen – die Verantwortung für fünf Bungalows, vier überdachte Tische, einen halb versunkenen Latrinenblock und zwei Kühe, die eines Tages am Strand entlangspaziert kamen, sich für unsere jungen Palmen begeistern konnten und blieben. Oh, und dann waren da noch drei Hunde, die ich schon mal vergesse, weil ich – auch wenn sie es gern glauben möchten – kein Hundefreund bin. Sie hießen – in der Reihenfolge ihrer Rettung – Gogo mit den funktionsuntüchtigen Eingeweiden, Sticky, der auch »Reisbällchen« gerufen wurde, und unser jüngster Rekrut Little Beer, der von Räude geplagt war und wohl nie eine Freundin haben würde. Einmal hatten wir auch einen Affen gerettet, ihn dann aber zur Traumabehandlung nach Phuket geschickt. Das alles war dem Umstand zuzuschreiben, dass Mairs Verhalten von Alzheimer und Nächstenliebe bestimmt war. Diese Kombination zog auch die Suche nach unserem verloren geglaubten Vater nach sich. Okay, eigentlich habe ich hier eine ganz andere Geschichte zu erzählen, eine blutig-mutige Mär von Sex, Verrat und internationaler Verschwörung, also will ich der Versuchung widerstehen, über Käpt’n Kow zu sprechen. Nur ganz kurz: Als wir hier im Süden ankamen, war Käpt’n Kow eine lokale Berühmtheit – ein allwissender, nach Tintenfisch stinkender alter Mann mit diversen Zahnlücken und freundlichen Augen. Als wir herausfanden, dass es sich bei ihm um unseren Vater handelte, der uns verlassen hatte, als ich drei war, fügte sich eins zum anderen. Es hatte seinen Grund, dass Mair uns ausgerechnet hierher verschleppen musste. Ihr Wahnsinn hatte Methode. Wir wissen nicht, wie sie seinen Aufenthaltsort herausgefunden hatte, doch war sie wild entschlossen, ihn aufzuspüren. Dafür hegte ich eine gewisse romantische Bewunderung. Sie gab alles auf, was sie hatte, einschließlich der Hälfte ihres Verstandes, um ihre Familie dorthin zu locken, wo ihre große Liebe sich niedergelassen hatte. Das Ganze hätte einen guten Film abgegeben, wenn auch keinen, in dem ich gern mitgespielt hätte.

Seit meine transsexuelle Schwester Sissi ihn enttarnt hatte, war der gute Käpt’n wieder abgetaucht. Wir hatten keine Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, wieso er uns verlassen und zu Halbwaisen gemacht hatte, die sich jahrelang in Chiang Mai herumtreiben und mit einer Vaterfigur wie dem humorlosen Opa Jah plagen mussten. Kow war uns einige Antworten schuldig, und von daher konnte ich sein Verschwinden gut verstehen. Die mangelnde Bereitschaft zu Schuldeingeständnissen habe ich wohl von ihm geerbt. Okay. Mehr habe ich zu diesem Thema momentan nicht zu sagen. Als potenziell preisgekrönte Kriminalreporterin in meiner Zeit bei der Chiang Mai Mail bin ich mir der Tatsache nur allzu bewusst, dass ablenkende Nebenhandlungen für einen Leser, der schnell zum Mord kommen möchte, ausgesprochen nervig sein können. Hier kommt nun also die Einleitung.

Um dem Umstand entgegenzuwirken, dass wir mit unserer Ferienanlage kein Geld verdienten, hatte ich zwei Jobs angenommen. Am besten bezahlt war sicher meine Rolle als Sprachdoktor. Während ihres kurzen Besuchs in Maprao hatte mir Sissi den Dongle vorgestellt, was mein Notebook in eine Geheimwaffe verwandelte. Plötzlich konnte ich online sein, ohne stundenlang im Internetcafé von Pak Nam Schlange stehen zu müssen. Ich konnte mir die Handyrechnungen zwar nicht leisten, aber Sissi hatte irgendwas Illegales mit der Datenbank meines Mobilfunkanbieters gemacht, sodass sich mein Konto immer wieder automatisch auffüllte. Während meiner Arbeit im Norden hatte ich viel Zeit auf Reisen verbracht und war ständig frustriert von der Tatsache, dass Schildermacher davon ausgingen, dass sie Thailändisch allein mithilfe eines Wörterbuchs ins Englische übersetzen konnten. Das führte zu Sätzen wie FAHRSTUHL NICHT BENUTZEN WÄHREND BRANDSTIFTUNG. Daher kam mir die grandiose Idee, meine Dienste jedem anzubieten, der seine Schilder korrekt übersetzt haben wollte. Sissi hat mich überall im Netz bekannt gemacht, und bevor ich mich’s versah, hatte ich einen regulären Job. Lokale Behörden ließen mich ihre Schilder schreiben, um sich Peinlichkeiten zu ersparen – so etwa mein liebstes Umleitungsschild: HIER FAHREN ALLE AB. Hotels ließen mich Warnungen wie BITTE NICHT IN POOL SINGEN – WASSER NICHT SO TIEF überarbeiten. Erstaunlicherweise hielt uns meine Arbeit als Sprachdoktor alle über Wasser. Die Straßenbaubehörde von Chumphon hatte mir eine Liste von Straßennamen zum Korrigieren geschickt. Ich war ein Ass im Überarbeiten. Ich war es auch, die die Provinzbehörden davon überzeugen konnte, ihre »Chumporn«-Schilder umzuschreiben. Ich war auf eine Goldader gestoßen.

