Kapitel I: Aufstand und Revolution
Anonymus
Über die neuartige Erfahrung der Revolution
Dieser Text erschien in der kurzlebigen Zeitschrift „Révolutions de Versailles et de Paris“, einer Beilage zu der einflussreichen Pariser Zeitschrift „Révolutions de Paris“. Sie entstand anlässlich des als „Zug der Marktweiber von Paris nach Versailles“ bekannt gewordenen, zweiten großen Pariser Volksaufstands vom 5./6. Oktober 1789, dessen historische Bedeutung – nicht nur, aber auch durch die aktive Beteiligung vieler Frauen – in dem abgedruckten Textausschnitt kommentiert wird. Autor könnte der Journalist Sylvain Maréchal gewesen sein, der sich bereits vor der Revolution mit Zeitordnung und Geschichtsbewusstsein befasst hatte. In Frage kommt aber auch der Chefredakteur der „Révolutions de Paris“, Elisée Loustalot (1762–1790).
Diejenigen, die sich auf die Vergangenheit berufen, um die Gegenwart und die Zukunft zu beurteilen, wissen überhaupt nicht mehr, wie sie ihr System auf die gegenwärtige Revolution anwenden sollen; sie ähnelt in keiner Weise dem, was man in der Geschichte liest. Es wäre vergeblich, wenn man einen Vergleichsgegenstand für sie suchen würde; man würde ihn nicht finden: Alles, bis hin zu der Weise, in der diese Revolution sich vollzieht, gehört zu einer Sorte von politischen Ereignissen, die bis zum heutigen Tage unbekannt war. Man muss deshalb anerkennen, dass die Natur in den Möglichkeiten ihrer Verbindungen eine Ordnung der Dinge annehmen kann, von der man nicht einmal die Möglichkeit geahnt hätte, und dass sie, sei es in der Moral, sei es in der Physik, nicht immer dazu verurteilt ist, sich zu wiederholen.
In der Tat grenzt alles, was sich seit dem 1. Mai ereignet hat, an ein Wunder, sodass es niemanden gibt, der nicht meint, in einer Verzauberung zu leben. Wo wird das Ende unserer Überraschungen sein? Das ist etwas, was wir nicht wissen. (…)
Jean-Paul Marat
Rechtfertigung des Aufstands
Jean Paul Marat (1743–1793) war Mediziner und Autor und ab September 1789 Redakteur der Zeitschrift „L’Ami du peuple“, in der er auf radikale Weise die politischen und sozialen Interessen der unteren Bevölkerungsschichten zu vertreten versuchte und frühzeitig terroristische Tendenzen entwickelte. 1792 wurde er für Paris in den Nationalkonvent gewählt, wo er sich der Montagne (Bergpartei) anschloss. Am 13. Juli 1793 wurde der hautkranke Marat von der Royalistin Charlotte Corday in seinem Bad erstochen.
Der Artikel kritisierte das von der Nationalversammlung am 21. Oktober 1789 beschlossene Kriegsrecht gegen Volksaufstände. Die Auslassungen betreffen vor allem kritische Anspielungen auf Mirabeau.
Nein, es gibt durchaus kein Unglück, das man nicht Anlass hat, von diesem verderblichen Dekret zu erwarten; keine Attentate, für die es nicht die Grundlage bieten könnte.
Indem die Truppen beauftragt werden, gegen versammelte Bürger vorzugehen, zerstört es die Nation, die nur in der Versammlung der Individuen besteht. Indem es die Offiziere und Soldaten bestraft, die sich weigern ihre Väter zu unterdrücken, spaltet es die Bürger; es stellt sie in Konfrontation zueinander und zwingt sie, sich gegenseitig abzuschlachten.
