Ein Shuttle brachte mich vom Fährhafen zum Hotel. Die Uniform des Fahrers sah aus wie ein Golfdress, doch das dunkelblaue Emblem der Hotelkette auf seinem hellblauen Poloshirt wies ihn als Angestellten des Laguna Blu aus. Die weißen Turnschuhe wirkten brandneu, genauso wie die helle Hose. Kein Wunder, hatte das Haus doch erst vor wenigen Wochen seine Pforten geöffnet.
Sorgfältig wie ich war, hatte ich mich in die Hotelphilosophie eingelesen. Die Zielgruppe, so verrieten es zumindest der Werbeslogan und die Bilder, waren wohlhabende junge Menschen, denen das Leben zu Füßen lag. Hier mischten sich internationale Stars unter das bunte Volk der Besserverdienenden. Alle, die sich für wichtig und schön hielten, sollten sich hier bestens aufgehoben fühlen. Man war unter sich.
In unser Guesthouse in Pitlochry waren Menschen gekommen, die vor allem an der wunderschönen Natur unseres Landes Interesse hatten und denen es egal war, wer wie viel verdiente und was der andere beruflich tat. Oder ob jemand berühmte oder wohlhabende Eltern hatte. Ich ahnte, dass das bei meinem neuen Arbeitgeber anders sein könnte. Allerdings hatte mich das in meinem Vorhaben, meine Heimat zu verlassen, nicht abschrecken können. Im Gegenteil – ich wollte ja neue Erfahrungen sammeln. Und Menschen treffen, denen ich in Pitlochry niemals begegnet wäre.
Der Weg über die Autostrada führte uns über eine felsige und steinige Landschaft, deren Bepflanzungen braun und ausgedörrt förmlich nach Wasser zu schreien schienen. Kilometerweit war kein Rinnsaal zu sehen, nur das Meer, das am Horizont mit dem diesigen Himmel verschwamm. Flirrende Luftspiegelungen hingen über der Straße. Das Ganze wirkte eher wie eine afrikanisch anmutende Hochebene als wie Italien. Sardinien hatte ich mir jedenfalls grüner vorgestellt. Was an dem farbigen Hochglanzprospekt des Hotels gelegen haben mochte, den die Personalabteilung meinen Vertragsunterlagen beigefügt hatte. Die Wiesen der Poolanlage hatten saftig grün ausgesehen. Fast so grün wie die hinter meinem Guesthouse.
Schließlich ging es wieder bergabwärts auf die Küste zu. Das Meer erschien blauer, am Horizont erkannte ich weißen Sandstrand. Je näher wir kamen, desto türkisfarbener wurde das Wasser. Bald bog der Fahrer in die Zufahrtsstraße zum Laguna Blu ein – ein aufwendig gestaltetes Werbeschild versprach Erholung pur. Als der flache Hotelkomplex in Sicht kam, hielt ich die Luft an. Wow. Inmitten der gepflegten Hotelanlage spannte sich eine Brücke über den ovalförmigen Pool. Der dreigeschossige Hotelbau fügte sich mit seinem hellen Stein perfekt in die Landschaft ein. Palmen säumten die Kieswege, die durch die Anlage in Richtung Meer führten. Am liebsten hätte ich als allererstes die Umgebung erkundet und meine Zehen ins Wasser gestreckt. Ich war noch nie am Mittelmeer gewesen. Es sah so einladend aus!
Vor dem Haupteingang kamen wir zum Stehen, und ein Mann in identischer Uniform wie die meines Fahrers öffnete mir die Beifahrertür. Ich nickte ihm dankbar zu und löste verstohlen den verschwitzten Stoff meines Samtkleides von meinem Rücken. Ich brauchte dringend eine Dusche. Und etwas zu trinken. Der Geschmack des Instantkaffees und des trockenen Sandwiches lagen mir noch immer auf der Zunge.
Während ich ausstieg, lud der Mann mein Gepäck aus und hievte die zwei Koffer auf einen Wagen. Mein Angebot, ihm zur Hand zu gehen, schlug er freundlich aus und bat mich dann, ihm zu folgen.
