Dieses Buch handelt von Rasmus Persson, elf Jahre alt. Es handelt also kein bisschen von Rasmus Oskarsson, neun Jahre alt, oder von Rasmus Rasmusson, vier Jahre alt. Wenn man etwas über Rasmus Oskarsson lesen will, muss man sich ein Buch holen, das heißt Rasmus und der Landstreicher, und wenn man mehr von Rasmus Rasmusson wissen will, muss man Kalle Blomquist, Eva-Lotta und Rasmus lesen. Diese drei Rasmusse haben nicht mehr gemeinsam als den Vornamen, der in Schweden sehr häufig vorkommt.

 

Die Autorin

In der Bankreihe ganz vorn am Fenster saß ein munterer, blauäugiger Junge mit strubbeligem Haar. Rasmus hieß er, Rasmus Persson, elf Jahre alt war er und der einzige Sohn des Polizisten Patrik Persson in Västanvik.

»Mein Rasmus ist der Liebling aller Lehrer«, sagte sein Vater zu jedem, der es hören wollte.

Doktor Fröberg, der Mathematiklehrer, schien es nie gehört zu haben, sonst hätte er wohl nicht an diesem sonnigen Maitag mit dem Liebling aller Lehrer so geredet, wie er es tat. Es war in der ersten Klasse der alten Realschule von Västanvik.

»Kleiner Lümmel … ja, ja, du, Rasmus Persson!«

Rasmus schnellte aus der Bank hoch und schaute seinen Lehrer schuldbewusst an.

»Weshalb hast du Stig deinen Kaugummi an den Kopf geworfen? Findest du, dass sich das mitten in der Stunde gehört?«

Rasmus hätte antworten können, weil Stig ihm mitten in der Stunde mit seinem Lineal in die Rippen gepikt hat, müsse die Bestrafung auch während des Unterrichts erfolgen, da half alles nichts. Aber er schwieg.

Stig war so vernünftig gewesen, darauf zu achten, dass der Lehrer vorn an der schwarzen Tafel mit dem Rücken zur Klasse stand. Nun saß er auf seiner Bank und tat sehr brav und fleißig.

»Na«, sagte Doktor Fröberg, »bekommt man vielleicht eine kleine Erklärung, weshalb du Stig mit Kaugummi bombardierst? Irgendeine Erklärung wird es doch wohl geben?«

»Ich hatte nichts anderes«, murmelte Rasmus. »Das Tintenfass hab ich mich nicht getraut zu nehmen.«

Doktor Fröberg nickte nachdenklich.

»Tatsächlich nicht? Hoffentlich hat dich nicht mein bisschen unwesentlicher Mathematikunterricht daran gehindert? Du musst doch schließlich das Recht haben, mit Tintenfässern zu schmeißen, wenn du Lust hast.«

»Ja, aber ich brauche es in der nächsten Stunde, dann haben wir Rechtschreibung«, murmelte Rasmus. Doktor Fröberg war sein Lieblingslehrer, aber er war unangenehm, wenn er ironisch wurde. Dann wusste man nicht, ob er wollte, dass man im selben Ton antwortete oder dass man schwieg und alles hinnahm.

Doktor Fröberg nickte wieder.

»Aha, sieh mal einer an. Dann solltest du dir jetzt draußen auf dem Flur eine kleine Ruhepause gönnen, finde ich, sonst hast du in der nächsten Stunde vielleicht keine Kraft, mit Geschossen um dich zu werfen. Rechnen kannst du ja dann ruhig an einem anderen Tag.«

Rasmus ging gehorsam zur Tür. Es war nicht das erste Mal, dass er hinausgeworfen wurde. Die Lehrer hatten eine sonderbare Neigung, ihren Liebling hin und wieder vom Unterricht auszuschließen.

Pontus zwinkerte ermunternd, als Rasmus an seiner Bank vorüberkam. Und Rasmus zwinkerte zurück. Pontus war sein Freund und treuer Begleiter durch dick und dünn. Liebend gern wäre er Rasmus in die Verbannung gefolgt, das merkte man.

Aber diese Ruhepausen draußen auf dem Flur sollte man dazu verwenden, ein wenig über sich selber nachzudenken, behauptete Doktor Fröberg, und dazu musste man natürlich allein sein. Rasmus begriff nicht so recht, weshalb der Lehrer wollte, man solle über sich selber nachdenken. Da gab es schließlich manches, was mehr Spaß machte, und über Rasmus Persson gab es wirklich nicht viel nachzudenken, fand Rasmus. Aber wenn der Lehrer es nun einmal verlangte, konnte er ja ein bisschen nachdenken.