Welche teuflische Raserei hat denn ihren vergifteten Atem über die Repräsentanten der Kommune geblasen? Narren! Glaubt Ihr, es ist eine Spitze von rotem Tuch (Fahne des Kriegsrechts, Anm. d. Hg.), die Euch vor den Folgen der öffentlichen Empörung schützt? Glaubt Ihr, es gibt irgendwelche ergebenen Schergen, die Euch gegen die gerechte Wut Eurer Mitbürger verteidigen? Das Volk verkauft sich niemals, und die Armee wird sich auch nicht mehr verkaufen. Gedungen von dem Fürsten, hat sie sich der Nation angeschlossen; gedungen von der Verwaltung, wird sie sich dem Volk anvertrauen. Das ist der Wille der Vernunft, das ist die Frucht der Aufklärung. Diese Intrigen treffen zuerst nur die geübten Augen des Philosophen; aber bald werden sie diejenigen der großen Menge treffen. Schon spürt sie die Härte Eures Jochs; schon klagt sie Euch für ihr Unglück an; und wenn sie Euch bei einem Fehler ertappt, wird sie sich ihrer Verzweifelung hingeben, und dann ist es aus mit Euch für immer. Erinnert Euch an die Decemviren (Gremium aus zehn Männern, das in der römischen Republik die Gesetze beschliessen sollte, sich aber zur Diktatur entwickelte und im Jahre 450. v. Chr. gestürzt wurde, Anm. d. Hg.); ihre Herrschaft war von kurzer Dauer; Eure wird von noch kürzerer Dauer sein; Ihr habt ihr kriminelles Verhalten nachgeahmt, ich sage Euch dasselbe Ende voraus.
Die furchtsamen Bürger, die Menschen, die ihre Ruhe lieben, die Glücklichen des Jahrhunderts, die Blutsauger des Staates sowie alle Gauner, die von den öffentlichen Missständen leben, fürchten nichts so sehr wie die Volksaufstände. Denn diese zielen darauf, ihr Wohlergehen zu zerstören, indem sie eine neue Ordnung der Verhältnisse anvisieren. Deshalb entrüsten sie sich unaufhörlich über die energischen Schriften, die heftigen Reden, mit einem Wort über alles, was dem Volk sein Elend verdeutlicht und es an seine Rechte erinnert.
Das ist die Moral der Menschen, die in Ansehen und Macht stehen. Inmitten des Missbrauchs der Autorität und des Schreckens der Tyrannei sprechen sie nur davon, das Volk zu beruhigen, arbeiten sie nur dafür, es daran zu hindern, sich seiner gerechten Wut hinzugeben. Sie haben dafür gewichtige Gründe und außerdem einen Vorwand, der gut dazu geeignet ist, auf beschränkte Menschen Eindruck zu machen, der aber informierte Menschen nicht täuscht; ich spreche von den tragischen Szenen, von denen Aufstände fast immer begleitet werden. (…)
Zuerst einmal erhebt sich das Volk nur, wenn es von der Tyrannei zur Verzweiflung getrieben wird. Wie viele Leiden erträgt es nicht, bevor es sich rächt! Und seine Rache ist im Prinzip immer gerecht, auch wenn sie in ihren Wirkungen nicht immer aufgeklärt ist, wohingegen die Unterdrückung, die das Volk erduldet, seine Ursache nur in den kriminellen Leidenschaften seiner Tyrannen hat.
Kann man denn überhaupt einen Vergleich ziehen zwischen einer kleinen Zahl von Opfern, die das Volk in einem Aufstand für die Gerechtigkeit hinschlachtet, und der unzählbaren Menge der Untertanen, die ein Despot ins Elend stürzt oder die er für seine Habsucht, seinen Ruhm, seine Launen opfert? Was bedeuten schon einige Tropfen Blut, die das einfache Volk in der gegenwärtigen Revolution hat fließen lassen, um seine Freiheit wiederzuerlangen? Gegen die Ströme von Blut, die ein Tiberius, ein Nero, ein Caligula, ein Caracalla, ein Commodus vergossen haben; gegen die Blutströme, die die mystische Raserei eines Karls IX. vergossen hat; gegen die Blutströme, die der sträfliche Ehrgeiz von Ludwig XIV. vergossen hat? Was bedeuten einige vom Volk im Laufe eines Jahres geplünderte Hauser gegen alle die Veruntreuungen, die die ganze Nation unter den drei Linien unserer Könige im Laufe von 15 Jahrhunderten erlitten hat? Was bedeuten einige ruinierte Individuen gegen eine Milliarde Menschen, die von den Steuerpächtern, von den Vampiren, den Verschwendern öffentlicher Mittel ausgeplündert wurden?
