Über José Saramago

José Saramago (19222010) wurde im portugiesischen Azinhaga geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hoffmann und Campe erschienen u. a. Die Reise des Elefanten, Kain, der Gedichtband Über die Liebe und das Meer und 2013 (erstmals) sein Roman Claraboia aus dem Jahr 1953. 2015 wurde Hellebarden veröffentlicht, ein Romanfragment, an dem José Saramago bis zu seinem Tod gearbeitet hatte.

Für Pilar, bis zum letzten Augenblick

Für Ray-Güde Mertin

Für Pepa Sánchez-Manjavacas

Das Chaos ist eine Ordnung, die entschlüsselt werden muss.

Buch der Gegensätze

Ich glaube, dass ich auf diesem Wege manchen Gedanken erhasche, den der Himmel für einen anderen bestimmt hat.

Laurence Sterne

Der Mann, der soeben den Laden betreten hat, um sich einen Videofilm auszuleihen, führt in seinem Personalausweis einen keineswegs alltäglichen Namen, einen Namen von klassischem Ruch, der jedoch mit der Zeit ranzig geworden ist, nämlich Tertuliano Máximo Afonso. Den Máximo und den Afonso, beides gängigere Namen, kann er noch hinnehmen, wenngleich auch das stimmungsabhängig ist, doch der Tertuliano lastet wie ein schwerer Stein auf ihm, seit ihm erstmals klar geworden ist, dass dieser unselige Name mit verletzender Ironie ausgesprochen werden kann. Tertuliano Máximo Afonso ist Geschichtslehrer an einem Gymnasium, und der Videofilm war ihm von einem Arbeitskollegen empfohlen worden, der ihn jedoch gleich gewarnt hatte, Es ist kein filmisches Meisterwerk, aber er wird Sie bestimmt anderthalb Stunden lang unterhalten. Tatsächlich braucht Tertuliano Máximo Afonso dringend Ablenkung, denn er lebt allein und langweilt sich, oder, um es mit der heutzutage geforderten klinischen Präzision auszudrücken, er ergibt sich gelegentlich jener seelischen Schwäche, die gemeinhin unter dem Namen Depression bekannt ist. Zur Verdeutlichung seines Falles sei hier nur erwähnt, dass er verheiratet war und nicht mehr weiß, wie es zu der Ehe kam, dass er sich scheiden ließ und heute nicht einmal mehr an die Gründe denken will, die zur Trennung führten. Doch wenigstens gingen aus dieser missglückten Verbindung keine Kinder hervor, die nun von ihm erwarteten, die Welt auf einem Silbertablett serviert zu bekommen, doch auch die holde Geschichte, dieses ernsthafte Lehrfach, das zu unterrichten er berufen wurde und das ihm tröstliche Zuflucht sein könnte, betrachtet er seit langem schon als verlorene Liebesmüh, als Fass ohne Boden. Für wehmütige, eher zerbrechliche und unflexible Naturen ist das Alleinewohnen eine harte Strafe, doch führt eine solche, zugegebenermaßen schmerzliche Situation nur in den seltensten Fällen zu einem erschütternden und haarsträubenden Drama. Weiterhin haben wir es hier, und das überrascht uns nicht einmal mehr, mit Menschen zu tun, die geduldig die minutiöse Betrachtung ihrer Einsamkeit über sich ergehen lassen, was die folgenden Beispiele aus jüngster Vergangenheit belegen, die zwar nicht sehr bekannt wurden, doch in zwei Fällen sogar einen unglücklichen Ausgang nahmen, jener Porträtmaler, von dem wir nie mehr als die Initialen seines Namens erfuhren, jener praktische Arzt, der aus dem Exil zurückkehrte, um in der geliebten Heimat zu sterben, jener Korrektor, der eine Wahrheit verbannte, um an ihre Stelle eine Lüge zu setzen, jener kleine Angestellte des Personenstandsregisters, der Sterbeurkunden verschwinden ließ, alles Menschen, die durch Zufall dem männlichen Geschlecht angehörten, jedoch nicht das Pech hatten, Tertuliano zu heißen, was für sie im Umgang mit ihren Mitmenschen gewiss von unschätzbarem Vorteil war. Der Ladenverkäufer, der bereits die gewünschte Kassette aus dem Regal geholt hatte, notierte den Filmtitel und das Datum in der Liste der ausgeliehenen Filme und zeigte dann dem Kunden, wo er zu unterschreiben hatte. Die nach kurzem Zögern geleistete Unterschrift wies nur die beiden letzten Bestandteile des Namens auf, Máximo Afonso, das Tertuliano fehlte, doch murmelte der Kunde während des Schreibens, als hätte er beschlossen, eine Sache klarzustellen, die später vielleicht zu Unstimmigkeiten Anlass geben könnte, So ist es kürzer. Es half ihm nicht viel, sich selbst verstümmelt zu haben, denn der Verkäufer sprach, als er die Daten aus dem Personalausweis auf eine Karteikarte übertrug, den unglückseligen, altmodischen Namen laut aus, und zwar in einem Ton, dessen Absicht selbst dem arglosesten Geschöpf deutlich geworden wäre. Wir glauben, dass niemand wagen wird zu behaupten, er hätte nie eine solche Schmach erlebt, und sei sein Leben auch noch so frei von Widrigkeiten gewesen. Denn früher oder später treffen wir auf eines dieser robusten Wesen, die für die menschlichen Schwächen, insbesondere diese empfindlichen, nur ein spöttisches Lachen übrig haben, man trifft sie nämlich immer, und dann sollten wir wissen, dass bestimmte unartikulierte Laute, die wir zuweilen ungewollt ausstoßen, nichts anderes sind als nicht zu unterdrückende Seufzer über einen alten Schmerz, so etwas wie Narben, die man plötzlich wieder spürt. Während Tertuliano Máximo Afonso die Kassette in seiner altgedienten Aktentasche verstaut, bemüht er sich mit bemerkenswerter Mannhaftigkeit, sich die Kränkung über die geschmacklose Anspielung des Verkäufers nicht anmerken zu lassen, doch kann er sich des Gedankens nicht erwehren, auch wenn er sich sogleich für diese billige, ungerechte Bezichtigung tadelt, dass eigentlich der Kollege schuld ist, beziehungsweise diese Manie bestimmter Leute, ungebeten Ratschläge zu erteilen. Wie gern schieben wir die Schuld auf andere, ferne Dinge, wo uns in Wirklichkeit doch nur der Mut fehlt, uns dem zu stellen, was wir vor der Nase haben. Tertuliano Máximo Afonso weiß nicht, kann sich nicht vorstellen, kann nicht ahnen, dass der Verkäufer seine unschöne Entgleisung bereits bereut hat, ein anderes Gehör, feiner als das seine, das in der Lage gewesen wäre, die winzige stimmliche Veränderung zu erkennen, mit der der Verkäufer als Antwort auf das ihm hingeworfene Auf Wiedersehen seine Gefälligkeit signalisierte, hätte wahrgenommen, dass sich dort hinter der Ladentheke ein deutlicher Versöhnungswille abzeichnete. Denn schließlich gilt das in der Antike wurzelnde und in jahrhundertelanger Praxis erprobte kaufmännische Prinzip, Der Kunde hat immer Recht, selbst in dem unwahrscheinlichen, aber möglichen Fall, dass dieser Tertuliano heißt.

