Über dieses Buch:
Drei Frauen auf ihrem ganz persönlichen Weg zum Glück … Die Krankenschwester Chrissy will nach einem Schicksalsschlag in einem kleinen Küstenort in Cornwall nochmals von vorn beginnen. Als sie dem attraktiven Dr. Newson begegnet, verliebt sich Chrissy Hals über Kopf – doch sie weiß nur zu gut: wer sich verliebt, kann auch verletzt werden … Kate träumt insgeheim davon, einmal einen Roman zu schreiben und kann ihr Glück kaum fassen, als ihr Manuskript einen begeisterten Verlag findet. Aber wie wird ihre Familie reagieren, die doch nie an ihren Traum geglaubt haben? … Peggy hat gleich zweimal das große Los gezogen: Über Nacht ist sie Lottomillionärin geworden und hat kurz darauf den charmanten Tarquin kennen und lieben gelernt – der auch ihre Gefühle zu erwidern scheint. Doch jetzt muss sich Peggy fragen: Darf sie diesem Glück wirklich trauen?
Über die Autorin:
Anita Burgh wurde 1937 in Gillingham, UK geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in Cornwall. Ihre 24 Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und feierten international Erfolge. Mittlerweile lebt Anita Burgh mit ihrem Mann und zwei Hunden in einem kleinen Dorf in den Cotswolds, Gloucestershire.
Bei dotbooks veröffentlichte Anita Burgh ihrer Romane »Das Erbe von Respryn Hall«, »Glückssucherinnen«, »Der Weg zum Herzen einer Frau« und »Wo deine Küsse mich finden«.
Außerdem veröffentlichte Anita Burgh bei dotbooks ihre Familiensaga »Die Töchter Cornwalls« mit den drei Einzelbänden: »Morgenröte«, »Sturmwind« und »Dämmerstunde«.
***
Sammelband-Originalausgabe April 2021
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Natalia Bostan / Andrew Harker / Dirk M. de Boer / Richard Griffin / Travel mania
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)
ISBN 978-3-96655-488-6
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Ein Sommer in England« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Anita Burgh
Ein Sommer in England
Drei Romane in einem eBook
dotbooks.
Aus dem Englischen von Traudl Weiser
Für meine Enkelin, Savannah Leith,
die traurigerweise schon als junger Mensch
viel zuviel über Krankenhäuser erfahren mußte,
doch der es niemals an Mut mangelte.
Kein Mann, nicht einmal ein Arzt, definiert das Wesen einer Krankenschwester, wie es sein sollte, anders als so: »Ergeben und gehorsam.« Doch diese Definition wäre auch für einen Gepäckträger angemessen. Sie würde sogar für ein Pferd passen. Aber nicht für einen Polizisten.
Florence Nightingale
Anmerkungen zur Krankenpflege
Schon seit hundertzwanzig Jahren stand das St. Edith's Hospital auf dem South Hill, als ob es Wache über Fellcar, eine kleine Stadt hoch oben im Norden Englands, hielte. Zu einer Zeit gebaut, da ein Gebäude nur den Bürgerstolz befriedigte, wenn es reich verziert und mit Zinnen und Türmen versehen war, legte das Krankenhaus ein lebhaftes Zeugnis der damaligen Baukunst ab, auch wenn sich sein Unterhalt im Laufe der Zeit als immer kostspieliger erwies. Die hohen italienischen Fenster isolierten schlecht. Im Sommer war es zu heiß und im Winter zu kalt.
Die Gefühle der Menschen dem Gebäude gegenüber waren unterschiedlich, je nachdem, was für Erfahrungen sie innerhalb dieser Mauern aus Granit gemacht hatten. Für einige war es eine Quelle der Hoffnung und des Glücks, für andere ein Ort der Verzweiflung. Für ein paar wenige Glückliche war es nur praktisch, wenn sie die Zeit wissen wollten. Ein Blick auf den Turm mit der Uhr genügte. Dieser Turm wurde Old Tom's genannt, aber nur ein paar Leute wußten, warum. Doch alle Einwohner von Fellcar konnten sich schlecht ihre Stadt ohne ihr Krankenhaus vorstellen.
Bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs kursierten von Zeit zu Zeit Gerüchte, daß St. Edith's geschlossen werden sollte. Doch bisher war das Krankenhaus nicht geschlossen worden, weil ein Abgeordneter aus Fellcar Mitglied des Parlaments war und keine Regierung es riskieren wollte, dem lautstarken Unmut der Bevölkerung im Falle der Schließung des Krankenhauses entgegenzutreten. Jetzt war Fellcar kein unbedeutender Wahlkreis mehr, und trotzdem war St. Edith's in Gefahr – was bislang nur eine Handvoll Leute wußte.
An Donnerstagen regnete es immer, zumindest an den wichtigen Donnerstagen in Chrissy Galloways Leben. Sie wurde an einem stürmischen Junitag geboren und hatte einen weiten Weg vor sich. Als sie an einem Donnerstag ihr Elternhaus verlassen hatte, war sie bis auf die Haut durchnäßt worden. Unglücklicherweise hatte sie diesen Wochentag auch für ihre Hochzeit gewählt – die Kleidung aller Gäste war durch einen sintflutartigen Regenguß ruiniert worden. Den Tag zur Beerdigung ihres Mannes hatte sie nicht wählen können, aber die gedrückte Atmosphäre war durch einen ständigen Nieselregen noch verstärkt worden. Und jetzt schaute sie aus einem Fenster im Bahnhof von Fellcar; es regnete in Strömen, und ihr fiel ein, daß es der Tag war.
Sie mußte lächeln. Der Mann vor ihr, der sich in dem Moment umdrehte, sah sie lächeln und zuckte zusammen, als wäre er gestochen worden. Er wich vor ihr zurück, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. So viel zu der legendären Freundlichkeit der Menschen vom Norden. Sie fragte sich, was sich sonst noch während der sechzehn Jahre ihrer Abwesenheit in der Stadt geändert haben könnte.
Als ein Taxi vorfuhr und die darauf zueilenden Fahrgäste mit Wasserfontänen bespritzte, bewegte sich die Schlange ein Stück vorwärts. Chrissy schob ihre schwere Reisetasche mit den Füßen weiter.
Nicht, daß sie erwartet hätte, die Dinge hier vorzufinden, wie sie früher einmal gewesen waren. Ihr Fortgehen und ihre Heirat hatten nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Eltern verändert. Seitdem hatten die beiden neue Interessen entwickelt und andere Gewohnheiten angenommen, an denen sie nicht mehr teilhatte. Sogar ihr Zimmer hatten ihre Eltern in ein Arbeitszimmer umgewandelt. Das hatte ihr nicht gefallen – was lächerlich war –, aber gesagt hatte sie es nie.
