Kosovo, die zwischen Albanern und Serben umstrittene autonome Provinz des früheren Jugoslawiens, hat sich gegen den Widerstand Serbiens 2008 für unabhängig erklärt. Erich Rathfelder, seit 1987 immer wieder als Korrespondent vor Ort, hat den Konflikt zwischen Serben und der albanischen Bevölkerungsmehrheit hautnah verfolgt: die Aufhebung des Autonomiestatuts 1989, den gewaltlosen Widerstand der Albaner, den bewaffneten Kampf der UÇK, die Intervention der NATO im Jahr 1999, anschließend die Phase der zivilen Übergangsverwaltung. Im Zentrum steht das Schicksal der Menschen. Die wichtigsten lokalen und internationalen Akteure reflektieren, durchaus selbstkritisch, die politische Entwicklung und ihr eigenes Handeln.
Erich Rathfelder, 1947 geboren, war in den 80er Jahren Osteuroparedakteur der taz und lebt seit 1992 als freier Journalist in Sarajevo und Split. Veröffentlichungen u. a. Krieg in Europa (Hg.). Reinbek 1992; Sarajevo und danach. München 1998; Schnittpunkt Sarajevo. Berlin 2006.
Kosovo
Geschichte eines Konflikts
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010
Originalausgabe
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-79620-7
www.suhrkamp.de
Vorwort
1 Freudenfeier
2 Annäherung an Jugoslawien
3 Serben und Albaner 1987
4 Kosovo spaltet Jugoslawien
5 Kosovo im Schatten der osteuropäischen Revolutionen
6 Kosovo und Großserbien
7 Apartheid und Schattenstaat
8 Vom Pazifismus zum offenen Widerstand
9 Der Krieg im Kosovo 1998
10 Verhandlungen mit Deadline
11 Der Krieg der NATO gegen Serbien
12 Die Rückkehr und die Zeit der Gesetzlosigkeit
13 Die Gunst der Stunde
14 Die Herrschaft der UNMIK und die Ereignisse von 2004
15 Die Quadratur des Kreises
16 Die neue Freiheit - die Republik Kosovo
Schlußwort
Anhang
Karten
Chronik
Als ich im Jahre 1987 zum ersten Mal das kleine Land auf dem Balkan besuchte, konnte sich niemand vorstellen, daß die am Rande des alten Jugoslawien liegende autonome Provinz Kosovo einmal ins Zentrum der Weltpolitik rücken würde. Die abseits gelegene Provinz war arm, begrenzt durch einen Eisernen Vorhang zu Albanien, besaß schlechte Straßen und wenige Verbindungen zur Außenwelt. Im Bewußtsein der Welt gab es den Kosovo nicht.
»Heute existieren wir immerhin auf der Landkarte«, sagte mir der Präsident der Republik Kosova Fatmir Sejdiu im Sommer 2009. Ich versuche in diesem Buch, die dramatische Entwicklung von 1987 bis 2009 zu beschreiben und die wichtigsten Akteure zu Wort kommen zu lassen. Als Journalist hatte ich das Privileg, die Entwicklung dieser Jahre hautnah mitzuerleben: den Aufstieg der serbischen Nationalisten, die Etablierung des Milošević-Systems, die Abschaffung des Autonomiestatuts, das durch den Kosovokonflikt provozierte Zerbrechen Jugoslawiens, den passiven und friedlichen Widerstand der Kosovoalbaner während der Kriege in Kroatien und Bosnien 1991-1995, den Aufbau eines Apartheidsystems und die Unfähigkeit Europas und der Welt, beruhigend auf den Konflikt einzuwirken. Ich war im Kosovo, als der bewaffnete Widerstand begann, als 1998 der Aufstand der Albaner in einen Krieg zwischen der Kosova-Befreiungsarmee UÇK und der serbischen Armee mündete. Und ich erlebte 1999 den Krieg der NATO gegen Serbien, war also Zeuge des ersten Angriffs des westlichen Bündnisses auf einen souveränen Staat – für Deutschland der erste Krieg seit 1945 –, schrieb danach über den Aufbau des UN-Protektorats, die Erklärung der Unabhängigkeit und das Leben im neuen Staat.
Schon bei der Suche nach einem Titel für dieses Buch zeigte sich die gesamte politische und historische Problematik dieses kleinen und seit Jahrhunderten zwischen Albanern und Serben umkämpften Landstrichs.
Der österreichische Diplomat Wolfgang Petritsch gab vor zehn Jahren seinem Buch über den Konflikt den Titel Kosovo-Kosova. Damit reflektierte Petritsch die von beiden Seiten erhobenen Ansprüche. Der serbische Name Kosovo steht neben dem albanischen Kosova. Damals, kurz nach der Intervention der NATO 1999, war über den endgültigen Status des danach von den Vereinten Nationen regierten Landes noch nicht entschieden worden. So war der Buchtitel der politischen Lage durchaus angemessen.
Heute ist das Dilemma größer. Am 17. Februar 2008 wurde Kosovo/Kosova in den Augen der albanischen Bevölkerungsmehrheit zur unabhängigen Republik Kosova. Für sie muß das Land jetzt Kosova heißen. Alle deutschsprachigen Staaten haben die Republik Kosova diplomatisch anerkannt, demnach müsse dieser Tatbestand auch im Sprachgebrauch seinen Niederschlag finden, argumentieren albanische Freunde. Verwende ich also Kosovo, gerate ich in Gefahr, von der Mehrheit der Bevölkerung als jemand angesehen zu werden, der mit dem Gebrauch des serbischen Namens die Besitzansprüche Serbiens auf das Land unterstützt. Verwende ich aber Kosova, ignoriere ich, daß die Mehrheit der Staaten der Welt den neuen Staat noch nicht diplomatisch anerkannt hat.
Die Neudefinition stößt zudem auf die Trägheit des Sprachgebrauchs. Und auf internationale Übereinkommen. Kosovo ist eingeführt und üblich, nicht nur im Deutschen, auch in anderen Sprachen. Die UN und die internationale Staatengemeinschaft verwenden durchgängig die Bezeichnung Kosovo. In allen internationalen Verträgen heißt es Kosovo und nicht Kosova, jedoch auch nicht Kosovo-Metohija (Kosovo-Kirchenland), was in Serbien gebräuchlich ist.
Um der aktuellen Situation gerecht zu werden, habe ich mich entschlossen, in meiner Darstellung der Geschichte des Landes seit 1987 bei der bisher üblichen Bezeichnung Kosovo zu bleiben. In den Interviews und in direkter Rede sprechen Albaner von Kosova, die Serben und die internationalen Akteure von Kosovo. Die Orte sind in beiden Sprachen bezeichnet, sie werden nach Möglichkeit jeweils aus der Perspektive des Sprechenden benutzt.