Als er bereits in dem Bus saß, der ihn in die Nähe des Hauses bringen sollte, in dem er seit sechs Jahren wohnte, nämlich seit er sich hatte scheiden lassen, ertappte sich Máximo Afonso dabei, wir verwenden hier die Kurzversion, weil dies unserer Ansicht nach jener gewährt, der sein alleiniger Träger und Besitzer ist, doch insbesondere, weil das Wort Tertuliano, das nicht weit von dieser Stelle, nur ein paar Zeilen weiter oben, bereits einmal dasteht, den Fluss dieses Textes ernstlich stören würde, Máximo Afonso ertappte sich also, wie wir sagten, mit jäher Befremdung, mit jähem Erstaunen bei der Frage, aus welch merkwürdigem Grunde, mit welch spezieller Absicht der Mathematikkollege, wir vergaßen zu erwähnen, dass der Kollege Mathematiklehrer ist, ihm wohl mit derartigem Nachdruck diesen Film ans Herz gelegt hatte, den er sich gerade ausgeliehen hatte, wo doch die so genannte Siebente Kunst eigentlich nie ein Thema zwischen ihnen gewesen war. Man könnte die Empfehlung noch verstehen, wenn es sich um einen dieser guten, unstrittigen Filme handelte, denn dann hätte die Freude, die Begeisterung über die Entdeckung eines Werkes von großer künstlerischer Qualität den Kollegen dazu veranlasst haben können, ihn beim Mittagessen in der Kantine energisch am Ärmel zu zupfen und zu sagen, Wir haben zwar, soweit ich weiß, nie über Kino gesprochen, aber ich kann Ihnen nur empfehlen, mein Lieber, sehen Sie sich unbedingt Wer Streitet, Tötet, Jagt an, so lautet nämlich der Titel des Films, den Tertuliano Máximo Afonso in seiner Tasche hat, auch diese Information fehlte noch. Dann hätte der Geschichtslehrer gefragt, In welchem Kino läuft er denn, worauf der Mathematiklehrer ihn berichtigt hätte, Er läuft gar nicht mehr, er ist einmal gelaufen, der Film ist schon vier oder fünf Jahre alt, ich weiß gar nicht, wie ich ihn damals verpassen konnte, und dann, bruchlos, beunruhigt über die mögliche Vergeblichkeit seines mit solcher Begeisterung erteilten Ratschlags, Aber vielleicht haben Sie ihn ja schon gesehen, Nein, das habe ich nicht, ich gehe selten ins Kino, mir reicht das, was im Fernsehen kommt, und selbst das ist schon zu viel, Ja, dann sollten Sie ihn sich ansehen, Sie bekommen ihn in jedem besseren Fachgeschäft, leihen Sie ihn sich aus, wenn Sie ihn nicht kaufen wollen. So ungefähr hätte das Gespräch ablaufen können, hätte der Film diese Lobeshymnen verdient, doch in Wirklichkeit war alles sehr viel unspektakulärer gewesen, Ich will mich ja nicht in Ihr Leben einmischen, hatte der Mathematiklehrer gesagt, während er eine Orange schälte, aber in letzter Zeit kommen Sie mir ein wenig niedergeschlagen vor, und Tertuliano Máximo Afonso bestätigte, Das stimmt, es geht mir nicht so gut, Gesundheitliche Probleme, Ich glaube nicht, dass ich krank bin, soweit ich das beurteilen kann, aber irgendwie ödet mich alles an, diese verfluchte Routine, diese ewige Wiederholung, dieses Auf-der-Stelle-Treten, Sie müssen sich zerstreuen, mein Lieber, Zerstreuung war immer schon das beste Heilmittel, Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Zerstreuung ein Heilmittel für jene ist, die es gar nicht nötig haben, Eine gute Antwort, zweifelsohne, dennoch werden Sie etwas tun müssen, um diese Niedergeschlagenheit, die sie befallen hat, wieder loszuwerden, Diese Depression, Depression oder Niedergeschlagenheit, das kommt auf dasselbe heraus, die Reihenfolge der Faktoren ist willkürlich, Aber nicht ihre Intensität, Was machen Sie außerhalb der Schule, Ich lese, höre Musik, ab und zu gehe ich auch mal in ein Museum, Und ins Kino, Ins Kino gehe ich selten, ich begnüge mich mit dem, was im Fernsehen läuft, Sie könnten sich ein paar Videofilme kaufen, eine kleine Sammlung anlegen, eine Videothek, wie man heute sagt, Ja, das könnte ich in der Tat, nur dass ich jetzt schon keinen Platz mehr für meine Bücher habe, Dann leihen Sie sich Videos aus, Ausleihen ist die bessere Alternative, Ich besitze ein paar Videos, wissenschaftliche Dokumentationen, aus dem Bereich der Naturwissenschaft