ISBN: 978-3-95573-805-1
1. Auflage 2018, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2018 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten.
Ganz langsam fand Kati in das Leben zurück. Der Kopf schien zu platzen. Filmriss! Wo bin ich? Das stetige laute Brummen eines Motors, das klatschende Geräusch und die schaukelnden Bewegungen ließen die Vermutung in ihr wachsen, dass sie sich auf einem Schiff oder Boot befinden musste. Der Hals schmerzte höllisch und sie konnte kaum schlucken. Sie versuchte hochzukommen. Aber eine Ohnmacht nahm ihr das Denken und die Schmerzen ab. Zumindest vorübergehend.
Sie zitterte am ganzen Körper und die Blase drückte, als das Bewusstsein erneut zurückkehrte. Sie lag auf dem Rücken und erst jetzt merkte sie, dass ihre Arme mit Klebeband am Körper festgeklebt waren. Auch ihre Beine waren fixiert und ließen sich nicht bewegen. Sie wollte schreien, aber sie konnte ihren Mund nicht öffnen. Der Kopf schien zu platzen und dabei diese höllischen Schmerzen im Hals.
Sie spürte, wie sich ihre Blase entleerte. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie im Genitalbereich. Aber der austretende Urin verbreitete auch eine fast wohlige Wärme. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie auf einem kalten, harten Untergrund lag. Sie versuchte sich zu orientieren, aber es war stockfinster, nicht der kleinste Lichtstrahl. Das Schaukeln hatte zugenommen. Es musste Wellengang sein. Sie kannte das von einer Bootsfahrt auf dem Rhein, wenn das Boot durch die Bugwellen der Lastkähne hin und her geschaukelt wurde. Mit Marcel!
Marcel! Sie brauchte dringend eine seiner Glückspillen, wie er die immer nannte! Wenn sie längere Zeit keine genommen hatte, dann begann dieses Zittern. Aber wo war er? Und wie war sie hierhergekommen? Sie versuchte sich zu erinnern. Aber nichts. Gähnende Leere. War die letzte Pille vielleicht nicht clean gewesen? Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Vergeblich. Und dann diese Schmerzen. Sie versuchte sich herumzurollen, gab das aber gleich wieder auf. Es tat zu weh. Ihr tat inzwischen alles weh. Sie spürte eine bedrückende Enge und nahm einen salzigen, leicht fischigen Geruch wahr. Wenn nicht diese schaukelnden Bewegungen und Geräusche gewesen wären, hätte das hier ihr Grab sein können. Jedenfalls empfand sie das so.
Sie spürte, wie sich Panik in ihr ausbreitete. Wer hatte sie hierhergebracht und was hatte man mit ihr vor? Und warum tat ihr alles so weh? Was war mit ihr geschehen? Todesangst beschlich sie! So kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag sollte ihr Leben schon zu Ende sein? Dabei hatte sie in ihrem kurzen Leben bereits Dinge erlebt und gesehen, die mancher normale Bürger seinen Lebtag nicht zu sehen bekam und sicher auch nicht kennenlernen wollte.
Schon einmal war sie mit Filmriss aufgewacht und hatte nicht gewusst, wo sie war. Damals nach dem Autounfall mit ihren Eltern, bei dem Besuch ihrer Verwandten in Omsk. Als ihr Vater ums Leben gekommen war. An den Unfall konnte sie sich bis heute nicht erinnern. Sie und ihre Mutter waren schwer verletzt worden und hatten einige Wochen gebraucht, bevor sie nach Deutschland zurückkehren konnten. Sie hatte seitdem eine Metallplatte in der Ferse, die allerdings – wachstumsbedingt – bereits längst hätte entfernt werden müssen und ihr beim Laufen inzwischen auch Probleme bereitete.
Ihre Mutter hing seit damals an der Flasche. Sie wusste gar nicht, warum ihr ausgerechnet jetzt dieser Morgen in den Sinn kam, als sie das erste Mal die Schule geschwänzt hatte. Dabei machte ihr Schule eigentlich Spaß. Lernen? Was für Lernen? Ihr flog das alles zu. Bis zu diesem tragischen Unfall, bei dem sie ihren Vater verlor, war sie sogar Klassenbeste gewesen und hatte bereits ein Schuljahr übersprungen.
Wie ein Film zogen die Bilder vorbei. Sie war aufgestanden wie immer und kam auf dem Weg zum Bad an der offenen Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter vorbei. Da lag die mal wieder mit einem Typen im Bett. Beide waren splitternackt und schliefen offensichtlich ihren Rausch aus.
Gerade stand sie, nur mit einem Slip bekleidet, im Bad vor dem Waschbecken und putzte sich die Zähne. Da sah sie im Spiegel, wie der Typ zu ihr ins Bad kam. Er packte sie von hinten an ihren Brüsten und versuchte mit der einen Hand vorne in ihr Höschen zu gelangen. Sie spürte seine nackte Erregung an ihrem Gesäß. Voller Wut und Ekel trat sie ihm mit voller Wucht mit ihrer Ferse auf seine Zehen. Dann nutzte sie seine Schrecksekunde, um sich in ihrem Zimmer einzuschließen.
Kurze Zeit später hörte sie, dass er seine Erregung an ihrer Mutter abarbeitete, obwohl diese – wohl immer noch halbtrunken – lautstark versuchte ihn abzuwehren. Erst als sie die Wohnungstür zuschnappen hörte, traute sie sich wieder aus ihrem Zimmer raus. Ihre Mutter war immer noch nicht ansprechbar und für die Schule war es bereits viel zu spät.
