Über das Buch

Wissen Sie, wer der beliebteste Schweizer Verbrecher ist? Lernen Sie alles über die echt traditionellen Gerichte der Schweiz, über die stinkende Seite ihrer Landwirtschaft, ihre wahre Grösse (wenn man sie bügelt), ihre umweltverschmutzten Gletscher und ihre (vier) wilden Wolfsrudel. Bringen Sie in Erfahrung, was Kim Jong-uns erstaunliche Schulkarriere ausmachte, wie Schweizer Regentropfen zu salzigen Meeren reisen, und wie die Wetten stehen, dass Genf in einem schwarzen Loch verschwindet. Finden Sie heraus, wer die Schweiz gebaut hat, und wer sie wirklich regiert. Lernen Sie die schmutzigen Geheimnisse der Schweizer Schokolade, der Schweizer Waffenindustrie, des Schweizer Geheimdiensts, sowie des Schweizer Lebensglücks kennen.

Sie werden bald feststellen, dass die 66 überraschenden Fragen in diesem Buch sogar noch überraschendere – und fesselnde – Antworten haben.

Warum haben die Schweizer so grossartigen Sex?

Ashley Curtis

Aus dem Engischen von Gerlinde Schemer-Rauwolf, Robert
A. Weiß und Bernhard Jendricke (Kollektiv Druck-Reif)

Warum haben die
Schweizer so
grossartigen Sex?

ASHLEY CURTIS

© 2018 Bergli Books, alle Rechte vorbehalten.
Text © 2018 Ashley Curtis
Printed in the Czech Republic
Druck: Finidr
Satz: Drusala
Korrektorat: Christine Huonker
Coverlayout: Kimberly Smith
Deutsche Ausgabe 978-3-03869-048-1
EPUB 978-3-03869-061-0
MOBI 978-3-03869-062-7

Englische Originalausgabe 978-3-03869-047-4
Originaltitel: Why Do The Swiss Have Such Great Sex?
66 Improbable Questions With Answers Made in Switzerland
Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf,
Robert A. Weiß und Bernhard Jendricke
(Kollektiv Druck-Reif)

Bergli Books wird vom Bundesamt für Kultur mit einem
Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2018 unterstützt.
www.bergli.ch

Inhaltverzeichnis

1.Warum haben die Schweizer so grossartigen Sex?

2.Könnte die Schweiz jemals von einem Tsunami bedroht werden?

3.Wie viele Menschenleben kostet ein Tunnel?

4.Könnte das Gold der Schweiz die Schweizer Marine versenken?

5.Was passiert mit einer Leiche in einer Gletscherspalte?

6.Was passiert mit all den Kuhfladen?

7.Hatte die Schweiz jemals einen König oder eine Königin?

8.Wer ist der schnellste Bergsteiger in den Schweizer Alpen?

9.Wird Genf in einem Schwarzen Loch verschwinden?

10.Wird man eher in der Schweiz oder in den USA Opfer eines Schusswaffen-Massakers?

11.Schoss Wilhelm Tell wirklich seinem Sohn einen Apfel vom Kopf?

12.Wie sahen die Alpen für die Dinosaurier aus?

13.Wer ist der schlimmste Schweizer Brandstifter?

14.Warum gibt es in der Schweiz keine «Betreten verboten»- Schilder bei privaten Grundstücken?

15.Ging Kim Jong-un in der Schweiz zur Schule?

16.Welche Schweizer Speisen sind wirklich traditionell?

17.Wie viel kostet Heroin in der Schweiz?

18.Ist die Schweiz das bergigste Land Europas?

19.Was war das wichtigste Exportgut der Schweiz im Hochmittelalter?

20.Was ist die wertvollste Banknote der Welt?

21.Wer hat das sicherste Grab der Schweiz?

22.Ist die Schweiz von Italienern erbaut worden?

23.Ist Cannabis in der Schweiz legal?

24.Warum darf ich in der Schweiz keine Ratte als Haustier halten?

25.Kostet Schweizer Käse mehr als früher?

26.Könnte die ganze Welt in der Schweiz übernachten?

27.Begehen Schweizer Kühe Selbstmord?

28.Was hält der Rest der Welt von der Schweiz?

29.Schadet die Schweiz der Umwelt?

30.Was kostet es, die Schweiz zu kaufen?

31.Wie viel Verspätung haben die Schweizer Züge pro Tag?

32.Wurden die Schweizer Alpen von den Briten bezwungen?

33.Wie viel Toblerone bräuchte man, um das Matterhorn nachzubauen?

34.Warum werden in der Schweiz so viele Schafe von Wölfen getötet?

35.Wie gross wäre die Schweiz, wenn sie platt gebügelt wäre?

36.Wo findet man in der Schweiz prähistorische Kunst?

37.Ist die Schweiz ein sicherer Finanzplatz für fiese Diktatoren?

38.Was passiert, wenn man mit einem Flugzeug versehentlich auf einem Gletscher landet?

39.Ist es moralisch vertretbar, Schweizer Schokolade zu kaufen?

40.Was passiert, wenn ich in der Schweiz ein Gewaltverbrechen begehe?

41.Ist die Schweizer Wasserkraft wirklich sauber?

42.Wie gefährlich sind Schweizer Giftschlangen?

43.Was muss mein Land beachten, wenn es von der Schweiz Waffen kaufen will?

44.Wollte man die Schweiz auf einer Nadelspitze balancieren, wo müsste man die Nadel ansetzen?

45.Wieviel Urlaub bekommt man als Arbeitsloser in der Schweiz?

46.Wer ist der beliebteste Verbrecher der Schweiz?

47.Sollte ein feindliches Land die Schweiz angreifen wollen, wie sollte es dann am besten vorgehen?

48.Wie sah es in der Schweiz während der letzten Eiszeit aus? Wird es wieder so werden?

49.Was würde passieren, wenn ein Staudamm bricht?

50.Wie wird die Schweizer Skiindustrie zugrunde gehen?

51.Wieviel Schutt fiel beim Bau des längsten Tunnels der Welt an, und wo ist er jetzt?

52.Ist die Schweiz homophob?

53.Wachsen oder schrumpfen die Schweizer Alpen?

54.Wie glücklich sind die Schweizer?