Dann war vor drei Jahren ihr Vater gestorben, was alles veränderte. Denn er war in dem Moment gestorben, als Chrissy eine Art Lebensbilanz zog und sie gern seinen Rat eingeholt und ihm Fragen gestellt hätte, denn sie hoffte, er würde ihr mit seinem scharfen analytischen Verstand helfen, ihre Probleme zu lösen. Und dann war es zu spät gewesen.
Wieder fuhr ein Taxi vor, und Bewegung kam in die Schlange. Wie viele ihrer Schulfreundinnen lebten noch in der Stadt? Wohl nur noch wenige. Während der letzten beiden Schuljahre hatten sie Stunden damit verbracht, darüber zu diskutieren, wie sie dem langweiligen Leben in diesem Provinznest entkommen könnten. Voller Freude und ohne einen Funken Bedauern war Chrissy damals nach London gegangen und hatte sich in ihre Ausbildung zur Krankenschwester gestürzt. Im Laufe der Jahre hatte sie begriffen, daß es diese Vertrautheit war, vor der sie damals geflohen war. Doch jetzt, nach so vielen Turbulenzen in ihrem Leben, war es genau das, was sie brauchte und wiederzufinden hoffte.
Während des Vorstellungsgesprächs vergangenen Monat im Krankenhaus hatte sie sich in ihrer Heimatstadt wie eine Fremde gefühlt. Und dasselbe Gefühl beherrschte sie heute wieder. Doch daran trug allein sie die Schuld. Vor allem in den letzten drei Jahren hätte sie ihre nun alleinstehende Mutter öfter besuchen müssen. Doch es gab ein Problem: Sie war mit Iris nie gut ausgekommen. Seit Chrissys Kindheit hatte ihre Mutter ständig an ihr herumgenörgelt oder sich übertriebene Sorgen um sie gemacht, ein Verhalten, das sie beibehielt, als Chrissy verheiratet war. Zweifellos meinte sie es gut, aber da Iris sich ständig in Chrissys Leben einmischte, wahrte Chrissy Distanz. Bei der Beerdigung von Chrissys Mann, Ewan, war Iris hysterisch geworden und hatte sich weitaus schlimmer als bei der Beerdigung ihres Mannes aufgeführt. Chrissy wollte ihre Mutter nicht oft sehen, zumindest nicht, bis sie wieder ein gewisses Maß an Ausgeglichenheit in ihr Leben gebracht hatte. Du meine Güte, dachte sie, ich bin gerade erst angekommen und frage mich, ob es nicht ein Fehler war, hierher zurückzukommen. Doch für Zweifel ist es jetzt zu spät, schalt sie sich, aber die Sorge blieb trotzdem.
Lynn war ihre einzige Schulfreundin, von der sie mit Gewißheit wußte, daß sie noch hier lebte. Nach ihrem Fortgehen hatten sie sich noch geschrieben, doch ihre Korrespondenz war bald auf den gegenseitigen Austausch von Weihnachtskarten geschrumpft. Obwohl sich Chrissy auf ein Wiedersehen mit Lynn freute, fürchtete sie gleichzeitig eine Entfremdung. Oder, im schlimmsten Fall, daß sie einander nicht mehr leiden könnten.
Wieder rückte die Schlange ein Stück vor. Wenn sie darüber nachdachte, was hatte sie mit Lynn gemeinsam? Lynn hatte ihren ersten und einzigen Freund geheiratet – Terry Petch. Chrissy wollte gar nicht die Affären zählen, die sie im Laufe der Jahre gehabt hatte – der Zahl nach hätte man sie für promiskuitiv halten können, doch dafür hielt sie sich nicht. Terry war von Beruf Bauarbeiter, und vor Jahren hatte Lynn ihrer Freundin ein Foto geschickt, auf dem die beiden stolz vor dem bescheidenen Bungalow standen, den er mit eigenen Händen errichtet hatte. Damals hatte Chrissy im Wohlstand gelebt, in einem Dorf in Cornwall, in einem Haus, das so hübsch war, daß es auf Postkarten abgebildet wurde. Lynn hatte zwei Kinder und Chrissy keine. Und Lynn war verheiratet, während Chrissy verwitwet war und darum kämpfte, in die Normalität zurückzukehren. Sie wurde optimistisch, als ihr einfiel, daß sie beide denselben Beruf hatten. Doch dann kam ihr die Erkenntnis, daß man nicht notwendigerweise mit jemandem gut auskam, nur weil man derselben Tätigkeit nachging.
Schließlich war Chrissy an der Reihe. Sie stand vor der automatischen Tür, durch die jedesmal bei der Öffnung eine Regenbö peitschte. Tief vergrub sie die Hände in ihren Taschen; sie hatte ganz vergessen, wie kalt es hier sein konnte.
Dann preßte sie ihre Reisetasche an sich, rannte durch den Regen und riß die Tür des Ford Fiesta auf, noch ehe der Wagen richtig hielt. Sie freute sich auf die Fahrt durch die Stadt, auf den Anblick der Häuser und Gebäude, wie sie in den Stilepochen vergangener Jahrhunderte entstanden waren. Unten am Hafen fuhren sie an Fischerhäuschen aus dem 16. Jahrhundert vorbei, die zum Schutz gegen die Stürme dicht aneinandergedrängt dastanden, jetzt aber bis zur Unkenntlichkeit renoviert worden waren. Eine planende Hand schien in der Anordnung der Häuser, Gaststätten, Geschäfte und Speicher nicht erkennbar; sie lagen durcheinandergewürfelt da, als hätte ein launisches Kind sie aus seiner Spielzeugschachtel verstreut. Vor ihnen tauchte im Regen die schöne Regency-Stadthalle auf. Dahinter standen solide viktorianische Villen, die jetzt Büros beherbergten, und das noch immer geöffnete Grand Hotel, auch wenn es von seiner früheren Pracht eingebüßt hatte. Oben auf dem North Hill standen die teuren Häuser der gehobenen Mittelklasse; eins davon gehörte ihrer Mutter.
In einem Zeitraum von über dreihundert Jahren hatte sich das kleine Fischerdorf Fellcar in eine Stadt mit fast fünfzigtausend Einwohnern verwandelt. Fischer und ihre Boote gab es schon lange nicht mehr. Viele der ehemaligen Hotels hatte man in Eigentumswohnungen umgewandelt. Das in den fünfziger Jahren boomende Feriendorf, dessen einstige Gaste nun preiswerteren Urlaub in Spanien und Florida machten, war in ein Konferenzzentrum umgebaut worden. Am Rand der Stadt hatte sich vor kurzem einer der Retter der Stadt angesiedelt: eine Computerfabrik.