Meinen anderen »Job« hatte ich bei den Chumphon News. Aufgrund des Desktop-Publishings und der Unmenge guter, arbeitsloser Journalisten mit abgeschlossenem Studium schien es, als brüstete sich jeder Ort mit mehr als fünfzehn Einwohnern seiner eigenen Tageszeitung. Die News befanden sich in einem Haus abseits einer viel befahrenen Hauptstraße. Die beiden freien Mitarbeiter hatten Grippe, also fragte der Redakteur bei mir an, ob ich bereit sei, einen international berühmten Schriftsteller zu interviewen. Da international berühmte Schriftsteller in Chumphon traditionell rar gesät sind, nahm ich diesen Auftrag liebend gern an. Ich sah Dan Brown vor mir, auf Bergsteigerurlaub in Krabi, oder einen Erster-Klasse-Flug zu einem Abendessen mit Stephen King in Bangkok, oder ein Wochenende auf Kathy Reichs Jacht vor Samui. Nicht vor mir sah ich Kor Kow, zehn Minuten mit dem Fahrrad die Bucht entlang. Ich wurde misstrauisch.

»Wie heißt er?«

»Conrad Coralbank«, sagte er.

Das klang eher nach einem Küstenschutzprogramm. Ich hätte so tun können, als wüsste ich Bescheid, um den Redakteur zu beeindrucken, doch stattdessen fragte ich: »Und der ist berühmt?«

»Absolut«, sagte er. Der Redakteur war ein ausgesprochen belesener Mann, musste aber erst das Word-Dokument öffnen, das er zu dem Thema zusammengestellt hatte, bevor er mir sagen konnte, was der berühmte Autor so alles geschrieben hatte.

»Er hat irgendwas gewonnen«, sagte er. »Preise und so. Er schreibt« – er kniff die Augen zusammen, während er vorlas – »Kriminalromane, die in Laos spielen.«

Laos. Na, super. Mein Eifer schmolz dahin. Kein Mensch würde jemals berühmt werden, indem er über ein Land schrieb, auf das mehr als achtundneunzig Prozent der amerikanischen Highschool-Schüler im Atlas nicht mit dem Finger zeigen konnten. Nicht mal in einem Atlas, der beschriftet war und einen Index besaß. Zugegebenermaßen würden vierunddreißig Prozent nicht einmal Kanada finden. Laos – und ich möchte hier keineswegs rassistisch klingen – ist garantiert das langweiligste Land der Welt. Ich war mehrmals auf Recherche da, und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Uhren dort langsamer gehen. Eine Sekunde in Laos entspricht in etwa zwölf Minuten hier bei uns. Jeder Schritt fühlt sich an, als wate man durch hüfthohen Reisporridge. Bestimmt wurde nur mal wieder so ein Artikel gebraucht, in dem jemand aufgeblasen werden sollte, um ihn größer erscheinen zu lassen, als er war. Viel Wind um nichts. Aber es war Arbeit. Wenn ich meinen Job gut machte, würden sie mir vielleicht weitere Aufträge geben. Außerdem konnte ich endlich wieder Englisch sprechen. Meine eingemottete Zweitsprache bekam nur Auslauf, wenn ich mit Sissi bilingual telefonierte. Wir brüsteten uns der Fähigkeit, Englisch mit ausländischem Akzent zu sprechen. Ich klang eher brasilianisch. Sie hatte einen osteuropäischen Tonfall. Unseren Englischkenntnissen nützte es allerdings wenig.

