Liebe Chime, lieber Dhondup, liebe Dolker, liebe Lhakpa, liebe Pema, lieber Tamding,

 

heute ist der 11. November 2015. Mehr als fünfzehn Jahre ist es nun her, daß wir einander an der Grenze zu Tibet auf fast sechstausend Meter Höhe begegnet sind. Ihr wart auf der Flucht, und ich war auf der Suche nach einer Flüchtlingsgruppe, um das Schicksal tibetischer Kinder, die von ihren Eltern ins Exil geschickt werden, in einem Film zu dokumentieren. Damals ahnte ich nicht, daß ich in den Protagonisten meines Filmes auch Freunde fürs Leben finden würde.

Eure Flucht ist Folge eines großen Ereignisses in der Geschichte Tibets: Am 17. März 1959 verließ auch der Dalai Lama seinen von Maos Armee umzingelten Sommerpalast in Lhasa. Wenige Wochen später setzte er seinen letzten Fußabdruck auf tibetischen Boden. Bis heute wartet der Dalai Lama auf eine Rückkehr in seine Heimat. Rund 130 000 Exil-Tibeter hoffen mit ihm – so wie Ihr: Seit Eurer Flucht aus dem Schneeland habt Ihr Eure Familien in Tibet nicht wiedergesehen. Jedes Jahr zu Losar, dem tibetischen Neujahr, wartet Ihr vergeblich auf den lange ersehnten Besuch Eurer Eltern. Bis heute ist es nur Dhondups Mutter gelungen, aus Tibet herauszukommen, um ihren Sohn wiederzusehen. Als sie Dich, Dhondup, Eurem Fluchthelfer übergab, warst Du ein kleiner, achtjähriger Junge und reichtest ihr gerade mal bis an die Brust. Als Deine Mutter dann sieben Jahre später vor einem Fünfzehnjährigen stand, der sie um zwei Kopflängen überragte, erkannte sie Dich zunächst nicht wieder.

Der Himalaya trennt Mütter und Väter von ihren Kindern, er teilt das tibetische Volk in zwei Teile: In jene, die bleiben – und in jene, die gehen. So wie einst die Mauer in Deutschland. Doch in Wahrheit ist es nicht der Berg aus Stein und Eis, der Familien auseinanderreißt, sondern die große Sprachlosigkeit zwischen der chinesischen Regierung und der tibetischen Exilregierung. Seit Jahren bemüht sich der Dalai Lama um einen Dialog mit China. Seine Vision für Tibet ist eine echte Autonomie. Um dies von der chinesischen Regierung zu fordern und die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, daß weder Menschenrechte noch Religionsfreiheit in Tibet gewahrt werden, verbrennnen sich Menschen in Tibet und im Exil. Seit dem 16. März 2011 bis zum heutigen Tag haben sich 150 Tibeter und Tibeterinnen mit Benzin übergossen und angezündet. Nicht nur Mönche und Nonnen, sondern auch Jugendliche, Studenten, Mütter und Väter. Es ist Eure Generation, die dieses radikale Mittel wählt, um auf die hoffnungslose Situation ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Ich nehme diese erschütternden Ereignisse als ein Zeichen der äußersten Verzweiflung wahr. Wann wird die Weltengemeinschaft endlich geschlossen für Tibet aufstehen? Wann werden die Tibeter in Tibet endlich in echter Autonomie leben können? Seite an Seite mit den chinesischen Ansiedlern, die aus Tibet längst nicht mehr wegzudenken sind?

Der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zwischen Tibetern und Chinesen, auf eine Rückkehr des Dalai Lama in seine Heimat und auf das Wiedersehen aller Exilkinder mit ihren Familien in Tibet widme ich unser Buch. Es ist kein politisches Sachbuch. Sondern die Geschichte von sechs tibetischen Kindern, die als langläufige Folge der chinesischen Okkupation von ihren Familien getrennt wurden. Es ist Eure Geschichte. Und die Geschichte Eurer Eltern. Sie haben Euch nicht weggeschickt, weil sie Euch nicht haben wollten. Sie wünschten sich eine Zukunft für Euch. Sie wollten, daß Ihr jeden Abend satt werdet und nicht hungrig zu Bett gehen müßt. Sie wollten, daß Ihr eine Schule besucht, in der die Kinder des Schneelandes in ihrer eigenen Sprache, Kultur und Religion zu frei denkenden Tibetern heranwachsen können. Liebe äußert sich manchmal im Loslassen.

Eure Eltern waren sicherlich sehr verzweifelt, als sie sich zu dieser Entscheidung durchgerungen haben. Und unendlich traurig, Euch schließlich weggehen zu sehen.

Ich kenne Eure Mütter und Väter nicht. Ebensowenig Eure Geschwister, Euer Heimatdorf, Eure Freunde und Tiere. All das, was Ihr in Tibet zurücklassen mußtet, kenne ich nur aus Euren Erzählungen. Ich weiß nicht, ob der Rhododendron bei Euch im Frühling oder Sommer blüht, wie breit der Yellow River ist und wie chinesische Krokantpralinen schmecken.

Aus den vielen kleinen Puzzleteilen, die Ihr mir in die Hand gelegt habt, habe ich versucht, ein Bild von den dramatischen Ereignissen Eurer Kindheit zu legen. So manches Teilchen fehlte – vor allem bei den Kleineren unter Euch, deren Erinnerung nach der Flucht sehr schnell verblasste. Ihr mußtet vergessen, um jenseits des Himalaya ein neues Leben zu beginnen. Manche Details Eurer Geschichte habe ich weggelassen oder verändert, um Eure Familien für die chinesische Polizei nicht identifizierbar zu machen. Und so ist dies kein Sachbuch, das Fakt an Fakt aneinanderreiht, sondern mein ganz persönliches Bild von Eurer Geschichte. Ich hoffe, Ihr findet Euch darin wieder.

 

Eure Zazie-Maria

Köln, 11. November 2015

 

Unsere Flüchtlingsgruppe

Little Pema  Ein siebenjähriges Mädchen aus der Provinz Kham. Die Mutter kümmert sich um Hof und Tiere, der Vater ist Alkoholiker. Er schlägt Little Pema. Die Mutter sieht nur einen Weg, das Kind vor dem Zugriff des Vaters zu retten: den ins Exil.

Tamding  Ein zehnjähriger Junge aus der Provinz Amdo. Seine Eltern sind verarmte Kleinbauern. Tamding hat zwei ältere Brüder. Für ihn, den »Dritten«, müssen die Eltern hohe Steuern zahlen, weil es einer tibetischen Familie in seiner Region nicht erlaubt ist, mehr als zwei Kinder zu haben.