Mit einem Fünfzigeuroschein aus dem Portemonnaie ihrer Mutter fuhr sie mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof von Köln. Natürlich schwarz, weil sie kein Kleingeld für den Automaten hatte.
Auf der Domplatte sprach sie dann ein Punker mit einem süßen kleinen Hund an: „Na, Pippi Langstrumpf, haste nich’ Lust auf’n Joint?“
Seit sie nach dem Unfall wieder in Deutschland zurück war, hatte sie sich in der Schule einer Gruppe von Mädchen angeschlossen, die schon seit Längerem heimlich rauchten. Und so nickte sie nur und setzte sich zu dem Punker und seinem Hund. Der Kleine sprang ihr gleich auf den Schoß und ließ sich wohlig von ihr kraulen. Zwischendrin zog sie immer wieder an dem Joint, den ihr der Punker vor den Mund hielt.
„Ich bin Charly 1 und das ist Charly 2“, sagte dieser und zeigte dabei auf den Hund. Charly 2 war eine dieser Promenadenmischungen, deren Charme man sich nur schwer entziehen kann. Und Charly 1 war nicht entgangen, dass Charly 2 und er gerade eine neue Freundin gewonnen hatten. Dabei schien aber beide nicht zu interessieren, dass Kati noch ein Schulkind von kaum sechzehn Jahren war, was für Charly 2 natürlich weder Bedeutung noch rechtliche Konsequenzen hatte.
Jedenfalls bekam Kati am Ende des Tages auch gar nicht richtig mit, dass sie ihre Jungfräulichkeit verlor, so bier- und jointvernebelt war sie inzwischen. Sie zog seit diesem Tag mit den Punkern umher und teilte Essen, Trinken, Joints und Matratze mit ihnen. Schule und ihre Mutter passten da einfach nicht mehr in ihre neue Welt.
Wenn sie genügend Alkohol und Joints konsumiert hatte, war es ihr auch egal, wenn Charly 1 sie mal, sozusagen zur Auffrischung der Haushaltskasse, an andere Männer vermietete, wie er das immer nannte.
Kati schauderte es. War das etwa schon das Ende? Sie hatte mal gehört, dass dann noch einmal das ganze Leben im Zeitraffer an einem vorbeifloss.
Und dann waren sie wieder da, die Gedanken und Bilder. Es war das letzte Mal gewesen, als sie ihre Mutter sah. Sie wusste gar nicht mehr, warum sie eigentlich mit den beiden Charlys mit der Straßenbahn zu ihrer Mutter nach Hause gefahren war. Sie besaß ja noch den Wohnungsschlüssel. Ihre Mutter fand sie mit einer halb leeren Schnapsflasche allein auf der Couch vor dem Fernseher.
Sie hörte sie jetzt noch sagen: „Mensch Kati, wie siehst du denn aus? Sag mal, was hast du denn mit deinen schönen roten Haaren gemacht? Warum hast du dir bloß den Kopf an den Seiten rasiert? So wie du dir deine Haare oben zusammengebunden hast, sieht das ja aus wie eine schräge Palme auf einer Südseeinsel. Findest du das etwa schön?“
„Erstens kann dir das doch scheißegal sein, wenn du hier besoffen mit irgendwelchen notgeilen Typen vögelst, die mich dann auch noch im Bad unsittlich angrabschen. Und zweitens, wenn ich nicht rasiert wäre, könntest du mein Leitspruch-Tattoo nicht lesen: make love – not war. Und drittens ist dein Vergleich mit der Palme auf der Insel gar nicht so schlecht.“
„Na, egal, Kati. Jedenfalls war das Jugendamt schon ein paarmal hier gewesen, weil du nicht mehr zur Schule gekommen bist.“
„Die können mich alle mal! Und du auch! Guck dich doch mal im Spiegel an, wie du aussiehst, bevor du an mir herummäkelst. Wie eine besoffene alte Schlampe!“
„So kannst du doch nicht mit deiner Mutter reden!“, mischte sich Charly 1 ein. Und wie auf Kommando sprang Charly 2 mit einem Satz zu ihrer Mutter auf die Couch. Und auch ihre Mutter konnte sich seinem Charme nicht entziehen. Schließlich köpften sie zu dritt dann noch gemeinsam eine neue Flasche Schnaps. Ihren Rausch schlief Kati dann mit Charly 2 in ihrem Zimmer aus. So bekam sie auch nicht mit, dass Charly 1 und ihre Mutter sich inzwischen nicht nur im Gespräch nähergekommen waren.
Sie musste wieder weggetreten gewesen sein. Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder ihre Situation realisiert hatte. Sie hätte schreien können, vor Schmerzen und vor Angst. So empfand sie es schon fast als wohltuend, als die Gedanken und Bilder wiederkamen und sie ablenkten.
Der Typ, für den Charly 1 gelegentlich dealte, hieß Marcel. Eines Tages vermietete Charly 1 sie an Marcel. In diesem Fall gegen Naturalien für Joints, wie er das nannte. Es war ihr siebzehnter Geburtstag und so kam sie – quasi als Geburtstagsgeschenk – das erste Mal in den Genuss von Marcels Glückspillen. Sie erlebte die Orgasmen ihres Lebens und blieb dann, der Einfachheit halber, gleich bei Marcel in seiner schicken Wohnung, in einem Hochhaus direkt am Rhein. Marcel gefiel ihr. Ein smarter, sportlicher Typ. Auf seinem Waschbrettbauch hätte man fast Klavier spielen können.