und Archäologie, der Anthropologie und der Kunstgeschichte, auch die Astronomie interessiert mich, all diese Themen, Das ist ja alles gut und schön, aber Sie sollten sich mit Geschichten ablenken, die nicht so viel Raum in Ihrem Kopf einnehmen, zum Beispiel könnte ich mir vorstellen, dass Sie sich, da Sie sich für Astronomie interessieren, auch für Science-Fiction-Filme interessieren könnten, für Abenteuer im Weltall, den Krieg der Sterne, für die Spezialeffekte, Meiner Meinung nach sind diese Spezialeffekte, diese geheimnisvollen, rätselhaften Tricks, die sich die Menschen in so mühevoller Arbeit ausdenken, der schlimmste Feind der Phantasie, Jetzt übertreiben Sie aber, mein Lieber, Ich übertreibe nicht, wer übertreibt, sind die, die mich davon überzeugen wollen, dass ein Raumschiff in weniger als einer Sekunde mit einem einzigen Fingerschnippen um hunderttausend Millionen von Kilometern versetzt werden kann, Sie müssen aber zugeben, dass man ebenfalls Phantasie braucht, um diese Effekte zu schaffen, die Sie so verteufeln, Ja, aber das ist deren Phantasie, nicht meine, Es steht Ihnen doch frei, ihre eigene zu benutzen, wenn Sie an dem Punkt ansetzen, an dem deren Phantasie angelangt ist, Na, na, zweihunderttausend Millionen Kilometer statt zehn, Vergessen Sie nicht, dass das, was wir heute Realität nennen, gestern noch Phantasie war, denken Sie nur an Jules Verne, Ja, aber die heutige Realität besagt auch, dass beispielsweise eine Reise zum Mars, und der Mars liegt astronomisch gesehen quasi um die Ecke, nicht weniger als neun Monate dauert, und dann muss man dort oben sechs Monate warten, bis der Planet wieder die optimale Position erreicht hat, damit man zurückkehren kann, um schließlich eine weitere Reise von neun Monaten auf sich zu nehmen, bis man zurück auf der Erde ist, insgesamt also zwei Jahre extremster Langeweile, ein Film über eine Reise zum Mars, der diese Fakten berücksichtigt, wäre das Ödeste, was man je gesehen hat, Ich verstehe jetzt, warum Sie sich so langweilen, Warum, Weil es nichts gibt, was Sie zufrieden stellen kann, Ich wäre mit ganz wenig zufrieden, wenn ich es hätte, Irgendetwas haben Sie doch bestimmt, Ihren Beruf, Ihre Arbeit, auf den ersten Blick sehe ich keinen Grund zur Klage, Der Beruf und die Arbeit haben mich, nicht ich sie, Diesen Missstand, vorausgesetzt, es ist wirklich einer, beklagen wir alle, auch ich wäre gerne ein bekanntes Mathematikgenie und nicht dieser mittelmäßige, resignierte Gymnasiallehrer, der ich leider auch weiterhin bleiben werde, Ich kann mich selbst nicht leiden, wahrscheinlich ist das das Problem, Wenn Sie mir eine Gleichung mit zwei Unbekannten vorlegen würden, könnte ich Ihnen meine Dienste als Fachmann anbieten, aber da es sich um eine Inkompatibilität anderer Art handelt, würde meine Wissenschaft Ihnen lediglich das Leben schwer machen, so kann ich Ihnen nur empfehlen, sich mit ein paar Filmen zu zerstreuen, so wie andere Beruhigungsmittel einnehmen, und sich bloß nicht der Mathematik zuzuwenden, denn die tut dem Kopf nicht gut, Haben Sie eine Idee, Eine Idee für was, Für einen interessanten, sehenswerten Film, Da gibt es viele, Sie brauchen nur in einen Laden zu gehen, sich umzusehen und auszuwählen, Aber schlagen Sie mir doch wenigstens einen vor. Der Mathematiklehrer überlegte, überlegte und sagte schließlich, Wer Streitet, Tötet, Jagt, Was ist das denn, Ein Film, danach haben Sie mich doch gefragt, Das klingt ja mehr nach einem Sprichwort. Es ist auch ein Sprichwort, Der ganze Film oder nur der Titel, Sehen Sie ihn sich an, Was für ein Genre ist es, Das Sprichwort, Nein, der Film, Eine Komödie, Und Sie sind sicher, dass es nicht eines dieser alten, blutigen Dramen ist, oder eines dieser modernen mit Schießereien und Explosionen, Es ist eine leichte, unterhaltsame Komödie, Ich schreibe mir gleich den Titel auf, wie war er noch mal, Wer Streitet, Tötet, Jagt, Sehr schön, jetzt hab ich’s, Es ist kein filmisches Meisterwerk, aber er wird Sie anderthalb Stunden lang unterhalten.