Chime  Eine zehnjährige Schülerin aus West-Tibet. Die Mutter, die den Lebensunterhalt für die Familie alleine bestreiten muß, sieht sich nicht mehr in der Lage, das hohe Schulgeld für ihre beiden Töchter zu bezahlen.

Dolker  Die sechsjährige Schwester von Chime. Sie steht kurz vor der Einschulung, die nun in Indien stattfinden soll.

Dhondup  Der achtjährige Sohn eines tibetischen Arztes. Die Eltern wünschen sich eine gute Schulausbildung für ihr jüngstes Kind. Da in der Dorfschule ab dem zweiten Schuljahr nur noch auf Chinesisch unterrichtet wird, soll Dhondup ins Exil geschickt werden.

Dhamchoe  Der etwa Achtzehnjährige ist in Dhondups Familie groß geworden. Die eigenen Eltern konnten ihn nicht ernähren. Dhamchoe soll »seinen kleinen Bruder« Dhondup auf der Flucht begleiten und nach einer Audienz beim Dalai Lama wieder nach Tibet zurückkehren.

Lhakpa  Ein zehnjähriges Nomadenmädchen, das von ihrem großen Bruder über den Grenzpaß gebracht wird und erst auf der nepalesischen Seite des Himalaya zu unserer Gruppe stößt, um weiter nach Dharamsala zu gelangen.

Lobsang  Ein fünfzehnjähriger Mönch aus der Provinz Amdo. Er muß aus Tibet flüchten, um nicht als politischer Häftling im Gefängnis zu landen. Denn er weigerte sich, chinesischen Funktionären gegenüber den Dalai Lama zu verleugnen.

Suja  Der junge Soldat arbeitet seit vier Jahren in einem chinesischen Armeegefängnis als Wärter. Da er sowohl Tibetisch als auch Chinesisch spricht, setzt man ihn auch als Dolmetscher bei Verhören ein. Als ein alter Mönch brutal gefoltert wird, spürt Suja, daß er nicht länger bleiben kann.

Nima  Der Guide, von dem die Leute sagen, er sei so gut wie Gold. Er hat bisher alle Flüchtlinge, die sich ihm angeschlossen haben, trotz der großen Gefahren sicher ins Exil gebracht.

Pema  Nimas Freund, der im Exil lebt. Er wird Nima und seiner Gruppe von der nepalesischen Seite des Himalaya her entgegengehen.

Sotsi  Pemas Schwager, der gelegentlich als Guide arbeitet. Sowie fünf junge Männer auf der Suche nach einer neuen Zukunft: Tempa, Currasco, Goldzahn, Yeti, Der Student.

»Flucht über den Himalaya« ist nach einer wahren Geschichte erzählt. Einige Details sowie ein Teil der Personen- und Ortsnamen wurden geändert, um die Familien der Flüchtlinge zu schützen.

Teil Eins

»Ich komme aus Kham. Das ist eine Provinz in Tibet. Wir leben in den Bergen, und unsere Yaks grasen auf den Weiden. Wenn man einen Khampa mit anderen Menschen vergleicht, so ist ein Khampa eine sehr furchtlose Person. Jeder Khampa trägt ein großes Messer bei sich – so groß wie ein Säbel. Und er weiß es zu benutzen. Als die Chinesen nach Tibet kamen, kämpften die Khampas gegen sie. Und sie kämpften so tapfer! Aber die Chinesen hatten viele Waffen, Bomben und Panzer, so daß wir Tibeter unsere Freiheit verloren.« EIN KIND AUS TIBET

Little Pema, das Khampa-Mädchen

»Meine Mutter hat lange Haare. Sie ist zierlich und sehr schön. Sie hat auch ein gutes Herz, und was sie kocht, schmeckt wunderbar. Ich vermisse sie und sehe sie jeden Tag in meinen Gedanken. Sie trägt immer eine Chuba, singt viel und kennt lustige Witze. Das Besondere an meiner Mutter ist, daß sie die Fähigkeit besitzt, in die Zukunft zu sehen. Dazu verwendet sie Würfel, heilige Texte und Gebete. Sie betet immer abends, und ich weiß noch all ihre Gebete auswendig.

Meinen Vater mochte ich nicht. Denn er trank Alkohol und schlug meine Mutter. Er schlug auch mich. Nur meinen kleinen Bruder schlug er nicht. Wenn er mich schlug, weinte meine Mutter.« LITTLE PEMA

Startet der Vater das Moped, um nach Chamdo zu fahren, stehen sie alle in der Tür und hoffen, daß er die alte Rostlaube zum Laufen bekommt. Der Großvater murmelt seine Mantras, die Mutter nestelt nervös an den weiten Ärmeln ihrer Chuba, die Kinder kauen an ihren Nägeln. Dreimal tritt Vater mit seinen spitzen Stiefeln ins Pedal, dann endlich heult der Motor auf. Er schwingt sich auf den Sattel, lenkt die stotternde Maschine auf den Schotterweg und verschwindet grußlos hinter den Hügeln. Haben sie Pech, gibt das Moped seinen Geist auf, und Vater kommt fluchend zurück, die Maschine schiebend und tretend im Wechsel. Doch diesmal hört die Familie erleichtert, daß das Knattern immer leiser wird, je weiter sich der Vater aus ihrem Leben entfernt. Wenigstens für ein paar Tage.

Dann holt der Großvater seine Felle aus dem Stall, und die Mutter läuft ins Haus, um alle Fenster zu öffnen: Frischer Wind soll durch die niedrigen Zimmer wehen und alle bösen Worte, die in den letzten Wochen fielen, vertreiben. Little Pema fegt den Boden blank, klopft im Hof den Teppich aus, der kleine Bruder füllt die silbernen Opferschalen mit frischem Wasser. Langsam kehrt wieder Friede im Haus ein.

Doch nachts steht er plötzlich wieder an ihrem Bett. Ein großer schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Little Pema ruft nach ihrer Ama, die im gleichen Zimmer schläft, aber die Kehle, zugeschnürt, hält jeden Ton darin gefangen. Gleich zerrt die eiserne Hand sie unter der warmen Decke hervor. Manchmal würgt er sie am Hals. Manchmal ist der Dolch ganz stumpf, den er ihr mitten ins Herz stößt. Manchmal, und das ist der schlimmste aller Träume, fühlt sie sich in die Höhe gerissen und in eine dunkle Schlucht geschmissen. Bevor sie unten, am tiefsten Grund ihrer Ängste aufschlägt, wacht Little Pema auf. Mit gelähmten Gliedern und einem sausenden Schmerz im Bauch.