In ihrer Gemütswelt gab es seitdem nur noch Himmel und Hölle. Und jetzt war offensichtlich mal wieder Hölle. Die Gegenwart holte sie gerade wieder ein. Sogar die absolute Hölle! Sie brauchte dringend eine Glückspille. Unbedingt! Aber wo war Marcel? Er hatte ihr gezeigt, wie geil das Leben sein konnte. Da konnte er sie doch jetzt nicht einfach so hängen lassen.
„Klauen und schnorren ist doch was für Doofe“, hatte er mal gesagt. „So wie du aussiehst, hast du doch ganz andere Möglichkeiten. Und mit einer kleinen Glückspille hast du dabei sogar noch viel Spaß.“
Na ja, Spaß war nicht immer. Kam immer auf den Typen an. Aber Geld war immer und damit auch eine Menge Spaß. Jedenfalls fast immer. Nur einmal hatte einer nicht zahlen wollen. Der hatte dann aber Marcel kennengelernt; der war mal Landesjugendmeister im Kickboxen gewesen.
Aber jetzt war er nicht da, dieser Idiot. Wieso hatte er es zugelassen, dass sie sich jetzt hier in einer solchen Scheißsituation befand? So langsam kamen Erinnerungsfetzen. Sie waren nicht in Köln. Sie waren irgendwo hingefahren. Aber wohin? Tolles Ambiente erschien in den Bildern vor ihrem geistigen Auge. Sauna, Whirlpool, Muckibude, Wasserbetten. Geile Partys. Sie drehten Filme mit geilem Spaß. Da war nur Himmel. Und jetzt? Absoluter Scheißfilmriss! Das hier war die Hölle ihres Lebens! Und wo war Marcel?!
Das Klatschen und Schaukeln wurde immer heftiger. Kati spürte ein flaues Gefühl im Magen, das sich blitzschnell zu einer ungeheuren Übelkeit steigerte. Und dann musste sie sich übergeben. Aber wohin? Ihr Mund war zugeklebt. Sie merkte noch, wie sich Erbrochenes durch ihre Stirnhöhle und Nase versuchte einen Weg zu bahnen. Der dringend benötigten Atemluft war dadurch allerdings der Weg versperrt. Sie quälte sich noch eine Weile verzweifelt und kämpfte um Luft und um ihr junges Leben. Ein weiterer Schwall von Erbrochenem ließ ihr aber leider keine Chance, bis sie schließlich ihre qualvolle Erlösung fand.
Joke Pouliart, der Wattführer vom ostfriesischen Wattwander-zentrum aus Carolinensiel-Harlesiel, sammelte beim Fisch-restaurant Wattkieker seine Wandergruppe um sich. Es versprach eine lustige Tour bei herrlichem Wetter zu werden. Neun Kegler-Damen aus Bottrop hatten sich angemeldet und waren auch pünktlich erschienen; dazu noch fünf Pärchen.
„Wir sind die Fidelen Neun“, stellten sich die Damen aus Bottrop vor. Eine von ihnen holte auch gleich ein Paket mit Hubertus-Kräuterschnaps-Fläschchen aus dem Rucksack. „Bei uns haben wir dafür normalerweise Jägermeister“, entschuldigte sie sich dabei.
Joke war noch mit organisatorischen Dingen beschäftigt. Und ehe er eingreifen konnte, war bereits die erste Lage an alle Teilnehmer verteilt.
„Na denn, prost“, rief die Keglerin, die sich Berta nannte, den anderen zu und schon hatten die Keglerinnen ihre Fläschchen leer. Die anderen Teilnehmer schauten etwas irritiert. Ein älterer Mann sagte: „Aber doch nicht am frühen Morgen und schon gar nicht vor der Wattwanderung.“
„Feste muss man feiern, wie sie fallen“, rief eine andere Keglerin lachend. „Und auf einem Bein kann man sowieso nicht stehen, geschweige denn laufen“, und gleich wollte sie die nächste Lage verteilen. „Wir haben genug Marschverpflegung für alle. Greift nur zu. Dann haben wir garantiert viel Spaß.“
„Das ist keine gute Idee, meine Damen“, gebot Joke dann dem fröhlichen Treiben Einhalt. „Wenn wir heute Mittag die Tour hinter uns haben, gerne. In Ostfriesland sind wir auch keine Kinder von Traurigkeit. Und zum Grünkohl darf das dann auch schon mal was Härteres als der Hubertus sein. Aber eine Wattwanderung ist kein Kegelausflug mit Bollerwagen. Das kann auch ganz schnell zu einer Begegnung mit den Naturgewalten werden, wenn zum Beispiel eine plötzliche Wetter- oder Windänderung eintritt. Dann kann auch ein an sich harmloser Priel, trotz Ebbe, plötzlich zu einem unüberwindlichen Hindernis werden und große Umwege erfordern.“
„Genau so was haben wir mal 2006 vor Büsum erlebt“, meldete sich der ältere Mann wieder zu Wort. „Auf dem Hinweg war ein Priel nur ein kleines Rinnsal und das Überqueren war absolut kein Problem. Möglicherweise hatte aber – für uns unbemerkt – auf einmal draußen auf See der Wind kräftig aufgefrischt. Jedenfalls war der gleiche Priel auf dem Rückweg bereits fast einhundert Meter breit. Unser Wattführer hat noch geprüft, ob wir den Priel vielleicht doch noch durchwaten können. Aber er stand selbst schon nach wenigen Metern bis zur Brust im Wasser. Und das auch noch bei heftigen Strömungsbewegungen im Priel. Gott sei Dank war er gut ausgerüstet und konnte Hilfe herbeirufen. Die Seenotretter haben uns dann mit einem Rettungsboot von einer Sandbank abgeholt. Einer der Seenotretter hat uns darüber aufgeklärt, dass wir sogar ganz großes Glück gehabt hätten, dass keinem der beteiligten Retter eine Fehlentscheidung unterlaufen sei.“