Der Kosovokonflikt hat in fast allen europäischen Gesellschaften Gräben aufgerissen. Vor allem im linken Spektrum steht fest, daß mit der NATO-Intervention 1999 gültiges Völkerrecht gebrochen wurde. Dies ist eine Einschätzung, die der größte Teil der Öffentlichkeit und die meisten verantwortlichen Politiker nicht teilen können. Die Frage, ob die Durchsetzung von Menschenrechten höher einzuschätzen sei als die Respektierung der Machtverhältnisse im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, ist letztlich eine Gewissensentscheidung.
Nach wie vor ist innerhalb der EU umstritten, wie man sich zum Kosovokonflikt verhalten soll. 22 Mitgliedstaaten haben bisher die Unabhängigkeit Kosovos diplomatisch anerkannt, die übrigen fünf noch nicht. Zeitweise schien sich sogar ein gefährlicher neuer Ost-West-Konflikt zwischen den wichtigsten Staaten Europas, den USA und Rußland anzubahnen, der heute zwar an Brisanz verloren hat, dessen Gefahr jedoch keineswegs überwunden ist.
In diesem Buch versuche ich, die dramatische Geschichte Kosovos seit meinem ersten Besuch 1987 nachzuzeichnen und zu erklären. Dabei verlasse ich mich zuallererst auf meine eigenen Erfahrungen. Für mich sind die politischen Akteure wichtig – ihre Entscheidungen haben schließlich das Schicksal von Millionen Menschen beeinflußt –, doch versuche ich, gleichermaßen die Sichtweisen ganz normaler Menschen einzufangen und die Lebensumstände der Bevölkerung während der dramatischen Ereignisse zu beschreiben.
Der Konflikt um den Kosovo ist noch immer nicht beendet. Wenn Serbien zwischen der Integration in die EU und Kosovo wählen soll, würde es sich für Kosovo entscheiden, sagte kürzlich der serbische Außenminister. Für Serbien ist der Verlust Kosovo-Metohijas, das von der nationalen Geschichtsschreibung als »Wiege der Nation« betrachtet wird, sicherlich äußerst schmerzlich. Für die albanische Bevölkerungsmehrheit jedoch wurde die Unabhängigkeit Kosovas zur Bedingung für das eigene Überleben.
Das Buch hat nicht den Anspruch, die Entwicklung Kosovos allumfassend zu beleuchten. Doch möchte ich gern Verständnis für das Land und seine Bewohner wecken. Mein Gang durch die Geschehnisse der zurückliegenden 22, für das Land entscheidenden Jahre wird dem Leser – da bin ich mir sicher – neue Erkenntnisse ermöglichen.
Ich danke meinen Redaktionskollegen von der Presse in Wien, dem Bonner General-Anzeiger, vor allem aber der tageszeitung Berlin, die mir in all den Jahren Unterstützung und Rückendeckung gegeben haben.
Am 17. Februar 2008 war das Zentrum von Prishtina (Priština), der Hauptstadt der »Republik Kosovo«, für den Autoverkehr gesperrt. Die vor wenigen Monaten ins Amt gewählte Regierung hatte für den Tag, an dem die Unabhängigkeit der ehemaligen serbischen Provinz ausgerufen werden sollte, die Anweisung gegeben, möglichst geordnet zu feiern. Die auf dem südlichen Balkan üblichen Schüsse in die Luft waren untersagt, Feuerwerk sollte in möglichst weiter Entfernung von serbischen Siedlungen abgehalten werden. Den internationalen Organisationen, der UN-Mission im Kosovo, der EU-Polizei und den internationalen KFOR-Truppen wurde versprochen, daß es von seiten der Kosovoalbaner keine Provokationen geben würde.
Und die Menschen hielten sich daran. Fast neun Jahre nach dem Einmarsch der NATO-Truppen im Kosovo und dem Aufbau eines UN-Protektorates wähnten sich endlich alle, die schon seit Jahrzehnten die Unabhängigkeit des Landes von Serbien herbeigesehnt hatten, am Ziel. Tausende defilierten bei klirrender Kälte und im Kampf gegen die Windböen über den neugepflasterten Mutter-Teresa-Boulevard im Zentrum der Stadt. Die Flaniermeile entlang der früheren Tito-Straße endet am Hotel Grand Prishtina, dort war das überdimensionierte Wandgemälde des ersten Präsidenten der Albaner Kosovos, Ibrahim Rugova, zu bestaunen.
Manche hatte es schon am Morgen zum Grab des »Vaters der Nation« gezogen, der im Januar 2006 an Krebs gestorben war. Ausgerechnet er, der Mann mit dem Schal, Initiator eines langen und gewaltlosen Kampfes für die Unabhängigkeit, durfte diesen Tag, für den er so beharrlich gekämpft hatte, nicht mehr erleben. Tausende verharrten auf dem Friedhof oberhalb der Stadt in Schweigen, sie unterdrückten ihre Tränen nicht. Es war eine Gelegenheit, würdig und in stiller Andacht der mehr als 13 000 Toten des letzten Krieges und der eigenen Familienmitglieder zu gedenken, die im Kampf getötet worden waren oder während der Flucht oder in serbischen Gefängnissen gelitten hatten.
Später traf man sich in den zahllosen Cafés der Innenstadt, lachte und schwatzte mit den vor Jahren ins Ausland geflüchteten Familienmitgliedern und Freunden aus alter Zeit. Erst als am Nachmittag die Zeremonie im Parlament auf allen Fernsehkanälen übertragen wurde, kehrte wieder etwas Ruhe ein.
Hashim Thaçi, der einstige politische Führer der »Kosova Befreiungsarmee« UÇK und gegenwärtige Ministerpräsident, traf den Ton, der die Stimmung des Tages zum Ausdruck brachte. Der neue Staat sei für alle seine Bürger da, erklärte er und erinnerte an die Opfer der jahrzehntelangen Unterdrükkung. Er fand versöhnliche Worte für die Serben im Lande. In serbischer Sprache forderte er sie auf, teilzuhaben an der Zukunft des neuen, demokratischen und multiethnischen Staates. »Von heute an ist Kosova stolz, unabhängig und frei.« Die Menschen im Lande hätten »nie den Glauben an den Traum verloren, daß wir eines Tages zu den freien Nationen dieser Welt gehören werden«, rief er aus. »Nie wieder wird Kosova von Belgrad beherrscht werden.« Diese Worte trafen die aufgewühlten Kosovoalbaner ins Herz.
Nach der Zeremonie wurde die neue Fahne gehißt. Die Flagge zeigt sechs Sterne in einem Bogen über den Umrissen des neuen Staates, gold auf blauem Grund. Die Sterne stehen für die ethnischen Gruppen der Albaner, Roma, Serben, Türken, Bosniaken und der Goranen (beides muslimische Slawen). Um diese Flagge war ein heftiger Streit entbrannt, hatte sie doch mit den traditionellen Farben der Albaner nichts gemein. Das traditionelle Weinrot mit dem schwarzen, doppelköpfigen Adler war sogar im alten, kommunistischen Jugoslawien seit 1974 erlaubt gewesen.