Dann ist das gute Schaffell naß, und Little Pema schämt sich.

»Ama«, flüstert sie in die Dunkelheit, »es ist schon wieder passiert.«

Wird Ama wach, dann hört sie ihre Decken rascheln:

»Ts’uu-sch’oh, Pema-la! – Komm zu mir, liebes Kind.«

Im Sommer duftet Amas Haar nach Kräutern und Gerste. Im Winter riecht es nach Herdfeuer und Schnee. Die Frauen im Dorf tragen ihre Zöpfe unter bunten, karierten Tüchern versteckt. Doch Little Pemas Ama ist anders. Zwar melkt sie die Yakkühe am frühen Morgen. Sie holt auch das Wasser vom nahen Fluß und röstet in einer riesigen Pfanne die goldgelbe Gerste zu Tsampa. Mittags kocht sie Reis mit Gemüse und Brei für den zahnlosen Alten. Die Yakfladen, die in der Sonne zu Brennmaterial getrocknet sind, wirft sie gekonnt über die Schulter in ihren Weidenkorb. Sie flickt den Blasebalg, mit dem der Alte das Herdfeuer am Lodern hält, sie flickt den Reifen des klapprigen Fahrrads, wenn sie in die Stadt fahren muß, um ihre Schaffelle zu verkaufen. Sie flickt das Loch im Dach und auch den Riß im kupfernen Teekessel. Nur die Löcher in Little Pemas Strümpfen bleiben ungeflickt.

»Kang-schug nyingpa«, rufen deshalb die tibetischen Kinder in Little Pemas Klasse: »Alte Socke!«

Und abends, wenn die anderen Mütter Gute-Nacht-Geschichten erzählen – von Felsdämonen und türkisspeienden Drachen – reitet Little Pema mit ihrer Ama über die Weiden, um Yaks und Schafe in den Pferch zurückzutreiben. Diese milden Stunden im Sattel, an Amas Rücken gelehnt und die Hände um ihre Hüften geschlungen, sind die schönsten des Tages.

»Tscho, Tscho, Ho!« Ama kann pfeifen wie ein Mann, und auch die Tiere gehorchen ihr.

Heute hat Ama ihr Pferd viel weiter laufen lassen als sonst. Sie ritten bis zu einem Hügel, der noch höher war als der höchste Hügel ihres Dorfes. Als Amas Pferd die Kuppe erreicht hatte, breitete sich das Land vor ihnen aus wie ein prächtig bestickter Wandteppich. Es war die kurze Stunde vor dem Sonnenuntergang, der die Wiesen so grün und die Berge so nah erscheinen läßt.

»Hinter diesen Bergen  …«, flüsterte Ama und deutete auf das endlose Spiel von Hügeln, die sich verliebt ineinandertürmten, »hinter diesen Bergen und noch viel, viel weiter weg liegt Indien.«

»Indien«, Little Pema ließ das Wort über ihre Zunge schnalzen. Eine seltsame Stille hatte das Land erfaßt.

»In Indien ist es sehr warm. Dort gibt es Elefanten, Affen und riesige Schlangen! Indien ist ein freies Land. Es ist nur von Bergen und Meer umgeben.«

»Wie sieht es aus, das Meer?«

»Das Meer ist ein See ohne Ufer. Ein riesengroßes Land aus Wasser und Wellen.«

Little Pema schwieg. Angestrengt versuchte sie sich einen See ohne Ufer vorzustellen.

»Ich bin keine gute Mutter für dich, denn ich muß Mutter und Vater sein. In Indien lebt die beste Mutter der Welt! Die Schwester des Dalai Lama. Sie ist die Mutter aller Kinder im Exil.«

»Du bist die beste Mutter für mich.«

»In Indien wärst du sicher vor deinem Vater.«

Little Pema machte sich steif in Amas Arm.

»Es liegt nicht an dir, daß er dich schlägt«, fuhr die Mutter fort, »es liegt an der Leere in seinem Leben. In seinem Herzen ist er ein guter Mann. Doch der Alkohol hat seine Seele ruiniert. Er schlägt uns, weil er verzweifelt über sein verpfuschtes Leben ist.«

Es ist nicht üblich in ihrer Familie, über Gefühle zu reden. Die plötzliche Offenheit der Mutter verwirrte das Kind. Manches im Leben ist besser auszuhalten, wenn man nicht daran denkt. So wie der Großvater die Folter ertrug, erträgt sie die Schläge des Vaters. Doch Amas überraschende Worte fallen bis auf den Grund ihres Herzens. Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie wünschte zu schreien – so laut, daß alle Vögel erschrocken aus den Gräsern hoch in den Himmel fahren. Gleich würde sie vom Pferd fallen und nur noch weinen – mit dem Gesicht zur Erde. Sie würde sich in die Hügel, die weiten Täler und Berge hineinweinen.

Ihr Schmerz war ein See ohne Ufer. Ein Land aus Scherben und Tränen.

Durch die Ritzen der Tür pfeift leise der Wind und löscht die letzte Glut des Feuers aus. Nun ist es ganz dunkel im Zimmer. Little Pema spürt, wie es in der weichen Mulde, die Po und Rücken in das Fell gegraben haben, allmählich klamm wird. Sie beschließt, durchzuhalten diese Nacht. Sie ist doch schon bald sieben! In der Seitenlage fühlt es sich vielleicht weniger feucht an.

Durch das Fenster kann sie die Sterne funkeln sehen. Wenn Großvater von seiner Zeit im Gefängnis erzählt, sagt er immer: »Mit leerem Magen dauern die Nächte lang.«

Mit nassen Hosen auch, denkt Little Pema und lauscht dem rasselnden Atem des Alten. Wenn der Vater im Haus ist, wohnt Großvater im Stall. »Lieber schlafe ich bei den Viechern als mit diesem Hurensohn unter einem Dach!« Übersiedelt Großvater zurück an das warme Plätzchen hinterm Herd, bringt er mit seinen Fellen auch wieder eine ganze Armee von Flöhen ins Haus. Wenn Little Pema seine krummen Zehen krault, schnurrt Opa wie ein alter Kater.

