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© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Komplett überarbeitete Neuauflage der 1993 erschienenen Ausgabe »Die Suche nach dem verlorenen Sohn«, © Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: grafikcafé Jürgen Gawron

Satz: EDV-Fotzosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8221-2

Inhalt

Vorwort

Kindliches Sehnen in zwiefacher Welt

Ein Ruf – Walter 1

Vaterbild statt Vater

Altlasten durch unerledigte Bindungen

Zwei Gesichter einer Familie

Die Suche – Walter 2

Auch Stiefväter haben Gefühle

Bist du mein Vater, Papa?

Ein Wahrheits-Terrorist?

Der Endspurt – Walter 3

Nachwort

Klarheit im eigenen Leben finden

Vorwort

Kindliches Sehnen in zwiefacher Welt

Alle nannten sie Moica, nicht nur die Windischen, auch die Deutschen, und nur selten, wenn zum Beispiel Verwandte aus dem rein deutschen Norden das Landes zu Besuch kamen, wurde sie Mitzi »gerufen«. Sie lebte auf einem der leicht nach Süden abfallenden Hänge als ledige Tochter mit ihrer Mutter, ihrer Tante und dem alten Großvater. Sie hatten einen kleinen Bauernhof im damals noch klar slowenischen Landstrich, zwischen dem See und dem hinter einem Moränenhügel in weitem Schwung sich erstreckenden Tal. Die Anhöhe, auf der das Haus stand, erlaubte einen freien Blick über die zum Strom hin sanft abfallenden Hänge, direkt auf das am anderen Ende des Tales sich auftürmende schroffe Felsmassiv der südlichen Kalkalpen.

Das zum Leben Notwendige erhielten sie aus der Bearbeitung einiger weniger Äcker. Drei Kühe, Schweine, Hasen, Hühner, immer Katzen, nie ein Hund, und ein altes, bedächtig jede Bewegung setzendes, schier unendlich geduldiges Zugpferd bildeten den Viehbestand.

Das Gebiet, in dem seit über 1400 Jahren Slawen leben, war erst von West-, später von Südslawen im Zuge des Zerfalls des Römischen Reiches bevölkert worden. Über Jahrhunderte wohnte die slawische und die deutschsprachige Bevölkerung friedlich zusammen, galt als gemischtsprachig; alle, Deutsche wie Windische, sprachen einen durch seinen eigenartigen »Singsang« geprägten slowenischen Dialekt, das Windische, das auch der Volksgruppe den Namen gab.

Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts beendeten nationalistische Strömungen das friedliche Zusammenleben der Völker in diesem Gebiet, in dem romanische, slawische und deutsche Kulturkreise einander berühren.

So war es mehr als verwunderlich, dass Moicas deutschstämmige Mutter, damals, als sie jung war, sich in einen Windischen verliebte. Wie das überhaupt möglich war, lässt sich nicht mehr so genau rekonstruieren, denn nach dem 1. Weltkrieg hatte sich tödliche Feindschaft in diesem Landstrich ausgebreitet, waren Verbindungen über die Grenzen der Volksgruppen hinweg längst ausgeschlossen. Und das, obwohl die Menschen dort rein genetisch ziemlich identisch sind, da sie sich über Jahrhunderte hinweg gemischt hatten.

Das Liebespaar hätte gerne geheiratet, doch der Vater der Mutter hat, so wurde berichtet, die Heirat verboten. Schließlich war er in das Land gekommen, um die deutschsprachige Präsenz zu stärken, und deshalb durfte so etwas nicht vorkommen. In der damaligen Zeit und auch in dem Dorf wäre es undenkbar gewesen, dass ein solches Verbot seitens der Liebenden gebrochen worden wäre.

Nationalistische Ziele und ethnische Loyalität wurden damals als Prinzipien verehrt, die das Überleben aller sichern sollten.

Als sichtbares Ergebnis der Liebesgeschichte kam jedoch ein Mädchen zur Welt, das ohne Vater aufwachsen musste. Diese Geschichte einer verbotenen Liebe ist eine von vielen damals und bis heute überall auf der Welt. Leiden wie die der beiden verhinderten Liebenden wurden tausendfach besungen, beschrieben, in Kunstwerken dargestellt. Erhält aber auch das Schicksal des Kindes und seine verhinderte Beziehung zum ausgeschlossenen Elternteil eine ähnliche Beachtung? Wer ahnt wirklich, was in dem Kind an Sehnsucht und Traurigkeit zu leben war?