Doch die UN-Mission und die Europäer hatten vor der Unabhängigkeitserklärung auf einer neuen Flagge bestanden. Sie sollte jede symbolische Verbindung des neuen Staates zu Albanien negieren. Und sie sollte zeigen, daß die Republik Kosovo trotz der überwältigenden Mehrheit der Albaner – gut 90 Prozent der Bevölkerung – als multiethnischer Staat in die Unabhängigkeit entlassen wird. Das Blau sollte für die europäische Zukunft stehen.
Dieser Streit interessierte die Feiernden nicht. Als die neue Flagge endlich verteilt wurde, rissen sich die Leute darum. Egal unter welcher Flagge, Hauptsache, Kosova wird unabhängig, riefen manche in ihrem Überschwang. Immerhin hatte die neue Hymne ein Albaner komponiert. Auch die Ode an die Freude erklang, um die Verantwortung Europas für den jüngsten Staat auf dem Kontinent zu unterstreichen.
Nach der Zeremonie waren nur lachende und freundliche Gesichter zu sehen. Vor allem junge Leute zogen mit den alten albanischen und neuen kosovarischen Fahnen durch die Straßen. Das kollektive Glücksgefühl war mitreißend, ähnlich wie in der Nacht, als in Berlin die Mauer fiel. Nach den Jahrzehnten der Unfreiheit, dem Krieg in den neunziger Jahren, dem Einmarsch der NATO und dem Leben in einem UN-Protektorat gab es endlich Grund zur Hoffnung. Eine EU-Mission würde Kosova auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union vorbereiten, das Land würde einen gleichberechtigten Part im Konzert der Nationen spielen, so hatten es die führenden Politiker den Menschen versprochen. Mit europäischem Beistand, mit künftigen Investitionen würde sich das Land ohne Fesseln entwickeln und selbst mit der überdimensionalen Arbeitslosigkeit von weit mehr als 50 Prozent fertig werden.
Auch dem alten Kellner im Restaurant des Hotel Ilirija sah man die Freudenstimmung an. Der Mann mit dem zerknitterten Gesicht, der immer unscheinbar in einer Ecke stand und von dort aus die Gäste beobachtete, um augenblicklich jeden ihrer Wünschen erfüllen zu können, hatte noch nie über sich und seine Geschichte gesprochen. Sich vorsichtig und still zu verhalten hatte zur Überlebensstrategie dieser Generation gehört, nicht nur in den Ländern des totalitären Sozialismus, sondern auch hier, in der ehemals zu Jugoslawien gehörenden autonomen Provinz Kosovo.
Mit Tränen in den Augen gab er dem ihm von vielen Besuchen bekannten Gast die Hand. Als sei eine über Jahrzehnte verinnerlichte Angst von ihm abgefallen, brach es aus ihm heraus: »Von nun an werden sie nicht mehr über uns herrschen können. Jetzt sind wir frei.« Und er erzählte mir, wie er vor 40 Jahren als Kellner nach München gekommen war. Der deutsche Chef habe ihn persönlich mit Handschlag begrüßt. »In Deutschland wurden wir Albaner wie Menschen behandelt, die Serben aber spielten sich immer als Herren auf. Nie hat mir ein serbischer Chef die Hand gereicht.« Er bedauerte, wegen eines Unglücksfalles in seiner Familie noch in den achtziger Jahren in den Kosovo zurückgekehrt zu sein. Und er fragte: »Was meinen Sie, wird das Leben hier jetzt wirklich besser werden?«
An künftige Probleme wollte an diesem Tag niemand denken. Draußen auf dem Boulevard, der den Namen der aus Makedonien stammenden albanischen katholischen Nonne Mutter Teresa trägt, drängten sich die Menschen. Viele Bekannte waren darunter, Menschen, die ich während der letzten zwanzig Jahre häufig getroffen hatte. Hajdar und Ladrija Domi, die 1999 als älteres Ehepaar sogar die Zeit der Vertreibung durch serbische Polizei und Milizen überlebt haben, weil es ihnen gelungen war, sich in einer Wohnung gegenüber dem Hauptquartier der serbischen Geheimpolizei zu verstecken. Oder der als kritischer Intellektueller bekannte Shkelzen Maliqi, der sich 1999 plötzlich im Exil in Makedonien wiederfand und in dem damals berühmt gewordenen Café Arbi in Tetovo einer ungewissen Zukunft entgegensah. Eingekeilt zwischen anderen Emigranten erklärte Shkelzen damals, er habe Thomas Mann und die gesamte deutsche Exilliteratur gelesen und sich niemals vorstellen können, eines Tages in die gleiche Lage zu kommen.
Zurück in der Heimat begrüßte er an diesem Tag in der Menge Bekannte und Freunde. Der ehemalige Ministerpräsident des Schattenstaates der neunziger Jahre, Bujar Bukoshi, ein Arzt und derzeitiger Parlamentsabgeordneter, wußte, welch große Verantwortung auf die Albaner Kosovos zukam. Sie hätten seit Jahrhunderten immer unter einer Fremdherrschaft gelebt. »Jetzt müssen wir uns selbst regieren.« Doch auch er tauchte mit breitem Lächeln in der Menge unter.
Beqë Cufaj, der in Deutschland lebende Schriftsteller, Veton Surroi, Zeitungsverleger und politischer Vordenker während der letzten Jahrzehnte, zahlreiche Journalisten und Künstler, albanische Mitarbeiter internationaler Organisationen und andere Bekannte waren in den Straßen von Prishtina unterwegs. Auch die Abgeordnete des Europaparlaments, Angelika Beer, damals Mitglied der Grünen-Fraktion, war zu sehen, während sich das offizielle Europa zurückhielt. Von den Regierungschefs der mächtigen Staaten war niemand gekommen.
Dennoch, die Stadt war im Freudentaumel. Studenten und andere junge Leute tanzten und tranken in den Clubs und Kneipen bis in die Morgenstunden. Brot und Arbeit, Perspektive und Würde, das verhieß die staatliche Unabhängigkeit Kosovas.
Am nächsten Morgen wollte die Stadt gar nicht aufwachen. Nur die Arbeiter der Müllabfuhr waren unterwegs, um Pappbecher und abgebrannte Feuerwerkskörper zu beseitigen. Bald lichtete sich der Nebel und gab den Blick frei auf die winterliche Stadt. Zwischen zwei Hügeln im Norden und Süden gelegen, hat sich Prishtina in letzter Zeit gewaltig ausgedehnt. Auf den vor wenigen Jahren noch kahlen Erhebungen stehen mehrstöckige Gebäude, an den Ausfallstraßen in Richtung Westen und Süden ist von den Wiesen, die sich hier früher befanden, nichts mehr zu sehen. Die ehemals vor allem von Serben bewohnte Nachbarstadt Kosovo Polje (Fushë Kosovë) ist eingemeindet, überall entstehen neue, immer höhere Gebäude.