»Du mußt sehr lieb sein zu Großvaters Füßen«, hat Amala einmal gesagt. Denn als Großvater sich im Gefängnis weigerte, den Dalai Lama eine ›Schlangenzunge‹ zu schimpfen, mußte er eine Winternacht lang auf dem Gefängnishof stehen. Eiskaltes Wasser haben ihm die Wärter über die bloßen Füße geschüttet. Und als er auf dem Beton festgefroren war, haben sie mit ihren Gewehren Löcher in die Luft geschossen und gedroht, auch ihn zu durchsieben, wenn er nicht endlich Beine mache. Als Großvater nicht von der Stelle kam, haben sie gejohlt und ihn schließlich mit Gewalt von der Stelle gerissen.

Großvaters Geschichten waren immer schaurig und schön. Doch seit einiger Zeit redet er nicht viel. Er fürchtet, daß die Zeit nicht mehr reicht, um genügend Mantras für die Verfehlungen seines Lebens zu beten. Wenn Amala spätabends die Löcher in den Zäunen repariert, hockt Little Pema mit Großvater im Dämmerlicht und staunt, mit welcher Hartnäckigkeit der Alte seine Gebete gegen den Himmel schleudert: »Om mani padme hum, Om mani padme hum …« Nachts hängt sein Gemurmel immer noch unter dem undichten Dach ihrer niedrigen Hütte fest – wie der Rauch des erloschenen Herdfeuers.

Jetzt fangen draußen die Hunde an. Jede Familie im Dorf hat ihren eigenen Wachhund. Tagsüber dösen sie faul in der Sonne, mit dicken Stricken an das Leben der Menschen gebunden. Doch nachts, wenn der Mond sich langsam aus der Hochebene löst, wird ihre wilde Seele frei und steigt heulend mit ihm in den Himmel. Wer vor der Zeit des Wolfsgesangs nicht in den Schlaf gefunden hat, bleibt bis zum Morgen wach.

Little Pema zieht fröstelnd ihre steifen Beine an den Bauch. Sie könnte aufstehen und sich aus der Truhe frische Hosen holen, aber da ist die Angst, mit ihren nackten Füßen den eiskalten Boden zu berühren und daran festzufrieren. Obwohl – der Gedanke scheint auch verlockend. Dann bräuchte sie morgens nicht zur Schule zu gehen.

Seit die Uhren in ganz Tibet auf ›Peking-Time‹ umgestellt wurden, wird es im Winter erst vormittags hell. Das kalte Neonlicht in den schlecht isolierten Klassenzimmern läßt die Gesichter der müden Kinder ganz grün aussehen. Bevor sie in die Schule kam, hat Little Pema davon geträumt, Klassenbeste zu werden. Aber ihr Lehrer ist Chinese, und es ist kaum möglich, dem Unterricht zu folgen, wenn man nur Tibetisch spricht. Deshalb hält der Lehrer die tibetischen Kin der in der Klasse für dumm und die chinesischen Kinder für fleißig. Und so wie im Westteil der Stadt die Chinesen leben und im Ostteil die Tibeter, sitzen in der rechten Hälfte des Klassenraums die dummen Kinder und links die fleißigen. Little Pemas Platz befindet sich in der hintersten Ecke rechts außen. Hier läßt es sich am besten träumen. Dem Kauderwelsch des Lehrers zu folgen, hat sie längst aufgegeben. Zwar gibt es auch unter den dummen Kindern welche, die darum kämpfen, irgendwann die Seite wechseln zu dürfen, aber wer im Unterricht schon so weit abgetrieben ist wie Little Pema, hat keine Hoffnung mehr, das rettende Ufer zu erreichen.

Wäre sie doch wenigstens die Schönste in der Klasse! Aber in keinem ihrer Märchen gibt es eine Prinzessin, die nachts ins Bett macht und Löcher in den Strümpfen hat. Prinzessinnen müssen sich auch nicht dafür schämen, daß sie geprügelt werden. Es sind nicht die Flecken und Striemen, die Little Pema daran hindern, ein Mädchen wie alle anderen zu sein. Es ist dieses Gefühl der tiefsten Blöße, das sich wie eine Klette an jede Tracht Prügel hängt. Das letzte Mal hat der Vater sie mit einem feuchten Lappen geschlagen. Danach hatte sie das Gefühl, nicht mehr wert zu sein als der feuchte Lappen, den der Vater in seiner Rage aus dem Putzeimer fischte. Die schönen Mädchen werden bestimmt nicht geschlagen. Ihre Nasen sind zierlich, ihr Lachen klingt hell, und ihre Augen leuchten beim Spielen auf dem Schulhof.

»Ein Khampa-Mädchen muß nicht schön sein«, hat Großvater einmal gesagt, »Hauptsache, es hat Mut.« Aber wer sogar Angst davor hat, nachts aus dem Bett zu klettern, um sich eine frische Hose aus der Truhe zu holen, wird nie ein Held.

Vor ihrem Großvater haben alle Respekt. Denn Kelsang Norbu gilt als der letzte richtige Khampa in der Region. Er hat den erbitterten Widerstandskampf gegen die Chinesen überlebt, nur mit seinem Messer und einer maroden Flinte bewaffnet. Er hat auch die Jahre des großen Hungers überdauert, als die Chinesen die Bauern gezwungen haben, Weizen statt ihrer robusten Gerste anzubauen. Doch die Sommer in Tibet sind kurz, und so hatte der Weizen zuwenig Zeit, um sich goldgelb zu färben. An den Folgen der Mißernten starben Hunderttausende von Tibetern. Nicht Kelsang Norbu.

»Er wird sich erst zum Sterben auf den Acker legen, wenn diese Hundefleischfresser verschwunden sind und Tibet endlich wieder frei ist«, sagen die Alten im Dorf.

Man hat ihnen die Gebetsmühlen aus der Hand, nicht aber die frommen Wünsche aus den Herzen gerissen. Man drehte ihre Uhren um drei Stunden zurück, konnte aber nicht verhindern, daß die Sonne trotzdem wieder am Horizont auftauchte. In den Arbeitslagern verging man sich an ihren Frauen, die wehrlos waren – wie ihre Erde.