Später, als erwachsene Frau, hat sie den in den Ferien auf dem Bauernhof lebenden Kindern in den Abendstunden, wenn sie die drei Kühe von der Weide zurückführte, von dieser Sehnsucht berichtet:

»So weit ich mich in meiner Kindheit zurückerinnern kann, war ich innerlich damit beschäftigt, dass ich keinen Vater hatte. Obwohl, es gab ja einen, aber der war nicht da, nicht bei uns, ein abwesender Vater, über den zu Hause nicht gesprochen werden durfte. Heute scheint mir, dass der Kummer, den dieser Umstand für mich brachte, ständig um mich war. Wenn wir dort drüben über die Kuppe kommen, kann ich euch zeigen, wo er gewohnt hat; man sieht es von dort.«

»Als Kind«, sagte sie, »bin ich immer wieder auf diese kleine Erhebung heraufgeklommen, um hinüberzusehen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass ich ihn und er mich nicht besuchen darf: Dort ist mein Vater und wir können doch nicht zusammen sein! Der Großvater hat mir und meiner Mutter gedroht, er würde uns »hinausschmeißen«, wenn wir uns nicht an sein Verbot hielten, diesem Mann jemals zu begegnen.

Meine Mutter hat mir nichts von der Beziehung zu meinem Vater erzählt, meine Tante aber war da ein bisschen barmherziger. So erzählte sie mir zum Beispiel, dass mein Vater viele Versuche unternommen hat, uns doch noch zu einer Familie werden zu lassen.

Mein Großvater hat aber aus Gründen, über die er zu niemandem gesprochen hat, alle diesbezüglichen Versuche ganz entschieden abgelehnt. Er drohte, meinen Vater umzubringen, wenn er nicht mit seinen Versuchen aufhören würde, die Ruhe des Hauses zu stören. Da, von dieser Stelle, wenn ihr in Richtung des auf der einen Seite schroff abfallenden Berges schaut, hinter dem Waldschopf da drüben, dort lag sein Haus. Niemand kann sich wohl vorstellen, wie sehr ich als kleines Mädchen gewünscht und in jedem Nachtgebet darum gebeten habe, endlich mit meinem Vater zusammen sein zu können. Leider hat mich meine Mutter dabei nicht unterstützt. Nur einmal, als wir ein Sommerfest besuchten, habe ich ihn von Weitem gesehen. Meine Mutter zeigte mir, wo er saß, doch wir waren beide viel zu aufgeregt, um hinzugehen und ihn zu begrüßen.

Später habe ich dann erfahren, dass er einige Jahre nach meiner Geburt eine andere Frau heiratete, Vater einen Sohnes wurde, bald nach dem Krieg ist er gestorben.

Und Gott, wenn es den denn gibt, hat der mich unterstützt? Er scheint sich um meine Bitten auch nicht gekümmert zu haben. Als Kind führte ich das darauf zurück, dass ich eben ein »falsches« Kind war, unehelich, quasi vaterlos, über dessen Entstehung man meinte besser nicht zu sprechen.«

Dieser Schmerz, gemischt mit dem Gefühl der Sehnsucht nach jener Ganzheit, die durch die Trennung vom Vater gestört war, hat ihre ganze Kindheit durchzogen, und manchmal spürte sie es auch als Erwachsene noch. Als Kind hatte sie sich sehr konkret mit dem Gedanken beschäftigt, allein zum Vater zu gehen. Einmal war sie sogar schon unterwegs gewesen. Auf halber Strecke wurde jedoch ihre Angst so stark, dass sie wieder umkehrte. Ich weiß nicht genau, was der Inhalt dieser Angst war. Sicherlich hatte ich Angst, als aufdringlicher »Fratz« wieder weggeschickt zu werden. Vielleicht war es aber auch nur die Angst vor der Intensität des so lange herbeigesehnten Kontaktes.

Ob sie Fantasien darüber hatte, fragte eines der Kinder, ob auch er an sie denken musste?