Schieben wir alle Vorurteile beiseite und sehen hin.
Die Philosophie hat die gegenwärtige Revolution vorbereitet, ausgelöst und unterstützt; das ist unbestreitbar; aber die Schriften reichen nicht hin, es braucht auch Aktionen. Wem verdanken wir denn die Freiheit, wenn nicht den Volksaufständen?
Es war ein Volksaufstand, ausgebrochen im Palais-Royal, der die Auflösung der Armee eingeleitet und zweihunderttausend Männer, aus denen die Herrschaft Schergen gemacht hat und die sie zu Mördern machen wollte, in Bürger verwandelt hat.
Es war ein Volksaufstand, ausgebrochen auf den Champs-Elysées, der die Erhebung der ganzen Nation ausgelöst hat; es war derjenige, der die Bastille zum Einsturz gebracht, die Nationalversammlung gerettet, die Verschwörung zum Scheitern gebracht, die Plünderung von Paris vereitelt und verhindert hat, dass es in Asche gelegt und seine Bewohner in ihrem Blute ertränkt wurden.
Es war ein Volksaufstand, ausgebrochen auf dem Neumarkt bei den Hallen, der die zweite Verschwörung zum Scheitern gebracht, die Flucht der königlichen Familie verhindert und die Bürgerkriege verhindert hat, die ihre sichere Folge gewesen wären.
Es waren diese Aufstände, die die aristokratische Fraktion in den Generalständen, gegen die die Waffen der Philosophie und die Autorität des Monarchen versagt hatten, zur Unterordnung gebracht haben; sie waren es, die sie durch den Terror an die Pflicht erinnert, die sie dazu gebracht haben, sich der patriotischen Partei anzuschließen und mit ihr um die Rettung des Staates wettzueifern.
Folgt den Arbeiten der Nationalversammlung, und Ihr werdet finden, dass sie immer nur im Gefolge von Volksaufständen in Aktion getreten ist, dass sie nur im Gefolge von Volksaufständen gute Gesetze verabschiedet hat, und dass in den Zeiten der Ruhe und der Sicherheit diejenige widerliche Fraktion immer darauf bedacht war, der Verfassung Fesseln anzulegen oder verhängnisvolle Dekrete zu verabschieden.
Es sind also die Volksaufstände, denen wir alles verdanken, sowohl den Sturz unserer Tyrannen als auch den ihrer Favoriten, ihrer Kreaturen, ihrer Schergen, sowohl die Erniedrigung der Großen als auch die Erhebung der Kleinen, sowohl die Wiederkehr der Freiheit als auch die guten Gesetze, die sie bewahren, indem sie unsere Ruhe und unser Glück sichern.
Das Kriegsrecht, das die Zusammenrottungen verbietet, kann also nur von einem Feind des öffentlichen Wohls vorgeschlagen worden sein; es kann nur erzwungen worden sein von Verrätern des Vaterlandes, und es kann nur angenommen worden sein von Unterstützern der Tyrannei. Sie müssen sich diese Bezeichnung gefallen lassen, wenn sie nicht als Dummköpfe bezeichnet werden wollen. (…)
Ein Kriegsrecht gegen die Zusammenrottungen ist gut, vorzüglich, bewunderungswürdig, wenn die verabschiedete Verfassung gerecht und weise, lasst uns sagen, perfekt ist, und wenn die Besitzer der Autorität sich der Pflicht unterordnen; denn dann verhindert es, dass unruhige und verwirrte Geister das Volk aufwiegeln, um alles umzustürzen, und es wird der sicherste Schutzwall der Freiheit und des Glücks sein.