Der Flur war still und leer. Nur ein ganz, ganz leises Gemurmel drang aus den Klassenzimmern. Rasmus schwang sich auf die Fensterbank, wo er immer saß, wenn er hinausgeworfen worden war, und wo vermutlich im Laufe der Zeit ganze Generationen von Jungen gesessen und ihre Sünden bereut hatten. Er versuchte ehrlich, über sich selber nachzudenken, aber es war hoffnungslos uninteressant. Nachdem er herausgefunden hatte, dass er in Rechnen jämmerlich schlecht war und dass man anderen Leuten keine Gegenstände an den Kopf werfen dürfe und dass er Stig eigentlich gleich mit dem Tintenfass hätte bewerfen müssen – als er dies alles eingesehen hatte, schwenkten seine Gedanken in eine andere Richtung ab. Dies Gemurmel aus den verschiedenen Klassenzimmern, wenn man das nun in einem Verstärker auffangen und dann wieder in eine Art Verteiler hineinstopfen könnte, sodass es in lauter kleine Stückchen zerfiele und ’ne ganze Masse deutsche Präpositionen, Rüssel- und Borkenkäfer und Nebenflüsse da herauspurzeln würden! Eigentlich sollte es nicht unmöglich sein, so etwas wie einen feineren Gelehrsamkeitsapparat zu erfinden, der mit all diesem Mumpitz vollgepfropft wäre, den man nach Ansicht der Lehrer wissen müsste, so ’ne Art Pumpe, die einem jeden Morgen eine genügende Menge Gelehrsamkeit in den Schädel pumpte. Dann wäre man für den Rest des Tages frei und könnte sich ein bisschen amüsieren.

Er warf einen langen Blick in die Freiheit und auf den klaren Maitag draußen vor den Mauern des Schulhauses. Die Sonne schien über der Stadt, und es war Mai, die Zeit des Flieders. Da war es selbst in Västanvik schön. Wo man auch ging, überall gab es eine Flut von Flieder. Auch die Kastanien blühten jetzt gerade, und alle Gärten des Ortes quollen von rosa und weißen Apfelblüten über, unter denen die hässlichen kleinen Häuser verschwanden wie Tortenstücke unter Schlagsahne. Sogar die Polizeiwache, die Rasmus von seinem Fenster aus sehen konnte, war richtig heimelig, mit blühendem Geißblatt überwachsen, und sah gar nicht so Schreck einflößend aus, wie man es von einer Polizeiwache erwartete. Hätte er nun ein Fernglas gehabt, dann hätte er beinahe seinen Vater drinnen in der Revierstube sehen können. Nein, so starke Ferngläser gab es wohl nicht, und ein Glück war das, sonst hätte sein Papa wohl auch eins gehabt, und in diesem Augenblick hielt Rasmus es für das Beste, dass die väterlichen Augen ihn nicht erreichten.

Er sah auf die Straße hinunter. Dort wäre er gern gewesen. Heute war Frühjahrsmarkt und viele Leute waren unterwegs. Es war wirklich ein Elend, dass man hier saß, während man so viel unternehmen könnte, wenn man freihätte. Zu allem Überfluss ertönte jetzt von weit her Musik. Es war ein Blasorchester, das auf dem Marktplatz spielte, festliches Geschmetter, durch das der Sonnenschein noch blanker wurde und der blaue Himmel noch fröhlicher. Alle Kinder auf der Straße liefen sofort in Richtung Marktplatz wie eine Herde Kälber, die von einem Schwarm Bremsen verfolgt werden. Klar, die Volksschule hatte heute frei! Rasmus’ Gemüt war von Gram erfüllt. Zu spät sah er ein, dass er hätte in der Volksschule bleiben und sich nicht verleiten lassen sollen, in der Realschule anzufangen. Er merkte plötzlich, wie herzlich wenig er sich aus allen höheren Lehranstalten und aus allen Lehrern machte. Sie waren nichts als Gefängnisaufseher, die einen daran hinderten, seinen Spaß zu haben.

Aber jetzt war er ungerecht. In der Lehrerzunft gab es auch edle Männer.