Tertuliano Máximo Afonso ist zu Hause angelangt, auf seinem Gesicht liegt ein Zweifel, nichts Ernstes, aber es ist auch nicht das erste Mal, dass er erleben muss, wie sein Wille hin- und herschwankt zwischen der Möglichkeit, Zeit aufs Essenmachen zu verschwenden, was in der Regel nicht mehr Mühe erfordert, als eine Dose zu öffnen und deren Inhalt warm zu machen, und der Alternative, in einem nahe gelegenen Restaurant zu speisen, wo man ihn bereits kennt, weil er der Speisekarte so wenig Beachtung schenkt, nicht aus dem Hochmut des unzufriedenen Kunden heraus, sondern aus Gleichgültigkeit, aus Geistesabwesenheit, aus Faulheit, ein Gericht aus der kurzen, nur wenig abwechslungsreichen Liste auszuwählen. Für das bequemere Zuhausebleiben spricht die Tatsache, dass er sich Arbeit aus der Schule mitgebracht hat, die letzten Klassenarbeiten seiner Schüler, die er aufmerksam lesen und korrigieren muss, falls sie in bedenklicher Weise gegen die von ihm vermittelten Wahrheiten verstoßen oder sich zu große Freiheiten bei deren Interpretation herausgenommen haben. Die Geschichte, die zu lehren Tertuliano Máximo Afonso beauftragt wurde, ist wie ein Bonsai, dem gelegentlich die Wurzeln gestutzt werden, damit er nicht wächst, eine kindliche Miniatur des riesigen Baumes der Orte, Zeiten und Ereignisse, wir betrachten ihn, sehen das Missverhältnis in der Größe und denken uns nichts dabei, erkennen flüchtig andere, nicht weniger nennenswerte Unterschiede, so könnte zum Beispiel kein Vogel, nicht einmal der winzige Kolibri, sich ein Nest in den Ästen eines Bonsai bauen, und sollte es stimmen, dass eine Eidechse Platz findet in dem winzigen Schatten, den er wirft, vorausgesetzt, der Baum hat genügend Laubwerk, dann hängt bestimmt ihre Schwanzspitze heraus. Bei der Geschichte, die Tertuliano Máximo Afonso unterrichtet, gibt es eine Menge heraushängender Schwänze, das erkennt er selbst und gesteht es auch freimütig ein, wenn man ihn danach fragt, einige zucken noch, während andere nur noch aus vertrockneter Haut mit einer Reihe loser Wirbel darin bestehen. Er erinnerte sich an das Gespräch mit dem Kollegen und dachte, Die Mathematik ist auf einem anderen Gehirnplaneten entstanden, in der Mathematik wären die Schwänze der Eidechsen nichts anderes als Abstraktionen. Er nahm die Klassenarbeiten aus seiner Mappe und legte sie auf den Schreibtisch, dann nahm er auch die Kassette mit Wer Streitet, Tötet, Jagt heraus, da lagen nun die beiden Beschäftigungen, denen er an diesem Abend nachgehen konnte, Klassenarbeiten und Film, doch er ahnte bereits, dass die Zeit nicht für beides reichen würde, zumal er ungern bis tief in die Nacht arbeitete. Es bestand keine zwingende Notwendigkeit, die Arbeiten zu korrigieren, und den Film anzusehen, bestand überhaupt keine Notwendigkeit. Das Beste wird sein, ich lese mein Buch weiter, dachte er. Er ging ins Badezimmer und danach ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen, wechselte Schuhe und Hose, zog einen Pullover über das Hemd, die Krawatte ließ er an, weil er sich mit entblößtem Hals unwohl fühlte, und betrat dann die Küche. Er holte drei Dosen mit verschiedenen Gerichten aus dem Schrank, und da er sich nicht entscheiden konnte, zählte er mit einem unsinnigen, fast vergessenen Kinderreim aus, der ihn selbst früher so oft aus dem Rennen geworfen hatte, und der ging so, Do-li-ta, wer ist noch da, sulette, colorette, du gewinnst die Wette. Sieger war ein Fleischeintopf, auf den er nicht gerade den meisten Appetit hatte, doch glaubte er, sich dem Schicksal nicht widersetzen zu dürfen. Er aß in der Küche und spülte das Essen mit einem Glas Rotwein hinunter, und als er fertig war, wiederholte er den Reim, praktisch ohne zu überlegen, mit drei Brotkrumen, wobei der linke das Buch war, der mittlere die Klassenarbeiten und der rechte der Film. Es gewann Wer Streitet, Tötet, Jagt, offensichtlich muss das, was sein muss, wirklich sein und hat enorme Kraft, spiele nie mit dem Schicksal um die Birnen, denn es schnappt sich die reifen und gibt dir die grünen. So heißt es für gewöhnlich, und weil es für gewöhnlich so heißt, akzeptieren wir die Entscheidung auch ohne Widerrede, dabei müssten wir doch als freie Menschen ein derart despotisches Schicksal, das, mit welch bösartiger Absicht auch immer, beschlossen hat, die grüne Birne sei der Film und nicht die Klassenarbeiten oder das Buch, ernsthaft in Frage stellen. Als Lehrer, und noch dazu der Geschichte, ist dieser Tertuliano Máximo Afonso ein schlechtes Vorbild für die Jugendlichen, die ihm das Schicksal, jenes besagte oder auch ein anderes, anvertraut hat, man denke nur an die soeben erlebte Szene in der Küche, in der er seine unmittelbare und vielleicht auch spätere Zukunft drei Brotkrumen und einem kindlichen, unsinnigen Plapperreim überließ. Leider gibt es in dieser Erzählung keinen Raum für eine Prognose über den zu erwartenden schädlichen Einfluss eines solchen Lehrers auf die Entwicklung der jugendlichen Seelen, deshalb verlassen wir sie hier wieder, ohne ihnen eine andere Hoffnung bieten zu können als die, eines Tages auf ihrem Lebensweg einem Einfluss mit gegenteiliger Wirkung zu begegnen, der dieses vernunftwidrige Verderben, das ihnen derzeit droht, von ihnen abwendet, vielleicht sogar im letzten Augenblick, wer weiß.