Aber solange eine Nation damit beschäftigt ist, ihre Fesseln zu brechen, solange sie gegen die öffentlichen Feinde ankämpft, die alle Departements durchsetzen und versuchen, sie der Anarchie auszuliefern oder sie in die Sklaverei zurückzustürzen, um sie nach ihrem Geschmack zu tyrannisieren, solange wird das Kriegsrecht zu einer Mauer aus Stahl, die den Missbrauch schützt, aus dem es aufgetaucht ist. (…)
Antoine de Condorcet
Über die Bedeutung des Wortes „revolutionär“
Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet (1743–1794), Mathematiker und Philosoph, gehörte zur jüngsten Generation der Aufklärungsphilosophen. Er engagierte sich von Anfang an für die Revolution, insbesondere im Umfeld der später als Gironde bezeichneten Revolutionäre. 1792 wurde er in den Nationalkonvent gewählt, nach dem Sturz der Gironde verbarg er sich im Untergrund. Nach seiner Verhaftung im März 1794 kam er unter nicht ganz geklärten Umständen, aber vermutlich durch Selbstmord ums Leben.
Der Text reagierte auf die im Frühjahr 1793 einsetzende Propaganda für „revolutionäre“, d. h. außerhalb der Rechtsordnung stehende Maßnahmen im Kampf gegen die Konterrevolution wie etwa die Einrichtung des Revolutionstribunals. Er stellte den Versuch dar, sowohl die Notwendigkeit solcher Maßnahmen als auch ihre Bestimmung und Begrenzung zu begründen. Die Kürzungen betreffen vor allem weitere historische und aktuelle Beispiele.
Aus Revolution haben wir revolutionär gemacht; und dieses Wort drückt in seinem allgemeinen Sinn alles das aus, was zu einer Revolution gehört.
Aber gebildet hat man es für unsere, für diejenige, die aus einem lange Zeit der Despotie unterworfenen Staat innerhalb weniger Jahre die einzige Republik gemacht hat, in der die Freiheit jemals eine vollständige Gleichheit der Rechte zur Grundlage gehabt hat. Dementsprechend bezieht sich das Wort revolutionär nur auf Revolutionen, die die Freiheit zum Inhalt haben.
Wenn man sagt, ein Mensch ist revolutionär, dann bedeutet das, dass er den Prinzipien der Revolution verbunden ist, dass er für sie handelt, dass er bereit ist, sich zu opfern, um sie zu bewahren.
Ein revolutionärer Geist ist ein Geist, der fähig ist, eine Revolution hervorzubringen und zu führen, die für die Freiheit gemacht ist.
Ein revolutionäres Gesetz ist ein Gesetz, das zum Ziel hat, diese Revolution zu bewahren und ihren Fortgang zu beschleunigen oder zu regulieren.
Eine revolutionäre Maßnahme ist eine solche, die ihren Erfolg sicherstellen kann.
Man versteht nun, dass diese Gesetze, diese Maßnahmen nicht zu denen gehören, die zu einer friedlichen Gesellschaft gehören; sondern dass ihr spezifischer Charakter darin besteht, nur für eine Zeit der Revolution geeignet zu sein, wie unnütz oder ungerecht sie sonst auch sein mögen. (…)
Man hat das Wort revolutionär allzu oft missbraucht. Zum Beispiel sagt man ganz allgemein: man muss ein revolutionäres Gesetz machen, man muss revolutionäre Maßnahmen ergreifen. Meint man Gesetze, Maßnahmen, die für die Revolution nützlich sind? Man hat nichts dazu gesagt. Meint man Maßnahmen, die nur für diese Epoche geeignet sind? (…) Meint man eine gewaltsame, außergewöhnliche Maßnahme, im Gegensatz zu den Regeln der üblichen Ordnung, zu den allgemeinen Prinzipien der Justiz? Das wäre kein hinreichender Grund, sie anzunehmen; man muss vielmehr beweisen, dass sie nützlich ist und dass die Umstände sie erfordern und rechtfertigen. Es könnte hilfreich sein, zu dem Ursprung dieses Missbrauchs des Wortes revolutionär zurückzukehren.
Wenn es um die Frage gehen soll, die Freiheit auf den Ruinen der Despotie zu errichten, die Gleichheit auf denen der Aristokratie, wäre es sehr weise, unsere Rechte nicht in den Kapitularien von Karl dem Großen oder in den rheinischen Gesetzen zu suchen; man sollte sie vielmehr auf den ewigen Regeln der Vernunft und der Natur gründen.