55.Welche Schweizer Statue erregt am meisten Anstoss?

56.Wohin spuckt man am besten, wenn die Spucke möglichst weit kommen soll?

57.Was geschieht mit dem Schweizer Atommüll?

58.Wer bekommt die Schweizer Eisenbahnwaggons, wenn die Schweizer sie loswerden wollen?

59.Wenn die Schweiz ein Swimmingpool wäre, wie tief wäre das Wasser?

60.Könnte die Schweiz überleben, wenn sie von einer Kuppel überwölbt wäre?

61.Wie oft gehen die Uhren in Schweizer Bahnhöfen falsch?

62.Wie viel Geld wäre das Eis der Schweizer Gletscher wert, wenn man es in Eiswürfel zerteilen und verkaufen würde?

63.Kann die Schweizer Währung gefälscht werden?

64.Braucht man einen Doktorgrad, um in der Schweiz zu wählen?

65.Würde man aus all dem Schnee, der in einem Jahr in der Schweiz fällt, einen Schneemann bauen, wie gross wäre dieser?

66.Was ist die Schweiz?

67.Über den Author

1

Warum haben die Schweizer so grossartigen Sex?

2013 hat das Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov eine viel beachtete Studie über das Sexualleben in dreizehn europäischen Ländern veröffentlicht. YouGov ist ein renommiertes Unternehmen für Demoskopie, dessen Chef einen berühmten Namen trägt: Shakespeare. Der Guardian bezeichnete Shakespeare einmal als «den Meinungsforscher mit der unheimlichen Fähigkeit, richtig zu liegen».(1)

Und wer schnitt am besten ab? Die heissblütigen Südländer? Die freizügigen Niederländer? Die auf Klatschmedien versessenen Briten? Nein, sie alle nicht. Sowohl bei «meine sexuelle Leistungsfähigkeit» als auch bei «Qualität meines Sexlebens» lag die Schweiz vor Spanien, Italien und den skandinavischen Ländern; die Heimat Shakespeares landete abgeschlagen auf dem letzten Platz. Im Schweizer Boulevardblatt Blick wurde dieser erstaunliche Sieg am 24. Juni 2013 mit einer reisserischen Überschrift gefeiert: «Wir sind die Sex-Meister!»

Zwei Jahre später wurden in einem Artikel des Onlinemagazins Alternet, der sich auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Studien stützte, die zwölf Länder aufgelistet, in denen die Menschen mit ihrem Liebesleben am zufriedensten waren. Zwar gab es keine Rangliste, aber die Schweiz stand an erster Stelle. Dies führte zu einer Flut von Berichten (in The Independent, The Mirror, Salon, Metro News, Elite Readers etc.), in denen behauptet wurde, die Schweizer seien die besten Liebhaber der Welt. «Die Schweiz ist sowohl scharf als auch sicher», so das Frauen-Onlinemagazin Bustle. Diese Nachricht verbreitete sich bis nach Indien, wo das im Internet tätige Medien- und Nachrichtenunternehmen Scoopwhoop fragte: «Ist der Grund die pittoreske Landschaft? Sind es die romantischen Filme von Yash Raj? Oder liegt es an der schon im Kindergarten beginnenden sexuellen Aufklärung?»(2)

Die exzellenten Ergebnisse von 2013 und 2015 sind umso bemerkenswerter, als die Schweizer Liebenden seit dem 18. April 2012 offensichtlich riesige Fortschritte gemacht hatten. Denn damals titelte ebenderselbe Blick vernichtend: «Schlappe Nummer – Schweizer sind Flaschen im Bett!» Der Blick berief sich dabei auf eine Umfrage unter Nutzern von C-Date, laut der die Brasilianer die besten Liebhaber und die Italienerinnen die besten Liebhaberinnen seien, während die Schweizer kurzerhand auf den letzten Platz verwiesen wurden.

Wenn sich die Schweiz innerhalb eines Jahres vom letzten auf den ersten Platz hochschlafen konnte, fragt man sich nach den Höhen und Tiefen im Lauf der Jahrhunderte. Riskieren wir also einen verstohlenen Blick zurück.

Vor 600 Jahren besuchte der Kardinalstaatssekretär Poggio Bracciolini – Vater von 14 Kindern mit seiner Geliebten und weiteren 6 mit seiner Ehefrau – im Jahr 1417 die Thermalbäder von Baden im Kanton Aargau und verfasste darüber folgenden Bericht:

Alle, die verliebt sind, alle, die auf Freiersfüssen gehen, alle, für die das Leben im Genuss sich gründet, eilen hierher, um zu geniessen, was sie sich erwünschen. Viele körperliche Leiden täuschen sie vor, während sie sich innerlich bedrängt fühlen. So siehst du hier zahllose sehr schöne Frauen ohne ihre Männer, ohne Verwandte, mit zwei Zofen und einem Knecht oder irgendeinem alten Mütterchen aus der weitläufigen Verwandtschaft, das man geschwinder hinters Licht führen als satt machen kann […] Ich behaupte, dass es nirgends auf der Welt ein Bad gibt, das für die Fruchtbarkeit der Frauen förderlicher wäre […] Und ich glaube gar, dass unser Ort der ist, wo der erste Mensch erschaffen wurde; Gan Eden nennen ihn die Juden, das heisst Garten der Lust.

Dies muss eins der guten Jahre gewesen sein – vielleicht sogar noch besser als 2013. Poggio machte einige weitere bemerkenswerte Beobachtungen:

[…] auch Äbte, Mönche, Ordensbrüder, Priester leben hier in grösserer Freiheit als die übrigen, und zumal, wenn sie mit den Frauen zusammen im Bad sind und auch ihr Haar mit Kränzen schmücken, sind alle ihre religiösen Skrupel verflogen.