Durch eine Drehtür betraten wir die Lobby, und sofort umfing mich angenehme Kühle. Gleichzeitig blieb mir beim Anblick der Einrichtung der Mund offenstehen. Auf den Bildern im Internet und im Hochglanzprospekt hatte es schon beeindruckend exquisit ausgesehen. Doch das Original schlug alles. Die vorherrschenden Farben der Möbel waren Brombeere und Senfgelb. Die Böden waren mit Marmorplatten ausgelegt, die Beistelltische schimmerten in erstrahlendem Holz. Und die Metallgestelle der auf den Tischen verteilten Lampen glänzten in Bronze.
Ein leises Seufzen entwich meinen Lippen. »Wie hübsch«, murmelte ich.
Die Gäste, die es sich in den Sesseln und Sofas bequem gemacht hatten, sahen kultiviert aus. Man trank Kaffee, Softgetränke oder bunte Cocktails aus Longdrinkgläsern. Die Leute legten Wert auf gute Kleidung ohne Schnickschnack. Ich entspannte mich. Matt würde sie »gebildet, aber uneingebildet« nennen. Sie sahen umgänglich aus.
Ein dunkelblonder Mann, den ich auf etwa fünfzig Jahre schätzte, reckte mir die Hand entgegen. »Theresa Bragg?«
Sein Blick wanderte an meinem Samtkleid entlang. Samt war gewissermaßen mein Markenzeichen, doch für diese Gegend eindeutig zu warm.
Ich nickte ihm zu und schüttelte seine Hand. »Die bin ich.«
»Andrew Lewinski. Ich bin der Direktor. Wir haben miteinander gemailt.« Sein Akzent klang amerikanisch. »Toll, dass es so schnell geklappt hat.«
»Ja, das war überraschend!«, sagte ich.
»Nach diesem Anschreiben?« Er zwinkerte. »Da mussten wir Sie doch erlösen.«
Ich stutzte. Wie meinte er das? O nein. So dumm hatte ich doch wohl nicht sein können? Ich kämpfte gegen den Schweißausbruch an, der mich übermannen wollte, und schon fragte er: »Sie werden sich erst mal frisch machen wollen?«
Ich nickte dankbar. Wollte gar nicht darüber nachdenken, was mir da womöglich passiert war. Jetzt einfach ankommen und alles Vergangene hinter mir lassen. Auf dem Zimmer gab es bestimmt eine Flasche Wasser. Später würde es hoffentlich etwas Leckeres zu essen für mich geben. Unsere Gäste im Brianna’s versorgten wir immer als erstes mit einem Stück Kuchen. Wobei ich hier genau genommen kein Gast war. Aber ein Ankömmling.
Schon winkte Mr. Lewinski mich hinter sich her und gab dem Herrn, der mein Gepäck aufgeladen hatte, ein Zeichen, uns zu folgen.
Normalerweise wohnten die Hotelangestellten nicht im Hotel, sondern außerhalb. Ich würde mir bald etwas anderes suchen müssen.
Mein in Weiß und Blau gehaltenes Zimmer war klein, aber komfortabel. Ein breites Einzelbett, ein Schreibtisch, auf dem ich die ersehnte Flasche Wasser entdeckte, und ein Schrank. Das einzige Fenster zeigte auf eine Hofauffahrt mit Laderampe. Ein Lieferwagen parkte davor, jemand entlud mit einem Gabelstapler eine Palette Lebensmittel. Die Hydraulikgeräusche der Maschine schallten gedämpft zu uns herein.
Andrew Lewinski öffnete die Tür zu einem Duschbad. »Hier können Sie sich frischmachen. Wir sehen uns dann in einer halben Stunde an der Rezeption?« Jetzt deutete er auf eine Uniform unter einer Cellophanfolie an der Garderobe. »Und bitte in dieser. Die Größe müsste stimmen. An die Schuhe haben Sie gedacht?«
Unsicher nickte ich ihm zu. Hieß das, dass ich heute schon anfangen sollte? Eigentlich war morgen mein erster Tag. Die Frage nach dem Essen sparte ich mir lieber. Vielleicht gab es irgendwo etwas zu knabbern.