Doch die Natur schlägt irgendwann zurück, wenn man sie vergewaltigt. Seit Kolonnen von Lastwägen mit dicken Baumstämmen in Richtung China rollen und nichts zurücklassen als verkarstetes Land, verbrennt die Hitze des Sommers das Gras auf den Weiden. Dann kommen die Leute aus dem Dorf zu Großvater, bringen Biskuits und schwarzen Tee: »Unsere Yaks werden sterben, wenn du nicht hinausgehst und mit den Göttern sprichst«, sagen sie und beugen ihre Nasen bis auf den Boden hinunter. Auch die Jungen, die schon lange nicht mehr in den Tempel gehen. Statt dessen in den Karaokebars der Stadt betrunken chinesische Schlager grölen. Doch den Chinesen ist es egal, wenn die Weiden braun sind und den hungrigen Yaks das Fell schon bis zum Boden hängt. Viehsteuer ist Viehsteuer, und Grassteuer ist Grassteuer. Dann schnürt Großvater sein Tsampabündel und schlüpft in seinen alten Mantel aus gewalkter Wolle, um auf den Hügel zu steigen, den sie im Dorf den ›Geierthron‹ nennen.

Dort sitzt Großvater dann an einen spitzen Fels gelehnt, eingehüllt in seine Erinnerungen. Ißt nichts. Trinkt nichts. Oft tagelang. Auch der eisige Wind und die Einsamkeit der Nacht rütteln nicht an seinem eisernen Willen, dunkle Regenwolken hinter dem Horizont hervorzulocken. Die Augen – zwei tränende Schlitze – an den tiefen Himmel geheftet, schickt er seine Gebete zu den Göttern. Streut er goldgelbes Tsampa als Opfergabe in den Wind, freuen sich Rebhuhn und Murmeltier.

Einmal haben sich die Jungs aus dem Dorf mit ihren Steinschleudern auf den Geierthron geschlichen. Little Pema stolperte ihnen hinterher, um Großvater zu warnen, war aber dann doch zu neugierig. Sie zielten auf die Türkise in Großvaters Zöpfen. Trafen aber nicht. Sie schossen an seiner hageren Schulter vorbei ins Leere, und auch seine breite Nase verfehlten sie mit zittriger Hand. Vielleicht war es die seltsame Stimmung, die den meditierenden Alten umgab. Wahrscheinlich aber der gruselige Ruf des Ortes, der sie nervös machte. Hier soll früher einmal ein riesiger Geier mit gebrochenen Flügeln gehockt haben – so lange, bis er sich in den Felsen verwandelte, an den der Großvater nun seinen krummen Rücken lehnt.

Little Pema kann sich nicht erinnern, daß es Großvater jemals wirklich gelungen wäre, Regen zu erbitten. Aber solange Schafe und Yaks die Dürre überleben, sind die Bauern zufrieden, und man ist stolz darauf, einen Regenmacher unter sich zu haben.

Sie haucht in die Nacht. Vielleicht können die Geister ihren Atem sehen. Es ist jetzt eisig kalt in der Hütte. Großvater hustet. Ein trockener Husten, der den ausgemergelten Körper beutelt. Der große Dolch klappert im silbernen Futteral. Großvater nimmt ihn sogar mit ins Bett. Türkise und rote Korallen zierten einst den prächtigen Schaft seiner Waffe. Die Steine sind längst ausgefallen. Wie Großvaters Zähne. Doch die Schneide ist immer noch scharf. So wie sein Geist.

Den Schwiegersohn hat Kelsang Norbu von Anfang an nicht leiden können, denn er war ein ›Überläufer‹, der mit chinesischen Thermoskannen handelte und Regenjacken, die keiner mehr brauchte. Unter normalen Umständen wäre ihm der junge Mann nie über die Schwelle gekommen. Doch als seine Tochter sich in diesen Taugenichts aus Chamdo verliebte, saß er wieder einmal im Gefängnis: Er hatte zum nationalen Feiertag der Besatzer statt der chinesischen Flagge seine langen Unterhosen aufs Dach gehängt. »Zum Lüften«, wie er den Polizisten beteuerte.

Normalerweise übersiedelt die Braut nach der Hochzeit zur Familie des Mannes. Doch da der Bräutigam weder Haus noch Familie hatte, die Frischvermählte aber ein Haus, in dem der Mann fehlte, wurde von nun an unter Kelsang Norbus undichtem Dach der tibetische Buttertee in chinesischen Thermoskannen serviert.

Ein Scheppern in den Regalen reißt Little Pema aus ihren Gedanken. Ratten. Sie sausen von links nach rechts und quer durch den Raum. Vielleicht sind es zwei, vielleicht auch mehr. Wie sind sie in die Hütte gekommen?

»Die Leere in unserem Speicher lockt das Ungeziefer ins Haus«, schimpft Großvater immer, »bald besteuern die Chinesen auch noch die Lumpen, die wir auf dem Körper tragen. Bis irgendwann gar nichts mehr von uns übrigbleibt, nur unsere blanken Knochen!«

Peng! Das war eine Opferschale, die scheppernd zu Boden ging.

Stille.

Die Mutter ist nicht aufgewacht. Auch Großvaters gleichmäßiger Atem rasselt weiter durch die Nacht.

Einmal hat Little Pema im Stall junge Ratten gefunden. Sie waren gerade neu geboren, und ihre Haut war noch ganz rosig. Großvater hat sie hinaus in die Felder getragen. Seit er aus dem Gefängnis zurück ist, tötet er keine Tiere mehr. Den Hund hat er auch von der Kette gelassen. Der ist jetzt sanft und schlägt nicht mehr an.

Großvater hat nie darüber gesprochen, wie viele Chinesen er auf dem Gewissen hat. Der Widerstandskampf ist lange her, und wenn es um die Freiheit geht, drücken die Götter vielleicht ein Auge zu.

Wenn diese Nacht ewig dauern würde, müßte sie morgen nicht zur Schule gehen.

Wenn diese Nacht ewig dauern würde, müßte sie keine Angst mehr haben – vor dem Vater und der Schmach, verprügelt zu werden.

Wenn diese Nacht ewig dauern würde, wären auch die Löcher in ihren Strümpfen egal.

Wenn diese Nacht ewig dauern würde, bräuchte sie nicht nach Indien zu gehen.

Doch wenn diese Nacht ewig dauern würde, müßte auch Großvaters Gebetsmühle für immer ruhen.

»Kommst du mit?« hatte sie ihre Ama gefragt, nachdem sich die Sonne hinter den Bergen verkrochen hatte.

»Ich bleibe bei Großvater und Tashi. Tashi ist zu klein und der Großvater zu alt für den weiten Weg.«

»Wann muß ich gehen?«

»Sobald es die Würfel mir sagen.«

Köln, im Winter 1997

Nirgendwo fühle ich mich so wohl, wie auf Jürgens grauer, abgewetzter Couch, deren Anblick nur durch einen üppig geblümten IKEA-Überwurf erträglich ist.