„Habe damals auch davon gehört“, bestätigte Joke. „Was glaubt ihr, warum ich in meinem Rucksack Handy, Signalpistole, Verbandskasten, Kompass, Seekarte, Seile, Traubenzucker und Trinkwasser dabeihabe?“
Die Bottroper Damen zeigten sich ganz betreten und schuldbewusst. „Tut mir leid“, sagte Berta, „ich dachte, wir machen heute einen unserer üblichen Kegelausflüge.“
„Ihr werdet schon noch auf eure Kosten kommen“, beruhigte Joke sie. „Zum einen hat das Watt mehr spannende und interessante Dinge zu bieten, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Und manchmal kommt dann auch unerwartet sogar ein wenig Abenteuer dazu, wie wir gerade gehört haben. Das Watt ist eben immer für eine Überraschung gut. Also ihr könnt jetzt schon mal gespannt sein, was der Tag für uns heute noch so bringt. Und wenn wir zurück sind, dann machen wir nicht Après-Ski, sondern eben Après-Watt.“
Das daraufhin einsetzende Gelächter und Geschnatter zeigte, dass Joke mal wieder den richtigen Ton getroffen hatte und alle guter Laune waren.
„Nun aber los“, trieb er seine Gruppe an, „sonst ist das Wasser nachher schneller wieder da, als wir unser Pensum geschafft haben. Wir wollen noch bis zu einem Priel, der ungefähr zwischen Harlesiel und Neuharlingersiel verläuft. Den werden wir aber nicht durchqueren, denn der verläuft weitgehend parallel zur Deichlinie. Der wird gespeist aus einer Meeresströmung – einem Seegatt, wie man das nennt –, die zwischen Spiekeroog und Langeoog hindurchführt. Da könnt ihr euch sicher vorstellen, was passiert, wenn von der Seeseite vor den Inseln der Wind plötzlich stark auffrischt. Aber deswegen braucht ihr jetzt keine Angst zu haben, denn von diesem Priel aus erreicht man zu Fuß sehr schnell den Deich und ist in Sicherheit. Aber nüchtern und einigermaßen fit sollte man schon sein.“
Der kleinen Gruppe bot sich ein beeindruckendes Bild des Weltnaturerbes Wattenmeer in seiner ganzen Pracht, blauer Himmel mit ein paar weißen Wölkchen und eine glasklare Sicht auf die Inseln. Der Himmel spiegelte sich silbrig blau in den Pfützen und kleinen Rinnsalen. Eine junge Teilnehmerin kramte aus ihrem Rucksack eine Spiegelreflexkamera mit einem großen Teleobjektiv und ausklappbarem Stativ heraus und begann eifrig zu fotografieren.
„Da bist du ja gut ausgestattet“, sprach Joke sie an. „Willst du damit die Inseln fotografieren?“
„Nee, eher weniger. Ich studiere in Kiel Meeresbiologie. Mich interessieren mehr die Wattvögel bei ihrer Futtersuche. Dafür brauche ich dann das Stativ und das Teleobjektiv. Bei den nordfriesischen Inseln nehme ich öfter an Wattwanderungen teil. Das ist von Kiel aus ja nicht weit. Mich interessiert vor allem, ob es da Unterschiede zu dem Verhalten der Tiere in Ostfriesland gibt. In dem Zusammenhang wäre es schön, wenn Sie eine Karte hätten und mir den geplanten Weg zeigen würden. Dann könnten mein Bekannter und ich schon etwas vorausgehen und die Vögel fühlten sich dann weniger durch die Gruppe gestört.“
„Also, als Erstes gilt hier im Watt für alle das Du und ich bin der Joke.“
„Okay, das ist im Norden eigentlich auch so. Ich bin Tanja Grönwold und das ist der Andi.“
„Na, dann hätten wir doch schon mal das Wichtigste geklärt. Und nun komme ich zum Allerwichtigsten: Die Gruppe bleibt immer zusammen! Und das gilt auch für dich und deinen Begleiter, selbst wenn du eine erfahrene Wattläuferin bist, wie du sagst. Was alles passieren kann, haben wir vorhin gehört. Denn die speziellen Tücken im Watt sind überall anders und die muss man einfach kennen.“
„Da erzählst du mir nichts Neues“, gab Tanja keine Ruhe und machte eine Miene wie ein bockiges kleines Kind. „Wir haben doch deine Handynummer und könnten uns austauschen, wenn etwas wäre. Außerdem bleiben wir ja immer noch in Sichtweite.“
„Tanja, du kannst mit mir über vieles diskutieren, aber wenn es um die Sicherheit meiner Wandergruppe geht, hat meine Toleranz ganz enge Grenzen.“
„Dann brauche ich gar nicht mitzugehen, denn versuche mal Tieraufnahmen aus einer laut schnatternden Gruppe von Wattwanderern heraus zu machen. Das kannst du vergessen“, erwiderte Tanja trotzig.
