KAPITEL ZWEI
Bitte geben Sie Ihre Werte am Empfang ab
(Landhotel)
Unser ganzes Leben war zu einem einzigen »Hätte« geworden. Meine Mutter Mair hätte eigentlich Dienst im Nicht-so-Supermarkt unserer Ferienanlage gehabt. Stattdessen bemalte sie die Sitzbänke in ihrer Schule für Kinder birmanischer Tagelöhner. Arny hätte den Müll vom Strand wegräumen sollen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Gäste kamen, aber er war unterwegs auf der Suche nach Gewichten für seine achtundfünfzigjährige Verlobte Gaew. Opa Jah hätte … nun, er spielte weder eine Rolle, noch hatte er eine Aufgabe im Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant, also saß er am Straßenrand und behielt den Verkehr im Auge, der doch eher spärlich daherkam.
Somit hatte ich – die ich so ziemlich überall anders hätte sein sollen – die Verantwortung für fünf Bungalows, vier überdachte Tische, einen halb versunkenen Latrinenblock und zwei Kühe, die eines Tages am Strand entlangspaziert kamen, sich für unsere jungen Palmen begeistern konnten und blieben. Oh, und dann waren da noch drei Hunde, die ich schon mal vergesse, weil ich – auch wenn sie es gern glauben möchten – kein Hundefreund bin. Sie hießen – in der Reihenfolge ihrer Rettung – Gogo mit den funktionsuntüchtigen Eingeweiden, Sticky, der auch »Reisbällchen« gerufen wurde, und unser jüngster Rekrut Little Beer, der von Räude geplagt war und wohl nie eine Freundin haben würde. Einmal hatten wir auch einen Affen gerettet, ihn dann aber zur Traumabehandlung nach Phuket geschickt. Das alles war dem Umstand zuzuschreiben, dass Mairs Verhalten von Alzheimer und Nächstenliebe bestimmt war. Diese Kombination zog auch die Suche nach unserem verloren geglaubten Vater nach sich. Okay, eigentlich habe ich hier eine ganz andere Geschichte zu erzählen, eine blutig-mutige Mär von Sex, Verrat und internationaler Verschwörung, also will ich der Versuchung widerstehen, über Käpt’n Kow zu sprechen. Nur ganz kurz: Als wir hier im Süden ankamen, war Käpt’n Kow eine lokale Berühmtheit – ein allwissender, nach Tintenfisch stinkender alter Mann mit diversen Zahnlücken und freundlichen Augen. Als wir herausfanden, dass es sich bei ihm um unseren Vater handelte, der uns verlassen hatte, als ich drei war, fügte sich eins zum anderen. Es hatte seinen Grund, dass Mair uns ausgerechnet hierher verschleppen musste. Ihr Wahnsinn hatte Methode. Wir wissen nicht, wie sie seinen Aufenthaltsort herausgefunden hatte, doch war sie wild entschlossen, ihn aufzuspüren. Dafür hegte ich eine gewisse romantische Bewunderung. Sie gab alles auf, was sie hatte, einschließlich der Hälfte ihres Verstandes, um ihre Familie dorthin zu locken, wo ihre große Liebe sich niedergelassen hatte. Das Ganze hätte einen guten Film abgegeben, wenn auch keinen, in dem ich gern mitgespielt hätte.
Seit meine transsexuelle Schwester Sissi ihn enttarnt hatte, war der gute Käpt’n wieder abgetaucht. Wir hatten keine Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, wieso er uns verlassen und zu Halbwaisen gemacht hatte, die sich jahrelang in Chiang Mai herumtreiben und mit einer Vaterfigur wie dem humorlosen Opa Jah plagen mussten. Kow war uns einige Antworten schuldig, und von daher konnte ich sein Verschwinden gut verstehen. Die mangelnde Bereitschaft zu Schuldeingeständnissen habe ich wohl von ihm geerbt. Okay. Mehr habe ich zu diesem Thema momentan nicht zu sagen. Als potenziell preisgekrönte Kriminalreporterin in meiner Zeit bei der Chiang Mai Mail bin ich mir der Tatsache nur allzu bewusst, dass ablenkende Nebenhandlungen für einen Leser, der schnell zum Mord kommen möchte, ausgesprochen nervig sein können. Hier kommt nun also die Einleitung.