Aber bald wird der Widerstand der Anhänger des Königtums und der Missstände dazu nötigen, strenge Maßnahmen zu ergreifen, die die Umstände notwendig machen. Dann werden die Gegenrevolutionäre versuchen, sich ihren Gegnern zu widersetzen, indem sie dieselben Prinzipien des Naturrechts vorgeben, mit denen man sie so oft bekämpft hat; es würde ohne Unterlass von denjenigen versucht, die Erklärung der Rechte anzurufen, die darin selbst einen unsinnigen und gefährlichen Vorschlag gesehen haben.
Da man ihnen nicht oft mit einer so feinen Logik antworten und da man nicht immer seines Erfolges sicher sein kann, hat man das Wort vom Gesetz des Umstands erfunden, das bald lächerlich wurde und von dem des revolutionären Gesetzes ersetzt wurde.
Die alten Gesetze fast aller Völker sind nicht mehr als eine Sammlung von gewaltsamen Angriffen gegen die Gerechtigkeit und von Verletzungen der Rechte aller zugunsten der Interessen einiger; die Politik aller Regierungen offenbart nichts als eine Abfolge von Verbrechen und Gewalttaten; konsequenterweise begrenzten sich die Philosophen fast immer darauf, dieses System der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung zu bekämpfen, indem sie Prinzipien der allgemeinen Moral aufstellten. Sie entwickelten sie in ihrer metaphysischen Allgemeinheit. Sie beschäftigten sich umso weniger mit den Ausnahmen, als sie permanent sahen, wie die Unterdrücker alle ihre Missbräuche rechtfertigen zu können meinten, indem sie sie als Ausnahmen darstellten, die von einer unabweisbaren Notwendigkeit erzwungen wurden.
So machte man aus der Schwierigkeit, zu klären, was die Umstände rechtfertigen, allzu schnell eine schwammige Entschuldigung und entschied sich mit Eifer, als eine Notwendigkeit, für etwas, dessen Berechtigung man nicht recht zu prüfen wusste.
Heute ist es vielleicht an der Zeit, genauere Richtlinien für diese berechtigte, aber gefährliche Entwicklung aufzustellen.
Wenn ein Land seine Freiheit wiederherstellt, wenn diese Revolution begonnen, aber noch nicht beendet ist, gibt es notwendigerweise eine große Zahl von Menschen, die den Versuch machen, eine Revolution im gegenteiligen Sinne hervorzubringen, eine Gegen-Revolution, die, verbunden mit der Masse der Bürger, gefährlich wird, wenn man ihr erlaubt, in Verbindung zu agieren, alle mit ihr zu verbinden, die ihre Gefühle teilen, aber von Furcht oder Trägheit zurückgehalten werden. Damit besteht also eine Gefahr, gegen die es gerechtfertigt ist, sich zu verteidigen; und jede Aktion, selbst eine indifferente, die diese Gefahr verstärkt, kann zum Gegenstand eines repressiven Gesetzes werden und jede Aktion, die dazu dient, ihr vorzubeugen, kann legitimerweise von den Bürgern erzwungen werden.
Der Gesellschaftsvertrag hat zum Ziel die gleiche und vollständige Ausübung der Rechte, die dem Menschen zukommen; er ist auf die unabweisbare Garantie dieser Rechte gegründet. Aber diese Garantie endet gegenüber den Individuen, die ihn auflösen wollen; und weil es davon immer welche in einer Gesellschaft gibt, hat man das Recht, Mittel zu ergreifen, um sie zu erkennen, und wenn man sie kennt, dann ist man ihnen gegenüber nur noch eingeschränkt durch die Grenzen des Rechts des natürlichen Widerstands. Wenn dementsprechend ein kostbareres Recht bedroht ist; wenn es notwendig ist, für seine Bewahrung die Ausübung eines anderen, weniger wichtigen Rechts zu opfern, dann bedeutet die Ausübung dieses Opfers nicht, dieses letzte Recht zu verletzen; weil es aufhört zu existieren, denn es wäre für den, der sich darauf beruft, nur die Freiheit, ohne Behinderung ein noch kostbareres Recht zu verletzen.