Tertuliano Máximo spülte sorgfältig das Geschirr vom Abendessen, er hatte sich von jeher zur Regel gemacht, nach dem Essen alles sauber und aufgeräumt zu hinterlassen, was uns zeigt, um noch ein letztes Mal auf die oben erwähnten jugendlichen Seelen zurückzukommen, denen ein solches Verhalten vielleicht, höchstwahrscheinlich sogar, lächerlich und diese Regel völlig überholt vorkäme, dass man selbst von jemandem, der in Sachen Willensfreiheit so wenig mustergültig ist, etwas lernen kann. Diese und andere brauchbare Lektionen wurden Tertuliano Máximo Afonso in seinem Elternhaus erteilt, insbesondere durch die Mutter, die glücklicherweise noch lebt und bei guter Gesundheit ist und die er in den nächsten Tagen bestimmt einmal in jener kleinen Provinzstadt besuchen wird, in der er, der spätere Lehrer, das Licht der Welt erblickte, jener Wiege der mütterlichen Máximos und väterlichen Afonsos, wo es ihm zufiel, seit fast vierzig Jahren wieder der erste Tertuliano zu sein. Den Vater wird er nur noch auf dem Friedhof besuchen können, so ist das mit diesem beschissenen Leben, irgendwann hört es einfach auf. Das Schimpfwort kam ihm in den Sinn, ohne dass er es gerufen hatte, bloß weil er an seinen Vater dachte, als er die Küche verließ, und ihn plötzlich vermisste, Tertuliano Máximo Afonso verwendet selten Kraftausdrücke, und wenn ihm einmal einer herausrutscht, dann ist er selbst überrascht, wie fremd er klingt, wie wenig Überzeugungskraft seine Sprechwerkzeuge, Stimmbänder, sein Gaumen, seine Zunge, Zähne und Lippen haben, als artikulierten sie widerwillig und erstmalig ein Wort aus einer bis dahin unbekannten Sprache. In dem kleinen Bereich der Wohnung, der ihm als Wohn- und Arbeitszimmer dient, steht ein zweisitziges Sofa, ein kleiner Tisch in der Mitte, ein einladend wirkender Stuhl mit gepolsterter Sitzfläche, davor, im Fluchtpunkt, der Fernseher, und etwas abseits, damit er auch Licht vom Fenster erhält, der Schreibtisch, auf dem die Klassenarbeiten und die Kassette gespannt darauf warten, wer gewinnt. Zwei der Wände sind mit Büchern ausstaffiert, von denen die meisten abgenutzt und vergilbt sind. Auf dem Boden ein Teppich mit geometrischen Mustern in blassen oder vielleicht auch verblichenen Farben, der eine behagliche Atmosphäre schafft, die jedoch nicht über ein Mittelmaß hinausgeht und nicht vorgibt, mehr zu sein, als sie ist, nämlich die wohnliche Umgebung eines Gymnasiallehrers, der wenig verdient, wie die unterrichtende Schicht stets behauptet, als handele es sich dabei um eine Obsession oder aber um eine ungesühnte historische Strafe. Der mittlere Krümel, das heißt, das Buch, das Tertuliano zurzeit liest, eine bemerkenswerte Studie über die alten mesopotamischen Zivilisationen, befindet sich an der Stelle, an der er es am Vorabend hat liegen lassen, auf dem Tisch in der Mitte, und es wartet wie die beiden anderen Krümel, es wartet, wie die Dinge immer warten, allesamt und unausweichlich, denn das ist das Schicksal und offensichtlich Teil der unverrückbaren Natur der Dinge. Bei einer Persönlichkeit, wie sie dieser Tertuliano Máximo Afonso an den Tag legt, der in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft bereits mehrmals sein unstetes und vielleicht gar ausweichendes Wesen unter Beweis gestellt hat, würde uns jetzt eine Darbietung bewusster Selbsttäuschung nicht verwundern, bei der er mit gespielter Aufmerksamkeit die Klassenarbeiten der Schüler durchblättert, das Buch auf der Seite aufschlägt, auf der er zu lesen aufgehört hat, gelangweilt die Kassette in der Hand wendet, als hätte er noch nicht entschieden, was er letztlich tun wird. Doch der Schein, der nicht immer so trügerisch ist, wie behauptet wird, verweigert sich nicht selten sich selbst und lässt stattdessen Äußerungen zu, welche die Möglichkeit einer ernst zu nehmenden Veränderung des als fest geltenden Verhaltensmusters in sich tragen. Diese mühsame Erklärung wäre vermeidbar gewesen, hätten wir ohne Umschweife gesagt, dass Tertuliano Máximo Afonso direkt, das heißt geradewegs zu seinem Schreibtisch ging, die Kassette nahm, die Informationen auf der Vorder- und Rückseite überflog, wohlwollend die lächelnden, gut gelaunten Gesichter der Schauspieler betrachtete und feststellte, dass er nur einen Namen, nämlich den der Hauptdarstellerin, einer jungen, hübschen Schauspielerin, kannte, was darauf hindeutet, dass dem Film zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses seitens der Produzenten nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt worden war, und die Kassette dann, mit einem nachdrücklichen Willen, der nie an sich selbst gezweifelt zu haben schien, in das Videogerät schob, auf dem Stuhl Platz nahm, auf den Startknopf der Fernbedienung drückte und es sich bequem machte, um auf bestmögliche Art einen Abend zu verbringen, der allem Anschein nach wenig versprach und bestimmt noch weniger erfüllen würde. Und so war es auch. Tertuliano Máximo Afonso lachte zweimal, lächelte drei- bis viermal, die Komödie war nicht nur leicht, wie der Mathematikkollege es beschönigend genannt hatte, sondern in erster Linie absurd und blödsinnig, eine filmische Handlung, bei der die Logik und der gesunde Menschenverstand ausgesperrt worden waren und nun protestierend vor der Tür standen, weil man ihnen den Zutritt zu dem Bereich verwehrte, in dem dieser Schwachsinn produziert wurde. Der Titel, das besagte Wer Streitet, Tötet, Jagt, war eine dieser billigen Metaphern à la Weiß ist, was die Henne legt, Jagd, Jäger und Gejagte sah man in der ganzen Geschichte überhaupt nicht, die Handlung beschränkte sich auf einen Fall von leidenschaftlichem persönlichem Ehrgeiz, in dem die junge, hübsche Schauspielerin ihr Können zur Schau stellte, gespickt mit ein paar Missverständnissen, Intrigen, verfehlten Begegnungen und Irrtümern, die leider in keinster Weise dazu beitrugen, Tertuliano Máximo Afonsos Depression zu lindern. Als der Film zu Ende war, ärgerte sich Tertuliano eher über sich selbst als über seinen Kollegen. Letzterem konnte man noch die wohlmeinende Absicht zugute halten, doch ihn selbst, der ja längst in einem Alter war, in dem man nicht mehr dem schnellen Vergnügen hinterherjagt, schmerzte genau das, was die Arglosen immer schmerzt, nämlich ihre eigene Arglosigkeit. Mit lauter Stimme sagte er deshalb, Morgen bringe ich diese Scheiße zurück, und diesmal war er nicht verwundert, fand vielmehr, dass er das Recht auf seiner Seite hatte und sich durchaus auf grobe Art Luft machen durfte, schließlich muss man auch berücksichtigen, dass es erst das zweite Schimpfwort war, das ihm in den letzten Wochen entfuhr, und das erste war auch nur in seinen Gedanken aufgetaucht, und was nur in Gedanken auftaucht, das zählt nicht. Er warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es noch nicht einmal elf war. Es ist noch früh, murmelte er, und damit wollte er, wie man gleich sehen wird, sagen, dass er noch Zeit hatte, sich für seine Leichtfertigkeit zu bestrafen, die ihn die Pflicht gegen das Vergnügen, das Echte gegen das Falsche, das Beständige gegen das Flüchtige hatte eintauschen lassen. Er setzte sich an den Schreibtisch, zog vorsichtig die Geschichtsarbeiten zu sich heran, als wollte er sie um Verzeihung bitten für die Vernachlässigung, und arbeitete bis in die Nacht hinein, ganz der ordentliche Lehrer, für den er sich so gern ausgab, voller pädagogischer Liebe zu seinen Schülern und doch so streng bei den Jahreszahlen, so unnachgiebig bei den Beinamen. Es war schon spät, als er seine selbst auferlegte Pflicht beendete, und doch war er immer noch reuig ob seines Fehlers, immer noch zerknirscht ob seiner Sünde, und so nahm er, wie um sein schmerzendes Büßerhemd gegen ein anderes, nicht weniger beengendes einzutauschen, das Buch über die alten mesopotamischen Zivilisationen mit ins Bett, und zwar das Kapitel, das von den amurritischen Semiten und insbesondere von deren König Hammurabi handelte, dem mit dem Kodex. Nach vier Seiten schlummerte er sanft ein, ein Zeichen dafür, dass ihm verziehen worden war.