Um dem Umstand entgegenzuwirken, dass wir mit unserer Ferienanlage kein Geld verdienten, hatte ich zwei Jobs angenommen. Am besten bezahlt war sicher meine Rolle als Sprachdoktor. Während ihres kurzen Besuchs in Maprao hatte mir Sissi den Dongle vorgestellt, was mein Notebook in eine Geheimwaffe verwandelte. Plötzlich konnte ich online sein, ohne stundenlang im Internetcafé von Pak Nam Schlange stehen zu müssen. Ich konnte mir die Handyrechnungen zwar nicht leisten, aber Sissi hatte irgendwas Illegales mit der Datenbank meines Mobilfunkanbieters gemacht, sodass sich mein Konto immer wieder automatisch auffüllte. Während meiner Arbeit im Norden hatte ich viel Zeit auf Reisen verbracht und war ständig frustriert von der Tatsache, dass Schildermacher davon ausgingen, dass sie Thailändisch allein mithilfe eines Wörterbuchs ins Englische übersetzen konnten. Das führte zu Sätzen wie FAHRSTUHL NICHT BENUTZEN WÄHREND BRANDSTIFTUNG. Daher kam mir die grandiose Idee, meine Dienste jedem anzubieten, der seine Schilder korrekt übersetzt haben wollte. Sissi hat mich überall im Netz bekannt gemacht, und bevor ich mich’s versah, hatte ich einen regulären Job. Lokale Behörden ließen mich ihre Schilder schreiben, um sich Peinlichkeiten zu ersparen – so etwa mein liebstes Umleitungsschild: HIER FAHREN ALLE AB. Hotels ließen mich Warnungen wie BITTE NICHT IN POOL SINGEN – WASSER NICHT SO TIEF überarbeiten. Erstaunlicherweise hielt uns meine Arbeit als Sprachdoktor alle über Wasser. Die Straßenbaubehörde von Chumphon hatte mir eine Liste von Straßennamen zum Korrigieren geschickt. Ich war ein Ass im Überarbeiten. Ich war es auch, die die Provinzbehörden davon überzeugen konnte, ihre »Chumporn«-Schilder umzuschreiben. Ich war auf eine Goldader gestoßen.
Meinen anderen »Job« hatte ich bei den Chumphon News. Aufgrund des Desktop-Publishings und der Unmenge guter, arbeitsloser Journalisten mit abgeschlossenem Studium schien es, als brüstete sich jeder Ort mit mehr als fünfzehn Einwohnern seiner eigenen Tageszeitung. Die News befanden sich in einem Haus abseits einer viel befahrenen Hauptstraße. Die beiden freien Mitarbeiter hatten Grippe, also fragte der Redakteur bei mir an, ob ich bereit sei, einen international berühmten Schriftsteller zu interviewen. Da international berühmte Schriftsteller in Chumphon traditionell rar gesät sind, nahm ich diesen Auftrag liebend gern an. Ich sah Dan Brown vor mir, auf Bergsteigerurlaub in Krabi, oder einen Erster-Klasse-Flug zu einem Abendessen mit Stephen King in Bangkok, oder ein Wochenende auf Kathy Reichs Jacht vor Samui. Nicht vor mir sah ich Kor Kow, zehn Minuten mit dem Fahrrad die Bucht entlang. Ich wurde misstrauisch.
»Wie heißt er?«
»Conrad Coralbank«, sagte er.