Zwei Jahrhunderte nach Poggios Besuch liessen die Schweizer in Baden immer noch die Puppen tanzen. Thomas Coryat, ein britischer Reisender und Hofnarr zu Zeiten des berühmteren Shakespeare (der keine Meinungsumfragen machte), war schockiert und verwirrt über die Bäder – was vielleicht nahelegt, dass auch 1608 eins der schlechten Jahre für die Briten war:

Doch lassen wir diese Deutschen und Helvetier tun und lassen, was sie wollen und diese liederlichen Sitten pflegen, solange sie es wünschen; was mich jedoch angeht, wäre ich verheiratet und sollte hier mit meiner Frau ein wenig Zeit verbringen, um Trost und Erholung zu finden, könnte man mich kaum überreden zu dulden, dass sie nackt in ein und demselben Badkasten wie auch nur ein Junggeselle oder verheirateter Mann badet, denn wenn sie schön wäre und ein ansprechendes Gesicht hätte, könnte sie mir Hörner aufsetzen.

Aber auch der Schweizer Sex hatte seine weniger spannenden Phasen. 1685 war Gilbert Burnet, der zukünftige Bischof von Salisbury, in Bern und stellte fest, dass das dritte Mal Ehebruch mit dem Tode bestraft wird, «wie auch die Hurerei, falls man sich das fünfte Mal darinnen ertappen lässt.»(3) Burnet wurde Zeuge der Hinrichtung einer Frau, die gestanden hatte, «viele Male dieses Lasters schuldig» zu sein, und er fand, bei ihrer Enthauptung sei man recht zartfühlend zu Werke gegangen:

Nachdem das Urteil verlesen, fasste der Avoyer(4) die Missetäterin sacht bei der Hand und betete für ihre Seele; und nach der Hinrichtung wurde zur Belehrung des Volks eine Predigt gehalten.

Laut Burnet waren Ehebruch und Unzucht allerdings nicht an der Tagesordnung. Ein «bedeutender Medicus» hatte ihm erzählt, dass die Frauen in Bern, auch die vornehmsten, alle Hausarbeiten selbst erledigten, weswegen

[…] die Arbeit, welches ihr Blut reiniget, ihnen einen sanften Schlaf bringet, sodass sie nicht Zeit vertändeln mit vielem Denken, noch wüssten, was Affären wären.

Unterdessen wurde auch oben in den Alpen Unzucht missbilligt – allerdings nur bei Tageslicht. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte es Zeit für einen Kiltgang sein. Wörtlich meint Kiltgang Spaziergang zur Zeit des Sonnenuntergangs, das Historische Lexikon der Schweiz allerdings definiert es als das «von der Sitte geregelte Werbeverhalten junger Männer, wonach sie nachts einzeln oder in Gruppen heiratsfähige Mädchen zuhause besuchten, sei es durch Einstieg in ihre Kammern oder Zusammensein in der Stube». Der Schweizer Maler Franz Niklaus König beschrieb den Kiltgang 1814 als

[…] eine eingewurzelte und unvertilgbare Sitte im Canton Bern. Die Jünglinge besuchen nämlich die Mädchen Nachts, bald einzeln, bald in Gesellschaft. Der Weg geht durchs Fenster; vorher aber werden Zärtlichkeitsreden gehalten, die meist drollig genug sind; und auf diese folgt eine Art Capitulation. Endlich auf dem Gade (obere Stube) angelangt, werden sie von den Mädchen mit Kirschwasser erfrischt. Alles weitere geht dann (wie man sagt) in der grössten Zucht und Ehrbarkeit zu! Ich mag das gerne glauben, obschon mir’s nicht in den Kopf will: wie ein rüstiger Aelpler zum platonisieren kommen soll? und ob er blos dafür einen rauhen Bergweg von drey bis vier Stunden, oft bey Regen und Wind, machen würde, wie es manchmal der Fall ist. Zu dem giebt es oft Symtome, die nicht weniger als platonisch aussehen und zum Glücke meistens nach der Kirche führen.

Die Kirche wetterte jahrhundertelang, aber vergeblich, gegen den Kiltgang. Die Dörfler akzeptierten stillschweigend diesen Brauch – wohl auch, weil eine voreheliche Schwangerschaft am besten bewies, dass ein Paar das zuwege brachte, was für Bergbauern existenziell war, nämlich Kinder zu bekommen.

1836 publizierte Heinrich Hössli, ein bekannter Hutmacher im Kanton Glarus, Eros. Die Männerliebe der Griechen – die erste Monografie über Homosexualität in der modernen westlichen Welt. Mit seiner Argumentation, dass Homosexualität nicht als Verbrechen bestraft, als Krankheit behandelt oder als Sünde verdammt werden sollte, war er seiner Zeit weit voraus.(5) Das Who’s Who in Gay and Lesbian History sekundiert Hösslis Biograph, der Hösslis Buch «das wichtigste Werk über männliche Liebe seit Platons Symposium» nennt. War es also ein gutes Jahr für den Schweizer Sex? Ja und nein. Die Kantonsregierung verbot den Verkauf von Eros, und die meisten der noch vorhandenen Exemplare fielen 1861 beim Brand von Glarus (siehe Frage 13) den Flammen zum Opfer. Hössli selbst, einst ein gefragter Putzmacher mit untrüglichem Gespür für weibliche Mode, starb als verbitterter und verarmter Vagabund.

Wie überall in Europa wuchs auch in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein für sexuellen Missbrauch in der weit verbreiteten Prostitution. Verarmte Frauen, Jugendliche und sogar Sexsklaven im Kindesalter wurden von Zuhältern und deren Kunden brutal ausgebeutet. Auf der anderen Seite zwangen staatliche Stellen Frauen aus der Unterschicht, die der Prostitution verdächtigt wurden, zu gynäkologischen Untersuchungen (bekannt als «stählerne Vergewaltigung»), um jene aufzuspüren und einzusperren, die mit Geschlechtskrankheiten infiziert waren, und so die männliche Bevölkerung (insbesondere die Soldaten) zu schützen. Als Reaktion auf diese Zustände entstand in der Schweiz eine vor allem von Frauen getragene Sittlichkeitsbewegung, die anfangs allerdings nur für repressive Massnahmen gegen die Prostitution eintrat und die Ausweisung ausländischer Prostituierter forderte. Um die Jahrhundertwende wurde die Bewegung gemässigter, der Fokus richtete sich jetzt weniger auf Kriminalisierung als auf Erziehung und Fürsorge. Allerdings zielten die erzieherischen Massnahmen auf Enthaltsamkeit, das Verbot von Tanz- und Vergnügungsveranstaltungen und die Zensur von Filmen und Literatur. Wie nach der Reformation machte man Sexualität als Quell allen Übels aus und «grossartiger Sex» wurde zum Widerspruch in sich.