„Ich kann dich ja verstehen, Tanja. Aber die Sicherheit hat für mich nun mal allerhöchste Priorität!“ Man merkte Joke an, dass er an dieser Stelle keinen Widerspruch dulden würde.
„Dann viel Spaß, aber ohne uns. Komm, Andi, wir gehen!“ Tanja machte sich mit ihrem Begleiter auf den Weg zurück zum Strand. „Was soll ich da lange diskutieren? Irgendwo hat er ja recht“, wurde Tanja wieder etwas versöhnlicher. „Aber das Mitlaufen in der Gruppe bringt mir einfach gar nichts.“
Andi hatte sich wie selbstverständlich ihre Kamera mit Teleobjektiv und Stativ auf die Schulter geladen. Mit weit ausholenden Schritten hatten sie schnell den gepflasterten Weg am Strand erreicht. Diesem folgten die beiden in Richtung Neuharlingersiel bis zum Ende, um dann wieder – aber diesmal auf eigene Faust – ins Watt zu gehen.
„Schön, dass du es einrichten konntest mitzukommen und mich beim Tragen unterstützt“, sagte Tanja. „Hast du auch schon öfter solche Wattwanderungen gemacht?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist dies meine erste“, antwortete Andi, „und meine Turnschuhe kann ich danach ja wohl vergessen.“
„Ganz so schlimm ist es nicht. Du hättest natürlich auch Gummistiefel nehmen können. Da kann es dir allerdings passieren, dass schon mal einer im Schlick stecken bleibt und der Fuß alleine rauskommt.“ Tanja lachte. „Am besten sind festgeschnürte Turnschuhe. Die kannst du zu Hause wieder sauberwaschen.“
„Gummistiefel besitze ich gar nicht und ...“
„Pst“, unterbrach Tanja ihn. „Dahinten, ein Austernfischer.“
Blitzschnell brachte sie ihre Kamera in Stellung. Kaum hatte der Austernfischer irgendetwas aus dem Schlick gezogen, tauchten auch schon, quasi aus dem Nichts, einige Lachmöwen auf und versuchten ihm seinen Fund streitig zu machen.
Nachdem Tanja etliche Aufnahmen gemacht hatte, gab sie die Kamera mit Stativ wieder Andi. In der Ferne konnten sie die Gruppe mit Joke erkennen. „Die werden jetzt jedem Wattwurm einzeln nachspüren“, sagte sie grinsend. „Da sind die beschäftigt und werden sich nicht um uns kümmern.“
Dass er jetzt mit Tanja allein und ungestört reden konnte, gefiel Andi sehr. Meinte er doch, zu gestern Abend noch einiges klären zu müssen.
„Sag mal“, begann er vorsichtig, „bist du eigentlich immer so zurückhaltend, wenn du jemanden kennenlernst, oder magst du mich vielleicht nur nicht?“
Tanja blitzte ihn schelmisch an. „Du wirst es schon noch herausfinden. Aber wenn du mir unsympathisch wärst, dann würde ich jetzt meine Fotoausrüstung auch ohne Probleme alleine tragen können … Mache ich ja sonst auch“, schob sie noch lausbübisch grinsend nach.
Tanja und er hatten gestern Abend zufällig in der Kultkneipe Zur Stechuhr der Könige im Museumshafen von Carolinensiel nebeneinander an der Theke gesessen und waren irgendwie auf einmal ins Gespräch gekommen. Sie hatten bereits einige Sieler Dunkel intus gehabt und es war schon nach Mitternacht gewesen, als Andi sie dann noch zu Fuß bis zu ihrer Ferienwohnung begleitet hatte. Eigentlich hatte sie mit ihrer Freundin und Kommilitonin Anna diesen Kurzurlaub gebucht gehabt. Dann war aber Anna plötzlich wohl der Meinung gewesen, ihren Blinddarm rausnehmen lassen zu müssen. Und so war sie allein gefahren, denn die Ferienwohnung war ja bereits bezahlt.
„Soll das vielleicht heißen, dass du Single bist?“, riss Andi sie aus ihren Gedanken. „Aber warum warst du dann gestern Abend so zurückweisend?“
„Nun überschätz mal deinen Charme nicht, mein Lieber. Außerdem gehöre ich nicht zu denen, die am ersten Abend – nur weil sie ein paar Bier getrunken haben – gleich mit jedem in die Kiste hüpfen.“
„Spricht eigentlich für dich, Tanja“, zeigte sich Andi versöhnlich. „Das lässt doch noch hoffen.“
„Wart’s ab. Gib mir mal meine Kamera. Ich sehe dahinten etwas Komisches.“
Sie waren schon ein beachtliches Stück ins Watt gelaufen. Vor ihnen glitzerte in einiger Entfernung ein Priel im Sonnenlicht. Er schlängelte sich parallel zum Deich in Richtung Harlesiel. Am Rand des Priels lag tatsächlich etwas Längliches, teils silbrig glänzend im Sand, wie man bereits mit bloßem Auge erkennen konnte.
„Das könnte der Kadaver von einem Seehund sein“, mutmaßte Andi.
„Also ich würde eher sagen, das sieht aus wie ein in Folie verpackter Mensch“, sagte Tanja nach einem Blick durch das Teleobjektiv.