Das klang eher nach einem Küstenschutzprogramm. Ich hätte so tun können, als wüsste ich Bescheid, um den Redakteur zu beeindrucken, doch stattdessen fragte ich: »Und der ist berühmt?«
»Absolut«, sagte er. Der Redakteur war ein ausgesprochen belesener Mann, musste aber erst das Word-Dokument öffnen, das er zu dem Thema zusammengestellt hatte, bevor er mir sagen konnte, was der berühmte Autor so alles geschrieben hatte.
»Er hat irgendwas gewonnen«, sagte er. »Preise und so. Er schreibt« – er kniff die Augen zusammen, während er vorlas – »Kriminalromane, die in Laos spielen.«
Laos. Na, super. Mein Eifer schmolz dahin. Kein Mensch würde jemals berühmt werden, indem er über ein Land schrieb, auf das mehr als achtundneunzig Prozent der amerikanischen Highschool-Schüler im Atlas nicht mit dem Finger zeigen konnten. Nicht mal in einem Atlas, der beschriftet war und einen Index besaß. Zugegebenermaßen würden vierunddreißig Prozent nicht einmal Kanada finden. Laos – und ich möchte hier keineswegs rassistisch klingen – ist garantiert das langweiligste Land der Welt. Ich war mehrmals auf Recherche da, und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Uhren dort langsamer gehen. Eine Sekunde in Laos entspricht in etwa zwölf Minuten hier bei uns. Jeder Schritt fühlt sich an, als wate man durch hüfthohen Reisporridge. Bestimmt wurde nur mal wieder so ein Artikel gebraucht, in dem jemand aufgeblasen werden sollte, um ihn größer erscheinen zu lassen, als er war. Viel Wind um nichts. Aber es war Arbeit. Wenn ich meinen Job gut machte, würden sie mir vielleicht weitere Aufträge geben. Außerdem konnte ich endlich wieder Englisch sprechen. Meine eingemottete Zweitsprache bekam nur Auslauf, wenn ich mit Sissi bilingual telefonierte. Wir brüsteten uns der Fähigkeit, Englisch mit ausländischem Akzent zu sprechen. Ich klang eher brasilianisch. Sie hatte einen osteuropäischen Tonfall. Unseren Englischkenntnissen nützte es allerdings wenig.
Auch das sprach dafür. Es wäre ein wahrer Segen, einen einsamen Westler in der Nähe zu wissen, bei dem ich meinem aktiven Wortschatz auf die Sprünge helfen konnte. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Alkoholiker mit Hautallergien, der dankbar dafür war, dass ihn eine aufreizende, kurvenreiche junge Thailänderin hin und wieder auf ein Plauderstündchen besuchte. Ich würde ihm eine Flasche Mekong-Whiskey mitbringen und zusehen, wie seine fleckigen Hände zitterten, wenn er das Zeug in seinen angeschlagenen Souvenirbecher schüttete und gierig einen großen Schluck nahm. Selbstverständlich würde ich das Kommando übernehmen. Westliche Autoren in Thailand fanden den Großteil ihrer Inspiration in Bars. Sicher würde er davon ausgehen, dass ich so locker drauf war wie die Girlies in Farang-Romanen, in denen Ausländer mit weißer Hautfarbe stets im Mittelpunkt stehen. Das ist das Problem. Wenn man eine Regierung von geilen, alten Männern hat, die mehr Sex mit Professionellen als mit ihren eigenen Frauen pflegen, fällt es sehr schwer, eine Sex-Industrie zu demontieren, die jahrelang das einzige Ass im Ärmel des Landes war. Das US-Militär verprasste zwei Drittel seines Solds in Pattaya. Das sprach sich schnell herum, und schon bald saß jeder Tom, Dick und Helmut in einer Chartermaschine nach Bangkok. Unzählige mächtige Leute haben es auf den Schultern der männlichen Libido bis dorthin gebracht, wo sie jetzt sind. Seht ihr, wieso ich nie Romane schreiben könnte? Ich beiße mich zu sehr an Themen fest. Das will doch keiner lesen, also … Conrad Coralbank. Der Redakteur erlaubte mir, mich hinzusetzen und ihn mir online anzusehen. Der Computer musste sich per Modem ins Netz einwählen. Die Verbindung war so schlecht, dass meine Gedanken abschweiften und ich mich schon wie ein Neandertaler fühlte, der einen viereckigen Steinklotz anstarrte und gelegentlich mit seiner Keule darauf einschlug. Endlich öffnete sich die Wikipedia-Seite. Folgendes überraschte mich nicht: Das erste Foto zeigte einen Mann mit wachem Gesichtsausdruck, großen Zähnen und blauen Augen – Ende vierzig, der Bildunterschrift nach zu urteilen – und dazu mit modisch langen Haaren. Schriftsteller machen so was. Sie graben ein Bild von vor dreißig Jahren aus, obwohl es ihnen gar nicht ähnlich sieht, sondern nur zeigt, wie sie damals eben rüberkommen wollten. Dieses schicken sie ihrem Verleger, der die Pickel wegretuschiert, und es ist perfekt: das Umschlagfoto.