Ein Jahrhundert später fand eine neuerliche Kehrtwende statt. Seit 1942 ist Prostitution in der Schweiz legal, und die Sexindustrie macht heutzutage einen Umsatz von 3,5 Milliarden Franken. Der Verdienst muss versteuert werden, und die Sexarbeiterinnen und -arbeiter zahlen in die Sozialversicherungen ein und erhalten Leistungen daraus. In Zürich bieten von der Stadt eingerichtete Sexboxen eine Infrastruktur für das Gewerbe: In einer Art Drive-In kann man mit einer der wartenden Prostituierten Sex in seinem Auto haben, ausserdem gibt es dort ein Café, eine Wäscherei und Duschen für die Sexarbeiterinnen.

Was die Erziehung betrifft, unterscheidet sich diese heute ganz wesentlich von dem, was die Sittenwächterinnen einst im Sinn hatten. 2011 fanden in Basel Sexboxen anderer Art als jene in Zürich Eingang in Kindergärten und Grundschulen. Manche enthielten haptisches Spielzeug für die Sexualerziehung, unter anderem einen Holz-Penis und eine Vagina aus Plüsch. Um Moral und Anstand besorgte Eltern klagten gegen das Erziehungsdepartement, doch das Bundesgericht wies ihre Beschwerde brüsk ab und befand

[…] dass die Aufklärung über die grundlegenden Begriffe und Zusammenhänge des menschlichen Körpers und der Sexualität grundsätzlich geeignet ist, das öffentlich anerkannte Ziel der Prävention vor sexuellen Übergriffen und des Gesundheitsschutzes zu verfolgen.

Die Schweizer Sexualerziehung scheint zu wirken. Das Land hat die weltweit niedrigste Quote von Teenager-Schwangerschaften – lediglich ein Siebtel so viele wie in den USA, ein Sechstel derer in Grossbritannien, ein Drittel so viele wie in Frankreich und halb so viele wie in den Niederlanden.

Eine andere Trendwende vermeldet der «Last Sex-Shop before the Jungfrau», der vor zwanzig Jahren auf der Hauptstrasse von Interlaken eröffnete: Die Kundschaft hat sich in Richtung geschlechtlicher Gleichstellung entwickelt. Waren anfangs achtzig Prozent der Kunden männlich, so sind Mann und Frau inzwischen gleichermassen vertreten – eine Emanzipation vielleicht nicht ganz in dem Sinn, wie sie von den feministischen Enthaltsamkeitspredigerinnen hundert Jahre zuvor angestrebt worden ist.

Es überrascht nicht, dass sich sexuelle Gepflogenheiten im Lauf der Jahrhunderte geändert haben, trotzdem haben wir noch immer keine Erklärung für den kometenhaften Aufstieg zwischen 2012 und 2013. Also wenden wir uns an die Schweizer Sexberaterin Caroline Fux(6). Die Psychologin beantwortet in einer Kolumne von Blick, mit einer Leserschaft von einer halben Million Schweizern, besorgte Fragen zum Thema Sex und Beziehungen. Ihre Erklärung ist einfach:

Es existieren zwar Umfragen, wie die Nationen im Bett sind, aber wissenschaftlich sind die meist nicht. […] Vieles, was als ernste Studie verkauft wird, ist unwissenschaftlicher Quatsch.

Unwissenschaftlicher Quatsch, das mag hierbei eine Menge erklären. Zumal die kläglichen Ergebnisse von C-Date erhoben wurden, das – wie sich bei genauerer Recherche meinerseits herausstellt – nicht unbedingt zu den seriösen Forschungsinstituten zählt: Es ist schlicht ein Online-Datingportal (das C steht für casual – «Alles kann, nichts muss»). Aber würde Frau Fux wirklich auch all die Daten über Bord werfen, die Shakespeare gesammelt hat, der Mann «mit der unheimlichen Fähigkeit, richtig zu liegen»? Nicht unbedingt. Hier Frau Fux’ Sicht der Schweizer Liebesfähigkeit:

Das Image des Schweizers ist nicht gerade das des Super-Liebhabers. Wir zählen eher als Gegenentwurf zum Latin Lover. Ich würde aber sagen: Der Schweizer Liebhaber ist auf eine positive Art pragmatisch. Er hat eine gute sexuelle Bildung, viel Wissen, was als sexuelle Kompetenz nicht zu unterschätzen ist. Zudem gehen wir sehr offen mit Sex um. Wir sind gleichberechtigt, also darum bemüht, dass der Sex für beide gut ist. Man darf den Schweizer Liebhaber deshalb nicht unterschätzen – er ist der Aussenseiter, der sich dann plötzlich fürs Finale qualifiziert.

Keine Latin Lover, aber Aussenseiter, die sich fürs Finale qualifizieren, aha. Wenn Sie von einem verwegenen Opernhelden träumen, der auf seinem Motorrad mit Ihnen davonbraust, sollten Sie sich vielleicht weiter südlich umsehen. Letztlich ist «grossartiger Sex» ohnehin eine Geschmacksfrage – aber leider auch oft eine Illusion. Was den Sex wirklich toll macht, ist laut einer anderen Untersuchung – diesmal von Durex und YourTango – eher nicht die rasante Motorrad-Entführung. Hier der Sprecher von Durex zu ihrer Umfrage von 2013:

Wenn Menschen an grossartigen Sex denken, haben sie oft Fantasien von One-Night-Stands oder Spring Breaks(7). Doch unsere Untersuchung zeigt im Gegenteil, dass man sich mit jemandem zusammen, der ausschliesslich einen selbst als Partner will, sicher genug fühlt, um Neues auszuprobieren und über Fantasien zu sprechen, was wiederum zu mehr Intimität und sogar besserem Sex zwischen den Partnern führt.

Andrea Miller, die Geschäftsführerin von YourTango, stimmt dem zu.