Eine Stunde später wachte er wieder auf. Er hatte nicht geträumt, kein schrecklicher Albtraum hatte sein Hirn in Aufruhr versetzt, er ruderte nicht mit den Armen, um sich gegen ein glitschiges Monster zu wehren, das an seinem Gesicht klebte, er öffnete lediglich die Augen und dachte, Da ist jemand in der Wohnung. Langsam, ohne Hast, setzte er sich im Bett auf und lauschte. Das Zimmer geht nach hinten hinaus, nicht einmal am Tage dringen hier Geräusche von draußen herein, und zu dieser nächtlichen Stunde, Wie spät mag es wohl sein, ist die Stille für gewöhnlich vollkommen. Und sie war vollkommen. Wer immer der Eindringling war, er bewegte sich nicht von der Stelle. Tertuliano Máximo Afonso streckte seinen Arm aus und knipste die Nachttischlampe an. Die Uhr zeigte halb fünf. Wie die meisten normalen Menschen ist unser Tertuliano Máximo Afonso ebenso mutig wie feige, er ist zwar keiner dieser unbesiegbaren Kinohelden, doch auch kein Schisshase, der sich gleich in die Hosen pinkelt, wenn um Mitternacht die Tür zum Schlossverlies knarrt. Es stimmt zwar, dass sich seine Körperhaare spürbar sträubten, doch das passiert selbst den Wölfen, wenn sie sich in Gefahr sehen, und niemand im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte würde zu behaupten wagen, Wölfe seien elende Feiglinge. Tertuliano Máximo Afonso wird beweisen, dass auch er keiner ist. Vorsichtig glitt er aus dem Bett, schnappte sich in Ermangelung einer schlagkräftigeren Waffe einen Schuh und schlich unter Wahrung äußerster Vorsicht bis an die Eingangstür. Er spähte in die eine und dann in die andere Richtung. Das Gefühl dieser unsichtbaren Präsenz, das ihn geweckt hatte, wurde ein wenig stärker. Ein Licht nach dem anderen anknipsend, drang er weiter vor, klopfenden Herzens, als galoppiere ein Pferd in seiner Brust, und betrat schließlich das Badezimmer und danach die Küche. Niemand zu sehen. Und diese Präsenz kam ihm dort merkwürdigerweise wieder schwächer vor. Dann kehrte er in den Flur zurück, und als er sich dem Wohnzimmer näherte, merkte er, dass die unsichtbare Präsenz sich mit jedem Schritt verdichtete, als hätte die Atmosphäre aufgrund einer verborgenen Strahlung zu vibrieren begonnen, als schritte der nervöse Tertuliano Máximo Afonso mit einem Geigerzähler in der Hand, der keine Töne, sondern Ektoplasmen aussandte, durch radioaktiv verseuchtes Gebiet. Im Wohnzimmer war niemand. Tertuliano Máximo Afonso blickte sich um, stramm und unerschrocken standen die beiden hohen Bücherregale da, auch die gerahmten Drucke an der Wand, die bisher noch keine Erwähnung fanden, ja, sie waren da, ebenso der Schreibtisch mit der Schreibmaschine, der Stuhl, der kleine Tisch in der Mitte mit der kleinen, genau im geometrischen Zentrum platzierten Skulptur, das zweisitzige Sofa und der Fernseher. Tertuliano Máximo Afonso murmelte mit leiser, furchterfüllter Stimme, Das war es, und da löste sich, als das letzte Wort ausgesprochen war, die Präsenz leise auf, wie eine platzende Seifenblase. Ja, das war es, der Fernseher, der Videorecorder, die Komödie mit dem Titel Wer Streitet, Tötet, Jagt, ein Bild daraus, das wieder an seinen Platz zurückgekehrt war, nachdem es Tertuliano Máximo Afonso aufgeweckt hatte. Er hatte keine Ahnung, welches es sein könnte, doch war er sich sicher, dass er es wieder erkennen würde, wenn es auftauchte. Er ging ins Schlafzimmer, zog sich einen Morgenmantel über, um nicht zu frieren, und kam wieder zurück. Er setzte sich auf den Stuhl, drückte erneut auf den Startknopf der Fernbedienung und ließ in vorgebeugter Haltung, die Ellbogen auf die Knie gestützt, der ganze Körper nichts als Augen, diesmal bereits ohne zu lachen oder zu lächeln, die Geschichte der jungen, hübschen Frau, die es im Leben zu etwas bringen wollte, noch einmal durchlaufen. Nach zwanzig Minuten sah er, wie sie ein Hotel betrat und zur Rezeption ging, hörte, wie sie sich vorstellte, Mein Name ist Inês de Castro, bereits vorher war ihm die interessante historische Koinzidenz aufgefallen, und dann fortfuhr, Ich habe hier ein Zimmer reservieren lassen. Der Angestellte sah sie frontal an, das heißt die Kamera, nicht sie, oder doch sie, da sie sich an derselben Stelle wie die Kamera befand, was er sagte, verstand Tertuliano Máximo Afonso schon nicht mehr, denn der Daumen der Hand, die die Fernbedienung festhielt, hatte heftig auf die Stopptaste gedrückt, aber das Bild war bereits weg, ist ja logisch, warum sollte man unnötiges Filmmaterial auf einen Schauspieler verschwenden, der kaum mehr ist als ein Komparse und erst nach zwanzig Minuten in Erscheinung tritt, das Band lief rückwärts, zeigte das Gesicht des Rezeptionisten, dann die junge, hübsche Frau, die erneut das Hotel betrat, erneut sagte, sie heiße Inês de Castro und habe ein Zimmer reserviert, ja, da ist es, das angehaltene Bild des Rezeptionisten, der frontal auf die blickte, die