Der alte, gütige Direktor der Realschule von Västanvik hatte sicherlich auch gemerkt, dass die Maisonne mit seltener Klarheit schien und dass Jahrmarkt in der Stadt war. Und daher war ihm der allerglücklichste Einfall gekommen. Gerade während Rasmus so dasaß, das Herz voller Ungerechtigkeit gegen die ganze Lehrerschaft, beschloss der Direktor, Boten in die verschiedenen Klassenzimmer zu schicken, Boten mit folgenden wunderbaren Worten, auf einen kleinen Zettel gekritzelt mit der steilen Handschrift des Direktors: »Wegen des schönen Wetters heute die beiden letzten Stunden frei.«

Die, die den unteren Klassen den Bescheid überbrachte, war niemand anderes als Prick, Rasmus’ große Schwester. Sie war sechzehn Jahre alt und ging ins Gymnasium, aber jetzt kam sie den Flur der Realschule entlanggelaufen, dass der blonde Pferdeschwanz wippte. Rasmus hoffte, er sehe eine Erscheinung. Große Schwestern waren so ungefähr die Letzten, denen man begegnen wollte, wenn man hinausgeworfen worden war. Aber Prick war so wirklich wie nur möglich, und sie hatte bereits bemerkt, dass die Gestalt in blauer Leinenhose und kariertem Hemd, die dort auf der Fensterbank saß und sich bemühte, harmlos auszusehen, niemand anders war als der Herzensbruder, den sie so sehr liebte und mit dem sie sich so oft zankte.

»Was tust du hier?«, fragte Prick streng.

»Ich bin rausgegangen, um mich zu rasieren«, sagte Rasmus. »Und du?«

Prick warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Gib nicht so an! Was machst du hier? Antworte!«

»Ich denke«, sagte Rasmus. »Ich sitze einfach nur da und denke. Befehl vom Doktor.«

Prick machte ein erstauntes Gesicht.

»Soo? Woran denkst du denn, wenn ich fragen darf?«

»Geht dich nichts an«, sagte Rasmus. »Ich denke jedenfalls nicht an Joachim, wie gewisse andere Leute es morgens, mittags und abends tun.«

Prick schnaubte und verschwand im Klassenraum der Ersten. Kurz darauf hörte Rasmus ein mächtiges Grölen von dort drinnen, einen gewaltigen Jubel, und im selben Augenblick läutete die Schulglocke. Das Getöse wurde stärker und aus allen Klassenräumen strömten Horden von Jungen. Sie drängten zum Ausgang und in die Freiheit mit dem gleichen eisernen Eifer wie Schiffbrüchige zum Rettungsboot: Hier kam es auf jede Sekunde an! Aber Rasmus blieb unschlüssig stehen. Er wagte nicht zu gehen, bevor der Lehrer sich geäußert hatte.

Und Doktor Fröberg, der jetzt aus der Klasse kam, machte halt, als er den Sünder erblickte, der mit reuevoller Miene dastand. Er zupfte Rasmus am Ohr.

»Na?«, sagte er.

Rasmus gab keine Antwort, aber Doktor Fröberg las in seiner Jungenseele, wie inbrünstig er sich von hier wegsehnte. Und da der Lehrer ein weiser Mann war, schmunzelte er gütig und sagte:

»Lassen wir also die Gefangenen frei … es ist Frühling!«

Und da standen sie nun vor der Schule, zwei freigelassene Gefangene in dem himmlischen Sonnenschein des Frühlings.

»Kopf oder Wappen«, sagte Rasmus und hielt Pontus eine Fünf-Öre-Münze unter die Nase. »Wird’s Kopf, dann gehen wir zum Läusemarkt, und wird’s Wappen, gehen wir auch zum Läusemarkt. Wenn der Fünfer aber hochkant stehen bleibt, dann gehen wir nach Hause und machen Schularbeiten.«

Pontus kicherte zufrieden.

»Ja, das ist nicht mehr als recht und billig. Wir wollen nur hoffen, dass er sich hochkant stellt. Das müssen wir wirklich hoffen.«

Rasmus warf den Fünfer hoch in die Luft und er schlug mit einem kleinen Klirren auf dem Bürgersteig auf. Rasmus bückte sich und lächelte breit.

»Nee, der steht nicht hochkant! Aus den Schularbeiten wird nichts.«

Pontus kicherte wieder.