Wir wurden von den Medien so konditioniert, dass wir glauben, Sex sei in erster Linie etwas Körperliches und das Sexleben eines Paares würde im Lauf der Zeit zwangsläufig seine prickelnde Dynamik verlieren. Aber diese Ergebnisse zeigen das genaue Gegenteil – sich auf emotionaler Ebene näherzukommen ist der Schlüssel zu mehr körperlicher Intimität.

Wenn Durex und YourTango recht haben, dann ist eine gute Liebesbeziehung die Grundlage für guten Sex – und nicht etwa, ob der Liebhaber aus Brasilien, Italien, der Schweiz oder der Äusseren Mongolei kommt. Und – oh Wunder! – es stimmt, was wir vielleicht von Anfang an erwartet haben: Nicht Länder haben Sex, sondern Menschen.

1 2001 sagte YouGov den Sieg der Labour Party bei der britischen Unterhauswahl auf einen Prozentpunkt genau voraus, und ebenso für 2017 ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse – was laut Guardian «in der Tat mutig» war und in der Tat auch so eintrat.

2 Inwiefern die 75 von der indischen Entertainment-Gesellschaft Yash Raj produzierten Bollywoodfilme die sexuelle Leistungsfähigkeit der Schweizer gefördert haben könnten, wird nicht ganz klar, doch der etwas überraschende Ruf der Schweiz als Land der Liebe ist unverkennbar bis nach Indien vorgedrungen.

3 Heutzutage haben nahezu 40 Prozent der Schweizer Erwachsenen mit mehr als zehn Partnern Sex gehabt. Würde das Berner Recht aus der Zeit nach der Reformation immer noch konsequent angewendet, wären wohl nicht mehr viele Schweizer am Leben.

4 Anm.d.Ü.: Avoyer (franz.), früher der Stadtschultheiss in Städten der französischen Schweiz.

5 Seit 1942, also gerade einmal gute 100 Jahre nach dem Erscheinen von Hösslis Buch, ist Homosexualität in der Schweiz legal – und schlägt damit England (1967), Deutschland (1969), Finnland (1971) und Spanien (1979), allerdings waren Vatikanstadt (!) und Italien noch eher dran (beide 1890), und Frankreich steht an der Spitze (1791). Tessin, Wallis und Waadt allerdings waren den anderen Schweizer Kantonen voraus, sie vollzogen diesen Schritt bereits 1798.

6 Ja, sie heisst wirklich so. Auf Englisch klingt das weit weniger harmlos.

7 Anm.d.Ü.: Ursprünglich Frühjahrsferien, die Studenten an warmen Orten verbrachten und zu hemmungslosem Feiern nutzten.

2

Könnte die Schweiz jemals von einem Tsunami bedroht werden?

Das Tauredunum-Ereignis könnte der Titel eines Katastrophenfilms sein. Denn um eine Katastrophe handelte es sich in der Tat, allerdings nicht – oder noch nicht – um einen Film. Nachfolgend die Schilderung des zeitgenössischen Chronisten Gregor von Tour in seiner Fränkischen Geschichte. Man schrieb das Jahr 563.

Es trug sich aber in Gallien ein grosses wunderbares Ereignis mit der Burg Tauredunum zu. Sie lag über der Rhône auf einem Berge, und als man in diesem mehr denn sechzig Tage lang ein ungewöhnliches Tosen vernommen hatte, trennte und teilte er sich endlich von einem andren ihm nahegelegenen und stürzte mit den Menschen, Kirchen, Schätzen und Häusern in den Fluss; und da hierdurch das Bett des Flusses gesperrt war, lief das Wasser stromaufwärts. Die Stelle war aber auf beiden Seiten von Bergen eingeschlossen, und durch die Schlucht zwischen denselben stürzte sich der Fluss. Indem er nun austrat, überschwemmte und verheerte er die oberen Gegenden am Ufer. Hierauf staute sich das Wasser hoch auf und floss dann wieder abwärts. Es überraschte auch hier die Bewohner, ehe sie es vermuteten, wie oberwärts, begrub sie in den Fluten, stürzte die Häuser um, ertränkte das Vieh und riss durch seinen gewaltigen und plötzlichen Andrang alles, was am Ufer war, bis nach der Stadt Genf hin fort und warf es zu Boden. Man erzählt, dass dort die Wassermasse so gross gewesen sei, dass sie in die Stadt über die Mauern strömte.

Geophysiker der Universität Genf veröffentlichten 2012 eine Studie, die sich mit grösseren Sedimentablagerungen nahe der Rhône-Mündung im Genfersee befasst. Ihr Fazit lautet, dass beim Tauredunum-Ereignis ein gewaltiger Erdrutsch das Rhône-Delta zerstörte und durch das Abrutschen von Sediment am östlichen Ende des Sees ein Tsunami entstand. Eine dreizehn Meter hohe Welle bewegte sich mit siebzig Kilometer pro Stunde fort und dürfte Lausanne fünfzehn Minuten nach dem Erdrutsch erreicht haben. Eine drei viertel Stunde später hatte sich ihre Höhe auf acht Meter verringert, sie überflutete Genf und überspülte die Stadtmauern, genau wie Gregor es berichtet hatte.

Das bestätigt auch der Schweizerische Erdbebendienst. Er listet mehrere Binnentsunamis in Schweizer Seen auf, die erhebliche Schäden angerichtet haben. So verursachte ein Erdbeben bei Aigle 1584 einen kleineren Tsunami im Genfersee. 1601 brandete infolge eines Seebebens im Vierwaldstättersee eine vier Meter hohe Welle gegen Luzern an. Die Stadt traf es 1681 erneut, diesmal mit einem Fünf-Meter-Tsunami. Und 1806 zerstörte der Bergsturz von Goldau das gleichnamige Dorf, tötete fünfhundert seiner Einwohner und jagte eine zehn Meter hohe Flutwelle über den Lauerzersee.

Heute leben mehr als eine Million Menschen in den tief liegenden Regionen rings um den Genfersee. Und wie sich herausstellt, war das Tauredunum-Ereignis kein Einzelfall:

Die Sedimentanalyse des Tiefenbeckens des Genfersees legt in Kombination mit den historischen Belegen den Schluss nahe, dass in den letzten 3695 Jahren mindestens sechs Tsunamis durch Massenbewegung ausgelöst wurden, was darauf hindeutet, dass die Gefahr eines Tsunamis im Genfersee nicht vernachlässigt werden sollte […] Wir glauben, dass das Risiko von Tsunamis in Seen derzeit unterschätzt wird und dass diese Phänomene grössere Aufmerksamkeit erfordern, wenn künftige Katastrophen vermieden werden sollen.

