Asta Scheib

Beschütz mein Herz vor Liebe

Die Geschichte der Therese Rheinfelder

Mit einem Nachwort der Autorin

 

 

 

Ungekürzte, von der Autorin durchgesehene Ausgabe 2010

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40612 - 3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21250 - 2

 

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Inhaltsübersicht

In der Nacht läutete ...

Doch es gab Anni ...

Anni hieß nun Frau ...

Thereses Vater ließ Girgl ...

Thereses Vater, den die ...

An ihrem Hochzeitstag ließ ...

Auch ohne Paula wäre ...

Es war in der ...

Therese erinnerte sich oft ...

Es war ein Sonntag ...

Anni, die Therese auf ...

Therese fühlte sich leer ...

Manchmal erschien es Therese ...

Therese setzte sich mühsam ...

Maxl kam aus dem ...

Manchmal fürchtete Therese, den ...

Therese hörte zuerst das ...

Nachwort

 

Für Therese und Wamse

 

In der Nacht läutete es. Therese wurde wach und wußte sofort, daß die Klingel anders ging als sonst. Greller, fordernder. Das sind sie, sagte Therese, und da schrillte es ein zweites Mal. Therese hörte die hastigen Schritte ihres Vaters auf dem Gang. Die Stimme der Mutter wie erstickt und Sybilles empörte Frage, wer denn da die Klingel mitten in der Nacht derart malträtiere. Doch Therese hörte in Sybilles Empörung die Angst, die Befürchtung, daß ihnen jetzt passierte, was bislang nur anderen geschehen war, weit weg, außerhalb ihres Hauses. Sie wurden abgeholt.

Auch Valerie war erwacht, Therese hörte die Stimme ihres Kindes aufsteigen zu dem tief empörten durchdringenden Zetern, das nur beunruhigte Säuglinge zustande bringen. Als sie Valerie hochhob und an sich drückte, waren die SS-Männer schon im Zimmer. Thereses Vater hatte sie aufhalten wollen: »Nicht da hinein, da schläft mein Enkelkind« – da schlugen und traten sie auf ihn ein, schrien: »Der Saujud macht uns Vorschriften.«

Mutter und Sybille wollten Vater zu Hilfe eilen, doch die Männer zerrten sie brutal zurück in Valeries Zimmer, wo die Frauen schließlich zitternd beieinanderstanden. Sie vermieden es, einander anzusehen, und Therese wußte, daß Sybilles Hände in den Taschen ihres Morgenmantels zu Fäusten geballt waren, daß nur Furcht, demütigende, früher nie gekannte Furcht, sie davon abhielt, zu Vaters Peinigern hinzustürzen. Therese selbst versuchte gar nichts zu denken, nichts zu fühlen. Sie konzentrierte sich auf die Kälte, die von ihren Füßen hochkroch. Mutter und Sybille hatten Morgenmäntel und Pantoffeln an, Therese stand in ihrem Nachthemd da, barfüßig. Ihre größte Angst war, daß der weiße Spitz, den einer der Männer mitgebracht hatte und der schrill kläffend an den Frauen hochsprang, daß dieser nervöse Hund Valerie oder sie selbst in die nackten Füße beißen könnte.

»Strammstehen, Hände an die Hosennaht«, bellte einer der Männer, und es war ersichtlich, daß er sich an seinen Kommandos erfreute, kindlich erfreute, und die anderen gingen mit ebensolcher Lust daran, in jedem Zimmer Schränke und Schubladen aufzureißen und den Inhalt auf den Boden zu kippen.

»Ist noch jemand außer euch im Haus?«

»Nein, niemand.«

»Wieso fragst du die, das Judenpack lügt doch wie gedruckt.«

Der Hundebesitzer blieb bei den Frauen zurück. Mit einfältigem Stolz blickte er auf den Spitz, dessen hysterisches Kläffen jetzt in ein heiseres Keuchen übergegangen war. Das Tier schnüffelte nervös um die Füße der Frauen herum. Der Besitzer sah Therese lauernd an: »Das ist Flocki, wenn es gestattet ist. Mein Beschützer.« Sein Lachen hatte Ähnlichkeit mit dem Bellen des Hundes, doch seine Augen lachten nicht, sie beobachteten tückisch die Reaktion der Frauen, und Therese wußte, daß er Beifall erwartete für sich und seinen Hund. Sie sah am bemühten Lächeln Mutters und Sybilles, daß sie die Gefahr erkannt hatten.

»Was passiert mit meinem Vater?« fragte Therese.