Auch das sprach dafür. Es wäre ein wahrer Segen, einen einsamen Westler in der Nähe zu wissen, bei dem ich meinem aktiven Wortschatz auf die Sprünge helfen konnte. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Alkoholiker mit Hautallergien, der dankbar dafür war, dass ihn eine aufreizende, kurvenreiche junge Thailänderin hin und wieder auf ein Plauderstündchen besuchte. Ich würde ihm eine Flasche Mekong-Whiskey mitbringen und zusehen, wie seine fleckigen Hände zitterten, wenn er das Zeug in seinen angeschlagenen Souvenirbecher schüttete und gierig einen großen Schluck nahm. Selbstverständlich würde ich das Kommando übernehmen. Westliche Autoren in Thailand fanden den Großteil ihrer Inspiration in Bars. Sicher würde er davon ausgehen, dass ich so locker drauf war wie die Girlies in Farang-Romanen, in denen Ausländer mit weißer Hautfarbe stets im Mittelpunkt stehen. Das ist das Problem. Wenn man eine Regierung von geilen, alten Männern hat, die mehr Sex mit Professionellen als mit ihren eigenen Frauen pflegen, fällt es sehr schwer, eine Sex-Industrie zu demontieren, die jahrelang das einzige Ass im Ärmel des Landes war. Das US-Militär verprasste zwei Drittel seines Solds in Pattaya. Das sprach sich schnell herum, und schon bald saß jeder Tom, Dick und Helmut in einer Chartermaschine nach Bangkok. Unzählige mächtige Leute haben es auf den Schultern der männlichen Libido bis dorthin gebracht, wo sie jetzt sind. Seht ihr, wieso ich nie Romane schreiben könnte? Ich beiße mich zu sehr an Themen fest. Das will doch keiner lesen, also … Conrad Coralbank. Der Redakteur erlaubte mir, mich hinzusetzen und ihn mir online anzusehen. Der Computer musste sich per Modem ins Netz einwählen. Die Verbindung war so schlecht, dass meine Gedanken abschweiften und ich mich schon wie ein Neandertaler fühlte, der einen viereckigen Steinklotz anstarrte und gelegentlich mit seiner Keule darauf einschlug. Endlich öffnete sich die Wikipedia-Seite. Folgendes überraschte mich nicht: Das erste Foto zeigte einen Mann mit wachem Gesichtsausdruck, großen Zähnen und blauen Augen – Ende vierzig, der Bildunterschrift nach zu urteilen – und dazu mit modisch langen Haaren. Schriftsteller machen so was. Sie graben ein Bild von vor dreißig Jahren aus, obwohl es ihnen gar nicht ähnlich sieht, sondern nur zeigt, wie sie damals eben rüberkommen wollten. Dieses schicken sie ihrem Verleger, der die Pickel wegretuschiert, und es ist perfekt: das Umschlagfoto.

Allerdings staunte ich doch, wie viele Bücher er anscheinend schon geschrieben hatte und für wie viele Preise er angeblich nominiert worden war und dass er offenbar eine Frau hatte und gern Fahrrad oder Kajak fuhr und mit seinen Hunden am Strand spazieren ging. Nichts davon klang für meine Ohren sonderlich einsam. Aber hey, jeder kann sich selbst eine Wikipedia-Seite basteln, und sofern nicht jemand, der es besser weiß, sie sich durchliest, wird auch niemand etwaige Lügen aufdecken. Das Internet war ein Club Med für Blender. Daher konnte mich dieser Auftritt nicht übermäßig beeindrucken, sondern nur leises Interesse wecken. Was jedoch lauteres Interesse weckte, waren Conrads Fotos.

Conrad am Strand mit seinen beiden Rottweilern. Conrad im Garten mit seiner wunderschönen Thai-Frau, beide lächelnd, mit Setzlingen in Händen. Conrad beim Start einer Fahrradrallye mit dem Pak Nam Mountain Biker Club. Und auf jedem Foto war derselbe retuschierte junge Mann vom Umschlagbild zu sehen. Es gab ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem er über seine Tastatur gebeugt saß, nachdenklich, auf der Suche nach Adjektiven, und man konnte seine Falten sehen. Aber sie waren nicht sehr tief, wie feine, freundliche Federstriche.

Ich vergrößerte sein Gesicht, bis Stirn und Kinn nicht mehr auf den Bildschirm passten. Seit einem Jahr wohnte ich nun hier. Hatte oft am Straßenrand gehockt und darum gebetet, dass mich eine Zigeunerfamilie verschleppen würde. Warum hatte ich Conrad Coralbank noch nie gesehen? Warum war ich seiner hochgewachsenen, schönen Frau niemals begegnet? Angesichts der Tatsache, dass La Mae zwanzig Kilometer südlich lag und Lang Suan achtzehn Kilometer westlich, war Pak Nam seine nächstgelegene Metropole. Und er musste an unserer Anlage vorbei, um dorthin zu gelangen. Stunde um Stunde hatte ich mich im 7-Eleven von Pak Nam herumgetrieben, die ungeheure Auswahl an Kartoffelchips bewundert, mir diverse Geschmackssorten von Eisschleim gemixt und vor der Sicherheitskamera Faxen gemacht. Wieso waren wir uns nie begegnet? Im Tesco Lotus? Auf dem Samstagsmarkt? Im Krankenhaus von Pak Nam? In einem der beiden Restaurants mit Speisekarten? Im Vorüberfahren auf dem Mountainbike, schweißtriefend von der Steigung der Brücke über den Lang Suan? Es schien mir fast unmöglich, dass ich ihn nicht gesehen haben sollte. Sehr gut. Ein Rätsel.