Eine halbe Stunde später stakste ich durch die Flure zurück in die Lobby. Ich trug einen senfgelben Glockenrock und eine enge weiße Bluse. Mein Haar hatte ich im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, auf meinem Haupt thronte ein violettes Barrett, das ich mit ein paar Klammern festgesteckt hatte, damit es mir nicht vom Kopf rutschte. Ich fühlte mich wie eine Stewardess und fieberte jetzt schon dem Moment entgegen, in dem ich aus diesen Kleidern wieder herauskommen würde. Wieso hatte mir niemand gesagt, dass ich so etwas würde tragen müssen? In unserem Email-Verkehr hatte Andrew Lewinski mich gebeten, mir ein paar violette Pumps zu besorgen – in Edinburgh war ich nach einem halben Tag Suche endlich fündig geworden. Es wäre ratsam gewesen, sie schon mal einzulaufen, damit ich mich daran gewöhnen würde, doch ich hatte mich in Pitlochry nicht dazu durchringen können. Meine Fahrlässigkeit rächte sich jetzt, schon auf dem kurzen Weg zur Lobby scheuerten die Schuhe an meinen Fersen.
Als Mr. Lewinski mich vom Counter aus erblickte, winkte er mich zu sich und stellte mich meinen neuen Kolleginnen vor.
Die eine war Lilly, ein deutsches Mädchen. Sie sah so jung aus, dass ich mich darüber wunderte, dass sie überhaupt schon arbeiten durfte. Die andere hieß Ardelle und stammte aus Frankreich.
Während unserer Begrüßung stießen die beiden sich kichernd in die Seite. Dann besannen sie sich und lächelten freundlich. »Hi, willkommen im Team«.
»Ihre Kolleginnen werden Ihnen alles zeigen«, erklärte mein Chef und zwinkerte den Frauen verschwörerisch zu. »Falls sie in ihren hübschen Köpfen nicht alles schon wieder vergessen haben.«
Mit diesen Worten ging er Richtung Drehtür, um Gäste zu begrüßen.
Überrascht sah ich ihm hinterher.
»Mach dir nichts draus, das ist so seine Art«, raunte Lilly mir zu. »Augen zu und durch.«
Ardelle strahlte mich an. »Ich zeig dir am besten alles, bis die Ersten vom Strand zurückkehren.«
Das Buchungssystem war kompliziert. Ich hatte im Guesthouse bisher über alle An- und Abreisen per Excel-Listen Buch geführt – bei acht Zimmern war das auch nicht weiter schwierig. Doch hier klickte Ardelle sich so lange durch die Bildschirm-Seiten, bis mir der Kopf schwirrte. Da gab es die verschiedenen Zimmerkategorien, dann die Rabatte über Drittanbieter, außerdem die hoteleigenen Preise, einmal mit Frühstück, einmal ohne, Standard, Doppel, Premium. Die Sonderwünsche der Kunden wurden ebenso erfasst wie Allergien. Dann gab es die Terminverwaltung für Wellnessanwendungen und für die Belegung der Tennisplätze. Alles wurde aufs Zimmer gebucht. Für jeden Vorgang gab es eine eigene Seite.
Selbstverständlich war ich fit im Umgang mit dem Computer. Ich war weder alt noch von gestern – auch wenn Ardelle mich nach einer Weile so ansah. Ich war einfach nur müde. Etliche Male überfiel mich ein herzhaftes Gähnen. Gleichzeitig knurrte mein Magen.
»Wann ist denn eure Schicht vorbei?«, fragte ich mit schmerzenden Füßen, nachdem erst zwei Stunden vergangen waren.
Lilly tätschelte mir den Arm. »Um sieben kommt der Nachtportier. Du hast nicht mehr lange.«
»Eigentlich fange ich ja morgen erst an«, raunte ich.