»Ich weiß es nicht, manchmal glaubte ich ziemlich sicher zu sein, dass auch er sich nach mir gesehnt hat. Ein Bekannter hat mir davon berichtet. So traurig das ist, macht mich diese Vorstellung doch irgendwie glücklich. Meine Sehnsucht, meine vage Liebe hatte eine Entsprechung, auch wenn diese Gefühle nie zur Erfüllung kamen, denn wir konnten sie einander ja nicht direkt zum Ausdruck bringen. Das gibt mir einen seltsamen Frieden.

Manchmal aber wurde mein kindlicher Frieden damals gestört. Denn ich fragte mich, warum kommt er nicht einfach her, warum sucht er nicht nach mir. Was ist an mir falsch, so dachte ich, dass er mich nicht für alle Welt erkennbar sein Kind sein lässt. An diesen Tagen siegte die Traurigkeit in mir wieder. Sie abzuschütteln fiel schwer, manchmal gelang es für kurze Zeit, wie in einem Aufruhr. Dann war ich wütend auf alle, den Großvater, den Vater, die Mutter und den Pfarrer, der ein gefürchteter slowenischer Patriot war und mich als Schulkind sonntags in der Kirche vor allen gedemütigt hat.«

Die Kinder liebten Moica, denn sie hatte ihnen ihre schmerzliche Geschichte anvertraut, ihnen zugemutet sie zu erfahren und zu »tragen«. Wie wohltuend unterschied sie sich damit von vielen Erwachsenen jener Zeit, die den Kindern gegenüber eine Haltung des Verleugnens, des Verniedlichens harter Fakten des Lebens einnahmen: Kinder, so meinte man, können nicht belastet werden, sollen nicht verstehen. Als wären Kinder Trottel!

Die Kinder, die bei ihr ihre Ferien verbrachten, lernten, dass das Gegenteil stimmt: Kinder spüren meist noch besser als Erwachsene eine gefühlsmäßige Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die von den Erwachsenen durch ihre Sprache geleugnet, verdreht und schließlich scheinbar nicht-existent gemacht wird. Darin liegt, oft in der besten Absicht, letztlich eine subtile Form von Missbrauch von Kindern. Anstatt sie an die Wahrheiten ihrer Existenz heranzuführen, werden sie klein, unmündig und klischeehaft gehalten.

Die Schönheit, die im Benennen gefühlsmäßig auch schwieriger Ereignisse und Beziehungen durch eine angemessene Sprache liegt, wird verwirkt, zerstört durch eine vermeintlich kindgemäße Form des Lügens. Und ist es nicht schwerer zu ertragen, wenn Kinder aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit oder auch aus Angst, sie könnten die Wahrheit nicht verarbeiten, systematisch belogen werden? Natürlich gibt es dabei Grenzen, die Wahrheit darf nicht zum Instrument des Terrors werden, sie muss den Kräften des Kindes gemäß »verpackt« und zur rechten Zeit eröffnet werden. Gemeint ist hier die Verleugnung gegenüber dem Kind zum Schutze des Erwachsenen oder einfach aus Bequemlichkeit.

Man ist nun geneigt anzunehmen, solche Erfahrungen, wie sie das Kind zwischen den Volksgruppen gemacht hatte, würden Menschen verzehren, ihren Glauben an sich und die Welt ruinieren, sie irgendwie verkommen lassen. Mag sein, dass es vielen auch so geht; es gibt jedoch immer wieder Beispiele, dass gerade das Gegenteil eintritt.

Kaum war das hier beschriebene Mädchen der Kindheit entwachsen, wurde es zu einer kleinen, drahtigen, stets auch körperlich schwer arbeitenden Frau, die zugleich aber eine unglaubliche Schönheit entfaltete, mit deutlich slawischen Zügen. Sie war die eigentliche Kraft, die den Hof zusammenhielt. Das Sehnsüchtige ihres Wesens aber, es war auch später noch ständig präsent: Ist es die ungestillte Sehnsucht nach dem verlorenen Vater, die ihre Liebe aufrechterhielt? War es die Sehnsucht nach der Verbindung verfeindeter Völker, die in ihrer Seele, in ihrem Körper gleichsam aufeinanderprallten? Und deren Verschiedenheit von diesem drahtigen und doch zarten Wesen ge- und ertragen werden musste?