Jürgen ist Journalist bei der Tagesschau, mein bester Freund, und wenn ich Angst vor wirren Träumen habe, darf ich bei ihm klingeln, zweimal kurz, einmal lang, dann weiß er, daß ich es bin. Denn in meiner engen Dachbude lebt es sich gefährlich als Schlafwandlerin. Vor einigen Tagen bin ich aufgewacht, als ich mich mit nackten Armen durch den Schnee wühlte, der nachts auf Köln herabgefallen war. Ich hatte von einem verlorenen Schlüssel geträumt und war gerade dabei, ihn auf meinem verschneiten Dach zu suchen. Jürgen wohnt im zweiten Stock, und seine Nähe bringt mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Außerdem finde ich es absurd, daß jeder Single in Köln in seiner eigenen Single-Wohnung schlafen soll. Außerdem hätte ich bei mir ohnehin keinen Parkplatz mehr gefunden. Außerdem ist meine Heizung kaputt, und außerdem habe ich Hunger.

Jürgen weiß, wie man über Internet eine vegetarische Pizza ohne Knoblauch, Zwiebeln, Käse, Ei, dafür aber mit doppelter Portion Tomaten und Brokkoli bestellt, und sein Thermostat steht von Anfang September bis Ende Mai auf fünfundzwanzig Grad plus.

Jeden Morgen fahre ich mit Jürgens rotem Golf und schwarzgefärbten Haaren nach Wiesbaden, wo ich gerade dabei bin, mich als türkische Physiotherapeutin in einen hessischen Biobauern zu verlieben. Ich bin eine mittelmäßig talentierte Schauspielerin der SAT-I-Vorabendserie ›Kurklinik Rosenau‹. Meistens bewege ich mich joggend oder schwimmend durchs Bild, manchmal darf ich auch was sagen oder meinen attraktiven Filmpartner küssen. In der nächsten Staffel werde ich sogar ein Kind bekommen und freue mich jetzt schon auf die Drehtage mit umgeschnallten Kissen unterm T-Shirt.

Heute scheint Jürgens Pizzabestellung abgestürzt zu sein. Jetzt bleibt nur noch die Schokocreme auf seinem Küchenregal, denn Jürgens Kühlschrank macht mir angst: Fleischwurst, Majo und Kölsch. Wie schade, daß Jürgen schon schläft. Er hätte sich für mich bestimmt noch in die feuchtkalte Nacht hinausgewagt, um sich auf die Suche nach einem offenen Büdchen zu machen. Und zweifelsohne hätte er reiche Beute nach Hause gebracht: Krokantschokolade, Pringles und eine Familienpackung Milky Ways.

Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit Heißhunger durch die Fernsehprogramme zu arbeiten: die öffentlich-rechtlichen, für die ich gerne arbeiten würde, die privaten, von denen ich lebe, vorbei an VIVA, VIVA 2 und MTV, schnell weiter durch die seltsamen Zwanziger-Programme, bis ich schließlich wieder beim Ersten angelangt bin. Hier läuft ein österreichischer Krimi aus den frühen Achtzigern. ›Kottan ermittelt‹ – absolut genial! Als Kind habe ich mein Ohr an der Wand zu unseren schwerhörigen Nachbarn plattgedrückt, um den Kottan wenigstens als ›Hörspiel‹ zu verfolgen. Meistens hatte ich ja Fernsehverbot, wollte aber auf dem Schulhof unbedingt mitreden können. Jetzt muß ich mir den ›Kottan‹ selbst verbieten, sonst verfalle ich über Nacht noch in meinen Wiener Slang, den ich mir hart abtrainieren mußte, um bei SAT I als ›Quoten-Türkin‹ durchzugehen.

Auf dem Zweiten erhasche ich gerade noch das Ende eines Beitrags über die gesundheitlichen Risiken einer Brustvergrößerung. Das nächste Thema der Sendung: tibetische Kinder, die ohne ihre Eltern über den Himalaya nach Indien flüchten. Die Fotos eines erfrorenen Mädchens – nicht älter als zehn – und eines noch kleineren Jungens werden gezeigt. Ein Bergsteiger war zufällig auf ihre Leichen gestoßen, als er illegal das tibetisch-nepalesische Grenzland durchstreifte.

Der Anblick dieser Kinder trifft mich genau da, wo ich am verwundbarsten bin. Verloren, verlassen, von ihren Eltern über das höchste Gebirge der Welt ins Exil geschickt – mit dünnen Stoffschuhen an den Füßen, die kleinen, zerbrechlichen Finger nicht einmal durch warme Handschuhe geschützt. Ich ahne, wie kalt es da oben ist in den Nächten und wie knapp die Luft zum Atmen. Ich weiß, wie häßlich Erfrierungen aussehen. Bergsteigen ist so ziemlich das einzige, was ich recht gut kann.

Ich hole mein Bettzeug aus der Weidentruhe, drehe Licht und Fernseher ab, verkrieche mich in Jürgens grauer Couch. Doch meine Gedanken lassen sich nicht abstellen. Waren die Kinder Geschwister? Haben sie sich ganz alleine auf den Weg gemacht? Oder waren sie Teil einer Gruppe und sind in einem Schneesturm verlorengegangen? Hat ein skrupelloser Schlepper sie im Stich gelassen, weil ihr langsames Tempo den Rest der Gruppe gefährdete? Was ist mit den Eltern? Wie konnten sie so verantwortungslos sein, die Kleinen im Winter über die Berge zu schicken? Warum sind sie nicht mitgegangen, warum haben sie ihre Kinder nicht ins Exil begleitet? Wissen sie überhaupt, daß ihre Kleinen dort oben im Himalaya erfroren sind? Das muß das Schlimmste für ein Kind sein: nicht in den tröstenden Armen der Mutter, sondern ganz alleine da oben in der Eiswüste zu sterben – in dem Bewußtsein, daß es die Eltern nie erfahren werden. Ich weine in mein Kissen, doch weil Jürgen mich nicht hört, schlafe ich schließlich ein. Im Traum werden die Bilder lebendig. Ich sehe die beiden Kinder in einer gigantischen eisgrauen Kulisse umherirren. Nicht ein kleiner Pfad, der ihnen Halt gäbe! Nicht eine Yakflade, die die vertraute Nähe von Menschen angekündigt hätte! Und als die Berge nachts zu schwarzen Ungeheuern werden, läßt sich der kleine Bruder auf den gefrorenen Schnee fallen und weint nach seiner Mutter. Die Schwester hält seine kalten Hände. Verspricht, daß sie nach Hause zurückkehren werden, wenn wieder Tag ist. Doch als Nomadenmädchen weiß sie, daß die Eiseskälte sie für immer an das Schneebett fesseln wird.