ihn ansah. Tertuliano Máximo Afonso stand auf, kniete sich vor den Fernseher, das Gesicht so dicht es ging vor dem Bildschirm, Das bin ich, sagte er und spürte wieder, wie sich ihm die Haare sträubten, was er dort sah, war nicht wahr, konnte einfach nicht wahr sein, jeder vernünftige Mensch, der zufällig dieser Szene beigewohnt hätte, würde ihn beruhigen, Wie kommst du denn darauf, mein lieber Tertuliano, sieh doch nur, er trägt einen Schnurrbart, während dein Gesicht ganz glatt rasiert ist. So sind sie, die vernünftigen Menschen, sie haben die Angewohnheit, alles zu vereinfachen, und hinterher, leider immer zu spät, sind sie plötzlich überrascht von der unendlichen Vielfalt des Lebens, dann fällt ihnen ein, dass Schnurrbärte und Vollbärte ja keinen eigenen Willen haben, dass sie wachsen und gedeihen, wenn man es ihnen erlaubt, und manchmal auch aus purer Faulheit des Trägers, doch von einem Augenblick auf den anderen, nur weil die Mode gewechselt hat oder die haarige Eintönigkeit im Spiegel lästig wurde, sind sie spurlos verschwunden. Und vergessen wollen wir auch nicht, denn schließlich ist bei Schauspielern und Bühnenkünstlern alles möglich, dass der schmale, gepflegte Schnurrbart des Rezeptionisten mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz einfach ein falscher Bart ist. Das hat es alles schon gegeben. Diese Überlegungen, die aufgrund ihrer Offensichtlichkeit für jedermann nachvollziehbar wären, hätte Tertuliano Máximo Afonso auch selbst anstellen können, wäre er nicht so darauf konzentriert gewesen, weitere Stellen im Film zu suchen, an denen derselbe Nebendarsteller, oder besser Statist mit ein paar Zeilen Text, auftrat. Bis zum Ende der Geschichte tauchte der Mann mit dem Schnurrbart noch fünfmal auf, stets in der Rolle des Rezeptionisten und jedes Mal nur ganz kurz, obwohl er bei seinem letzten Auftritt sogar zwei gewollt zweideutige Sätze mit der alles dominierenden Inês de Castro wechseln und ihr dann, als sie hüftwackelnd verschwand, übertrieben begehrlich nachblicken durfte, womit der Regisseur bestimmt alle Lacher auf seiner Seite zu haben glaubte. Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, dass Tertuliano Máximo Afonso, der dies beim ersten Mal schon nicht komisch fand, es beim zweiten Mal erst recht nicht komisch finden konnte. Er war zu dem ersten Bild zurückgekehrt, auf dem der Rezeptionist in einer Großaufnahme Inês de Castro direkt ansah, und untersuchte es sorgfältig Zug für Zug, Merkmal für Merkmal, Abgesehen von ein paar kleinen Unterschieden, dem Schnurrbart vor allem, dem anderen Haarschnitt, dem schmaleren Gesicht, sieht er genauso aus wie ich, dachte er. Er fühlte sich jetzt ruhiger, die Ähnlichkeit war ohne Zweifel frappierend, aber mehr war es auch nicht, Ähnlichkeiten gibt es reichlich im Leben, man denke nur an die vielen Zwillinge, es wäre doch eher verwunderlich, wenn sich bei mehr als sechs Milliarden Menschen auf der Welt nicht wenigstens zwei gleiche finden würden. Die niemals ganz gleich, in allem gleich sein können, das ist klar, sagte er, als spräche er mit diesem Quasi-Alter-Ego, das ihn aus dem Fernseher anstarrte. Als er wieder auf dem Stuhl saß und somit ungefähr die Position der Schauspielerin in der Rolle von Ines de Castro einnahm, tat er so, als sei auch er Gast des Hotels, Ich heiße Tertuliano Máximo Afonso, erklärte er lächelnd, Und Sie, die Frage war nur folgerichtig, denn wenn zwei gleiche Menschen sich treffen, ist es ganz normal, dass sie alles voneinander wissen wollen, und der Name ist immer das Erste, weil er für uns so etwas wie ein Eingangsportal ist. Tertuliano Máximo Afonso spulte das Band bis ans Ende vor, dort kam die Liste der Nebendarsteller, er wusste nicht mehr, ob auch ihre Rollen erwähnt wurden, nein, die Namen erschienen einfach in alphabetischer Reihenfolge, und es waren viele. Er nahm eher unbeabsichtigt die Kassettenhülle in die Hand, überflog noch einmal, was dort geschrieben und abgebildet war, die lächelnden Gesichter der Hauptdarsteller, eine kurze Zusammenfassung der Handlung, und ganz unten, klein gedruckt, auch eine Zeile mit technischen Angaben, die das Produktionsdatum des Films enthielt. Er ist ja schon fünf Jahre alt, murmelte er, und gleichzeitig fiel ihm ein, dass ihm das der Mathematikkollege bereits gesagt hatte. Fünf Jahre schon, wiederholte er, und plötzlich erlebte die Welt ein weiteres heftiges Beben, diesmal war es nicht eine unfassbare, geheimnisvolle Präsenz, die ihn aufrüttelte, sondern etwas ganz Konkretes, und nicht nur Konkretes, sondern auch Nachweisbares. Mit zitternden Händen öffnete und schloss er Schubladen, zerrte Umschläge mit Negativen und Abzügen hervor, verteilte alles auf seinem Schreibtisch und fand schließlich, was er suchte, ein Foto von sich vor fünf Jahren. Er trug einen Schnurrbart, der Haarschnitt war anders, das Gesicht schmaler.