»Das ist Schicksal«, sagte er, »und dagegen darf man sich nicht auflehnen. Der Läusemarkt hat gewonnen. Komm, wir gehen.«

Der Läusemarkt war der uralte Marktplatz des Städtchens, wo seit Jahrhunderten Rosstäuscher und Viehhändler zum Frühjahrsmarkt zusammenkamen. Wanderzirkusse, Menagerien und Schaubuden kamen ebenfalls. Alles, was das friedliche Västanvik an Abenteuerlichem aufnehmen konnte, das gab es hier. Schon in der Luft lag etwas Abenteuerliches: So etwas wie ein Geruch von altem Pferdemist, der sich nie verzog, und der Klang alter Drehorgeln, der niemals verstummte, und die Erinnerung an leidenschaftliche Messerstechereien und wildes Zigeunerleben vergangener Zeiten war hier noch lebendig.

Heutzutage ging es allerdings ruhiger zu. Marktfreudige Bauern von den Dörfern ringsum versammelten sich hier, wie sie es immer getan hatten, um Ferkel zu kaufen und Kühe einzutauschen. Aber es erschienen nicht mehr so viele Rosstäuscher, da es nicht mehr so viele Pferde zum Verschachern gab. Trotzdem kamen nach wie vor Männer mit klapprigen Mähren, die sie Probe ritten, dass ihnen der Schweiß nur so herunterlief. Auch noch heute blühte das Marktleben. Karussells drehten sich, an den Schießbuden knallten Schüsse, und sonderbare Fremdlinge, die sich in sonderbaren, fremden Sprachen unterhielten, wohnten in Wohnwagen rings um den ganzen Läusemarkt. Und immer noch war für jedes Kind in Västanvik der Frühlingsmarkt ein Abenteuer ohnegleichen.

Der Name »Läusemarkt« war ein Überbleibsel aus alter Zeit und heutzutage ganz ungerechtfertigt. In den kleinen, baufälligen Holzhäusern, die den Marktplatz einrahmten, gab es kein Ungeziefer. Jedenfalls wurde es von den Leuten, die hier wohnten, entrüstet abgestritten. Aber trotzdem fiel es keinem Menschen ein, den Läusemarkt bei seinem richtigen Namen zu nennen – Västanmarkt.

Der Fünfer hatte sich geweigert, sich hochkant zu stellen, also trabten Rasmus und Pontus los in Richtung Läusemarkt. Das Leben war schön und der Tag war lang, sie hatten keine besondere Eile. Sie legten sich die Arme freundschaftlich um die Schultern und schlenderten auf der Straße dahin, wobei ihnen die verhassten Schulbücher an Lederriemen um die Beine baumelten. Da kam ihnen ein kleiner schwarzer Rauhaardackel entgegen, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten.

»Guck mal, da kommt Toker«, sagte Pontus.

In Rasmus’ Augen trat ein warmer Schimmer. Toker war sein eigener, heiß geliebter Hund. Als Rasmus ihn sah, freute er sich so, dass es beinah wehtat, aber er sagte vorwurfsvoll: »Toker, du weißt doch, dass du nicht einfach von zu Hause weglaufen darfst.«

Der Hund blieb schuldbewusst stehen. Den einen Vorderlauf zweifelnd erhoben, stand er still da und sah sein Herrchen an. Und Rasmus sah Toker an und sagte mit einer Stimme, die voller Zärtlichkeit war: »Eigentlich darfst du nicht von zu Hause weglaufen, verstehst du, Toker! Aber nun komm schon her!«

Und Toker kam. Er preschte los, glücklich in jeder Faser seines kleinen Hundekörpers, weil ihm verziehen worden war. Der Schwanz peitschte durch die Luft, er bellte, so laut er konnte, er war der glücklichste Hund der Welt. Und Rasmus bückte sich und nahm ihn in die Arme.

»Was bist du doch für ein kleiner dummer Hund, Toker«, sagte er und streichelte immer wieder den dunklen Hundekopf.

Pontus sah neidvoll zu.

»Du kannst wirklich froh sein, dass du einen eigenen Hund hast.«

Rasmus drückte Toker noch fester an sich.

»Ja, das bin ich auch. Er gehört mir ganz allein. Und wenn Prick noch so sehr versucht, sich bei ihm einzuschmeicheln.«

Kaum hatte er das gesagt, da kam seine Schwester auch schon um die Straßenecke. Sie war nicht allein. Sie hatte diesen Joachim von Rencken bei sich, in den sie zurzeit verliebt war, und war im Augenblick, wie es aussah, vollauf damit beschäftigt, sich bei ihm einzuschmeicheln. Rasmus stieß Pontus vielsagend in die Seite.