Als ich aufwache, höre ich Jürgen in der Küche Orangensaft pressen. Der Kaffee ist auch bereits gekocht, nur der Bäcker hatte noch nicht offen.

»Ich weiß, was ich von Beruf machen möchte.«

»Du bist Schauspielerin.«

»Ich möchte aber Bergführerin sein.«

»Da wirst du hier im Rheinland sicher schnell einen Job finden.«

»Nicht hier. Im Himalaya. Ich werde tibetische Kinder auf ihrer Flucht begleiten.«

Bevor Jürgen mich mit seinem Sarkasmus mundtot machen kann, verschwinde ich im Bad und verriegle die Tür. Ich dusche kalt, um mich schon mal auf die Kälte in sechstausend Metern Höhe vorzubereiten. Plötzlich ergibt alles einen Sinn: daß ich am Samstagabend das Fitneß-Studio immer als letzte verlasse, um am Sonntagmorgen beim Lauftraining die erste zu sein. Daß meine Ururgroßtante Paula die erste Skispringerin Österreichs war (mit langen wehenden Röcken sprang sie achtundzwanzig Meter weit); und daß Heinrich Harrer meiner Mutter zur Hochzeit drei silberne Opferschalen aus Tibet schenkte.

Beim gemeinsamen Frühstück ohne Brötchen, Müsli und Ei fragt mich Jürgen meinen mageren Text für den heutigen Drehtag ab.

Tamding, der Amdo-Boy

»Amdo ist die schönste Provinz in Tibet. In Amdo ist Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, geboren. Ich bin auch ein Amdo- Boy, und ich erinnere mich, daß die Leute über unseren Ort sagten, daß er der beste von Tibet sei!

Ich lebte in einem kleinen Dorf, wo fast alle Familien Bauern sind. Meine Eltern hatten nur ein kleines Haus, und wir teilten uns zu fünft ein großes Bett: Amala, Paala, meine Brüder und ich.

Meine Großeltern lebten auch bei uns, und ich liebte sie sehr. Sie sind es, die ich heute am meisten vermisse.

Meine Mutter zeigte mir alles, was man als Bauer wissen muß. Deshalb weiß ich, wie hart das Leben der Bauern in Tibet ist. Wenn ich daran denke, tut es mir immer so leid für sie.

Meine Familie hatte große Probleme, denn wir hatten nie genug zu essen. Wann immer die chinesische Regierung Arbeiter zum Straßenbau brauchte, holten sie die Männer unseres Dorfes. Dann fehlte Vater auf dem Feld und bei den Tieren. Außerdem war es schlimm mit den Steuern. Wenn ein Kind zuviel in der Familie war, mußten die Eltern dafür Strafe zahlen …« TAMDING

»Seht ihr die drei Sterne?« Paala deutete in den Himmel, wo direkt über ihnen der Gürtel des Orion auf die Berge herabblickte. Die drei Himmelskörper, die wie auf einer imaginären Geraden nebeneinander um die Wette funkelten, machten es Tamding leicht, das Sternzeichen als erster zu erkennen. Aber auch seine Brüder Mipam und Dorjee hatten es schnell gefunden. Dann sprach Vater davon, daß er sie alle drei gleichermaßen lieben würde. Und daß er keinen von ihnen missen wolle – so wie Orion auf keinen seiner drei Sterne verzichten konnte. Es sollte nie einen Unterschied zwischen den Brüdern geben.

Tamding wußte, daß sein Paala aus dem Herzen sprach. Sein Vater war der beste Mensch in der Familie. Und doch – es gab einen Unterschied zwischen ihm und seinen Brüdern. Tamding war der Jüngste. Er war derjenige, für den die Eltern hohe Steuern an die Chinesen zahlen mußten. Denn in seiner Provinz ist es nicht erlaubt, mehr als zwei Kinder zu haben. Für jedes weitere verlangt die Regierung so hohe Steuern, daß es die meisten Familien in den wirtschaftlichen Ruin treibt.

»Wegen des Dritten« mußte Amala schon seit Jahren dieselbe abgewetzte Chuba tragen. »Wegen des Dritten« hatte Paala eine tiefe Sorgenfalte zwischen den Brauen. »Wegen des Dritten« konnten sie für Großvater keine Medikamente kaufen. »Wegen des Dritten« wurden der Erste und der Zweite nicht satt. Natürlich hatte das nie jemand in der Familie so ausgesprochen. Es war Tamding, der es dachte und fühlte.

Die Nacht, in der der Vater seinen Söhnen das Dreigestirn am Himmel zeigte, war die erste, in der Tamding draußen in den Bergen übernachten durfte. Das war an seinem sechsten Geburtstag, und der Vater nahm den Jüngsten zu sich unter den weiten Fellmantel.

Die drei Brüder am Himmel sind seitdem Tamdings liebstes Sternzeichen. In den Wintermonaten stehen sie frühmorgens noch am Himmel und warten darauf, daß Tamding mit seiner Schultasche aus der Haustür schlüpft, den Bach entlang bis zur Brücke läuft, auf den kleinen Felsen klettert und zusieht, wie sie sich langsam drehend hinter den Horizont schieben, einer nach dem anderen.

So beginnt jeder Morgen für Tamding mit einem kleinen Abschied.

Doch bevor die leise Melancholie dieser Stunde nach Tamdings Herz greifen kann, kommt meist auch schon Jamjang vom anderen Ufer über die Brücke gekeucht, um Luft und dumme Ausreden für seine Verspätung ringend.

Jamjang ist Tamdings bester Freund, und er ist auch der Beste in der Klasse, weil Tamding ihn immer abschreiben läßt. Tamding ist Zweitbester, weil er das schlechtere Schreibzeug hat. Die billigen Kulis aus China machen so häßliche Kleckse und verschmieren die Schriftzeichen auf dem schlechten Schulpapier. Jamjang schreibt seine Arbeiten mit einem guten Füller aus dem Westen. Er hat keine Geschwister, und seine Großeltern brauchen keine teuren Medikamente, weil sie schon lange gestorben sind. Doch Tamding ist seinem Freund nicht neidisch. Es ist besser, einen billigen Kuli und dafür noch Großeltern zu haben. Sie kennen all die alten Geschichten von Tibet und viele Lieder.