Allerdings staunte ich doch, wie viele Bücher er anscheinend schon geschrieben hatte und für wie viele Preise er angeblich nominiert worden war und dass er offenbar eine Frau hatte und gern Fahrrad oder Kajak fuhr und mit seinen Hunden am Strand spazieren ging. Nichts davon klang für meine Ohren sonderlich einsam. Aber hey, jeder kann sich selbst eine Wikipedia-Seite basteln, und sofern nicht jemand, der es besser weiß, sie sich durchliest, wird auch niemand etwaige Lügen aufdecken. Das Internet war ein Club Med für Blender. Daher konnte mich dieser Auftritt nicht übermäßig beeindrucken, sondern nur leises Interesse wecken. Was jedoch lauteres Interesse weckte, waren Conrads Fotos.
Conrad am Strand mit seinen beiden Rottweilern. Conrad im Garten mit seiner wunderschönen Thai-Frau, beide lächelnd, mit Setzlingen in Händen. Conrad beim Start einer Fahrradrallye mit dem Pak Nam Mountain Biker Club. Und auf jedem Foto war derselbe retuschierte junge Mann vom Umschlagbild zu sehen. Es gab ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem er über seine Tastatur gebeugt saß, nachdenklich, auf der Suche nach Adjektiven, und man konnte seine Falten sehen. Aber sie waren nicht sehr tief, wie feine, freundliche Federstriche.
Ich vergrößerte sein Gesicht, bis Stirn und Kinn nicht mehr auf den Bildschirm passten. Seit einem Jahr wohnte ich nun hier. Hatte oft am Straßenrand gehockt und darum gebetet, dass mich eine Zigeunerfamilie verschleppen würde. Warum hatte ich Conrad Coralbank noch nie gesehen? Warum war ich seiner hochgewachsenen, schönen Frau niemals begegnet? Angesichts der Tatsache, dass La Mae zwanzig Kilometer südlich lag und Lang Suan achtzehn Kilometer westlich, war Pak Nam seine nächstgelegene Metropole. Und er musste an unserer Anlage vorbei, um dorthin zu gelangen. Stunde um Stunde hatte ich mich im 7-Eleven von Pak Nam herumgetrieben, die ungeheure Auswahl an Kartoffelchips bewundert, mir diverse Geschmackssorten von Eisschleim gemixt und vor der Sicherheitskamera Faxen gemacht. Wieso waren wir uns nie begegnet? Im Tesco Lotus? Auf dem Samstagsmarkt? Im Krankenhaus von Pak Nam? In einem der beiden Restaurants mit Speisekarten? Im Vorüberfahren auf dem Mountainbike, schweißtriefend von der Steigung der Brücke über den Lang Suan? Es schien mir fast unmöglich, dass ich ihn nicht gesehen haben sollte. Sehr gut. Ein Rätsel.