Vor allem aber: War dieses ständige Zehren das Feuer, das denen, die es überstehen, ein besonders geläutertes Wesen beschert? Denn sie, die Slawisches, Romanisches und Deutsches in sich zu vereinen gezwungen war, hat das in einer einmalig feinen Weise gelöst. Sehr praktisch war sie, dabei feinfühlig, kraftvoll und sehr klar in ihren zwischenmenschlichen Wahrnehmungen. Sicherlich war sie auch später von der harten Arbeit geschunden, aber die Schönheit ihres Wesens leuchtete überall durch. Betrat sie den Raum, begann die Härte zu schmelzen. Die Trostlosigkeit schier unüberwindlicher Lebensprobleme löste sich in ihrer Gegenwart, und selbst das hartnäckige Heimweh der zwangsweise in die Ferien verschickten Kinder verschwand im Kontakt mit ihr.

Aus der Fülle von erstaunlichen Eigenschaften stach jedoch eine hervor, die alle anderen ganz wesentlich überragte, ihre Fähigkeit zum Kontakt. Ein Großteil ihrer Familie, wie die meisten anderen Familien jener Zeit auch, war damit beschäftigt, Tabus zu stapeln und sie möglichst nicht mehr zu berühren. Sie hingegen war in einer Weise in der Lage, auch sensitivste Bereiche kon-takt-voll zu berühren, ohne zu überrumpeln, gemeinsam zu bereden und zu betrachten, nach allen Seiten hin auszuloten und die dazugehörenden Gefühle Wirklichkeit werden zu lassen. Sie war eben da.

Ihre Fähigkeit, in die Gegenwart buchstäblich einzutauchen und andere einzuladen, es mit ihr zu wagen, in dieses Gegenüber-Warten-Können, das vermittelte Momente von Berührung, von Geborgenheit auch angesichts katastrophal erscheinender Probleme. Momente, die Balsam für die geschundene, vor allem aber die sich selbst schindende Seele sind.

In solchen Augenblicken des Kontaktes gibt es kein Oben und Unten, kein Gefälle zwischen Kind und Erwachsenem. In diesen Augenblicken berührt ein Wesen sein Gegenüber, Existenz berührt Existenz. Die Beziehung ist eben, gegenwärtig, keiner hat einen Vorsprung, alle sitzen in einem Boot.

Mag dieser Zustand ursprünglich auch konkreten Personen gelten, der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, der Heimat, später den Kindern, so liegt in ihm doch stets das Potenzial, in diesem Erinnern des stärkenden Kontaktes sich selbst zu erden. Damit ist die Fähigkeit gemeint, bei sich zu sein, sich anzunehmen. Die Bewegung, ausgehend von der Sehnsucht nach seelischer Ganzheit hin zu einer das fragile Selbst annehmenden Person, ist heilsam. Auch wenn sie zeit unseres Lebens – wenn überhaupt – dann wahrscheinlich nur für Augenblicke befriedigt werden kann: Gegenwart ist zwar nicht immer nur schön, aber kommt dem nahe, was man als lebendig bezeichnen mag.

Die Fähigkeit, angesichts schier unvereinbarer Gegensätze die Spannung zu ertragen, die sich aus der Sehnsucht nach dem Ganzen speist, ohne daran zu zerschellen, wird vielleicht zum wichtigsten Vehikel der seelischen Entwicklung. Mag sein, dass das Leid der getrennten Liebenden Menschen von der Korrumpierung durch den Alltag reinigen kann. Mag sein, dass die dem Leid entspringende Sehnsucht auch zum Vehikel für eine Annäherung an das wird, was wir Menschen als Wirklichkeit erfahren.

Das ehemalige Mädchen zwischen den verfeindeten Völkern hat sehr spät geheiratet, selbst eine Tochter geboren und wurde dann später vielfache und glückliche Großmutter. Die Fähigkeit zur Gegenwärtigkeit aber hat sie sich bis ins hohe Alter bewahrt, verbunden mit einer Schlichtheit und zugleich Heiterkeit des Wesens.