»Sie wirken so geistesabwesend, Miss.«
Chrissy blickte auf und sah, daß der Taxifahrer sie im Rückspiegel beobachtete.
»Ich mußte an die Arkaden denken, die früher hier standen.«
»Die gibt's schon lange nicht mehr, Miss. Jetzt kommen nicht mehr viele Touristen hierher. Ich weine ihnen keine Träne nach, denn sie haben nur Dreck hinterlassen und sind nie Taxi gefahren. Die Fabriken jetzt, das ist doch was ganz anderes – da kommt Geld ins Portemonnaie.«
»Fabriken, sagten Sie? Ich dachte, es gäbe nur die eine.«
»Zum Glück nicht. Als sich die Firma Sunflower Computers hier ansiedelte, zogen andere nach. Im Industriegebiet draußen gibt's jetzt mindestens zehn. Wo haben Sie denn gelebt?«
»In Cornwall. Ich war nur selten zu Besuch. Und dann redet man nicht über Fabriken, oder?« Sie grinste.
»Ich war mal in St. Ives – ein hübscher Ort.« Der Fahrer hörte auf zu plaudern, als er am Fuß des South Hill in den vielbefahrenen Kreis einbog und dann den steilen Hügel zum St. Edith's hochfuhr.
»Ich finde es dumm, an diese Stelle ein Krankenhaus hinzubauen. Wenn man krank ist, ist man tot, ehe man da oben angekommen ist. Aber das senkt wohl die Kosten, nehme ich an.« Er lachte über seine Bemerkung, aber sie klang abgedroschen, so als würde er sie häufig machen.
Chrissy schaute aus dem Fenster, als sie am Krankenhaus vorbeifuhren. Hier würde sie in einer Woche zu arbeiten anfangen. Hier war sie geboren, hier war ihr der Blinddarm entfernt worden, und hier würde sie wohl sterben, falls sie in Fellcar blieb. Bei dem Gedanken schauderte ihr, und sie schlug schützend den Mantelkragen hoch.
»Dann kommen Sie also aus der Gegend, wie?« fragte der Fahrer.
»Ja.«
»Und sind zu Besuch hier?«
»Nein. Dieses Mal bleibe ich.«
»Sind Sie verheiratet?«
Chrissy mußte lächeln, denn sie hatte ganz vergessen, wie neugierig die Einheimischen hier waren.
»Nein.« Seit Ewans Tod hatte sie gelernt zu verschweigen, daß sie Witwe war. Entweder schwiegen die Menschen betroffen oder sie ergingen sich in übermäßigen Sympathiebekundungen. Beide Reaktionen waren ihr unangenehm. Außerdem schienen manche Männer ihre Witwenschaft geradezu als Einladung zu unverschämten Annäherungsversuchen zu betrachten.
»Haben Sie einen Job?« Sie durchquerten jetzt das Moor, das in dieser Gegend bis an die Kliffküste reichte.
»Ich habe eine Stellung im Krankenhaus«, antwortete Chrissy vorsichtig. Denn wenn sie ihren Beruf preisgab, würde der Mann ihr nicht nur von seinen Krankheiten erzählen, sondern auch von denen seiner Frau, seinen Kindern und seiner gesamten Verwandtschaft. Das wußte sie.
»Als was? Als Sekretärin?«
»Nach Bigton geht es hinter dem letzten Haus links ab«, entgegnete Chrissy und ignorierte die Frage.
»Es ist ziemlich windig hier oben.«
Chrissy war aufgeregt, als das Taxi über die unbefestigte Straße rumpelte, die an der Steilküste entlang und durch das kleine Dorf namens Bigton Wyke führte, das jedoch immer nur Bigton genannt wurde. Der Wagen bog in die schmale Zufahrt ein. Das Tor war windschief; darüber hing ein Holzschild mit den eingeschnitzten Worten: »End Cottage«. Das Taxi hielt auf dem mit Unkraut bewachsenen Weg. Im Garten wucherten ein paar kümmerliche Büsche. Wahrscheinlich kann in diesem salzigen Wind nichts anderes hier gedeihen, dachte Chrissy.
Im Regen wirkte das Haus noch verlassener und vernachlässigter. Sie stieg aus und betrachtete es eine Weile. Ihr Haus! Ihr Eigentum! Und eine Woge aus Frieden und Zufriedenheit überkam sie, Gefühle, die sie lange nicht mehr gehabt hatte.
Der Korridor zog sich endlos dahin, und durch die in regelmäßigen Intervallen in die Außenmauer eingelassenen Fenster fiel Licht auf den abgenutzten Mosaikfußboden. Kim Henderson, der mit einer kleinen Gruppe den Korridor entlangging, fragte sich, wie viele Quadratmeter solcher langen, breiten Korridore in dem Krankenhaus nutzlos verschwendeten Raum darstellten. Statt dessen könnte man bequem ein paar zusätzliche Krankenzimmer oder sogar eine ganze Abteilung unterhalten, mutmaßte er. Er warf einen Blick zur Decke. Vor ein paar Jahren hatte man eine neue tiefer eingezogen, um Heizkosten zu sparen, und er überlegte, wieviel Schmutz und Spinnweben sich wohl inzwischen dort angesammelt haben mochten. Zwar waren die viktorianischen Stuckornamente dadurch nicht mehr sichtbar, doch der Verwalter in ihm hieß die Maßnahme gut, während sein Kunstverstand sie bedauerte.
Er lächelte die junge, hübsche Krankenschwester an, die zur Seite getreten war, um die Gruppe vorbeizulassen, und dankte ihr. Da er der einzige höfliche gewesen war, lächelte sie zurück. Er warf einen Blick über die Schulter und bewunderte ihre Figur. Dafür wurde er belohnt: Sie hatte sich ebenfalls nach ihm umgedreht. Doch in diesem Moment prallte er mit seinem Chef, Craig Nutting, zusammen, der vor der großen gläsernen Eingangstür von St. Edith's mit den anderen stehengeblieben war.
»Passen Sie auf, wohin Sie gehen, auch wenn Sie der Anblick einer schönen Frau fesselt«, sagte Craig humorvoll. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte Kim verlegen und errötete, als ihn Glynis Tillman, die Verwaltungsdirektorin des Krankenhauses, mißbilligend musterte, weil er einer ihrer Schwestern einen lüsternen Blick zugeworfen hatte.
»Danke, daß Sie uns einen Teil Ihrer kostbaren Zeit gewidmet haben, Glynis«, sagte Craig und streckte der Verwaltungsdirektorin die Hand hin, die diese nur widerstrebend ergriff. »Es war mir ein Vergnügen, Mister Nutting.« Glynis betonte leicht spöttisch den Nachnamen.
Kim war diese so offensichtliche Geringschätzung seines Chefs von seiten der Frau peinlich, doch der zeigte sich ungerührt und legte Miss Tillman – die sich sichtlich versteifte – den Arm um die Schultern.