Beim Brand von London im Jahre 1766 hat man das Feuer gar nicht behindert, weil das Gesetz es untersagte, die Häuser abzureißen; man ließ die Möbel und die Güter der Abwesenden brennen, weil es untersagte, die Türen aufzubrechen. Lasst uns dieses Beispiel nicht nachahmen.
Aber wenn man in England das Gesetz verletzen will, wenn man will, dass der König unbehindert Akte der Tyrannei begehen kann, dann unterstellt man eine Verschwörung. Das ist das, was man zwei Mal in den letzten Jahren von Karl II. sich wiederholen gesehen hat; das was Georg I. keineswegs zu tun unterlassen hat; das, was Georg III. so glorreich sogar in diesem Augenblick nachmacht; und man muss gleichermaßen dieses gegenteilige Beispiel vermeiden.
Je mehr das revolutionäre Gesetz sich von den strengen Prinzipien der gemeinsamen Gerechtigkeit entfernt, desto mehr muss man es in den Grenzen der Strenge einhegen, die notwendigerweise von der öffentlichen Sicherheit verlangt werden. In England hat man ein Kapitalverbrechen allein aus der Tat gemacht, die Messe zu lesen. Dieses Gesetz ist niemals angewendet worden und hat nur dazu gedient, willkürliche Unnachgiebigkeiten zu rechtfertigen. In einem guten System der Gesetzgebung bewahren die normalen Gesetze ihre Kraft, wenn sie nicht widerrufen werden; aber die revolutionären Gesetze müssen im Gegensatz dazu in sich das Ende ihrer Dauer tragen und aufhören in Kraft zu sein, wenn sie nach dieser Zeit nicht erneuert werden. In einer Zeit, in der man jeden Papisten als Feind betrachten konnte, durfte die englische Nation ihnen legitimerweise verbieten, Waffen zu tragen; aber das Gesetz bestand noch lange nach dem Moment, wo es, absurd und tyrannisch geworden, nur noch ein Mittel für niederträchtige Denunziationen, für gemeine Überforderungen war.
Die revolutionären Gesetze und Maßnahmen sind also, wie alle anderen, den strengen Regeln der Justiz unterworfen. (…)
Lasst uns nicht glauben, dass alle Exzesse gerechtfertigt würden, indem man sie auf die Notwendigkeit, die Entschuldigung der Tyrannen zurückführt.
Aber hüten wir uns auch, die Freunde der Freiheit zu verleumden, indem wir die Gesetze, die sie angenommen haben und die Maßnahmen, die sie vorschlagen, nach den Regeln beurteilen, die in ihrem ganzen Ausmaß nur für ruhige Zeiten wahr sind.
Wenn der Eifer selbst für die gerechteste Sache manchmal schuldhaft wird, sollten wir auch bedenken, dass die Mäßigung nicht immer weise ist. Lasst uns also revolutionäre Gesetze machen, aber um den Moment herbeizuführen, an dem wir aufhören, es nötig zu haben, solche zu machen. Lasst uns revolutionäre Maßnahmen ergreifen, nicht um die Revolution zu verlängern oder in Blut zu tauchen, sondern um sie zu vervollständigen und ihr Ende herbeizuführen. (…)
Duhamel u. a.
Über die soziale Bedeutung der Revolution
Es handelte sich hierbei um Anweisungen der provisorischen Republikanischen Überwachungskommission für die verbundenen Departements Rhône und Loire, deren Präsident der Pariser Sektionär Duhamel war, an die untergeordneten Verwaltungsbehörden. Sie wurden gegengezeichnet von den Konventskommissaren Collot d’Herbois und Fouché.
Der hier abgedruckte, erste Paragraph des Textes stand unter dem Titel „Von der revolutionären Gesinnung“. Die folgenden Paragraphen behandeln die Verhaftung Verdächtiger, die revolutionäre Besteuerung der Reichen, Maßnahmen zur Regelung der Lebensmittelversorung und zum Kampf gegen Kirche und Religion („Ausrottung des Fanatismus“).
(…) Die Revolution geschah für das Volk, das Glück des Volkes ist ihr Ziel; die Liebe zum Volk ist der Prüfstein für die revolutionäre Gesinnung.