Das schreiben die Geophysiker der Universität Genf, die errechnet haben, dass durchschnittlich alle 625 Jahre mit einem Tsunami auf dem Genfersee zu rechnen ist.

Ein grosser Tsunami ereignete sich 563. Ein kleinerer 1584. Jetzt haben wir 2018. Rechnen Sie selbst.

Wenn Sie das nächste Mal in Genf sind, sollten Sie sich nicht nur den Kopf darüber zerbrechen, was sich im Large Hadron Collider hinter dem Flughafen abspielt (siehe Frage 9). Halten Sie auch auf dem See Ausschau nach einem Ereignis, das nicht völlig unerwartet wäre.

3

Wie viele Menschenleben kostet ein Tunnel?

Am 8. Juni 2000 fiel eine 40 kg schwere Bohrstange einen Schacht hinunter und erschlug einen 33-jährigen deutschen Arbeiter.

Am 31. März 2001 kam ein 23-jähriger südafrikanischer Arbeiter unter einem Haufen Schutt zu Tode.

Am 3. April 2003 wurde ein deutscher Arbeiter von einem grossen Felsblock erschlagen.

Im Herbst 2003 wurde ein 37-jähriger österreichischer Tunnelbauer, Vater eines kleinen Jungen, von einer schweren Kabelrolle überfahren.

Am 21. Dezember 2005 entgleisten die letzten beiden Waggons eines Schutterzugs und brachten einen Versorgungswagen ins Rollen. Dieser zerquetschte zwei italienische Arbeiter im Alter von vierundzwanzig und einunddreissig Jahren. Der eine der beiden wäre drei Monate später Vater geworden, der andere hatte seinen planmässig letzten Arbeitstag.

Am 23. November 2006 überrollte ein Schotterwagen einen deutschen Mineur. Er hinterliess seine Frau und ein Kleinkind.

Am 24. Juni 2010 starb ein 46-jähriger deutscher Ingenieur, als er aus einem Baustellenzug fiel.

Am 16. Juni 2012 erlitt ein sizilianischer Arbeiter einen tödlichen Sturz von einem Gerüst.

Alle hier genannten Unfälle ereigneten sich während des Baus des Gotthard-Basistunnels – des mit 57,1 Kilometer längsten Verkehrstunnels der Welt. Er forderte pro 6,3 Kilometer Tunnelstrecke ein Menschenleben. Zum Vergleich: Beim Bau des Eurotunnels unter dem Ärmelkanal liess alle 4,6 Kilometer ein Mensch sein Leben. Beim Lötschberg-Basistunnel zwischen den Kantonen Bern und Wallis waren es 6,9 Kilometer, da er aber noch nicht vollendet ist, kann der Blutzoll noch steigen.

Gehen wir weiter in die Vergangenheit zurück, sieht es deutlich schlechter aus. Der Simplontunnel zwischen Brig und Iselle, 77 Jahre lang der längste Tunnel der Welt, kostete 67 Menschen das Leben, also etwa eines alle 300 Meter. Der vorherige Weltrekordhalter, der erste Gotthardtunnel, schlug mit 199 Opfern zu Buche (siehe Frage 22). Diese noch heute als Alternative zum neuen Basistunnel genutzte Röhre durchfährt man mit dem Zug in etwa acht Minuten. Je zwei Sekunden Fahrtzeit stehen für den Tod eines Arbeiters.

Ein toter Arbeiter pro zwei Sekunden Fahrt ist allerdings noch erheblich untertrieben, weil dabei nur die unmittelbaren Todesfälle bei der Arbeit vor Ort berücksichtigt sind. Sehr viel mehr Männer starben an Krankheiten, die eine direkte Folge ihrer Arbeit im Tunnel oder der katastrophalen hygienischen Bedingungen waren: Hakenwürmer, Typhus und Silikose (auch Staublunge oder Bergmannsasthma genannt).

Der Hakenwurmbefall an sich verläuft selten tödlich, schwächt den Betroffenen jedoch beträchtlich; Bauchschmerzen, Durchfall, Gewichtsverlust und Anämie machen ihn anfälliger für andere Erkrankungen. Typhus hingegen kann zu Fieber, Hautausschlag am ganzen Körper, Hirnentzündung, Bewusstseinsstörungen, Bewusstlosigkeit und Tod führen. Typischerweise treten beide Krankheiten gehäuft bei unhygienischen Lebensbedingungen auf. Eine Silikose wiederum holt man sich im Tunnel durch das Einatmen von Quarzfeinstaub. Sie äussert sich in kräftezehrendem chronischem Husten und Kurzatmigkeit, Schwäche und Gewichtsverlust, Vernarbung des Lungengewebes, Fieber, einer allmählichen Verfärbung der Haut, die den Oberkörper bläulich aussehen lässt, rissigen Finger- und Zehennägeln und Herzerkrankungen und führt letztlich zum Tod. Mitunter tritt eine Silikose erst bis zu zehn Jahren nach der Feinstaubbelastung auf.

Dass es beim Bau der oben erwähnten Tunnel zu solchen Todesfällen gekommen ist, erscheint vielen durch die Vorteile, die diese Tunnel Handel und Verkehr bieten, als «gerechtfertigt». Schwieriger zu rechtfertigen sind Todesopfer beim Bau von Bahnen, die weder dem Handel noch dem Verkehr Nutzen bringen. Die Zahnradbahn auf das Jungfraujoch – die der britische Gesandte in der Schweiz 1905 als «unmässiges» Vorhaben verhöhnte, das den Berg «zu einer Alltäglichkeit herabwürdigt» und die ein Schweizer Abgeordneter als «spekulativen, habgierigen, alles verzehrenden goldenen Moloch» bezeichnete – kostete 30 Italiener das Leben, die am Bau des etwas mehr als sieben Kilometer langen Tunnels beteiligt waren. Wer ein reguläres Billett für die Berg- und Talfahrt von der Kleinen Scheidegg aus löst, zahlt diesem goldenen Moloch 4,27 Schweizer Franken für jeden getöteten italienischen Arbeiter.