„Sieht tatsächlich so aus“, bestätigte Andi, nachdem auch er durch das Objektiv geschaut hatte. „Wir sollten uns das mal näher anschauen.“
Schweigend machten sich die beiden auf den Weg dorthin. Es war doch noch weiter, als sie gedacht hatten, bis sie dort ankamen. Tatsächlich schien sich aber ihre Vermutung, dass es sich um einen Menschen handeln könnte, mehr und mehr zu bestätigen, je näher sie kamen. Tanja schauderte es. Sie hatte noch nie eine menschliche Leiche gesehen.
„Mach mal ein paar Aufnahmen“, forderte Andi sie auf.
„Das kann ich nicht“, antwortete Tanja tonlos vor Entsetzen.
„Hast du noch ein normales Objektiv in deinem Rucksack?“
Wortlos wechselte Tanja das Objektiv. Dann musste sie sich übergeben. Andi wirkte etwas ratlos, ob er Tanja helfen oder fotografieren sollte. Schließlich machte er aber doch die Fotos.
„Mein Gott, die ist ja noch so jung.“ Tanja schien fast die Stimme zu versagen. „Wer hat die bloß so zugerichtet und dann mit diesem silbernen Klebeband regelrecht eingepackt?“
„Keine Ahnung.“ Auch Andi schien der Anblick des nur spärlich bekleideten Mädchens nicht kaltzulassen. Er war kreidebleich und seine Hände zitterten, als er Tanja die Kamera zurückgab.
Sie verpackte ihre Ausrüstung wieder im Rucksack und nahm ihr Handy heraus. „Wir müssen sofort Joke informieren!“
Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis dieser sich meldete. Tanja berichtete von ihrem schrecklichen Fund.
„Kannst du mir ein Foto über WhatsApp schicken?“, fragte Joke.
„Schau an, sogar in Ostfriesland kennt man schon WhatsApp. Wer hätte das gedacht?“, kommentierte Andi, der sich anscheinend wieder gefangen hatte. Ostfriesland hatte er bis vor Kurzem nur von unzähligen Ostfriesenwitzen an rheinländischen Biertresen gekannt.
„Mach du das mal“, sagte Tanja und gab ihrem Begleiter ihr Handy. Dieser machte drei Fotos aus verschiedenen Perspektiven und schickte die Bilder ab.
Kurz darauf rief Joke an: „Ich hab schon mit dem Fernglas gesehen, wo ihr seid. Ihr solltet in jedem Fall auf uns und das Eintreffen der Polizei warten.“ Solche Alleingänge gefielen ihm gar nicht. Er hatte sich doch klar genug ausgedrückt. Trotz seiner Verärgerung verkniff er sich an dieser Stelle einen weiteren Kommentar.
„Wir warten“, antwortete Tanja mit tränenerstickter Stimme.
„Was für ein Quatsch, warum sollen wir warten?“, widersprach Andi. „Hier können wir doch eh nichts mehr ausrichten. Gesehen haben wir außer der Leiche hier im Sand nichts und Spuren haben wir auch keine beseitigt. Es ist ja ganz offensichtlich, dass die Leiche hier nur angespült worden ist. Woher, das wissen wir doch auch nicht. Das soll gefälligst die Polizei herausfinden. Ist schließlich nicht unsere Aufgabe und dazu können wir auch nichts beitragen. Und wenn ich mir dann überlege, wie lange die Polizei brauchen wird, bis sie hier ist, und wann wir dann wieder in Carolinensiel sind, wer weiß, wie spät es dann sein wird. Jedenfalls habe ich heute Nachmittag noch eine Verabredung, die ich schlecht verschieben kann. Daher würde ich vorschlagen, dass wir uns gleich auf den Weg zurück nach Carolinensiel machen.“
„Ich weiß nicht recht. Mir ist ganz mulmig und übel.“
„Verständlich, Tanja. Hier in unmittelbarer Nähe der Leiche geht es mir nicht viel anders, auch wenn es vielleicht nicht so aussieht. Und deswegen sage ich, komm, lass uns gehen. Außerdem, was hat uns der Joke denn schon zu sagen? Wir können doch selbst entscheiden.“
Schweigend machten sich die beiden auf den kürzesten Weg zum Deich. Andi schien es auf einmal ziemlich eilig zu haben. Nach einiger Zeit klingelte Tanjas Handy. Es war Joke, wie auf dem Display zu sehen war.
„Lass es klingeln“, sagte Andi. „Der will uns doch nur sagen, dass wir zurückkommen sollen. Der kann uns mal!“
Wortlos drückte Tanja das Gespräch weg und stellte an ihrem Handy den Klingelton aus.
„Was hast du denn für eine wichtige Verabredung, die du nicht verpassen darfst? Etwa ein Date mit deiner Frau oder Freundin?“, wollte Tanja nach einer Weile wissen.
„Blödsinn! Ich bin genauso Single wie du auch. Das kannst du mir gerne glauben. Es ist eine rein geschäftliche Verabredung. Aber da geht es für mich um einiges Geld. Sicher wird es nicht allzu lange dauern. Was hältst du davon, wenn wir heute Abend in der Cliner Quelle oder im Wattkieker was Fischiges essen? Ich würde dich dann an deiner Ferienwohnung abholen.“
„Im Moment darf ich gar nicht an Essen denken, dann kommt es mir schon wieder hoch.“
„Kann ich verstehen. Aber das Leben geht weiter und dazu gehören nun mal auch Essen und Trinken. Bestimmt sieht das heute Abend schon wieder ganz anders aus.“
Als sie schließlich bei Tanjas Ferienwohnung angekommen waren, verblieben sie so, dass Andi sich später telefonisch bei Tanja melden wollte.