Riesige Einkaufszentren sind aus dem Boden geschossen, Tankstellen, moderne Glasfassaden – Sitz neu angesiedelter Firmen. Die Einfamilienhäuser der serbischen Siedlung Čaglavica sind nur zu erahnen, fast verschluckt von den gläsernen Riesen zu beiden Seiten der vierspurigen Ausfallstraße. Die früher über freies Feld führende Straße zu der zehn Kilometer entfernten serbischen Enklave Gračanica ist gesäumt von mehrstöckigen neuen Wohn- und Geschäftsgebäuden.
Vor zwanzig Jahren war Prishtina/Priština eine vor sich hindämmernde Provinzstadt mit 150 000 Einwohnern; heute dürften es 400 000 sein. Genau weiß das niemand. Eine Volkszählung hat es schon lange nicht mehr gegeben. Prishtina wächst – ohne auf die Natur oder ethnische Enklaven Rücksicht zu nehmen.
Auch drüben in der serbischen Enklave um das Kloster Gračanica und die Kirche mit den berühmten byzantinischen Fresken hatten in der Nacht noch lange die Lichter gebrannt. Ernste und bedrückte Gesichter sahen zum Feuerwerk über Prishtina hinüber. Zwischenfälle gab es nicht. Doch das Angebot von Hashim Thaçi anzunehmen wäre niemandem eingefallen. »Die Albaner haben ihre Unabhängigkeit ausgerufen, das können sie hundertmal tun, wir akzeptieren sie nicht«, sagte ein älterer Mann. Und einige der Umstehenden waren sich einig, daß die Regierung in Belgrad eine Antwort finden würde.
Noch lebten Zehntausende Serben in den nach dem Krieg 1998/99 verbliebenen Enklaven. Die größte liegt im Norden, bei Mitrovica, dort wo die serbischen Siedlungsgebiete direkt an Serbien grenzen. Nach Schätzung internationaler Organisationen lebten 2008 noch etwa 100 000 bis 130 000 Serben im Kosovo.
Die Regierung in Belgrad hat seit Jahren versucht, die Verbliebenen zu halten. Aber kaum eines der Häuser in der Enklave Gračanica wurde renoviert. Nur wenige vertrauten der Zukunft und gaben Geld für ihre Häuser aus. Die Serben in Gračanica warteten ab. Vor allem die Jugend sah kaum noch eine Perspektive.
Und die Kosovoalbaner nagten an der Grenze der Enklave. Sollten serbische Familien für ihr kleines Haus mit dem Hektar Land auf mehrere hunderttausend Euro verzichten, wenn diese Summe ihnen von Albanern angeboten wurde? Aus Patriotismus bleiben oder das Geld annehmen? Eine schwierige Entscheidung. Hunderte haben sich entschieden. Und sind nach Belgrad, nach Niš oder ins Ausland abgewandert.
Auch im Büro von Joachim Rücker, bis zur Unabhängigkeitserklärung Sondergesandter der UN und der EU in Personalunion, brannte noch bis tief in die Nacht Licht. Der ehemalige SPD-Bürgermeister von Sindelfingen, seit Sommer 2006 der mächtigste Mann im UN-Protektorat, hatte sich in seinem Büro eingeschlossen und auf eine Botschaft des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon gewartet. In dieser Nacht habe er viel nachgedacht, sagte er beim morgendlichen Kaffee.
Nachdenklich schritt er in seinem Büro auf und ab. Immerhin war es ihm während dieser Jahre gelungen, der UN-Verwaltung neues Ansehen zu verschaffen. Nach jahrelangem Stillstand hatte die UN-Mission unter seiner Führung 2006 ernsthaft nach praktikablen Kompromissen zwischen Serben und Kosovoalbanern zu suchen begonnen. Der UN-Unterhändler Martti Ahtisaari hatte mit beiden Seiten verhandelt, war zwischen Prishtina und Belgrad gependelt und hatte unendlich zähe Gespräche über Detailfragen geführt. Schließlich hatte er die Ergebnisse in ein für beide Teile akzeptables Abkommen gegossen.
Das hatten Ahtisaari und Rücker zumindest gehofft. Die Kosovoalbaner hätten einige Kröten schlucken müssen. Der Plan gestand den serbischen Gemeinden eine weitgehende Autonomie zu, die ihnen sogar direkte administrative Beziehungen zu Belgrad erlaubte. Mit sechs Prozent der Bevölkerung verblieb ihnen ein Viertel des Territoriums. Für Serbien blieb zudem die Verheißung, den Status als Paria der Staatengemeinschaft zu verlieren.
Doch die Regierung unter Ministerpräsident Vojislav Koštunica lehnte ab. Serbien werde den Kosovo, das Herzland des mittelalterlichen Staates, die »Wiege des Serbentums«, niemals aufgeben, hatte Koštunica zum Entsetzen der westlichen Diplomaten, der UN und Martti Ahtisaaris erklärt.
Joachim Rücker wußte, welche Gefahren nach der einseitigen Ausrufung der Unabhängigkeit drohten. Wie viele Staaten der Welt würden den Kosovo diplomatisch anerkennen? Wie würden die Serben in Belgrad und im Kosovo auf die Erklärung der Unabhängigkeit reagieren?
Schon bald überschlugen sich die Nachrichten. Tausende von militanten Serben griffen die von der UN und KFOR bewachten Grenzübergänge im Norden an. Grenzanlagen und UN-Fahrzeuge gingen in Flammen auf, in Belgrad attackierten militante Demonstranten westliche Botschaften.
Auch nach der Unabhängigkeitserklärung blieb die Herrschaft über den Kosovo umstritten. Die Albaner im Kosovo sahen dem Treiben gelassen zu. Die NATO war im Land. Die USA und die wichtigsten Staaten Europas standen im Wort und garantierten den neuen Status. Die Serben konnten protestieren, es würde ihnen nichts nützen, meinten sie.
In der Tat: die Waagschale der Geschichte schien sich auf der Seite der Kosovoalbaner gesenkt zu haben. Doch 22 Jahre nach meinem ersten Besuch und um viele Erfahrungen reicher, hatte ich Zweifel, daß der lange Kampf um den Kosovo, um Kosova damit wirklich schon beendet war.
Herbst 1987 in Berlin. Die Redakteurin vom Dienst kam aufgeregt in die Auslandsredaktion der taz gelaufen. »Was ist denn in Jugoslawien los? Tausende serbische Frauen haben am 22. Oktober im Kosovo demonstriert. Wegen Vergewaltigung durch die Albaner. Was geht da vor?« Vor allem die weiblichen Mitglieder der Redaktion beschlossen, mich in den Kosovo zu schicken. Unterwegs sollte ich ein paarmal Station machen.