Hingegen schlägt ein «Indisches Büffet» im Restaurant Bollywood auf dem Jungfraujoch mit 32,40 SFr. zu Buche.

Leben ist billig auf dem «Top of Europe».

4

Könnte das Gold der Schweiz die Schweizer Marine versenken?

«Er ist der Admiral der Schweizer Marine», lautet eine Redensart, mit der man jemanden als grossspurigen Wichtigtuer abkanzelt. Aber die Schweizer Marine gibt es tatsächlich – in gewisser Weise. Sie wird derzeit sogar auf Vordermann gebracht. Vierzehn neue Patrouillenboote aus finnischer Produktion werden zwischen 2019 und 2021 in Dienst genommen, jedes ausgestattet mit einer vollautomatischen 12,7-mm-Kanone, mit der sich leicht gepanzerte Fahrzeuge zu Land und auf dem Wasser sowie tieffliegende Helikopter ausser Gefecht setzen lassen. Die Seestreitkraft – im Fachjargon Motorbootkompanie 10 – verteidigt die Schweizer Grenzen gegen Feinde, die von Deutschland, Frankreich und Italien aus angreifen könnten, und zwar auf dem Bodensee, dem Genfersee, dem Luganersee und dem Lago Maggiore. Kurioserweise liegt die Trainingsbasis allerdings am Vierwaldstättersee – mitten im Landesinneren. Von dort aus können die Boote per Lkw zu den jeweiligen Seen transportiert werden, auf denen gegebenenfalls Verteidigungsbedarf besteht.

Jedes der vierzehn Boote vom Typ Patrouillenboot 16 wiegt neun Tonnen und hat eine Ladekapazität von maximal einer Tonne. Die Schweizerische Nationalbank wiederum hält 1040 Tonnen Goldbarren im Wert von 41 Milliarden Franken vorrätig, jeder davon halb so gross wie ein Brotlaib und 12 Kilogramm schwer. Der Goldbestand wird an einem streng geheimen Ort gelagert – der sich, wie ein Reporter der Zeitung Der Bund 2008 herausfand, zufälligerweise genau unter dem Bundesplatz in Bern befindet. Der Bundesplatz seinerseits liegt unmittelbar vor dem Bundeshaus, wo die Bundesversammlung tagt und der Bundesrat seine Sitzungen abhält. Wenn im Sommer 26 Fontänen ihre unvorhersehbaren Wasserstrahlen direkt aus dem Gneispflaster in die Luft schiessen, verwandelt sich der Bundesplatz in einen Wasserspielplatz. Halbnackige Kinder tollen im Nass, während unter ihnen wertvolles Edelmetall in einem Gewölbe lagert, das halb so gross ist wie der Platz und Dutzende Meter – fast bis zum Wasserspiegel der Aare hinunter – in die Tiefe reicht.

Das Gold von Bern wurde schon einmal gestohlen, bei einem der grössten Raubzüge der Geschichte. 1798 brachen napoleonische Truppen nach der Einnahme der Stadt in die Schatzkammer ein und beschlagnahmten im Namen ihres Anführers das Gold – das heute umgerechnet 126 Millionen Euro wert wäre. In mehreren Bahnwaggon-Kolonnen transportierten es die Franzosen nach Paris, wo es eingeschmolzen und in französische Francs umgemünzt wurde, um damit die Soldaten zu bezahlen.

Wollte heute ein Napoleon den Berner Schatz plündern, müsste er in das Gewölbe unter den klatschnassen Kindern eindringen und würde dort 728 Tonnen Goldbarren vorfinden. (Möglicherweise aufgrund der bitteren Erfahrung von 1798 lagert die Schweiz mittlerweile 30 Prozent ihrer Goldreserven in der Bank of England und der Bank of Canada.) Weil gleich daneben die Aare fliesst, könnte unser neuer Napoleon versucht sein, das Gold auf dem Wasserweg fortzuschaffen. Da er ja die Schweiz erobert hat, untersteht ihm nun auch die Schweizer Marine – warum also nicht die Patrouillenboot-16-Flotte der Motorbootkompanie 10 benutzen?

Aus einem einfachen Grund: Wir sprechen hier von 52 Tonnen Gold pro Boot. Da Gold eine ausserordentlich hohe Dichte hat – der Kubikdezimeter wiegt mehr als neunzehn Kilogramm –, würde es ohne grössere Probleme auf die Boote passen: Jedes Boot bekäme von dem glänzenden Metall einen hübschen Würfel, die eine Kantenlänge von nur 140 Zentimeter hätte. Diese niedlichen 52-Tonnen-Würfel würden die gesamte Schweizer Marine jedoch blitzschnell versenken. Das Gold Napoleons IV. würde auf den Grund der Aare sinken und wäre als Truppenkasse von nur sehr geringem Nutzen.

Man könnte meinen, Gold im Wasser aufzubewahren wäre mal etwas Neues – wer lagert schon Gold in einem Fluss? Doch nicht alles Gold der Schweiz ist im Besitz der Nationalbank. Laut einer Studie des Forschungsinstituts Eawag aus dem Jahr 2017 gibt es Goldvorkommen im Wert von 1,5 Millionen Franken an einem ganz unverhofften und sehr feuchten Ort: in der Schweizer Kanalisation. Besonders konzentriert findet sich dieses Gold im Klärschlamm der Kantone Jura (wo die Schweizer Uhrenindustrie beheimatet ist) und Tessin (wo drei Viertel des weltweit gewonnenen Rohgoldes raffiniert wird). Nun, vielleicht stinkt es, aber hey – eineinhalb Millionen Franken sind keine Peanuts.

Was mich auf eine Idee bringt. Nachdem die Goldlagerstätte unter dem Bundesplatz aufgeflogen ist und wir die Schweizer Marine eigentlich nicht versenken wollen, könnte sich die Nationalbank doch überlegen, das Gold an einem sehr übelriechenden und unattraktiven Ort zu verstecken. Ich möchte nicht ins Detail gehen, weil diese Zeilen ja womöglich auch von Kriminellen gelesen werden, doch einem scharfsinnigen Leser dürften meine Fingerzeige bereits genügen.