Einzeln verabschiedeten sich die Herren von Glynis.
»Danke, Miss Tillman«, sagte Kim, als er an der Reihe war. Obwohl er diese rigide Frau schon seit Jahren kannte, brachte er ihr noch immer großen Respekt entgegen.
»Grüßen Sie Ihre Tante von mir, wenn Sie sie das nächste Mal sehen«, sagte Glynis lächelnd und gab ihm die Hand.
»Wir treffen uns heute zum Lunch.«
»Das freut mich«, entgegnete Glynis, machte auf dem Absatz kehrt und ging den langen Korridor zurück.
Bestimmt hat sie als junge Frau phantastisch ausgesehen, dachte Kim. Wie schade, daß schöne Frauen wie Glynis und seine Tante alt werden mußten. Kim stieß die Eingangstür auf und folgte den anderen.
»Puh! Was für eine Tyrannin! Ist sie immer so?« fragte der Älteste der Gruppe.
»O ja, Herr Staatssekretär. Das Problem mit unserer lieben Glynis Tillman ist, daß sie glaubt, ihr gehöre das Krankenhaus. Ich war immer der Meinung, daß sie einen Mann gebraucht hätte, der ihr ihre Macken austreibt.« Craig Nutting, der Vorsitzende des Thorpedale und Fellcar NHS-Trusts, machte grinsend eine obszöne Handbewegung. Die beiden anderen Männer lachten, doch Kim zeigte plötzlich großes Interesse am Glanz seiner Schuhe. Er mochte Craig zwar, aber manchmal hielt er ihn für einen ausgemachten Trottel.
Craig war Anfang Vierzig und sehr ehrgeizig. Kim wußte, daß er viel von seinem Chef lernen konnte – wenn er wollte. Sein Problem war, daß er sich mittlerweile fragte, ob er nicht doch lieber Medizin hätte studieren sollen, wie es sein Vater gewollt hatte, anstatt als Verwaltungsbeamter Patienten und Krankenhauspersonal gleichermaßen Schwierigkeiten zu machen. Von diesen Gedanken wurde er durch Craigs lautes Lachen abgelenkt. Craig hatte strähniges rotbraunes Haar, die hagere Gestalt eines Mannes, der an Verdauungsstörungen leidet, und den blassen Teint eines Menschen, der das Tageslicht scheut. »Nun, Herr Staatssekretär«, sagte er jetzt in einem Tonfall, der bedeutete: Scherz beiseite, zurück zum Geschäft. Kim kannte nur zu gut diese Taktik seines Chefs.
Das runde teigige Gesicht des Staatssekretärs des Gesundheitsministeriums legte sich in besorgte Falten. Er wippte auf den Zehenballen und gab sich den Anschein eines Mannes, der wichtige Entscheidungen zu treffen hatte – zumindest hoffte er, diesen Eindruck zu erwecken. »Ich brauche Zahlen. Schicken Sie mir die Bilanz noch vor Weihnachten.« Verdammt, dachte Kim, das schaffen wir nie – oder vielmehr er würde es nicht schaffen, weil sich Craig bestimmt nicht die Nächte um die Ohren schlagen würde, um das Budget des Krankenhauses zu erstellen.
»Und wann dürfen wir mit einer Entscheidung rechnen?« fragte Mark Fisher, der Parlamentarier des hiesigen Wahlkreises, mit besorgter Miene. Trotz der kühlen Herbstluft schwitzte Mark Fisher, wohl aus Nervosität, wie Kim vermutete.
»Na, na, Mark«, sagte der Staatssekretär gönnerhaft. »Wie Sie wissen, brauchen solche Entscheidungen Zeit.« Kim entging nicht der leicht spöttische Unterton, den sich der Staatssekretär Mark gegenüber leisten konnte, der im Parlament nur als dummer Hinterbänkler betrachtet wurde und keinerlei Einfluß besaß, ganz gleich, wie die Entscheidung des Staatssekretärs bezüglich des Krankenhauses ausfallen würde. »Geht diese Uhr richtig?« fragte der Staatssekretär nach einem Blick auf den Turm. »Mein Gott, was für ein monströses Bauwerk.«
»Lassen Sie das bloß nicht die Wähler von Fellcar hören, dann verliere ich die Hälfte der Stimmen«, protestierte Mark Fisher. »Dieser Turm wurde mit Spendengeldern zum Gedenken an den ehemaligen Ratsherrn Thomas Yates errichtet – einem Gentleman von Rang und Namen,. an den sich allerdings – bis auf seine Nachfahren – nur noch wenige Bewohner von Fellcar erinnern. Der Turm heißt Old Tom's, obwohl kaum noch jemand weiß, nach wem er benannt wurde.«
Kim war diese Erklärung unangenehm, und gleichzeitig schalt er sich wegen seiner Verlegenheit. Er zwang sich zu einem verkrampften Lächeln.
»Was ist denn mit Ihnen, Kim? Sie scheinen sich über etwas zu ärgern«, sagte Craig.
»Nein, nein, ist schon gut.«
»Herrje, ich habe ganz vergessen, daß Sie auch ein Yates sind, nicht wahr? Tut mir leid, Kim.« Mark Fisher berührte Kims Arm.
»Nein, ich bin kein Nachfahre von Old Tom. Er war ein angeheirateter Verwandter meiner Tante. Diese alten Geschichten interessieren mich nicht.« Dabei war es ihm keineswegs gleichgültig, wie über Old Tom gesprochen wurde, auf den er immer stolz gewesen war.
»Ich hatte ja keine Ahnung, über welche Beziehungen Sie in dieser Stadt verfügen«, sagte Craig.
»Keineswegs, Craig«, protestierte Kim und wünschte, jemand würde das Thema wechseln.
»Meine Herren, ich muß los«, sagte der Staatssekretär. »Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister ...« Er schüttelte Craigs Hand. »Sie natürlich auch, Mister ...« Kim bedachte er nur mit einem Nicken.
»Gute Reise, Herr Staatssekretär.« Craig winkte dem davonfahrenden Auto nach und sagte: »Widerlicher, schmieriger Kretin!«
»Ich dachte, Sie mögen ihn«, sagte Kim verwundert.
»Das soll wohl ein Witz sein! Ich könnte Ihnen Sachen über diesen nutzlosen kleinen Scheißkerl erzählen ... Sie müssen noch viel lernen, Kim.« Craig legte ihm kameradschaftlich den Arm um die Schultern.
»Niemand mag diese schleimige Kröte. Windet sich wie ein Aal, um Entscheidungen auszuweichen. Kein Mumm in den Knochen. Den Gerüchten nach hat er eine Freundin hier in der Gegend. Davon haben weder seine Frau noch die Boulevardpresse bisher Wind bekommen.« Jetzt, da der Staatssekretär nicht mehr da war, plusterte sich Mark Fisher wichtigtuerisch auf.