Daß sich der Vielvölkerstaat, das sozialistische Jugoslawien, in der Krise befand, wußten wir längst; damit war er für die Medien interessant. Auch in den anderen sozialistischen Ländern gärte es – darin unterschied sich Jugoslawien nicht von den Ostblockstaaten. Doch dieses Land gehörte nicht zum Warschauer Pakt. Es hatte einen eigenen Weg zum Sozialismus eingeschlagen: den jugoslawischen Selbstverwaltungskommunismus.
Jugoslawien war ein angesehenes Mitglied der sogenannten Bewegung der Blockfreien. Zu dieser Staatengruppe gehörten auch Ägypten, Indien und andere wichtige Nationen, die sich weder dem Warschauer Vertrag noch der NATO zugehörig fühlten. Nicht nur für die in der taz dominierende undogmatische, sondern für viele nichtkommunistische Linke in Deutschland und Westeuropa war Jugoslawien eine Art Hoffnungsträger. Die Menschen dort erschienen ihnen freier als in der DDR oder der Sowjetunion. Die Bürger Jugoslawiens konnten reisen und durften im westlichen Ausland arbeiten; das Land mit seiner langen Adriaküste war Ziel von Millionen Touristen. Kurz: Demokratische Sozialisten im Westen fanden das Experiment Jugoslawien sehr attraktiv. Und die jugoslawische Bevölkerung – so schien es nach Diskussionen mit Gastarbeitern – wohl ebenfalls. Die sechziger und siebziger Jahre wurden von den damals knapp über 22,4 Millionen Einwohnern Jugoslawiens offenbar als goldene Jahre wahrgenommen. Ich fand es aufregend, mich näher mit dem Land zu befassen.
Der Gründer des Zweiten Sozialistischen Jugoslawiens, Josip Broz, genannt Tito, Partisanenkommandeur während des Zweiten Weltkrieges, hatte bis zu seinem Tod am 4. Mai 1980 für Frieden und Sicherheit gesorgt. Die charismatische Autorität, der Übervater, der von vielen geliebte Präsident und Führer hielt das Land mit Charme, Überzeugungskraft und Gewalt zusammen. Die Kommunisten, die gegen Hitler und Mussolini, gegen die Nationalisten und Faschisten im eigenen Land siegreich gekämpft hatten, führten das Land mit harter Hand zur »Brüderlichkeit und Einheit« (bratstvo i jedinstvo). Titos Kommunisten war es nach 1945 gelungen, das physisch zerstörte Land mit seinen unterschiedlichen Religionen und Sprachen wieder aufzubauen. So oder ähnlich lauteten die gängigen Beschreibungen.
Das Zusammenleben der vielen Nationen und Minderheiten stellte sich nach außen hin ebenfalls als vorbildlich dar. Denn die Südslawen (Jugo-Slawen) allein unterscheiden sich ja nicht nur durch die Religion, sondern auch durch Sprache und Schrift. Die slawische Bevölkerung Jugoslawiens setzte sich aus katholischen Slowenen und Kroaten im Norden, den orthodoxen Serben, Montenegrinern und Makedoniern sowie den Muslimen in Bosnien, Makedonien, Montenegro, den Kosovo und dem Sandžak zusammen. Während Kroaten, Serben, Montenegriner und Bosnier dem serbokroatischen Sprachraum angehören, besitzen Slowenen und Makedonier ein eigenes Idiom. Zudem ist unter den orthodoxen Bevölkerungen die kyrillische Schrift verbreitet, bei den Katholiken und Muslimen die lateinische.
Neben den »konstituierenden« slawischen »Nationen« (narod), den Slowenen, Kroaten und Serben, wurden andere Volksgruppen mit eigener Sprache und Kultur mit einer anderen Definition versehen. Die Albaner, die ja nicht nur im Kosovo, sondern auch in Serbien, Makedonien und in Montenegro über Siedlungsgebiete verfügen und zahlenmäßig die drittstärkste Volksgruppe in Jugoslawien darstellten, besaßen wie die Ungarn in der Vojvodina und die Muslime Bosniens den Status einer »Nationalität« (narodnost).
Darüber hinaus garantierte die Verfassung von 1974 die kulturellen Rechte der Roma, der Türken, Bulgaren, Deutschen, Juden, Slowaken, Tschechen, Italiener etc., die als kleinere Minderheiten in Jugoslawien lebten. Vor allem für die Roma war der jugoslawische Staat ein Glücksfall. Nicht nur ihre Sprache war anerkannt, die Roma verfügten über eine eigene Presse und sogar regionale Fernsehsender, sie konnten Schulen besuchen und fanden Arbeit. Nationen, Nationalitäten und Minderheiten besaßen in Jugoslawien einen unterschiedlichen Status.
Dem allmächtigen Tito, so schwärmten damals die jugoslawischen Besucher der taz-Redaktion, sei es dank seiner persönlichen Autorität, also nicht nur seiner Machtstellung wegen, gelungen, den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten und ihm eine Perspektive zu geben. Wie wohl alle Alleinherrscher habe er aber an potentielle Nachfolger kaum einen Gedanken verschwendet, bedauerten sie.
Immerhin habe Tito mit der Verfassung von 1974 eine Struktur geschaffen, die unterschiedliche Interessen austarieren sollte, so war jedenfalls die vorherrschende Meinung in der Literatur, die ich zu Rate zog. Jugoslawien war in sechs Republiken eingeteilt: Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Makedonien sowie die zu Serbien gehörenden autonomen Regionen Kosovo und Vojvodina. Jede Republik und autonome Region verfügte über ein Parlament und eine Regierung. Im höchsten Organ des Staates, im Staatspräsidium, verfügten jede dieser Republiken und autonomen Regionen über einen Sitz und eine Stimme. Neben dem Staatspräsidium existierte eine dem gesamtjugoslawischen Parlament verpflichtete Regierung. Und da die Kommunisten keine weiteren Parteien neben sich duldeten, hatte ihre Führung letztlich alle Institutionen des zentralen Staates, der Republiken sowie der autonomen Provinzen in der Hand.
Diese Konstruktion und der Geist von »Brüderlichkeit und Einheit«, dem die herrschende Partei »Bund der Kommunisten« und die Armee verpflichtet waren, sollte nach Titos Vorstellungen in der Lage sein, die Zukunft Jugoslawiens über seinen Tod hinaus zu garantieren.
Eine Weile schien noch alles gut zu gehen. Die Institutionen Jugoslawiens schienen Bestand zu haben. Doch als es wirtschaftlich bergab ging, zeigten sich die ersten Risse im Gebälk. Die Inflation lag 1987 bei 170 Prozent; Korruptionsskandale unterhöhlten die Autorität des Systems. Die Republiken und autonomen Regionen entwickelten zunehmend ein Eigenleben. Mißtrauen, Mißgunst und Vorurteile gegenüber anderen Volksgruppen äußerten sich vernehmlich. Der Geist der »Brüderlichkeit und Einheit« begann zu schwinden, berichteten Journalisten, unter ihnen Victor Meier von der Neuen Zürcher Zeitung.