»Das geht dich einen Dreck an, hier haben nur wir Fragen zu stellen.«

Der vierte SS-Mann, offenbar fertig mit seiner Hausdurchsuchung, hatte Thereses Frage noch mitgehört. Er trat nahe zu ihr hin, schaute auf Valerie mit einem Gesichtsausdruck, den Therese nicht deuten konnte, aber als drohend empfand. Sie drückte Valerie fester an sich, und das Kind schrie wieder zeternd, der Spitz kläffte und röchelte, Therese wußte nicht mehr, ob Valerie den Spitz halb wahnsinnig machte oder der Spitz Valerie. Die Männer schienen zufrieden mit diesem Ergebnis, einer machte eine Bewegung mit dem Kopf zur Tür hin, und dann gingen sie. Dirigenten in Konzerten der Angst, die sie selber arrangieren konnten, wann ihnen danach zumute war. Es lag bei ihnen, ob sie es zum Äußersten treiben wollten. Ein schönes Gefühl, eine große Zeit, ein herrlicher Führer, der ihnen das alles möglich gemacht hatte. In einer Villa wie dieser, die sie noch vor zehn Jahren nur von weitem hätten bestaunen können, in diesen Häusern waren nun sie die Herren. Und Damen wie die Suttners, hochmütig und unerreichbar, hatten sie früher nur mal im offenen Wagen gesehen. Königlich fast, mit großen Hüten, Handschuhen und Sonnenschirmen. Und jetzt? Nur noch Schatten zitternder Angst. Sie mußten endlich arbeiten wie andere Leute auch, und das geschah ihnen recht. Hochmut kommt vor dem Fall.

Therese wußte, sie würden wiederkommen. Überall machte die SS bei Juden Kontrollen, es war nur ein Zufall, daß sie so lange verschont geblieben waren. Woher hatten sie nur die Sicherheit genommen, daß ihnen nichts passieren würde? Es war natürlich keine wirkliche Sicherheit gewesen, sie hatten nicht ernsthaft geglaubt, daß ihr Haus eine Arche Noah sein könne. Aber man lebte, als wäre es so. Doch heute hatten sie Vater gezeigt, was ein Jude ist, und Therese war dabeigewesen. Das waren keine Gerüchte mehr, die man verdrängen, beiseite schieben, auf morgen vertagen konnte. Die Männer, die Vater traten, auf ihn einschlugen, sie waren eine neue Realität, die jede Illusion von Geborgenheit, von Sicherheit und Nocheinmaldavonkommen endgültig zerstörte. Therese wußte, die Männer, die ihren Vater mitgenommen hatten, konnten ihn erschießen oder erhängen, obwohl es dafür keinen Grund gab. Oder viele Gründe.

Diese Gründe schallten tagtäglich aus dem Radio, sie standen in den Zeitungen, im ›Stürmer‹, im ›Völkischen Beobachter‹, in Hitlers Buch ›Mein Kampf‹.

Therese brachte Valerie wieder zu Bett, Mutter stand am Fenster und sah dem Wagen hinterher, der Vater wegbrachte. Therese zog für Valerie die Spieluhr auf. In das Lied ›Guten Abend, gute Nacht‹ hinein sagte Sybille, daß Vater jetzt wohl nicht mehr so tun könne, als sei er arisch.

Die Nationalsozialisten hatten Thereses Vater, den Textilfabrikanten und Kaufhausbesitzer Richard Suttner, bislang in Ruhe arbeiten lassen. Die Firma SUTTNER IMPORT/EXPORT stellte bereits in der dritten Familiengeneration vor allem Trikotagen her, Unterwäsche von feinster Qualität. Eigentlich hatte es mit Socken begonnen, Wollsachen, die der Urgroßvater auf einem Wirkstuhl strickte, den er von Hugenotten erworben hatte. Im Laufe der Jahrzehnte waren Wirkwaren dazugekommen, der Ein-Mann-Betrieb hatte sich zur Fabrik ausgewachsen, die Jersey- und Strickstoffe herstellte für Pullover, Kleider und Bademoden. Die Kriegsjahre 1914 / 18 zerstörten die bald internationale Bedeutung der Firma, doch Thereses Vater hatte nicht aufgegeben, und derzeit erzielte die Fabrik wieder Millionengewinne, die den Nazis wohlgefielen, obgleich ein Jude sie erwirtschaftete. Doch im Mai 1935 klebte auch auf dem Firmenschild der Suttnerschen Strickwarenfabrik das Wort JUDE und ein weiteres hing am Fabriktor mit den Worten RAUS MIT DEN JUDEN. Dr. Anton Huber, der arische Prokurist des Hauses, beschwerte sich umgehend bei der Reichsleitung. Eine Weile blieben die Firmenschilder unbeklebt, doch eines Tages stand dort wieder das Wort JUDE. Die Arbeit der Firma blieb jedoch zunächst noch unberührt.

Das Kaufhaus der Familie im Rosental dagegen war nicht so lange unbehelligt. Therese erinnerte sich, wie es zum erstenmal passierte. Die Familie saß gerade beim Essen, als das Telefon läutete. Blumauer war am Telefon, Vaters engster Mitarbeiter, der das Kaufhaus führte. Als Vater zurückkam aus seinem Arbeitszimmer, schien er Therese auffallend blaß, jedoch er setzte sich und aß weiter.