»Aber Sie werden sich zur rechten Zeit um diese Angelegenheit kümmern, nicht wahr, Mark?« Craig fand die Situation höchst amüsant.
»Es ist immer gut, ein Eisen im Feuer zu haben, Craig. Ich möchte mit Ihnen ein paar Dinge besprechen – allein.« Mark warf Kim einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Ich habe eine Verabredung mit meiner Tante zum Lunch«, erklärte Kim hastig, der sich plötzlich überflüssig vorkam.
»Ihr Vater ist doch praktischer Arzt in Fellcar, nicht wahr? Ich kenne ihn. Netter Mann«, sagte Mark und legte Kim versöhnlich den Arm um die Schultern, während die drei zum Parkplatz gingen.
»Und was halten Sie von dem alten Drachen, Kim?«
»Meinen Sie Miss Tillman? Eine etwas rigide Frau, nicht wahr? Ihre aufopfernde Tätigkeit für das St. Edith's finde ich jedoch bewundernswert. Sie liebt dieses Krankenhaus wirklich.« Kim hielt es für besser, seine Bekanntschaft mit Glynis nicht preiszugeben.
»Ich halte sie für eine Nervensäge.«
»Ihre Besorgnis ist doch verständlich. In ihrem Alter würde sie keine vergleichbare Stellung mehr finden. Und ich stimme mit ihr völlig überein: Es hätte keinen Sinn, dieses Krankenhaus zu schließen. Es ist eine gut funktionierende Institution, auf die nicht verzichtet werden kann.« Kim war über die Gerüchte, daß St. Edith's geschlossen werden sollte, nicht glücklich.
»Aber es arbeitet nicht kostendeckend«, warf Mark ein.
»Dann sorgen Sie dafür, daß eventuelle Mißstände abgeschafft werden«, sagte Kim zurückhaltend, da er merkte, daß man ihn in Verlegenheit bringen wollte. Das machte ihn nervös, denn es mangelte ihm an Erfahrung in dieser Position, und er hatte bereits Dinge entdeckt, die ihm gar nicht gefielen.
»Kim, mein Junge, Sie müssen noch viel lernen«, wiederholte Craig beinahe liebevoll und ignorierte Kims Unbehagen.
»Angenommen, St. Edith's würde geschlossen – könnte das Thorpedale-Krankenhaus denn alle Patienten aufnehmen und versorgen?«
»Ohne weiteres. Es müßten zwar Veränderungen vorgenommen und die Belegung in den Stationen erhöht werden – aber das wäre nicht unmöglich.«
»Und was würde mit diesem Gebäude geschehen?«
»Wie hartnäckig Sie dieses Thema verfolgen, Kim. Ich habe Ihnen doch schon neulich gesagt, daß es zu einem Apartmenthaus umgebaut wird. Eine hübsche kleine Einnahmequelle für den Trust«, sagte Craig und schloß sein Auto auf.
»Das wäre doch eine Schande, oder? Dieses schöne alte Krankenhaus, das der Stadt so viele Jahre gute Dienste geleistet hat ...«, sagte Kim in einem Anflug von Wehmut.
»Werden Sie nicht sentimental, Kim ... Nur weil Ihr Großvater es gebaut hat ... Man muß heutzutage praktisch und wirtschaftlich denken. Einsparungen müssen vorgenommen und die Warteliste der Patienten gekürzt werden – und das bedeutet das Ende für St. Edith's«, sagte Craig und stieg in seinen nagelneuen Rover 827, der ihm freundlicherweise vom Thorpedale und Fellcar NHS-Trust gratis zur Verfügung gestellt wurde.
Das Aufheulen des Motors übertönte Kims erneuten Protest, Old Tom Yates habe nichts mit ihm zu tun.
Mit zweiundzwanzig ist man zu jung, um Selbstmord zu begehen. Doch so, wie Buck Marston über den Parkplatz vor der Gaststätte Fox and Fiddle zu seinem Auto wankte, schien genau das seine Absicht zu sein. »Happy Birthday to me«, sang er lauthals und lehnte sich Halt suchend gegen sein Auto, während er die Schlüssel aus seiner Tasche kramte. »Buck! Du bist zu besoffen, um zu fahren«, schrie Wayne Freeman hinter ihm her.
»Kümmere dich um deine eigenen verdammten Angelegenheiten«, schrie Buck zurück.
»Wir müssen ihn aufhalten, Jason«, sagte Wayne zu seinem älteren Bruder, der gerade in der Tür des Pubs auftauchte.
»Er wird's schon schaffen. Schließlich fährt er oft genug stockbesoffen durch die Gegend. Wahrscheinlich kennt sein Auto den Weg nach Hause ganz allein.« Doch Wayne, der weniger betrunken als die beiden anderen war, wirkte unsicher. »Na, komm schon. Wir haben damit nichts zu tun. Es ist erst halb zwei – noch Zeit für einen weiteren Drink. Warum der blöde Kerl Cheryl versprochen hat, zum Mittagessen nach Hause zu kommen, kapiere ich nicht.«
»Du hast recht – das geht nur Buck etwas an.« Wayne blieb in der Tür zum Pub noch einmal stehen, als Buck mit aufheulendem Motor und röhrendem, defektem Auspuff, der eine schwarze Rauchwolke ausstieß, laut hupend davonraste.
Andrew Basset hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Er war sehr zufrieden mit sich selbst: Es war eine kluge Entscheidung gewesen, zu Sunflower Computers zu wechseln – er bekam eine doppelt so hohe Provision, und die würde reichen, um eine Hypothek für ein Haus aufzunehmen. Außerdem mußte er nicht mehr soviel reisen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Vielleicht sollte er Rachel überraschen – er hatte sich Unterlagen für das Haus in der Mulberry-Siedlung besorgt, das ihr vom ersten Augenblick an gefallen hatte. Wenn er Druck machte, konnten sie vielleicht Weihnachten schon einziehen. Bei dem Gedanken lachte er vor Aufregung und bog an der Ausfahrt des Industriegebiets nicht nach rechts – nach Thorpedale –, sondern nach links in Richtung Fellcar ab.
Er hätte sich Fellcar nicht als Wohnort ausgesucht – ihm war das Städtchen viel zu ruhig –, doch da Rachel ein Kind erwartete, wollte sie näher bei ihrer Mutter sein.
Er beugte sich vor und drückte auf die Eject-Taste des Kassettenrecorders, als das Band von Runrig zu Ende war. Es fiel zu Boden, und als er schnell einen Blick hinunterwarf, schlingerte der Wagen über die weiße Mittellinie. Der Fahrer im Auto hinter ihm drückte warnend auf die Hupe.