Die Herrschenden wurden unruhig. Der »Bund der Kommunisten«, die gesamtjugoslawische politische Führung, die Bürokratie in Belgrad und die Armee hatten die Zügel noch in der Hand, reagierten aber zunehmend nervös auf jegliche Kritik. Es regte sich eine schnell erstarkende Opposition innerhalb und außerhalb der Partei, die demokratische Rechte einforderte. Und öffentlich Kontakte zu ausländischen Journalisten suchte.
Die erste Station meiner Reise war Ljubljana. Die Hauptstadt der slowenischen Teilrepublik hatte sich auch im Sozialismus das Flair ihrer habsburgischen Vergangenheit bewahrt. Die Häuserzeilen der Altstadt mit ihren Renaissance-, Barock- und Jugendstilfassaden unterschieden sich kaum von der Pracht in Graz, Salzburg, Bratislava oder Győr. Und die Speisekarten der Restaurants boten vor allem Schnitzel und Strudel und kaum Ćevapćići oder Ražnjići an.
Die malerische Idylle verbarg so manche Überraschung. Vladimir Šeks, ein Richter aus Kroatien, wollte in der größten Buchhandlung der Stadt sein neues Buch vorstellen. Einige hundert Menschen drängten sich in der Buchhandlung, Schriftsteller, Journalisten, Professoren, alte Partisanen, Funktionsträger der Partei, Studenten und Aktivisten der damals entstehenden slowenischen Alternativszene waren gekommen, um den oppositionellen Kroaten zu erleben. Er gehörte zu jener Gruppe von mehreren hundert unliebsamen Personen, die in ihren eigenen Republiken bei der Führung der Partei, den Geheimdiensten oder einfach bei den lokalen Behörden in Ungnade gefallen und nach Slowenien geflohen waren.
Tout Ljubljana lauschte den Ausführungen des Richters, der das jugoslawische Justizsystem kritisierte. In seinem Buch, das nur in slowenischer Sprache erscheinen durfte, beschrieb er, wie Anklagen konstruiert und Prozesse inszeniert wurden, wie politische Gefangene in den Gefängnissen nicht nur durch die Wärter, sondern auch durch kriminelle Mithäftlinge mißhandelt wurden. »Sie können sich vermutlich kaum vorstellen, was es bedeutet, hier in Slowenien offen über diese Problematik reden und publizieren zu können. In Kroatien geht das noch nicht. Auch in Slowenien könnte ich nicht wieder Richter werden. So weit ist sie noch nicht, unsere sozialistische Demokratie«, sagte er mir später beim Wein.
Slowenien gab damals Dissidenten wie Vladimir Šeks Sicherheit, schützte politisch Verfolgte aus Bosnien, Serbien und Kosovo. Wie jene Männer in der Ecke mit kantigen Gesichtern und schwieligen Händen, die so gar nicht zu dem erlesenen intellektuellen Publikum passen wollten und dennoch ihren Platz gefunden hatten. Es war eine heterogene Szene, keineswegs geschlossen in ihrer Haltung gegenüber dem noch sozialistischen Staat, eine muntere Mischung aus klassischen Dissidenten, aufmüpfigen Künstlern, Arbeitern, Konservativen und offenen Antikommunisten.
Vladimir Šeks sollte einige Jahre später Justizminister unter dem kroatischen Präsidenten Franjo Tuðman werden und sich am rechten Rand der ohnehin schon rechtspopulistischen Regierungspartei »Kroatische Demokratische Gemeinschaft« (HDZ) einordnen. Doch eine grundlegende Reform des Justizsystems in Kroatien hat er nicht durchgesetzt. Damals aber gehörte er zu jenen, die Sloweniens kleine Freiheit genießen durften.
»Wissen Sie, wir in Slowenien haben eine ganz andere Kultur als die anderen Teile Jugoslawiens«, erklärte am nächsten Morgen eine Redakteurin der von den slowenischen Kommunisten herausgegebenen Wochenzeitschrift Teleks. In der Cafeteria im neunten Stock des Verlages wies sie auf die demokratischen Traditionen des Landes hin. Slowenien sei wie Kroatien immer mit Mitteleuropa, mit Wien verbunden gewesen, während die südlichen Republiken mehr als ein halbes Jahrtausend von den Türken beherrscht wurden. Die unterschiedlichen historischen Wurzeln hätten unterschiedliche Mentalitäten hervorgebracht, die natürlich in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen eine große Rolle spielten. Slowenien setze sich für eine Liberalisierung von Staat und Gesellschaft ein, die slowenische kommunistische Partei strebe einen demokratischen Sozialismus an, sei aber bereit, Kompromisse mit den anderen Republiken einzugehen.
Protestbereit und unkonventionell gaben sich dagegen die Mitglieder der Zeitung der kommunistischen Jugend, der Mladina. Ein Plakat, gut sichtbar am Eingang des Redaktionsgebäudes angebracht, zeigte zwei Polizisten, die einen mit Handschellen gefesselten Karl Marx abführen. Eine Dame in Edelpunk führte durch die Räume, deren Wände gepflastert waren mit Plakaten für Musikveranstaltungen, Frauentreffs und Antiatomkraftdemonstrationen. Die Redakteure fühlten sich als Teil einer neuen sozialen Bewegung, die mehr mit den damaligen westlichen Protestbewegungen zu tun hatte als mit den Dissidenten des Ostblocks.
»Mit jeder Ausgabe unserer Zeitung testen wir die demokratische Ernsthaftigkeit unserer Führung, wenn wir Skandale im Einparteienstaat oder, schlimmer noch, in der Armee aufdecken oder über die Kriegsdienstverweigerer schreiben«, erklärte Franci Zavrl, damals Chefredakteur des Blattes. Milan Kučan, der Parteichef, halte zwar ab und zu seine schützende Hand über die Redaktion, glücklich über die Veröffentlichungen sei er aber auch nicht immer. »Wir beschäftigen eine Armada von Anwälten, um uns gegen die ständigen Anklagen zu wehren. Die Parteielite muß lernen, daß wir in unserer Gesellschaft den demokratischen Freiraum Schritt für Schritt erweitern.«
Die kleine Freiheit war also durch die Gesellschaft erkämpft und nicht nur durch die Reformer in der Partei initiiert worden. Den Reformern in der slowenischen Partei kamen die neuen gesellschaftlichen Bewegungen sehr gelegen, der gesellschaftliche Druck von unten erleichterte ihnen die Argumentation innerhalb der slowenischen Partei selbst, aber auch gegenüber der Zentrale. Die Konflikte waren durch die wirtschaftliche Entwicklung vorprogrammiert.