***
Ein Frühsommertag, wie er schöner nicht hätte sein können. Die ostfriesische Nordseeküste zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Blauer Himmel, kleine weiße Wölkchen und eine klare Sicht bis zum Anschlag. Die deutlich zu erkennenden ostfriesischen Inseln reihten sich wie eine Perlenkette vor der Küste auf. Und dennoch hatte die See mal wieder eines ihrer traurigen Geheimnisse preisgegeben. Eine alte Volksweisheit sagt: Nichts ist so fein gesponn’, es kommt doch an das Licht der Sonn’!
Eine kleine Fahrzeugkolonne näherte sich mit hoher Geschwindigkeit, Blaulicht und Martinshorn Carolinensiel und störte diese beschauliche Stille und Harmonie. Die Fahrzeuge fuhren bis zum Hundestrand beim Wattkieker in Harlesiel. Bis auf drei Geländewagen blieben die Fahrzeuge dort stehen. Die drei Geländewagen suchten sich ihren Weg durch das Watt. Sie fuhren auf eine Menschengruppe zu, die man in circa zwei Kilometer Entfernung im Watt ausmachen konnte. Martinshorn und Blaulicht hatten sie abgestellt.
Angekommen, stiegen zunächst nur zwei Beamte aus und gingen auf die Gruppe zu. „Moin, Bert Linnig mein Name und das ist meine Kollegin Nina Jürgens, von der Kripo in Wittmund. Wer von Ihnen ist der Wattführer, der uns angerufen hat?“
Joke trat vor und sagte: „Moin. Ich bin der Wattführer, Joke Pouliart. Da liegt ein totes junges Mädchen auf der Sandbank. Übel zugerichtet. Schrecklich!“
„Liegt sie dahinten?“, wollte Bert wissen.
„Ja, nur ich bin mal näher rangegangen, um mir das anzusehen. Wollte meiner Gruppe den grausigen Anblick von nah ersparen.“
„Das war sicher klug. Wir werden uns gleich um alles Notwendige kümmern. Meine Kollegin wird sich vorsorglich die Namen und Adressen der Teilnehmer notieren und dann können Sie mit Ihren Wattwanderern erst einmal den Rückweg antreten. Nicht, dass Sie nachher noch von der Flut überrascht werden.“
Inzwischen war Sönke Nansen, Leiter der Spurensicherung, mit seinen Leuten auch ausgestiegen. „Dr. Rabe von der Rechtsmedizin in Oldenburg ist unterwegs, wird aber noch eine Weile brauchen, bis er hier ist“, sagte er zu Bert gewandt.
„Viel Zeit bleibt Ihnen aber nicht mehr“, mischte sich Joke ein. „In spätestens zwei Stunden steht diese kleine Sandbank hier wieder unter Wasser.“
„Dann sollten wir uns beeilen“, nahm Sönke diesen Hinweis auf. „Ich denke, wir können ruhig noch etwas näher mit unseren Wagen an die Tote heranfahren. So wie ich das einschätze, wurde die Leiche von See her angespült, sodass wir hier auf der kleinen Sandbank ohnehin keine Spuren finden werden.“
„Das sehe ich auch so“, bestätigte Bert. „Nina, ich fahre das Stück bei Sönke mit. Du kannst mit unserem Wagen nachkommen, sobald du mit den Wanderern fertig bist.“
„Alles klar, Bert.“
Nina notierte sich Namen, Adressen und Telefonnummern der Teilnehmer. Dann fragte sie, ob noch etwas Besonderes aufgefallen sei.
Joke meldete sich zu Wort. „Ja, da war noch was. Wir hatten eigentlich noch zwei weitere Teilnehmer dabeigehabt. Nachdem ich denen aber keinen Alleingang erlauben wollte, sind die beiden wieder zum Strand zurück, um dann weiter westlich doch auf eigene Faust ins Watt zu gehen.“
„Warum wollten die denn nicht bei der Gruppe bleiben?“, wollte die Kommissarin wissen. „Haben Sie denn wenigstens die Namen und Adressen von den beiden?“
„Die junge Frau hieß Tanja Grönwold und ihren Begleiter nannte sie Andi. Adressen habe ich von beiden nicht. Biologiestudentin aus Kiel, wie sie sagte. Hätte man ihr eigentlich gar nicht zugetraut. Auf mich hatte sie anfangs eher wie eine Abiturientin gewirkt. Jedenfalls schien sie ganz genau zu wissen, wovon sie redete, und war wohl auch bereits eine erfahrene Wattwanderin, allerdings von Nordfriesland. Sie hatte eine professionelle Fotoausrüstung dabei, sogar mit einem großen Teleobjektiv, und wollte Wattvögel bei der Futtersuche fotografieren.“
„Und wo sind die beiden jetzt?“, hakte Nina nach.