Andrew blickte gerade noch rechtzeitig auf, um Bucks verbeulte Schrottkiste um die Kurve und weit über der Mittellinie auf sich zurasen zu sehen.
Der Aufprall der beiden mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Autos klang wie eine Explosion. Metallteile flogen wie Granatsplitter durch die Luft. Danach herrschte Totenstille. Ein Autofahrer, der zu Hilfe eilte, hörte einen entsetzlichen Schrei, während ein weiterer Fahrer über sein Autotelefon die Polizei alarmierte.
Das Gebäude für die Notaufnahme und die Unfallstation von St. Edith's grenzte an das Krankenhaus an. Es war ein ziemlich modernes, einstöckiges Haus, dessen Außenwände mit der Farbe ›Adam-Grün‹ – die bei den Einwohnern jedoch ›Erbsengrün‹ hieß – gestrichen war. Mit dem Hauptgebäude war es durch eine Glaspassage verbunden. Um die Patienten aufzuheitern, hatten die Schwestern die Scheiben mit ausgeschnittenen Blumen und Cartoons verziert, doch die wenigsten der mit eigenen Sorgen beschäftigten Patienten nahmen davon Notiz.
Auf der Unfallstation war es ruhig. Schwester Betty Greaves nutzte in ihrem kleinen vollgestopften Büro die Ruhepause, um eine Tasse Tee zu trinken und ihren Papierkram zu erledigen. November und Dezember waren für die Station arbeitsreiche Monate. Betty sah Ferien und Feiertage unter einem anderen Aspekt als Normalbürger: August bedeutete Tote durch Ertrinken, der Guy Fawkes Day Verbrennungen und die Hektik vor Weihnachten Unfälle und Streitereien – Resultate von feucht-fröhlichen Bürofeiern. Als wäre die Arbeit auf der Station nicht schon anstrengend genug, verlangte die Verwaltung immer mehr Informationen. Betty konnte zwar verstehen, daß Angaben zu Alter, Geschlecht, sozialen Verhältnissen, ob Raucher oder Nichtraucher, Art des Unfalls und Krankheiten wichtig waren. Doch manche Angaben für die Statistik, die von ihr verlangt wurden, fand sie einfach unsinnig: die Anzahl der Linkshänder unter den Patienten; wie viele mit braunen Augen und wie viele mit Körpergrößen von über einsachtzig behandelt wurden, waren einige Angaben, die ihr gerade einfielen. Zu gern hätte sie eine dritte Spalte zu den Fragen nach dem Geschlecht, M für männlich, W für weiblich, hinzugefügt – Z für zweifelhaft. Was mit den Statistiken, die sie regelmäßig erstellte, geschah, wurde ihr nur selten gesagt, und sie hatte aufgehört, danach zu fragen, sonst hätte sie sich noch mehr über die Vergeudung ihrer kostbaren Zeit geärgert. Ihre Schlußfolgerung war, daß dieser Papierkram nur der Existenzberechtigung der Verwaltungsdirektoren diente.
»Ja, Margaret, was ist denn?« fragte sie, als eine junge Schwesternschülerin nach zögerlichem Klopfen das Büro betrat.
Margaret Harper war eine Studentin des Projekts 2000, die ihre erste Woche auf der Unfallstation absolvierte. Dieses Ausbildungssystem, das 1990 eingeführt worden war und bis zum Jahr 2000 gelten sollte, war akademischer ausgerichtet, als Bettys Ausbildung gewesen war. Diese Schwesternschülerinnen verbrachten mehr Zeit in Klassenzimmern als beim praktischen Dienst auf den Stationen. Viele Schwestern lehnten dieses System und somit die bedauernswerten Schülerinnen mit unverhohlener Feindseligkeit ab. Diese verbohrte Haltung teilte Betty nicht, obwohl sie die Nachteile dieses Ausbildungssystems tagtäglich erlebte. Die Behandlung eines Patienten in der Theorie oder an einer Gummipuppe zu erlernen unterscheidet sich doch grundsätzlich von dem Umgang mit nörgelnden, oft stinkenden und aggressiven Patienten – diese Erfahrung lehrt nur die Praxis. Doch Betty erkannte auch die Vorteile dieses Ausbildungssystems: Dadurch würde hoffentlich der Beruf der Krankenschwester aufgewertet und besser bezahlt werden. Die ziemlich rührselige Einstellung der Öffentlichkeit diesem Berufsstand gegenüber war zwar gut und schön, wirkte sich jedoch nicht auf das Gehalt aus. Außerdem hatte Betty oft darauf hingewiesen, wieviel Zeit sie während ihrer Ausbildung mit Tätigkeiten vergeudet hatte, die auch ungeschultes Personal erledigen konnte. Die Zukunft wird es lehren. Betty wußte, wieviel Angst die Schwesternschülerinnen vor einem Einsatz in der Unfallstation hatten. Nie wußte man, was in der nächsten Minute geschehen, mit welchen Katastrophen man konfrontiert werden würde und ob man damit fertig werden konnte.
»Entschuldigen Sie bitte, Schwester, aber in Kabine zwei liegt eine junge Frau, die über schlimme Unterleibsschmerzen klagt. Die Stationsschwester ist noch beim Mittagessen ...« In Margaret Harpers Augen hinter der runden Brille lag Panik.
»Hat der diensthabende Arzt nach ihr gesehen?«
»Nein, er ist Kaffee trinken gegangen – es war ruhig auf der Station. Die Frau ist nicht schwanger – ich habe ihren Urin getestet«, fügte Margaret stolz hinzu.
»Sehr gut, Margaret«, sagte Betty lächelnd und piepste den Assistenzarzt an. »Wie oft vergessen Schwestern, bei einer jungen Frau als erstes Komplikationen, die im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft auftreten können, auszuschalten. Ich sehe mir die Patientin mal an.« Die dunkelhaarige, zierliche, an einen Vogel erinnernde Frau stand auf.
»Es ist nicht nötig, mich anzupiepsen – ich bin schon wieder da. In welcher Kabine liegt die Patientin? Warum steht ihr Name nicht auf der Tafel?« Dr. John Playfair, der diensthabende Arzt der Unfallstation, steckte seinen Kopf zur Tür herein. Tonfall und Gesichtsausdruck des jungen Arztes waren gleichermaßen aggressiv. Die Schwesternschülerin warf ihm einen ängstlichen Blick zu.
»Margaret wollte den Namen gerade draufschreiben, als die Patientin über Beschwerden klagte. Da kam sie zuerst zu mir, Doktor Playfair. Sie liegt in Kabine zwei.« Betty sprach sehr sachlich, um weitere Kritik an einer ihr unterstellten Lernschwester – die sie stets verteidigte – zu unterbinden.