Wahrscheinlich hatten aber auch nicht so viele Kinder so eine Last zu tragen wie sie, jene unstillbare und dennoch nicht verdrängte oder verleugnete Sehnsucht. Ihre Spaltung war nicht nur die zwischen Vater und Kind bzw. Vater- und Mutterfamilie, es war auch die zwischen dereinst friedlich vereinten Volksgruppen, die im Jahrhundert des explodierenden Nationalismus zu Todfeinden wurden. Und wer kann schon von sich sagen, dass er die dort aufeinanderstoßenden drei gewaltigen Kulturkreise, den slawischen, den romanischen und den germanischen, ohne Weiteres in seiner Brust vereinen, ja integrieren kann?

Ob grundsätzlich jede verhinderte Liebesbeziehung zu so einer Feuertaufe werden kann, sei hier offengelassen. Trennung zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern ist möglicherweise nur ein Spezialfall eines allgemeineren Prinzips.

In einer Zeit, in der die Trennung von Kindern und zumindest einem Teil ihrer Eltern zur Regel zu werden scheint, verdient diese Frage besondere Berücksichtigung. Die lange Zeit bedauerliche Rolle der Väter in Scheidungsverfahren oder bei Vaterschaft ohne vorherige Eheschließung ist heutzutage deutlich besser geworden. Ohne die erheblichen Schwierigkeiten und Leiden der Mütter schmälern oder nicht würdigen zu wollen, scheint es jedoch noch immer so zu sein, dass die Pflege und der öffentliche Respekt der Vater-Kind-Beziehung zwar von Rechts wegen verbessert worden ist, in der Praxis aber nach wie vor allzu leicht unter die Räder kommt. Nun klagen beide Seiten, Väter wie Mütter, über unzumutbar erscheinende Anmaßungen des jeweils anderen Elternteils.

Dennoch, eine Trennung trifft immer alle Involvierten. Es ist schließlich kein Zufall, dass die Suizidrate frisch geschiedener Eltern unglaublich hoch liegt, über den Werten der meisten anderen Vergleichsgruppen. Vielleicht kann die Schilderung der Schicksale in diesem Buch dazu beitragen, eine erhöhte Sensibilisierung für den bislang verdrängend behandelten Bereich behinderter Eltern-Kind-Beziehungen zu bewirken. Und vielleicht können die Beispiele, die teilweise aus Begegnungen im Rahmen psychotherapeutischer Arbeit und teilweise aus anderen Lebensbereichen kommen, Anregungen dafür liefern, wie scheinbar hoffnungslos zerrüttete und im Hass verstrickte Menschen, die dereinst Liebende waren, schließlich neue Formen des Dialogs finden können.

Denn Dialog ist möglich, auch wenn die Sichtweisen dessen, was geschehen ist und geschehen soll, verschieden bleiben. Dialog setzt nicht Gleichheit und Gleichschritt, sondern grundsätzliche Akzeptanz der anderen Person und damit der zu den jeweils eigenen in Widerspruch stehenden Bedürfnisse des Dialogpartners voraus – eine Art von Respekt für die Menschenwürde. Denn auch der Hass enttäuschter, einst einander Liebender ist grundsätzlich dialogfähig. Der Mut, diesen Dialog zu versuchen, ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Dialog zwischen Kindern und denjenigen Eltern, die aus der Restfamilie ausgeschlossen sind, aufrechterhalten bleiben bzw. erst geschaffen werden kann.

Der Herstellung bzw. Wiederherstellung der Dialogfähigkeit in scheinbar aussichtslosen Fällen ist dieses Buch gewidmet. Angesichts der enormen Veränderungen, denen wir uns zu der Zeit, da diese Zeilen geschrieben werden, in Europa und der Welt gegenübersehen, mag das Thema, an dem der Wiederaufbau der Dialogfähigkeit veranschaulicht wird, klein und bürgerlich erscheinen. Was sind die Probleme geschiedener, getrennter und unehelicher Eltern und Kinder verglichen mit den Wogen der Grausamkeit, die Menschen einander im Gefolge des Einstürzens funktionslos gewordener Herrschaftsstrukturen und dem Errichten neuer geopolitischer Blöcke zufügen ?