Slowenien produzierte mit nur zwei Millionen Einwohnern, was damals kaum zehn Prozent der Bevölkerung des Gesamtstaates entsprach, mehr als 20 Prozent des Bruttosozialproduktes und hatte einen Außenhandelsanteil mit den westlichen Ländern von stolzen 38 Prozent. Slowenien verdiente also nicht nur das Geld, das der Gesamtstaat ausgab, sondern hatte deshalb auch zu wenig Ressourcen, seine eigenen Industrien in der Zeit der beginnenden weltweiten Computerisierung zu modernisieren. Reformfreudige Wirtschaftswissenschaftler waren schon in den Jahren zuvor nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, daß dieser Zustand nicht aufrechterhalten werden könne. Slowenien müsse mit der Liberalisierung und Modernisierung der Wirtschaft voranschreiten, um nicht den Anschluß an die westlichen Konkurrenten zu verlieren, betonten sie.
Der Sprengsatz, der das sozialistische Jugoslawien zum Einsturz bringen würde, war gelegt. Die Slowenen drängten auf eine weitere Liberalisierung des Systems, um wirtschaftlich nicht ganz den Anschluß an das westliche Europa zu verlieren. Die kommunistischen Eliten in den anderen Teilen Jugoslawiens nahmen diese Problematik nicht ernst genug.
»Vor allem die serbischen Kommunisten bestehen auf einem zentralistischen Staat, über den sie als das größte Staatsvolk die Kontrolle behalten wollen. Hinzu kommen noch die Eigeninteressen der zentralistischen Bürokratie und der Armee«, erklärte Tomaž Mastnak, damals Professor am Institut für Marxismus-Leninismus in Ljubljana. Dieses Institut war im Unterschied zu seinem Namen von Vordenkern der slowenischen Reformen und Theoretikern der neuen sozialen Bewegungen durchsetzt. Mastnak sah Jugoslawien erst dann auf dem Weg zu einer Demokratie, wenn sich die föderalen Elemente in Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzten. Er sah aber auch die Gefahren. Denn alle kommunistischen Eliten in den Republiken befürchteten den Machtverlust. Die größte Bedrohung ging dabei von der serbischen Elite aus, die versucht habe, die Bevölkerung für eine undemokratische, autoritäre und zentralistische Lösung zu gewinnen.
An die Lage im Kosovo dachte damals jedoch kaum einer dieser demokratischen Intellektuellen in den nördlichen Republiken. Die südliche autonome Provinz lag für die Slowenen und Kroaten weit weg, irgendwo da unten, im Dunkeln. »Wir fuhren nach Italien, nach Triest und Venedig, waren neugierig auf Wien, wir kannten Belgrad und die kroatische Küste und manche von uns auch noch die Musikszene in Sarajevo, aber Kosovo, den kannten wir nicht«, sagte später einmal der 1993 in Sarajevo getötete Ivo Standeker, damals Reporter bei der Mladina und mit Witz und Ironie eine der treibenden Kräfte der slowenischen Öffnung.
Die nichtserbische slawische Bevölkerung Jugoslawiens in Slowenien, Kroatien und Bosnien hatte ohnehin kaum Interesse an den fast zwei Millionen Kosovoalbanern. Die als Zuckerbäcker und Saisonarbeiter präsenten Albaner mit ihren knittrigen Anzügen und herben Gesichtszügen waren im Norden Fremde geblieben: Gastarbeiter, die zudem in dem Ruf standen, Unruhen zu schüren, und nicht als gleichberechtigte Bürger des gemeinsamen Staates angesehen wurden. Als 1981, kurz nach Titos Tod, die albanischen Studenten in Prishtina gegen das ihrer Meinung nach unzumutbare Mensaessen demonstrierten und schließlich lautstark eine eigenständige Republik »Kosova« forderten, fühlten sich die meisten Bewohner im Norden Jugoslawiens eher mit den Polizeikräften solidarisch, die dem »Spuk« mit Panzern und scharfen Schüssen ein Ende bereiteten, als mit den getöteten oder verletzten Demonstranten. Trotzdem pumpten die nördlichen Republiken nicht unerhebliche Mittel in die zu Serbien gehörende autonome Provinz, ohne sich darum zu kümmern, ob die Gelder tatsächlich für den ihnen zugedachten Zweck verwendet wurden.
Die einzige Gruppe, die kontinuierlich das Geschehen in allen Landesteilen kritisch verfolgte, war eine Gruppe von Intellektuellen. Die udruženja jugoslavenska demokratska inicijativa, die Vereinigung für eine jugoslawische demokratische Initiative, verfügte über ein weitverzweigtes Netz von kritischen und aufgeweckten Leuten in ganz Jugoslawien. Mit ihnen wollte ich in Kontakt treten. In Zagreb lebte Žarko Puhovski, ein Philosoph und Politikwissenschaftler, den ich unbedingt treffen mußte.
Die Altstadt Zagrebs mit dem mächtigen Dom befand sich damals in einem erbärmlichen Zustand. Die Häuser der Innenstadt waren von der Luftverschmutzung schwarz gefärbt und wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden. Die Schienen der Straßenbahnen versanken zwischen den Pflastersteinen. Die Menschen hasteten, von der schummrigen Straßenbeleuchtung nur unzulänglich geleitet, durch den Nebel der Novembertage.
Zagreb sollte sich erst in den neunziger Jahren erholen und zumindest teilweise an die in der Erinnerung verklärten glanzvollen Zeiten der Habsburgermonarchie anknüpfen. Der zentrale und östliche Teil Kroatiens war über Jahrhunderte von Ungarn verwaltet worden. Und bis heute nimmt man den Ungarn übel, daß sie 1848 zwar für ihre Freiheit und Demokratisierung gekämpft hatten, im Stile einer imperialistischen Macht diese Freiheiten den Kroaten gleichzeitig aber vorenthalten wollten. Es bedurfte des kroatischen Obersten und Kommandanten Joseph Baron Jelačić, der sich mit Wien gegen Budapest verbündete, um den Ungarn ihre Grenzen aufzuzeigen. Und so ist es kein Zufall, daß der Hauptplatz in Zagreb nach ihm benannt ist. Auch war es kein Wunder, daß sich einige Jahre später viele ungarische Intellektuelle gegen die staatliche Unabhängigkeit Kroatiens ausgesprochen haben.
Wien war in den letzten Jahrzehnten für viele Kroaten richtungweisend geblieben, weil sich die kroatische Mittelschicht in Zagreb, dem habsburgischen Agram, traditionell als Teil eines in der österreichischen Hauptstadt symbolisierten Mitteleuropa fühlte. Die Mitteleuropa-Diskussion der achtziger Jahre fiel auf fruchtbaren Boden. Die Menschen in den alten Habsburgerländern entdeckten den gemeinsamen Raum, Reisegruppen aus Mailand und Venedig kamen in die Stadt, fuhren weiter nach Ljubljana, Győr, Budapest und Wien, kroatische Intellektuelle besuchten Prag und Krakau. Und wer in Zagreb etwas auf sich hielt, zeigte mit »kulturellem« Verhalten, daß er mit dem »wilden« Balkan weiter südlich wenig zu tun hatte.