Der Arzt, der überarbeitet und erschöpft aussah, verließ wortlos das Büro. Betty konnte sich für John Playfair nicht erwärmen, der – im Gegensatz zu anderen jungen Assistenzärzten – jeden wohlgemeinten Ratschlag schroff ablehnte. Gewöhnlich wurde von jungen Ärzten akzeptiert, daß eine Schwester mit fünfzehnjähriger Berufserfahrung mehr weiß, als sie bisher gelernt hatten. John Playfair hingegen ließ Betty kommentarlos gewähren, behielt sie jedoch ständig im Auge. Früher oder später würde auch er begreifen, wie wertvoll ihre Ratschläge waren.
Margaret Harper war dem Arzt gefolgt, um ihm zur Hand zu gehen. Betty widmete sich wieder ihren Krankenberichten.
Zehn Minuten später kam Dr. Freddie Favour, der Notarzt, in ihr Büro gestürmt.
»Ich habe wieder einen Fall für Ihre Statistik«, rief Freddie triumphierend und schwenkte einen Brief. »Die junge Frau in Kabine zwei hat ein Magengeschwür – oder ich fresse einen Besen.«
»Welcher praktische Arzt hat sie eingewiesen? Nein, lassen Sie mich raten – Doktor Giles Middleton.«
»Genau. Versucht wieder seine alten Tricks. Setzen Sie die Patientin auf Ihre Liste. Ich schreibe ihm sofort ein paar Zeilen – solange ich noch wütend bin.«
Wenn dieses Krankenhaus oder diese Station geschlossen wird, sind daran Ärzte wie Dr. Middleton schuld, dachte Betty und notierte sich den Namen der Patientin.
Es war allgemein bekannt, daß praktische Ärzte manchmal Patienten in die Notaufnahme einwiesen, um die Warteliste zu überspringen oder eine Aufnahme zu erzwingen, falls eine Station überbelegt war und Patienten nicht auf dem üblichen Verfahrensweg aufgenommen wurden. Diese Ärzte wußten, daß das Pflegepersonal der Unfallstation Himmel und Erde in Bewegung setzen würden, um für einen Kranken ein Bett aufzutreiben. Doch Ärzte wie Giles Middleton handelten aus anderen Beweggründen: Ihm ging es nicht um das Wohl des Patienten, sondern um den Inhalt seiner Brieftasche. Dr. Middleton war Arzt einer Gemeinschaftspraxis und Inhaber von Staatspapieren. Zusammen mit ein paar anderen praktischen Ärzten hatte er eine geldsparende Lücke im System gefunden. Bei der Überweisung eines Patienten an den Facharzt im Krankenhaus mußte die Praxis die Konsultation und Behandlung bezahlen. Wurde ein Patient jedoch als Notfall eingewiesen und die Ärzte im Krankenhaus stimmten einer Aufnahme zu, zahlte nicht die Praxis, sondern das Krankenhaus. Dadurch wurde das Budget des Krankenhauses zusätzlich belastet, und St. Edith's würde dieses Jahr in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten. Alten und im Unterhalt kostspieligen Krankenhäusern drohte ständig die Schließung, denn Ärzte wie Dr. Middleton trugen dazu bei, daß die Kosten in die Höhe getrieben wurden. Je früher dieses System geändert wurde, um so besser.
Beim ersten Läuten des Telefons griff Betty zum Hörer. »Unfallstation. Schwester Greaves am Apparat ... Ja ... Ankunft der Ambulanz? ... Gut.« Langsam legte sie den Hörer wieder auf, alarmierte das Reanimationsteam und den Facharzt. Dann ging sie in den Aufnahmebereich der Station.
»Margaret, ist die Stationsschwester zurück? Gut.« Sie nahm ihre Manschetten ab und rollte die Ärmel hoch. »In der Nähe der Sunflower-Computerfabrik hat es einen schweren Autounfall gegeben. Zwei Opfer – beide brauchen Wiederbelebungsmaßnahmen.« Die völlig verängstigte Schwesternschülerin im Gefolge – die noch nie ein Unfallopfer gesehen hatte marschierte Betty durch den Aufnahmebereich.
Wie immer, wenn ein Notfall eintrat, fand plötzlich ein Zustrom von Patienten statt. Und ihr fehlten zwei Schwestern. Unterwegs rückte Betty Stühle und Tische zurecht, ordnete Bücher und Spielzeug und schimpfte über die Unordentlichkeit der Menschen. Dann sah sie sich nach Margaret um. Wo war das Mädchen? »Lernschwester Harper?« rief sie.
»Ja, Schwester!« Margaret kam angelaufen.
»Nur mit der Ruhe, Margaret. Hat man Ihnen nicht beigebracht, daß eine Schwester nur läuft, wenn es brennt, eine plötzliche Hämorrhagie eintritt oder sie Mitglied des Wiederbelebungsteams ist? Sind Sie das?«
»Nein, Schwester. Entschuldigen Sie bitte.«
»Na gut. Kommen Sie mit.«
Die Eingangstür öffnete sich zischend vor den beiden, als im selben Augenblick die Ambulanzen mit heulenden Sirenen vorfuhren und hielten. Die Sanitäter sprangen heraus und holten die Bahren mit den Unfallopfern aus den Wagen. Betty warf schnell einen Blick auf die beiden bewußtlosen Männer, deren Köpfe bandagiert waren. Da noch niemand vom Reanimationsteam aufgetaucht war, befahl sie knapp: »Margaret, Sie begleiten diese Bahre.«
Auf dem Weg durch den Aufnahmebereich rief eine wütende Stimme: »He, Sie da. Kommen Sie mal her!«
Betty blieb abrupt stehen, sah sich um und entdeckte einen Mann mittleren Alters, der mit dem Finger auf sie zeigte.
»Ja, Sie in der blauen Uniform. Führen Sie hier das Kommando?«
»Ja, ich bin die Oberschwester der Station. Wenden Sie sich doch bitte an die Aufnahme –« Betty wollte weitergehen, doch der Mann hielt sie am Ärmel zurück.
»Lassen Sie mich nicht einfach stehen, solange ich mit Ihnen rede.«
»Es tut mir leid, Sir, wir haben einen Notfall ...«
»Und was, glauben Sie wohl, bin ich? Ich warte schon seit zehn Minuten.«
»Was ist denn Ihr Problem, Sir?«
»Ich habe mir das Handgelenk gebrochen.« Er streckte ihr den knochigen Arm hin. »Ich habe innerhalb von fünf Minuten Anspruch auf Behandlung. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Und diese Zeit ist überschritten.«
»Wie heißen Sie?«
»Mister Brighton.«
»Sobald eine Schwester frei ist, um Ihre Angaben aufzunehmen, wird man sich um Sie kümmern. Bis dahin müssen Sie eben warten – Gesetz hin oder her.«
»Ich werde mich über Sie beschweren.«
»Lieber Mann, das steht Ihnen frei«, rief Betty über die Schulter zurück und eilte den Korridor entlang.