Früher mußten die heiratsfähigen Männer in Amdo gut singen können, sonst haben sie keine Frau abbekommen. In großen Gruppen sind sie damals in die Nachbardörfer gezogen, um unter den Fenstern ihrer Auserwählten zu singen. Wer da keine Luft in den Lungen hatte, mußte mit den Geiernasigen vorliebnehmen, der häßlichen Schwester oder einer grauhaarigen Witwe.

Großvater hat die schönste Frau bekommen, und er ist immer noch ein guter Sänger.

Als Paala der Familie mit sorgenvoller Miene eröffnete, daß es zu Losar in diesem Jahr weder neue Kleider für die Kinder noch Biskuits für die Gäste geben würde, schlug Großvater auf den Tisch und rief: »Dann singen wir eben! Solange wir singen, merken die Neujahrsgäste nicht, daß unsere Hosen zu kurz und unsere Teller leer sind!«

Doch neue Kleider gehören zu Losar wie die Hörner zum Yak. Und die Süßigkeiten müssen auf den Teller wie der Schnee auf die Gipfel der Berge. Das Aufregendste an dem dreitägigen Neujahrsfest ist ja, daß man Besuch von befreundeten Familien bekommt und auch selber in andere Häuser eingeladen wird. Es sind die Tage im Jahr, an denen man sich nach Herzenslust satt essen kann. Die Amalas machen ›Kabzes‹, verschlungene Bänder aus süßem Teig, in Aprikosenkernöl gebacken. Dazu servieren die Väter salzigen Tee und süße Biskuits für die Kinder. Ist man bei einer armen Familie zu Besuch, zeugt es von guter Haltung, die Biskuits auch nach mehrfachem Anbieten dankend abzulehnen. Und jeder im Dorf wußte, daß sie arm waren. Aber es ging um die Geste! Es ging darum, etwas zum Anbieten zu haben! Es ging um den vollen Gästeteller auf ihrem Tisch. Denn Überfluß verspricht Glück für das kommende Jahr.

Tamding ahnte schon lange, daß die Mutter kein Geld mehr für Süßes haben würde. Denn nach Losar mußte auch das Schulgeld entrichtet werden, das Jahr für Jahr wie ein Bergwiesel in die Höhe kletterte. Amala war dieses Jahr nicht einmal in die Stadt gefahren, um Stoff für neue Chubas und Hosen zu kaufen. Daß sie ihre Kleider noch ein weiteres Jahr tragen müssen, finden nur Mipam und Dorjee schlimm, weil sie schon älter sind und den Mädchen gefallen wollen. Für Tamding ist es noch das Wichtigste, ein guter Schüler zu sein. Und das schafft man auch mit Hosen, die gerade mal über die Knie reichen.

Nach der Schule will Tamding zu dem Kloster, das vor langer Zeit am Rand ihres Dorfes in einen Berg hineingehauen wurde. So konnte es während der Kulturrevolution nicht zerstört werden. Die Chinesen hätten den ganzen Berg niederreißen müssen. Nur Chenresig, der Buddha des Mitgefühls, mußte seine tausend Arme lassen, wie ein Pfau seine Federn. Daß die neuen Arme nicht vergoldet, sondern nur mit billiger Goldfarbe bemalt sind, hat seiner Autorität nicht geschadet. Und so werfen sich Tamding und Jamjang mit großer Ehrfurcht vor ihm nieder. Dreimal. Dann hocken sie sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ihre Schultaschen und Tamding richtet still seine Bitte an den Tausendarmigen:

»Großer Buddha. Jede Nacht höre ich Ama weinen, denn mein Schlaf ist der eines Wachhundes. Wenn die Götter nicht bald Biskuits und Kekse vom Himmel schicken, werde ich gehen. Irgendwohin, wo ich nicht länger der Dritte bin.«

Chenresig ist riesengroß. Drei Meter oder mehr. Wenn er zuhört, sind seine Augen halb geöffnet. Und halb geschlossen sind sie, wenn er in Versenkung ruht. Zu seinen Füßen liegen die Opfergaben der Dorfbewohner: Tsampa, Reis, Brot, Kekse und Biskuits. Wer arm ist, bringt eine Schale mit Wasser. Vor wenigen Tagen feierte ein wohlhabender Mann aus dem Dorf seine Hochzeit. Die Süßigkeiten zu Füßen des Buddhas müßten also noch frisch sein und wurmfrei. Kekse mit bröckeliger Schokoladencreme, einfache Biskuits und solche mit Marmelade … Es würde bestimmt nicht auffallen, wenn ein oder zwei Packungen fehlten.

Verstohlen schielt Tamding nach dem dicken Mönch, der Tempeldienst hat. Er sortiert die Butterlampen aus, die schon heruntergebrannt sind. Mit einer langen Zange, damit er sich nicht die Finger verbrennt, läßt er sie laut klappernd in einen schmierigen Eimer fallen. Tamding zuckt zusammen. Nein. Es ist schlimm genug, auch nur daran zu denken! Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer machen sich nachts heimlich über die Opfergaben her, doch nicht er!

»Warum ist der Tempelmönch so dick?« fragt sich Jamjang auf dem Nachhauseweg.

»Weil er nicht auf dem Feld arbeiten und vermißten Schafen hinterherrennen muß«, meint Tamding.

»Aber vom Beten allein wird man doch auch nicht satt!«

»Manchmal geschehen Wunder.«

»Ich glaube, daß er von den Opfergaben nascht.«

»Das glaub’ ich nie und nimmer!« ereifert sich Tamding. »Wer den Göttern die Gaben stiehlt, wird als Ratte wiedergeboren!«

Am letzten Schultag vor Losar gibt der Lehrer die Plazierungen der Schüler bekannt. Es ist eine kleine Dorfschule, die Tamding besucht. Es gibt nur sechs Klassen und sechs Lehrer. Sie sind alle Tibeter, müssen sich aber strikt an den Unterrichtsstoff halten, den die Chinesen vorschreiben. An der Wand über der Tafel hängt ein Bild von Mao Zedong.

Der Lehrer ist nett, und er hat eine Neujahrsüberraschung mitgebracht: Für jedes Kind gibt es heute ein klebriges Bonbon. Für die drei besten Schüler sogar ein Geschenk.

Tamding spürt dieses seltsame Prickeln unter den Haaren. Es meldet sich immer, wenn er aufgeregt ist oder Gefahr droht.