„Das weiß ich auch nicht. Jedenfalls war diese Tanja der Meinung, dass unsere Gruppe sonst die Vögel stören würde. Die beiden haben dann auch die Tote entdeckt und mir das per Handy mitgeteilt. Die Bilder, die ich Ihnen von meinem Smartphone zu Ihrer Dienststelle weitergeleitet habe, die hat die Studentin gemacht und mir per WhatsApp geschickt. Ich hatte sie dann gebeten, auf uns und die Polizei zu warten. Das haben die beiden aber ignoriert und sind einfach in Richtung Deich weggegangen. Ich habe noch mehrfach versucht sie telefonisch zu erreichen, aber sie ist nicht mehr drangegangen.“
„Na, wenigstens haben die sich bei Ihnen gemeldet und Sie haben ihre Handynummer, die Sie mir geben können“, sagte Nina. „Das ist schon mal ein Anfang. Sie können dann mit Ihrer Gruppe den Heimweg antreten. Bei Bedarf kommen wir noch mal auf Sie zurück.“ Und zu der Gruppe gewandt fügte sie dann noch hinzu: „Es tut mir leid, dass Ihre Wattwanderung einen solch dramatischen Abschluss gefunden hat. Aber so ist das Leben. Immer für eine Überraschung gut.“
„Das hat uns der Joke schon vor dem Abmarsch gesagt, dass die Natur hier immer wieder für Überraschungen sorgt. Also ich brauch jetzt erst einmal einen Hubertus. Oder wie seht ihr das, Mädels?“, meldete sich Berta zu Wort.
Zustimmendes Gemurmel.
„Aber nur einen!“, mahnte Joke. „Im Wattkieker könnt ihr dann so viel davon trinken, wie ihr wollt. Könnt euch ja später vom Taxi abholen lassen“, ergänzte er grinsend.
Dann machte sich die Gruppe auf den Weg und Nina fuhr mit dem Geländewagen zu Bert und der Spurensicherung.
„Na, wie schaut es denn aus?“, wollte sie von Bert wissen.
„Traurig! So ein junges Ding. Wurde offensichtlich bereits vor Eintritt des Todes ziemlich malträtiert. Sönke und seine Leute haben schon alles fototechnisch festgehalten. Aber der Wattführer hatte recht, viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Es sind nur noch wenige Meter, bis das auflaufende Wasser die Tote erreicht. Spuren waren, wie erwartet, keine zu finden. Ebenso wenig lässt sich derzeit sagen, wo und wann das Opfer ins Wasser geworfen wurde. Da hilft uns aber vielleicht noch die Rechtsmedizin weiter.“
„Scheint im Anmarsch zu sein“, sagte Nina und zeigte in Richtung Strand.
Kurz darauf traf Dr. Rabe, der Rechtsmediziner, beim Fundort ein. Er hielt sich nicht lange mit Begrüßungen auf, sondern ging sofort zu der Toten, um sie einer ersten Untersuchung zu unterziehen.
„Sie hat mindestens schon eine Woche im Wasser gelegen. So viel kann ich jetzt schon mal sagen“, informierte er dann die gespannt wartenden Beamten. „Todesursache und -zeitpunkt aber erst nach der Obduktion. Möglicherweise hatte man irgendetwas Schweres – auch mit Klebestreifen – an ihr befestigt. Dies scheint sich aber gelöst zu haben, wie die Klebbandreste vermuten lassen.“
„Wir haben hier nichts finden können, was mit dem Tod und dem Auftauchen des Mädchens an dieser Stelle im Zusammenhang stehen könnte“, ergänzte Sönke.
„Unter Umständen können bei heftigen Tideströmungen Tote sogar sehr weit ab- beziehungsweise angetrieben werden. Sollte das Mädchen ertrunken sein, dann könnte vielleicht der Inhalt der Lunge Aufschluss darüber geben, wo sie zu Tode gekommen ist. Aber dazu mehr in meinem Bericht. Jetzt sollten wir die Tote erst einmal auf eine Trage legen und mit dem Geländewagen zum Strand bringen. Bevor die See sie sich wieder zurückholt. Von dort können wir sie dann weiter zu unserer Gerichtsmedizin transportieren.“
Kurz darauf waren die Geländewagen wieder in Richtung Hundestrand von Harlesiel unterwegs. „Spätestens jetzt hätten wir mit unseren Pkws aber erhebliche Probleme gehabt, wieder zum Strand zurückzukommen“, sagte Bert zu Nina. „Man denkt gar nicht, aus welcher Richtung plötzlich Wasser aufläuft.“
„Da hast du recht. Manche Touristen, die auf eigene Faust ins Watt gehen, sind davon schon unangenehm überrascht worden. Die denken, das Wasser kann ja nur von der Seeseite kommen. Und dann kommt es plötzlich, in einem vorher gar nicht erkannten Priel, sogar von vorne wie aus einer unsichtbaren Quelle am Deich.“
Bert hatte inzwischen mit seinem Wagen die Gruppe von Joke eingeholt. „Was du gerade sagtest, Nina. Wenn die jetzt ohne erfahrenen Wattführer unterwegs wären, dann wüssten die gar nicht, wo die laufen sollten. Guck mal, die waten schon bis zu den Waden durch das Wasser. Manche Priele sind aber viel tiefer. Das muss man wissen und erkennen können.“
„Wir aber auch, mein Lieber. Viel tiefer dürfte das für uns auch nicht mehr werden.“
Kurz darauf hatte die kleine Kolonne den Strand wieder erreicht. Der Leichnam wurde umgeladen und der ganze Tross machte sich dann auf den Heimweg.
Auch Joke hatte mit seiner Gruppe bald den Wattkieker erreicht. Alle waren erleichtert. Trotzdem wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Ein totes Mädchen im Watt musste ja auch erst einmal verkraftet werden.