Im voraus über die schweren Verletzungen der Unfallopfer informiert, herrschte auf der Station hektisches Treiben.
Neben dem Facharzt, seinem Assistenten und dem Krankenhausarzt kümmerte sich das Reanimationsteam um die Verletzten. Außer den ›Kopf‹-Männern, wie die Neurochirurgen genannt wurden, waren auch die ›Knochen‹-Männer – das orthopädische Team – alarmiert worden. Anästhesisten und Röntgenologen hielten sich bereit. Befehle wurden in einer für Außenseiter unverständlichen Kürzelsprache erteilt, während die Ärzte routinemäßige Untersuchungen durchführten.
»Für den gibt es keine Hoffnung mehr«, sagte Freddie Favour, der an der Bahre des jüngeren Mannes stand. »Er ist jung und körperlich fit. Verständigen Sie die Verwandten, ehe es zu spät ist – er ist ein idealer Organspender.« Dann wandte er sich dem zweiten Unfallopfer zu.
»Margaret, durchsuchen Sie seine Kleidung nach Papieren und bringen Sie sie mir ins Büro. Dann säubern Sie den Patienten«, befahl Betty.
Doch Margaret Harper stand bleich und zitternd, mit tränenüberströmten Wangen, neben der Bahre, starrte auf die blutüberströmte Gestalt hinunter, die ein Mensch gewesen war, und stammelte: »Er ist doch noch so jung ... so etwas habe ich noch nie gesehen ...«
Betty nickte der Stationsschwester, Dawn Allyson, die gerade den Raum betrat, zu und bat sie, zu übernehmen. »Ist schon gut, Margaret. Kommen Sie mit. Beim ersten Mal ist es immer am schlimmsten. Es wird zwar nie leichter, aber man gewöhnt sich daran«, sagte sie sanft zu der Schwesternschülerin und dachte dabei an ihre Reaktion vor so vielen Jahren, als sie genauso schockiert und angeekelt wie die arme Margaret Harper gewesen war.
Glynis Tillman, die Verwaltungsdirektorin des St. Edith's-Krankenhauses – eine elegante, makellose, in Haltung und Benehmen rigide Frau –, saß schon seit halb acht an diesem Morgen in ihrem Büro. Ihr schickes marineblaues Kostüm mit der hochgeschlossenen weißen Bluse ähnelte der alten Uniform einer Oberschwester, die sie viel lieber getragen hatte. Diese Änderung der Kleiderordnung für leitende Angestellte war nur eine von vielen, die nicht ihre Zustimmung fanden.
Glynis verglich die Belegliste der chirurgischen Abteilung mit den für die kommende Woche angesetzten Operationen. Ihr war nicht bewußt, daß sie dabei die Stirn runzelte – ihr feinknochiges, blasses Gesicht zeigte sonst keine Falten. Es galt eine schwierige Aufgabe zu lösen, die eigentlich einfach sein sollte: Ein Chirurg kann den Heilungsprozeß eines Patienten ziemlich präzise beurteilen und abschätzen, wann eine Entlassung stattfinden und somit ein Bett frei werden würde. Doch immer wieder störten Unwägbarkeiten diese ordentlich ausgearbeiteten Belegpläne: Wider Erwarten verschlechtert sich der Gesundheitszustand eines genesenden Patienten; ein weiterer mußte die Operation wegen einer Erkältung verschieben; der Zustand eines auf die Operation wartenden Patienten verschlimmerte sich plötzlich oder jemand erkrankte schwer – jedes dieser Vorkommnisse konnte das ganze System durcheinanderbringen.
Früher, während ihrer Ausbildung, hatten immer Reservebetten für Notfälle bereitgestanden. Doch jetzt durfte kein Bett mehr leerstehen, um die Kapazitäten des Krankenhauses möglichst auszulasten. Daraus entstand das Problem, daß bei auftretenden Notfällen einem bereits eingeplanten Patienten abgesagt werden mußte. Und es war keine angenehme Aufgabe, dem Betreffenden kurzfristig mitteilen zu müssen, daß seine Operation verschoben werden mußte.
Eine noch schlimmere Situation entstand, wenn Stationen so überbelegt waren, daß Patienten, die ihre Voruntersuchungen bereits hinter sich hatten, wieder nach Hause geschickt werden und auf einen neuen Termin warten mußten. Jedes Mitglied des Krankenhauspersonals haßte diese Situation, denn der Patient mußte erneut die Ängste und Sorgen vor der Operation durchleben. Diese Frustrationen führten manchmal zu aggressivem Verhalten dem Klinikpersonal gegenüber, als würden die Termine aus Boshaftigkeit und nicht aus Notwendigkeit verschoben. Glynis wurde von überforderten Schwestern oft hinzugerufen, um verärgerte Patienten oder Verwandte zu beruhigen. Dann erklärte sie geduldig die Gründe für diese Entscheidungen.
Glynis beherrschtes, autoritäres Auftreten wirkte gewöhnlich besänftigend, doch es war schon vorgekommen, daß ihr ein Mann mit geballten Fäusten gedroht hatte. Andere drohten mit Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Berufsethos – doch glücklicherweise war bisher keine dieser verleumderischen Geschichten in die Presse gelangt.
Glynis wünschte sich oft, Menschen würden gemäß ihrem Belegungsplan krank werden oder ihr stünde ein Krankenhaus aus Gummi zur Verfügung, das sie nach Bedarf ausdehnen könnte. Sie bearbeitete ihre Liste mit dem Radiergummi. Die chirurgische Abteilung war größtenteils mit Langzeitpatienten belegt – sie radierte einen Namen aus und verlegte die Frau, die sich nach einer Gallenblasenoperation schnell erholte, auf Zimmer 6. Ihr Bett bekam ein Patient, der nach einer Darmoperation länger stationär behandelt werden würde. Da Dr. Russell Newson, der Facharzt für Orthopädie, eine Woche im Urlaub war, sollte es ihr mit etwas Glück gelingen, den Zustrom neuer Patienten aufzufangen, ohne Termine absagen zu müssen.
»Herein«, antwortete sie auf das Klopfen an der Tür. »Was gibt es denn?« fragte sie leicht verärgert, da sie gebeten hatte, nicht gestört zu werden, ihre Stellvertreterin Schwester Shelagh Morris.
»Ich dachte, Sie sollten das gleich sehen.« Shelagh kam, eine Zeitung in der Hand, zum Schreibtisch. »Es steht in der FD.«