Solange der Eiserne Vorhang bestand, waren die Möglichkeiten der Polen, Ungarn, Slowaken, Tschechen und der Ungarn aus Siebenbürgen beschränkt, das Interesse zu erwidern. 20 Jahre später jedoch hat der Massentourismus aus diesen Ländern Kroatien erobert.
In der Gradska Kavana am Ban-Jelačić-Platz drängte sich an einem Novembertag 1987 das Publikum. Am Nebentisch hatten es sich Musiker der Oper bequem gemacht, und einige Schauspieler des Theaters nahmen an meinem Tisch Platz. Natürlich kam man sofort ins Gespräch. Niemand nahm ein Blatt vor den Mund, und laut wurde über alle möglichen Mißstände gesprochen. Die Theater hätten nicht genug Geld, es mangele an Ausstattung und Ideen, die besten Leute würden vergrault. Kroatien werde von Belgrad gemolken, erklärten sie. Während Belgrad ausgebaut werde, flössen kaum noch Mittel in die kroatische Hauptstadt. »Die Devisenbringer, die Touristen, kommen im Sommer nach Kroatien, bloß haben wir letztlich nichts davon.«
Die kroatische Bevölkerung begann also ebenfalls, Kritik zu üben. Endlich zwängte sich Žarko Puhovski durch die Menge der Gäste. Der unerschrockene spätere Vorsitzende der »Helsinki Föderation für Menschenrechte« war schon damals einer der unabhängig denkenden Menschen in seinem Land und wurde von der sich öffnenden Presse häufig interviewt. Mit seinen kritischen Stellungnahmen machte er sich natürlich nicht nur Freunde. Die kommunistische Nomenklatura beobachtete ihn mit Argwohn, die nationale Dissidenz betrachtete ihn wegen seiner strengen antifaschistischen Haltung als ein Hindernis für die nationale Wiedererweckung.
Immerhin gebe es auch in Kroatien Ansätze zu einer Politik der Öffnung, meinte er. Und es gebe sogar Reformer in der Partei. Doch seien sie noch nicht so stark und mutig wie jene in Slowenien. Puhovski führte diesen Umstand auf die in der Gesellschaft verbreitete Angst zurück, offen und selbstbewußt nach neuen Wegen zu suchen. Den Kroaten sitze noch der Schock aus der Zeit des Kroatischen Frühlings 1971 in den Knochen, als sich – wie in der ČSSR 1968 – der Ruf nach Demokratisierung vervielfacht hatte und bis weit hinein in die Partei gedrungen war.
Die kommunistische Zentrale in Belgrad unter dem Sloweno-Kroaten Tito hatte nicht gezögert, die Bewegung mit Gewalt zu zerschlagen. Selbst viele Mitglieder der kommunistischen Nomenklatura waren damals in die Gefängnisse gewandert, darunter der Ex-Partisanengeneral und spätere Präsident des Landes, Franjo Tuðman. Von diesen Repressionen hatte sich Kroatien auch 1987 noch nicht erholt.
Franjo Tuðman sammelte zwar schon einige Gleichgesinnte und begann Kontakte zur im Lande sehr konservativen katholischen Kirche und zu den Exilanten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges aufzubauen. In einer breiteren Öffentlichkeit argumentierten die nationalen Demokraten jedoch sehr vorsichtig.
Žarko Puhovski gehörte zu einer jüngeren Generation und scheute sich nicht, seine Stimme gegen jegliche finstere Macht zu erheben. Dabei hatten es die linken Intellektuellen in Kroatien nicht leicht, ihre Position deutlich zu machen. Denn einerseits kritisierten sie natürlich die Verbrechen des Ustascha-Staates 1941-1945 unter dem Führer Ante Pavelić, blieben also damit auf der Parteilinie, lehnten jedoch andererseits pauschale Verurteilungen ab. Dennoch versuchten Intellektuelle wie Nenad Popović, Slobodan Šnajder und Žarko Puhovski sich gegen die Geister der kroatischen Vergangenheit zu wehren und gleichzeitig das sich links nennende Regime zu Diskussionen über tabuisierte Themen zu bewegen. Dazu gehörte neben dem Zweiten Weltkrieg auch das von Serbien dominierte und Kroatien unterdrückende Jugoslawien 1918-1941.
Serbische regimetreue Intellektuelle waren geneigt, den Kroaten zumindest unterschwellig eine Kollektivschuld an den Verbrechen des Ustascha-Regimes zuzuweisen. Die orthodoxe Kirche und serbische nationalistische Kreise wurden 1987 noch deutlicher. Waren nach offizieller Lesart im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac um die 80 000 Serben, Juden und Antifaschisten ermordet worden, so sprach die orthodoxe Kirche von mehreren hunderttausend, nationale Kreise in Serbien gar von mehr als einer Million.
Die Manipulation der Zahlen mußte zu kroatischen Reaktionen führen. Daß die Partisanenbewegung in Kroatien entstanden war und Serbien selbst während der deutschen Besatzung von einem Quisling Hitlers, dem Nedić-Regime, regiert wurde, taugte als Gegenargument, war aber in Belgrad nicht durchschlagend.
Puhovski und seine Mitstreiter hatten den Mut, eine ernsthafte historische Forschung zu fordern, die sich nicht scheuen dürfe, die Dinge beim Namen zu nennen und auch auf die Verbrechen des kommunistischen Regimes selbst hinzuweisen. In der Gradska Kavana analysierte er messerscharf die Lage im Lande und hoffte auf die Demokratisierung Jugoslawiens und Kroatiens. Zwar warnte der großgewachsene Ex-Sportler dabei auch vor der Gefahr eines aufkommenden Nationalismus, doch konnte er sich 1987 natürlich nicht vorstellen, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln würden. Schon zwei Jahre später aber wird er vor einem Krieg warnen und als einer der Sprecher der jugoslawischen Friedensbewegung eine internationale Intervention in Jugoslawien fordern.
Der frühere Autoput nach Belgrad gehörte in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu den berüchtigtsten und gefährlichsten Trassen Europas. Denn damals nutzten die von der langen Fahrt übermüdeten Gastarbeiter aus der Türkei und Griechenland den Landweg, um die Sommerferien in ihrem Heimatland zu verbringen. Doch auch verwegen auf der zweispurigen Straße überholende Lastwagen, überladene Personenwagen und rücksichtslose Busfahrer begründeten den schlechten Ruf des Autoput.
bratstvo i jedinstvo