Aber war nicht die Voraussetzung für die Verkrustung solcher Herrschaftsstrukturen eben jene bequeme Haltung, mithilfe der Angst zu regieren und sich regieren zu lassen? Ist nicht die Unfähigkeit, den anderen als Kontaktpartner zu würdigen, ihn stattdessen zu benutzen, zu missbrauchen, zu foltern, eine späte Folge von Kontaktstörungen, früh in der Kindheit angelegt durch den auf Spaltung setzenden Umgang mit Konflikten? Schafft nicht der Missbrauch der Kinder für Ziele und Motive der Eltern, zur Rechtfertigung ihres Hasses, die frühe Weichenstellung für die Entwicklung eines besonders in der westlichen Kultur fatalen Konfliktentferners: des Kontaktabbruchs?

So betrachtet ist die Behandlung der verleugneten und unterbundenen Elternschaft auch ein politisches Thema, wenn es auch auf den ersten Blick nicht so ohne Weiteres als solches erkennbar sein mag. Hat nicht die Behinderung und Entstellung von Menschenwürde und Menschenrecht in den elementarsten zwischenmenschlichen Beziehungen langfristig ihre Auswirkungen auch auf die Realisierung von Menschenwürde und Menschenrechten in den sichtbaren großen politischen Entscheidungen?

Natürlich sind von den folgenden Berichten keine Rezepte zu erwarten; vielmehr geben sie Einblicke in Handlungen und Entscheidungen von Menschen, die den Dialog fördern bzw. behindern. Wohl aber kann der Einblick in die kritischen Phasen von Lebensläufen den Blick auf die eigenen Lebensgestalten schärfen, die Perspektiven erweitern und so zu neuen Lösungsansätzen anregen.

In der Absicht, die Dialogfähigkeit auch bei Leserinnen und Lesern anzusprechen, sind die folgenden Geschichten über weite Strecken dialogisch-erzählend angelegt. Die Begebenheiten sind hin und wieder in Form eines Gespräches wiedergegeben. Die Dialoge selbst sind jedoch nur nachempfunden, da die Gespräche in der Form so vermutlich nicht stattgefunden haben. Die gezeichneten Schicksale jedoch wurden tatsächlich gelebt.

Dieser literarische Kunstgriff erscheint gerechtfertigt, da gesprochene Sprache in der Regel nicht lesbar ist. Vor allem aber soll diese Form aufzeigen, dass Konflikte, die sich aus tabuisierter oder geleugneter Elternschaft ergeben, Beziehungswirklichkeit sind, auch wenn keiner darüber spricht. Wird diese Beziehungswirklichkeit totgeschwiegen, kostet das unmerklich Kraft, die dem Leben anderswo und ständig fehlt.

Je mehr Bereiche des vergangenen Lebens mit Kraftaufwand verbannt werden müssen, umso weniger Kraft bleibt dem Leben im Jetzt. Im Extremfall besteht das gegenwärtige Leben überhaupt nur mehr aus dem Unterdrücken vergangener, unerledigter, jedoch in das Gegenwärtige mit Macht drängender Wirklichkeit.

Lassen Sie sich in die subjektive Welt von Menschen führen, die mit den Tabus ihrer Familie, ihrer Gesellschaft ringen, um ihre eigene Existenz zu verstehen. Die versuchen, ihre Identität zu klären, indem sie die Wahrheit ihrer Herkunft und damit ihrer Zugehörigkeit entziffern. Es geht dabei letztlich um die Wiederherstellung unterbrochener oder nie aufgenommener Dialoge. Meist machen die Kinder den ersten Schritt, manchmal aber, wie einige Beispiele zeigen, sind es auch die Eltern, die sich auf die Suche nach einem verlorenen Kind machen.

Die in manchen Passagen gewählte dialogische Form soll die Leserin, den Leser ermuntern, auch in ihrem/seinem Leben die Fäden abgerissener Kontakte wieder aufzunehmen und zumindest in ihrem Denken die direkte Rede wieder zu riskieren. Wenn wir dort, wo es um Beziehung geht, lernen, weniger in der dritten Person, sondern eher wieder direkt zu denken – in Gedanken anzusprechen –, also jemanden »anzudenken«, verändert sich auch unsere Beziehungswahrnehmungund damit die Beziehungswirklichkeit in Richtung größerer Wahrhaftigkeit. Lassen Sie sich auch durch die literarische Form dazu anregen, dialogischer zu denken und zu leben.

Denn – in Anlehnung an Martin Buber – alles wirkliche Leben ist Begegnung.