Nicht einmal Tertuliano Máximo Afonso selbst könnte mit Gewissheit sagen, ob der Schlaf ihn noch einmal in seine barmherzigen Arme schloss, nachdem er diese für ihn so entsetzliche Entdeckung gemacht hatte, nämlich dass es einen Mann gab, vielleicht sogar in seiner Stadt, der vom Gesicht und der Gesamterscheinung her sein lebendiges Ebenbild war. Nachdem er lange das Foto von vor fünf Jahren mit der Großaufnahme des Rezeptionisten verglichen hatte, nachdem er zwischen dem einen und dem anderen keinen einzigen, nicht einmal den winzigsten Unterschied gefunden hatte, eine klitzekleine Falte zumindest, die der eine hatte und der andere nicht, ließ sich Tertuliano Máximo Afonso auf das Sofa fallen, nicht auf den Stuhl, denn der war nicht groß genug, um den physischen und psychischen Zusammenbruch seines Körpers aufzufangen, und versuchte dort, den Kopf in die Hände gestützt, mit blank liegenden Nerven und revoltierendem Magen, seine Gedanken zu ordnen, sie aus dem Chaos der Gefühle zu befreien, das in dem Augenblick ausgelöst worden war, da die heimlich hinter dem geschlossenen Vorhang seiner Augen wachende Erinnerung ihn urplötzlich aus seinem ersten und einzigen Schlaf gerissen hatte. Was mich am meisten verwirrt, dachte er mühsam, ist nicht so sehr die Tatsache, dass dieser Kerl mir ähnlich sieht, sozusagen eine Kopie von mir ist, ein Duplikat, solche Fälle hat es schon öfter gegeben, da wären die Zwillinge zu nennen, die Doppelgänger, die Typen wiederholen sich, der Mensch wiederholt sich, der Kopf, der Rumpf, die Arme, die Beine, und daher könnte es auch möglich sein, sicher bin ich mir zwar nicht, es ist lediglich eine Vermutung, dass eine zufällige Veränderung an einem genetischen Bauplan ein Wesen hervorbringt, das einem anderen Wesen, welches aus einem genetischen Bauplan hervorgegangen ist, der zu Ersterem in keinerlei Beziehung steht, stark ähnelt, was mich verwirrt, ist weniger das, sondern das Wissen, dass ich vor fünf Jahren genau so war wie er damals, sogar den Schnurrbart trugen wir beide, und mehr noch verwirrt mich die Möglichkeit, was sage ich, die Wahrscheinlichkeit, dass diese Gleichheit fünf Jahre später, also heute, genau jetzt, zu dieser frühen Morgenstunde, immer noch besteht, als müsste eine Veränderung bei mir dieselbe Veränderung bei ihm hervorrufen, oder schlimmer noch, einer sich nicht verändern, weil der andere sich verändert hat, aber wenn die Veränderung gleichzeitig erfolgt, ist das Ganze doch eine unlösbare Angelegenheit, ja, natürlich darf ich keine Tragödie daraus machen, alles, was passieren kann, wird auch passieren, das wissen wir, zuerst hat der Zufall uns gleich gemacht, dann kam der Zufall eines Films, von dem ich nie gehört hatte, ich hätte auch weiterleben können, ohne mir je vorzustellen, dass ein solches Phänomen sich ausgerechnet in einem gemeinen Geschichtslehrer manifestiert, der vor wenigen Stunden noch die Irrtümer seiner Schüler korrigiert hat und nun nicht weiß, was er mit dem Irrtum machen soll, in den er sich selbst urplötzlich verwandelt hat. Bin ich wirklich ein Irrtum, fragte er sich, und, angenommen, ich bin tatsächlich einer, was mag das für einen Menschen bedeuten, was für Auswirkungen hat es zu wissen, dass man ein Irrtum ist. Ein kurzer Angstschauder lief ihm über den Rücken, und er dachte, bestimmte Dinge lässt man besser, wie sie sind, sonst besteht die Gefahr, dass die anderen und, was noch schlimmer wäre, durch ihre Augen auch wir diese verborgene Abweichung entdecken, die wir alle seit unserer Geburt in uns tragen und die, ungeduldig an den Nägeln kauend, nur auf den Tag wartet, an dem sie sich zeigen und verkünden kann, Hier bin ich. Das Gewicht dieser schwer wiegenden Überlegungen, die zudem noch um die mögliche Existenz vollkommener Doppelgänger kreisten, jedoch eher intuitiv aufblitzten als sprachlich ausgefeilt waren, ließ seinen Kopf langsam nach unten sinken, und der Schlaf, ein Schlaf, der mit seinen eigenen Mitteln jene geistige Arbeit fortsetzen würde, die bisher die Schlaflosigkeit geleistet hatte, kümmerte sich um den müden Körper und half ihm, in die Sofakissen zu sinken. Es kam zu keiner Ruhe, die diesen holden Namen wirklich verdient hätte, wenige Minuten später schlug Tertuliano Máximo Afonso unvermittelt die Augen auf und wiederholte wie eine sprechende Puppe, deren Mechanismus defekt war, die Frage von vorhin, Was bedeutet es, ein Irrtum zu sein. Er zuckte die Achseln, als interessierte ihn die Frage plötzlich nicht mehr. Das war die verständliche Auswirkung einer auf die Spitze getriebenen Müdigkeit oder, anders ausgedrückt, die wohltuende Wirkung des kurzen Schlafs, und doch ist diese Gleichgültigkeit beunruhigend und unzulässig, wissen wir doch zu gut, und er am besten von uns allen, dass das Problem nicht gelöst ist, da liegt es, völlig intakt, in dem Videorecorder und wartet ebenfalls, seit es sich mit Worten, die man nicht hören konnte, die jedoch Bestandteil der Dialoge des Drehbuchs waren, präsentierte, Einer von uns ist ein Irrtum, das sagte der Rezeptionist in Wirklichkeit zu Tertuliano Máximo Afonso, als er sich an die Schauspielerin in der Rolle von Inês de Castro wandte und ihr mitteilte, dass das von ihr reservierte Zimmer die Nummer 1218