Und noch etwas zu Gold und Wasser: Würde man all die Goldbarren der Schweizerischen Nationalbank zu Blattgold hämmern, und zwar nur einen Zehntausendstel Millimeter dünn, könnte man Erstaunliches damit anstellen. Und bevor Sie nun einwenden, es sei gar nicht möglich, eine so dünne Goldfolie herzustellen, lassen Sie mich Ihnen sagen, dass dies sehr wohl machbar ist – tatsächlich war es nämlich Blattgold von genau dieser Dicke, das es dem Physiker und Nobelpreisträger Ernest Rutherford anno 1911 ermöglichte, die Struktur des Atoms zu entdecken.

Jedenfalls könnten wir jetzt dieses sehr dünne Blatt Schweizer Gold nehmen und auf ein Gewässer legen – um präzise zu sein, auf den Genfersee. Es würde beinahe perfekt darauf passen. An den Finanzmärkten wäre wahrscheinlich die Hölle los, aber Sie könnten an schönen Abenden einen wahrlich goldenen Sonnenuntergang auf dem See geniessen.

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Was passiert mit einer Leiche in einer Gletscherspalte?

Angenommen, Sie sind auf oder in einem Gletscher ums Leben gekommen. Dabei waren Sie allein – oder vielleicht gab es keine Überlebenden Ihrer Gruppe, die die REGA (Schweizerische Rettungsflugwacht) hätten rufen können, um Sie zu bergen. Vielleicht sind Sie in eine tiefe Gletscherspalte gefallen, oder Sie wurden von einem Schneesturm überrascht, von einer Lawine verschüttet, sind auf der Eisfläche an einer Verletzung oder an Unterkühlung gestorben.

Falls Sie nicht als Aas von einem Fuchs, einem Adler oder einem Geier gefressen werden, gibt es zwei Möglichkeiten, was nun mit Ihrer Leiche passiert. Ersteres geschieht mit Körpern oder Körperteilen, die in einer feuchten Umgebung von Sauerstoff abgeschnitten sind – in unserem Fall im Gletschereis oder im eiskalten Wasser am Grund einer Gletscherspalte. Man nennt diesen Prozess Verseifung. Die Organe und Weichteile Ihres Körpers verwandeln sich in eine wachsähnliche, fettige Substanz, «Adipocire» oder «Leichenwachs» genannt – manchmal grau und manchmal bräunlich, je nach Farbe Ihres Specks.

Adipocire eignet sich hervorragend als Kerzenwachs. Als der britische Arzt Augustus Granville 1825 einen öffentlichen Vortrag über die Autopsie einer Mumie hielt, erhellte er seine Worte mit selbst gezogenen Kerzen aus dem Wachs, das seiner Vermutung nach zur Konservierung der Mumie benutzt worden war. Tatsächlich brannten sie dank des verseiften Körperfetts der Mumie.

Granvilles Fehlschluss zeigt uns, dass Mumifizierung – die zweite Möglichkeit – und Verseifung an ein- und demselben Leichnam auftreten können. Im Gegensatz zur Verseifung findet Mumifizierung durch Austrocknung des Körpers statt, etwa auf der Oberfläche eines Gletschers aufgrund trockener Luft und eisiger Winde. Die Weichteile schrumpfen und die Haut wird hart und ledrig. Wenn Sie halb unter dichtem Schnee begraben liegen, bringt Ihr Körper beides gleichzeitig zuwege: Über dem Schnee wird er mumifiziert, und darunter verseift er.

Ein mumifizierter Körper kann Tausende von Jahren überstehen, vorausgesetzt er wird kühl gehalten. Dies war das Los von Ötzi, dem «Mann aus dem Eis», der mehr als 5000 Jahre im oberen Bereich des Niederjochferners, eines Gletschers an der österreichisch-italienischen Grenze, eingefroren war. Als Ötzi 1991 aus dem Eis auftauchte, identifizierte eine Züricherin die über 5000 Jahre alte Leiche fälschlicherweise als die ihres Vaters, der erst seit einem Jahrzehnt vermisst wurde. So gut hatte sich Ötzi gehalten.

Für einen Leichnam im Eis war Ötzi untypisch. Er lag ganz oben am Gletscher an einer flachen Stelle, wo sich das Eis nicht bergabwärts schob. 1991 war schlicht alles Eis über ihm weggeschmolzen. Vermutlich würde Ihre Leiche nicht so reglos an Ort und Stelle verharren, denn die meisten Gletscher bewegen sich, und das auf komplizierte Weise.

Denn Gletscher fliessen nicht einfach Berge hinunter wie zäher Sirup, das Eis in ihnen bewegt sich auch in vertikaler Richtung zur Oberfläche. Da ständig Schnee hinzukommt und sich oben am Gletscher dann in Eis verwandelt, rutscht alles, was dort liegt – auch Ihr Leichnam – immer tiefer unter die Eisoberfläche. Daher werden Sie zwar einerseits durch das Fliessen des Gletschers talwärts geschoben, gleichzeitig versinken Sie aber auch immer tiefer in seinem Inneren.

Der untere Teil des Gletschers, wo mehr Eis schmilzt als hinzukommt, wird Zehrgebiet genannt. Alles, was im Gletscher eingeschlossen ist, steigt hier langsam an die Oberfläche, und was bereits auf der Oberfläche ist, bleibt auch dort. Wenn Sie weiter oben, im so genannten Nährgebiet, zu Tode kommen, egal ob Sie in eine Spalte des Gletschers gefallen oder auf seiner Oberfläche erfroren sind – und auch, falls Ihre Tante Bertha Sie vergiftet hat –, versinkt Ihr Körper zuerst immer tiefer im Eis und steigt dann langsam wieder an die Oberfläche, während der Gletscher Zentimeter um Zentimeter ins Tal fliesst. Falls Sie andererseits im Zehrgebiet in eine Gletscherspalte fallen, sinken Sie gar nicht erst ein, sondern schieben sich auf dem Weg zur Gletscherzunge an die Oberfläche. Sind Sie im Zehrgebiet auf der Eisfläche erfroren, dann bleiben Sie dort liegen und rutschen einfach bergabwärts.