Es versteht sich von selbst, dass unter dem Volk nicht jene durch ihre Reichtümer privilegierte Klasse zu verstehen ist, die alle Annehmlichkeiten des Lebens und alle Güter der Gesellschaft für sich in Anspruch genommen hat. Das Volk – das ist die Gesamtheit der französischen Bürger; das Volk ist vor allem die gewaltige Klasse der Armen, die Klasse, die dem Vaterland Männer stellt, Verteidiger unserer Grenzen, die die Gesellschaft mit ihrer Arbeit erhält, die sie durch ihre Talente verschönt, durch ihre Tugenden schmückt und zu Ansehen bringt. Die Revolution wäre ein politisches und moralisches Unding, wenn sie sich zum Ziel gesetzt hätte, das Wohlleben einiger Hundert zu sichern und das Elend von 24 Millionen Bürgern zu verewigen. Es wäre also eine unverschämte Verhöhnung der Menschheit, immer wieder von Gleichheit zu sprechen, während unermessliche Unterschiede im Glück den Menschen vom Menschen trennen, und wenn man sähe, wie durch den Unterschied zwischen Überfluss und Armut, zwischen Wohlstand und Elend die Erklärung von Rechten unterdrückt wird, die keine Unterscheidung kennen als die nach Begabungen und Tugenden.
Diejenigen, die von Beginn der Revolution an ihren Geist zu begreifen und ihren Fortschritt zu unterstützen verstanden, durften sehen, wie sie danach strebte, Frankreich von unmenschlichen Missständen zu reinigen; sie haben gesehen, dass, wenn schon eine völlige Gleichheit im Glück unter den Menschen leider unmöglich ist, es doch zum wenigsten erreichbar war, die Unterschiede mehr und mehr auszugleichen; sie sahen, welch ein schreckliches Missverhältnis bestand zwischen der Arbeit des Bauern und des Handwerkers und dem geringen Lohn, den sie dafür empfingen; sie sahen mit Abscheu, wie der, dessen schwielige Hände seinen Mitbürgern das Brot schufen, oft selbst nicht genug hatte und es mit seinen Tränen noch mehr netzte als mit seinem Schweiß. Sie haben ihre Blicke der Menschliebe und der Menschlichkeit aufs Land gerichtet, in die Werkstätten, in die Dachstuben und Kellerlöcher der Armut; und an der Seite der Arbeit, neben der doch immer der Wohlstand einherging, sahen sie die Lumpen des Elends, die Blässe des Hungers, sie hörten die schmerzlichen Klagen des Mangels, die schrillen Schreie der Krankheit.
Andererseits sahen sie in den Häusern des Reichtums Müßiggang und Laster, alle Raffinessen eines barbarischen Luxus; und was die Entschädigung für Fleiß und Tugend sein sollte, sahen sie an die Blutsauger des Volkes vergeudet, an mit Unflat und Gold bedeckte Schurken, die sich vom Lebensunterhalt des Armen mehr als vom protzigen Reichtum ihrer Mahlzeiten gemästet hatten.
Diese allgemeine Umkehrung aller Grundsätze, diese Entwürdigung der Menschheit, diese Demütigung der Tugend musste eine Änderung erfahren, einen totalen Umsturz; denn Grundsätze lassen keine Halbheiten zu. In Frankreich einen einzigen wesentlichen Übelstand bestehen lassen, heißt alle anderen zur Wiederkehr auferstehen sehen; es ist wie mit dem Stumpf eines giftigen Baumes, der, wenn er seine Krone wiedererlangt, von neuem Todeskeime um sich ausstreut, die ihrerseits wieder neue hervorbringen.