»Guck mal, die beiden da! Wenn die Liebe die Leute überfällt, verlieren sie den Verstand.«

Es war beklemmend, mit anzusehen, wie ein Mitglied der eigenen Familie sich so albern benahm. Dort ging Prick und hielt Joachim bei der Hand. Sie schauten sich in die Augen und lachten und merkten überhaupt nicht, dass noch jemand anders auf der Straße war.

»Prick, du bist die Reizendste von allen«, sagte Joachim, und zwar so deutlich, dass alle Welt es hören konnte. »Ich bin ganz verrückt nach dir!«

Rasmus und Pontus prusteten los. Das holte die Verliebten in die Gegenwart zurück. Sie wurden sich bewusst, dass sie nicht allein auf der Welt waren.

»Pontus, du bist der Reizendste von allen«, sagte Rasmus und sah Pontus schmachtend in die Augen.

»Rasmus, ich bin ganz verrückt nach dir«, versicherte Pontus.

Prick lachte.

»Muss man unbedingt Brüder haben?«, fragte sie Joachim verzweifelt.

Eigentlich wollte sie sehr gern Brüder haben, jedenfalls gerade dies wilde kleine Füllen von einem Bruder mit den munteren Augen, dem sie in ihrem tiefsten Innern so gut war und den sie geliebt und geknuddelt hatte, seit er in der Wiege gelegen hatte. Außerdem war es wunderbar, hier in der Maisonne mit Joachim zu gehen und die Reizendste von allen zu sein. Was machte sie sich schon daraus, ob ein paar kleine Jungen sie hänselten? In einem Überschwang an Frühlingswonne schlang sie die Arme um Rasmus und drückte ihn schnell einmal fest an sich.

»Aber er ist doch ein lieber Kerl«, sagte sie, »der hier.«

Ihr lieber Kerl von einem Brüderchen wehrte sich aus Leibeskräften. Das war entsetzlich! So eine wie Prick, die dürfte nicht frei rumlaufen. Nichts als Schande machte sie sich und unschuldigen Menschen, die nichts dafür konnten, dass sie gerade diese Schwester bekommen hatten.

»Lass mich los!«, schrie Rasmus mit einer Stimme, die vor Empörung ganz schrill klang. »Versuch dich wenigstens auf der Straße zu beherrschen!«

Prick lachte weich und spöttisch, dann fasste sie Joachim wieder bei der Hand und vergaß, dass sie einen Bruder hatte.

»Au Junge«, sagte Pontus und sah Prick und Joachim nach. »Ganz bei Trost sind die ja nicht! Dass man bloß nie wie die wird!«

Rasmus lachte über einen so hirnverbrannten Gedanken.

»So wie die werden? Na, zum Glück besteht keine Gefahr!«

Toker sprang um ihn herum und bellte eigensinnig. Er war offenbar der Ansicht, dass ein kleiner Hund, der von zu Hause ausgerückt war, nur um seinem Herrn entgegenzulaufen, nicht dazustehen und zuzusehen brauchte, wie Leute sich gegenseitig umarmten. Wenn einer umarmt werden musste, so war er es. Das fand sein Herrchen auch. Wieder zog er Toker fest an sich, er streichelte ihn und sagte mit der allerzärtlichsten Stimme:

»Ja, wie bist du lieb, Toker.«

Da kicherte Pontus.

»Versuch dich wenigstens auf der Straße zu beherrschen – sagtest du das nicht eben?«

»Tsss«, sagte Rasmus. »Mit ’nem Köter ist das schließlich ganz was anderes.«

Dann schwieg er plötzlich. Er horchte. Jetzt war diese verführerische Blasmusik wieder zu hören. Sie kam vom Marktplatz drüben, aber sie kam näher. Näher und näher kam sie, und jetzt rollte langsam ein Lastauto auf der Straße heran. Auf der offenen Ladefläche saßen sieben Jungen vom Orchester der Volksschule und bliesen aus vollen Kräften. Ihre Messinginstrumente funkelten in der Sonne und mit viel Gepruste quetschten sie den »Einzug der Gladiatoren« aus ihnen heraus. Västanviker Kinder jeden Alters folgten der Spur der Gladiatoren. Sie marschierten im Takt mit den fröhlichen Klängen hinter dem Lastauto her und lasen voller Seligkeit, was auf den großen Plakaten stand, die an den Seitenwänden des Wagens angenagelt waren. Rasmus und Pontus lasen es auch.