»Schon«, entgegnete Ardelle. »Aber das hier ist die Einarbeitung. Ab morgen früh muss doch alles laufen. Samstags ist Bettenwechsel.«
»Kann man denn hier irgendwo essen?«, fragte ich schnell. »Es gibt doch ein Restaurant?«
Ardelle kräuselte die Nase. »Da empfehle ich dir eher ein paar Nüsse aus der Minibar. Das Restaurant ist der Schwachpunkt des Hotels. Mr. Lewinski sucht verzweifelt nach einem guten Koch – bisher erfolglos.«
»Hoffentlich klappt es bald, denn in zwei Wochen kommen endlich meine Eltern zu Besuch«, verkündete Lilly. »Ich freu mich schon so.« Fragend sah sie mich an. »Werden deine auch mal hier vorbeischauen? Du kannst Andy fragen; wenn Zimmer frei sind, macht er dir einen Spezialpreis. Er ist gar nicht so verkehrt, auch, wenn er ein echter Sklaventreiber ist.«
»Nein«, entgegnete ich verhalten, »meine Eltern werden wohl eher nicht kommen.«
Lillys Augen weiteten sich angesichts meines traurigen Tonfalls. »Sind sie tot?«, flüsterte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Vor Jahren gab es einen dummen Streit, und seither haben wir keinen Kontakt mehr.« Ich wusste gar nicht, weshalb ich diesem Mädchen das erzählte. Normalerweise sprach ich mit niemandem darüber. Aber hier kannte mich keiner, und irgendwie kam es mir in diesem Moment leicht über die Lippen. Lillys mitleidiger Blick tat mir unverhofft gut.
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich, »ich bin drüber weg.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit. Doch mit meinem Weggang aus Schottland hatte ich mich ein weiteres Stück von ihnen abgenabelt.
Lilly sah mich nachdenklich an, dann sagte sie: »Heute klappt es zwar nicht, aber vielleicht hast du Lust, morgen nach Dienstschluss mit mir und Ardelle ein bisschen weiter den Strand runter den Sonnenuntergang anzuschauen? Samstags treffen wir uns dort, gehen meist auch noch eine Runde baden.«
Ich nickte dankbar. Das klang doch schön. Heute Abend würde ich sowieso völlig erschöpft ins Bett sinken, das wusste ich jetzt schon.
Um kurz vor sieben kehrte Mr. Lewinski zurück an den Counter und sah meine Kolleginnen erwartungsvoll an. »Und?«, fragte er. »Wie macht sich unser Neuzugang?«
»Nicht übel«, antwortete Ardelle und nickte mir aufmunternd zu.
Sie hatte mir geraten, mir meine handschriftliche Liste über die verschiedenen Schritte beim Check-in vor dem Schlafengehen noch einmal ganz genau einzuprägen. Bisher war es mir nämlich nicht gelungen, den Prozess fehlerfrei abzuwickeln. Zum Glück verpetzte sie mich nicht.
Andrew Lewinski legte mir eine Hand auf den Arm. »Wie wäre es mit einer Kleinigkeit zu essen?«, fragte er. Sein warmer Pfefferminz-Atem streifte meine Wange.
»Das wäre wirklich toll«, stimmte ich erleichtert zu.
»Wunderbar«, antwortete er lächelnd. »Dann führe ich Sie aus. Es geht in ein landestypisches Restaurant in der Nähe.«
Natürlich überraschte es mich, dass wir nicht im Hotel essen würden – so schlecht konnte es hier doch gar nicht sein. Andererseits war es eine nette Geste. Und es klang verlockend, gleich mit den Spezialitäten des Landes in Berührung zu kommen.
»Er scheint einen Narren an dir gefressen zu haben«, bemerkte Ardelle, als wir uns bis zum nächsten Tag voneinander verabschiedeten.
Lilly nickte. »Uns hat er jedenfalls noch nie eingeladen.«
»Wahrscheinlich habe ich ihn so hungrig angeschaut, dass er gar nicht darum herum kam«, scherzte ich. Tatsächlich war mir nach meiner ersten spontanen Zusage dann doch ein wenig mulmig bei dem Gedanken an diese Verabredung geworden. Dabei hatten Matt und ich in Pitlochry oft ganze Abende mit unseren Gästen und Angestellten verbracht. Man war eine Familie. Aber mein Hunger vertrieb meine Bedenken. Und so erschien ich wenig später wie verabredet in der Lobby, wo Andrew Lewinski bereits auf mich wartete.