Wäre die Bourgeois-Aristokratie am Leben geblieben, hätte sie bald eine Finanzaristokratie erzeugt. Diese hätte eine Adelsaristokratie geboren; denn der Reiche betrachtet sich stets als von anderem Stoff als andere Menschen: Von Usurpation zu Usurpation wäre man dahin gekommen, wo man ihre Bestätigung durch irgendwelche neue Einrichtungen für notwendig erachtet hätte; da wären der Klerus und seine neu belebten Dogmen gewesen: Und das ist noch nicht alles. Ein Altar, allein in einer Republik, kann einen Stoß bekommen und in sich selbst zusammenstürzen, man hätte ihm einen Thron als Stütze gegeben, damit sich beide gegenseitig hielten; und da hätten wir das Königtum gehabt. Das wäre unausbleiblich gewesen, und von Abgrund zu Abgrund wäre Frankreich wieder unter das widerwärtige Joch geraten, das es eben abgeschüttelt hat. Und zweifelt nicht, Bürger, die Ungeheuer hätten es noch härter, noch drückender gemacht, sie hätten das Gewicht Eurer Ketten vergrößert, um Euch zu hindern, sie abzustreifen. Sie hätten Euch für Eure früheren Freiheitsbestrebungen bestraft. Das Rad, der Kerker, die Fron, die Leibeigenschaft, Abgaben, Steuern, das ist die Aussicht, die Krönung einer unvollständigen Revolution. (…)
Republikaner, wenn Ihr dieses Namens würdig sein wollt, dann beginnt Eure Würde zu begreifen, erhebt stolz das Haupt, damit man in Euren Blicken lese, dass Ihr endlich verstanden habt, wer Ihr seid und was die Republik ist; denn täuscht Euch nicht: Um wirklich Republikaner zu sein, muss jeder Bürger in sich selbst eine Revolution durchmachen, eine Revolution gleich der, die das Antlitz Frankreichs umgestaltet hat. Es gibt nichts, aber auch gar nichts Gemeinsames zwischen dem Sklaven eines Tyrannen und dem Bewohner eines freien Staates; die Gewohnheiten, Grundsätze, Gefühle, die Taten des letzteren, alles muss etwas ganz Neues sein. Ihr wart unterdrückt – nun müsst Ihr Eure Unterdrücker zerschmettern; Ihr wart Sklaven des Aberglaubens – nun dürft Ihr keinen anderen Kult mehr anerkennen als den der Freiheit, keine andere Moral als die der Natur. Militärische Funktionen waren Euch fremd – von nun an sind alle Franzosen Soldaten. Ihr lebtet in der Unwissenheit – nun müsst Ihr, um Eure eroberten Rechte zu bewahren, lernen, viel lernen. Ihr kanntet kein Vaterland, nie hatte seine liebliche Stimme in Euren Herzen geklungen – heute dürft Ihr nichts anderes kennen als das Vaterland, heute müsst Ihr es in Allem sehen, verstehen und bewundern; nur fürs Vaterland soll es sein, was der Beamte behütet, der Ackersmann sät, der Soldat leistet, der Bürger schafft! Sein heiliges Bild stehe über allen Taten, mache die Pflicht noch mehr zur Freude, entschädige für alle Mühen. – Es lebe die Republik, es lebe das Volk – das sei das Feldgeschrei, der Ausdruck der Freude, die Vergeltung für alle Schmerzen. Jeder, dem diese Begeisterung fremd ist, der andere Vergnügen, andere Sorgen kennt als das Glück des Volkes; jeder, der sein Herz kalten Spekulationen des Eigennutzes öffnet; jeder, dem ein Stück Land, ein Amt, ein Talent nur Zahlen sind, der nur einen Augenblick mit ihnen einen anderen Wert verbindet als den des allgemeinen Nutzens; jeder, dem nicht allein schon bei den Worten Tyrannei, Sklaverei, Reichtum das Blut kocht; jeder, der den Feinden des Volkes Tränen nachweint, der nicht sein ganzes Gefühl den Opfern des Despotismus, den Märtyrern der Freiheit schenkt: Alle, die so sind und dennoch wagen, sich Republikaner zu nennen, sprechen wider Natur und Herz. Sie mögen das Land der Freiheit fliehen, bald wird man sie erkennen und eben dieses Land mit ihrem kranken Blute netzen. Nur freie Menschen will die Republik um sich wissen; sie ist entschlossen, alle anderen auszulöschen und nur die als ihre Kinder anzuerkennen, die für sie leben, kämpfen und sterben wollen. (…)