Besucht den Vergnügungspark

auf dem Västanmarkt!

 

Der weltberühmte Schwertschlucker

Alfredo tritt auf!

Karussells, Schießbuden.

 

Alle sind herzlich willkommen!

»Oh«, sagte Rasmus.

Pontus nickte zustimmend.

»Ja, aber das kostet Geld. Hast du welches?«

Rasmus schleuderte den Fünfer in die Luft und fing ihn wieder auf.

»Massenhaft! Einen ganzen Fünfer! Wir können den halben Jahrmarkt dafür kaufen«, sagte er bitter.

Aber Pontus wusste Rat.

»Wir müssen was von unserem Alteisen verkaufen, dann schaffen wir’s.«

Rasmus nickte. Wie dürftig wäre doch das Leben für einen armen Schuljungen mit fünfzig Öre Taschengeld in der Woche, wenn er nicht ein bisschen unternehmungslustig wäre! Rasmus und Pontus hatten das längst eingesehen. In ganz Västanvik gab es keine unternehmungslustigeren Lumpensammler als diese beiden. Sie waren ständig auf der Jagd. Herumliegende leere Flaschen und alte verrostete Eisenteile stöberten sie auf, wie Schweine Trüffeln aufstöbern, und schleppten die Beute triumphierend in ihr Lager oben am Läusemarkt. Pontus gehörte zu einer dieser alten, ehrbaren Läusemarktfamilien. Er wohnte dort in einem großen und hässlichen alten Mietshaus. Und in seinem Keller hatte die »Vereinigte Alteisen-AG, Inhaber Pontus Magnusson und Rasmus Persson« ihren Lagerraum, wovon ein schön gemaltes Schild an der Kellertür jeden unterrichtete.

Ein Besuch auf dem Rummelplatz mit nur fünf Öre in der Tasche konnte ja nur das reinste Elend werden. Hier brauchte man Geld. Rasmus und Pontus gingen zum Läusemarkt, lediglich um sich einen ersten Überblick zu verschaffen und sich so ungefähr auszurechnen, wie groß das Betriebskapital sein musste, das heute draufging. Sie standen draußen vor dem Eingang und guckten voll Verlangen zu den Karussells und den Schießbuden hinüber. Oh, hier gab es reichlich Gelegenheit, Geld ins Rollen zu bringen.

»Für das Karussell müssen wir uns Zaster beschaffen«, sagte Pontus. »Und für die Luftschaukel auch.«

»Ja, und dann für den Schwertschlucker«, sagte Rasmus. »Ich möchte so gerne sehen, wie er es macht, wenn er so ein Schwert verdrückt.«

Toker bellte wie rasend. Ein Karussell hatte er in seinem ganzen Hundeleben noch nicht gesehen, und er war sich nicht ganz sicher, ob es solche kreisenden Dinger geben dürfe. Außerdem roch es hier komisch und fremdartig. Man musste ordentlich bellen und laut sagen, dass man solch einen Geruch nicht so ohne Weiteres hinnehmen konnte.

»Na, hör mal, Toker«, sagte Rasmus, »du kannst doch nicht Karussell fahren, falls du das denkst.«

Er drehte sich zu Pontus um.

»Erstens muss ich Toker nach Hause bringen«, sagte er. »Und zweitens muss ich Mittag essen gehen.«

»Und drittens müssen wir zu Schrott-Johann gehen und Alteisen verkloppen«, sagte Pontus. »Und viertens müssen wir wohl trotz allem unsere Schularbeiten machen.«

»Viertens können uns trotz allem die Schularbeiten gestohlen bleiben, und fünftens müssen wir heute Abend hergehen. Und wie wir hergehen müssen – au Junge!«

Und dabei blieb es.

Es war nicht ganz so leicht, zum Jahrmarkt zu kommen, wie Rasmus gedacht hatte. Er hätte es wissen müssen. Er hätte sich davor hüten müssen, in Mamas Reichweite zu kommen. Sie war den Schularbeiten gegenüber keineswegs so großzügig eingestellt wie er selber. Aber der Hunger hatte ihn nach Hause getrieben, und da saß er nun beim Mittagessen mit der übrigen Familie zusammen vor einem ganzen Berg von Bratwurst und Kartoffelmus auf dem Teller.

»Sehr schön, aber von Jahrmarkt kann keine Rede sein, bevor du mit deinen Schularbeiten fertig bist«, sagte seine Mutter, ganz so, wie er es hätte erwarten müssen.

Es ist komisch mit Mama, sagte Papa, von außen ist sie so sanft und mild, aber im Innern ist sie wie ein Heerführer.

»Es wird in jedem Fall so gemacht, wie Mama will«, sagte er immer, »und das ist auch das Beste. Es gibt niemand, der einen dummen Polizisten und zwei naseweise Kinder und einen kleinen ungehorsamen Hund so gut regieren kann, dass sie es nicht einmal merken.«

Papa behauptete, es gebe niemanden auf der ganzen Welt, der so in Ordnung war wie Mama.

»Mama sorgt für alles«, sagte er. »Für mich und die Kinder und den Hund und das Haus und den Garten noch obendrein … Ich pflanze nur und jäte und gieße und schneide die Hecke und mähe den Rasen.«

Manchmal sang er ihr was vor.

»Mutter, mein Mutterchen, wer ist so wohl wie du …«, sang er. Aber dann sagte Mama jedes Mal: »So heißt das nicht, Patrik. ›Wer ist wohl so wie du‹ heißt es.«

Und dann sagte Papa: »Das ist egal, mein Schatz. Hauptsache ist, dass du so bist, wie du bist.«

Rasmus fand es auch schön, dass Mama so war, wie sie war, wenn sie nur in gewissen Punkten etwas nachgiebiger gewesen wäre.

»Kein Jahrmarkt, bis du deine Aufgaben gemacht hast«, sagte sie, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten.

»Tsss«, sagte Rasmus. »Wir haben fast gar keine Schularbei…«

Hier wurde er von Prick unterbrochen. Sie sah kritisch auf seinen übervollen Teller und die Schüssel, die er fast leer gemacht hatte.

»Ein Glück, dass du nicht auch das Kartoffelmus alle gemacht hast. Für mich ist auch noch ein Klacks übrig geblieben, wie ich sehe.«

»Ach, entschuldige«, sagte Rasmus, »daran hab ich nicht gedacht. Oooch, Mama, ich darf doch gehen?«

»Da ist noch mehr im Topf auf dem Herd«, sagte die Mutter. »Aber aus dem Jahrmarkt wird nichts, bevor nicht die Schularbeiten gemacht sind.«

»Tsss«, sagte Rasmus von Neuem, »wir haben für morgen fast keine Schularbeiten auf. Und außerdem kann ich sie überhaupt schon.« Er kaute zu Ende, ehe er fortfuhr: »Und außerdem kann ich sie in der großen Pause machen, ganz einfach!«

»Aha«, sagte seine Mama, »das krieg ich immer zu hören. Du hast überhaupt keine Schularbeiten auf und du kannst sie schon und außerdem kannst du sie in der großen Pause machen. Wie habt ihr es heutzutage in der Schule gut!«

Nun mischte sich Papa in das Gespräch.

»Das kann ich dir sagen, Rasmus, zu meiner Zeit durften wir nie auf den Jahrmarkt gehen, bevor wir nicht Väner- und Vätter- und Mälar- und Siljan-See wie am Schnürchen konnten.«

Rasmus schnaubte durch die Nase.

»Müsst ihr wieder bei der Steinzeit anfangen, bloß weil ich auf den Jahrmarkt will?«, sagte er empört. »Und habt ihr vielleicht im Elternrat beschlossen, dass man nicht das kleinste Vergnügen haben darf, solange man in die Schule geht?«

»Na, na, na, mal immer mit der Ruhe«, sagte der Vater und fügte ablenkend hinzu: »Du kannst mir glauben, Rasmus, ich hab heute mächtig mit dir angegeben.«

»Bei wem denn?«, fragte Rasmus beunruhigt. Er wusste wahrhaftig, wie es sich anhörte, wenn sein Vater mit seinen Kindern protzte. Nur zu gut erinnerte er sich, was Papa erst neulich zum Polizeimeister gesagt hatte, als Rasmus mal kurz ins Polizeirevier hineinsah.

»Ich begreife nicht, wie ich zu zwei so hübschen und begabten Kindern komme. Ja, sie haben es natürlich von meiner Frau. Diese Kinder sollen eine Erziehung haben, darauf kannst du Gift nehmen, PM. Die sollen was lernen, nicht nur Väner- und Vätter-See und den Kinderkram, den unsereins so gelernt hat, nein, eine gediegene Ausbildung sollen sie bekommen mit ›Sprechen Sie Deutsch‹ und dem ganzen Drum und Dran.«

Und nun saß Papa da und schmunzelte so zufrieden und sagte, er habe wieder mal mächtig angegeben.

»Bei wem ich angegeben habe? Beim PM natürlich. ›Mein Rasmus, der wird in der Schule weit kommen‹, hab ich gesagt, ›darauf kannst du Gift nehmen, PM.‹«

»Haha«, sagte Prick, »es wäre besser gewesen, du hättest zum Polizeimeister gesagt, er wird lange in die Schule gehen.«

Rasmus und sein Vater sahen sie ungehalten an.

»Sehr witzig«, sagte Rasmus.

»Patricia«, sagte Papa, »bedenke, es ist mein Sohn, von dem du sprichst. Mein Sohn, der soeben beschlossen hat, sich sofort und allen Ernstes seinen Studien zu widmen, nachdem er die Bratwurst verschlungen hat.«

»Tsss«, machte Rasmus.

»Ja, ganz recht«, sagte Mama.

Dann war es ein Weilchen still. Man hörte nur die kleine Amsel draußen im Garten. Sie sang aus voller Kehle wie immer. Ab und zu kam eine Welle von Fliederduft zum offen stehenden Küchenfenster hereingeströmt und mischte sich tapfer mit dem Geruch der Bratwurst, was Prick ganz schwärmerisch machte.

»Übrigens geh ich auch auf den Jahrmarkt«, sagte sie. »Mit Joachim!«

»Joachim und Joachim und Joachim«, brummte Rasmus leise vor sich hin, »der ist ihr zu Kopf gestiegen!«

Aber Papa machte ein ganz entzücktes Gesicht und zupfte Prick am Pferdeschwanz.

»Der Joachim, in den bist du verknallt, was?«

Prick nickte eifrig.

»Ja, das sind alle. Alle in der Penne sind in den verknallt.«

Rasmus schnitt eine Grimasse.

»Ich nicht«, sagte er. »Wie steht’s übrigens mit deinen Schularbeiten?«, fuhr er fort. »Du gehst nicht auf den Jahrmarkt, bevor du sie gemacht hast, dass du’s nur weißt.«

Prick lachte. »Sei unbesorgt!«

Dann wandte sie sich an Mama.

»Du, Mama, wir üben hinterher bei Joachim. Mach dir keine Sorgen, wenn es ein bisschen später wird.«

Rasmus guckte mit sichtlichem Interesse hoch.

»Was übt ihr denn?«

»Die Pling Plong Players üben fürs Frühlingsfest am Sonntag.«

Die Pling Plong Players, das war das Schulorchester, dem Prick angehörte. Sie spielte Gitarre.

Rasmus versenkte sich wieder in sein Kartoffelmus.

»Ach so, ich dachte, ihr wolltet für euch allein üben, du und Joachim: ›Wie bist du reizend, Prick, ich bin ganz verrückt nach dir.‹«

»Haha«, sagte Prick.

»Sagt das der Joachim?«, fragte Mama.

»Ja, stell dir vor«, rief Prick triumphierend. »Alle Mädchen in der Schule sind in ihn verknallt, aber die Einzige, die er mag, das bin ich.«

»Im Augenblick, ja«, sagte Rasmus.

Prick sah verträumt vor sich hin.

»Wenn ich Joachim heirate, dann lass ich mich nicht mehr Prick nennen, sondern nur Patricia. Patricia von Rencken, das klingt gut, finde ich.«

»Wunderbar«, sagte Rasmus. »Au Junge!«

Aber Mama schüttelte den Kopf.

»Red nicht so ein dummes Zeug, Prick«, sagte sie.

Rasmus nahm die Schüssel, die neben Prick stand.

»Möchten Frau Baronin mehr Bratwurst oder kann ich das letzte Stück haben?«

Toker hatte bis jetzt still unter dem Tisch zu Rasmus’ Füßen gelegen, aber jetzt kläffte er vernehmlich, denn alle sollten wissen, wer eigentlich das letzte Stück haben müsste. Rasmus guckte zu ihm hinunter.

»Ja, Toker … ja, du kriegst was! Mama, darf ich Toker das letzte Stück geben?«

»Ja, nimm nur«, sagte seine Mutter. »Aber eigentlich soll Toker bei Tisch nicht betteln, das weißt du.«

Rasmus hielt Toker das Wurstende hin.

»Nein, eigentlich nicht … aber trotzdem!«