»Was ist los, Vater?« fragte Therese schließlich, und als sähe er die Sinnlosigkeit seines Schweigens ein, gab ihr Vater Auskunft: »Sie haben im Kaufhaus die Fenster beschmiert, das Übliche, was sie jetzt überall hinschmieren. Beim Uhlfelder waren sie auch. Sie drängen sich in das Haus, wollen die Kunden hinauswerfen, bieten den Angestellten Prügel an. Blumauer hat schon das Überfallkommando angerufen.« Es war Vater sichtlich unangenehm, Tatsachen zu berichten, die zu verdrängen er sich immer stärker bemühen mußte. Sybille hatte ihm gespannt zugehört. Ihr weiches, schönes Gesicht war zornig, angespannt, sie sprang auf: »Papa, das lassen wir uns aber nicht gefallen. Wir müssen was unternehmen!«

Vaters Kinnmuskeln zuckten. Er legte seine Serviette hin. Er hatte es satt. Er stand auf, sagte im Hinausgehen zu Sybille, daß sie völlig recht habe: »Ich muß was unternehmen. Ich, und nicht du oder ihr. Setz dich hin und iß weiter.«

Sie erfuhren dann, daß sämtliche jüdischen Geschäfte in München überfallen worden waren. Bach in der Sendlinger Straße, Rothschild im Färbergraben, Elko und Eichengrün in der Karmeliterstraße. Auch in der Kaufingerstraße bei Bamberger und bei Hertz hatten die Trupps der SA versucht, Kunden aus dem Geschäft zu weisen, arische Angestellte zu verprügeln.

Gegen das ausdrückliche Verbot des Vaters gingen Therese und Sybille ins Rosental. Sie hatten schon früher gesehen, daß die Gehsteige mit weißer Ölfarbe beschrieben waren. JUDENSAU, JUDEN UNERWÜNSCHT. An den Schaufensterscheiben stand KAUF NICHT BEIM JUDEN.

Sybille und Therese hatten sich fest untergehakt, und Therese spürte, daß Sybille an sich halten mußte, um nicht in die Gruppen der Leute hineinzuschreien, die sich vor dem Kaufhaus zusammengedrängt hatten. Es waren SS-Leute, Männer von der SA und Zivilisten. Dicht beim Eingang postierten sich vor allem SA-Männer. Sie glotzten jeden drohend an, der ins Kaufhaus hinein wollte. Auch Therese und Sybille schrien sie ihr »Kauf nicht beim Juden« entgegen.

Die Schwestern sahen sich verblüfft an, dann mußten sie lachen. Die Männer schienen zunächst unsicher, doch Therese nickte ihnen strahlend zu.

»Wir versprechen Ihnen, wir kaufen hier nichts.« Sofort löste sich der Haß auf den Gesichtern der Männer, alles wurde blank vor Zufriedenheit und Verbrüderung.

»Ihr seids halt richtige deutsche Madln.«

»Ja, mei«, hörte Therese sich sagen, »echtes Münchner Gwachs.« Therese verachtete sich zwar dafür, daß sie sich vor den Nazis immer wieder die Rolle des arischen Mädchens zuschieben ließ, doch neben der Verachtung war auch eine trotzige Lust in ihr. Sie liebte es, Heil Hitler zu sagen, denn es war ihr als Jüdin verboten. Sie verachtete die anderen, die sich von ihr belügen ließen, denn die Nazis prahlten neuerdings damit, daß sie Juden schon von weitem von richtigen Deutschen unterscheiden könnten.

»Die kann man ja riechen, die Juden«, hatte neulich ein Mädchen in der Floriansmühle zu ihrer Freundin gesagt, als die beiden sich in der Umkleidekabine umzogen. Auch Therese hatte dort ihren nassen Badeanzug gegen Shorts getauscht. Sie fühlte sich nach dem Wettschwimmen mit Sybille stark und kämpferisch.

»Hast du schon mal an einem Juden gerochen?« fragte sie herausfordernd das vielleicht sechzehnjährige Mädchen, dessen Augen vor Überraschung fast hervorquollen. Therese hieb ihr leicht den nassen Badeanzug ans Bein, sagte: »Also, versuch’s doch mal.« Dann ging sie nach draußen zu Sybille, die wie immer im nassen Badeanzug in der Sonne lag und sich trocknen ließ. Therese hörte noch, wie ihr das andere Mädchen nachschrie, daß sie es vielleicht mal bei ihr versuchen wolle. Da ging Therese noch einmal zurück zu den beiden, ganz nah, sie sah die blankgeschrubbten Gesichter, die Angst, die sich hinter der Aggression verbarg.

»Wenn ich Jüdin wäre«, sagte Therese leise, »dann hätte ich euch eins in die Fresse gegeben.«

Therese setzte sich zu Sybille. Erst jetzt spürte sie, daß ihr Herz stark klopfte, ihre Kehle wie ausgetrocknet war. Sybille lag auf dem Bauch, den Kopf in die Armbeuge geschmiegt. Schlief sie? Gerade noch hatte sie Therese beim Wettschwimmen weit abgehängt.

»Mei, schwimmt die gut«, hatten einige Mädchen anerkennend gesagt. Später fragten sie Sybille, ob sie nicht Lust hätte, in den Schwimmverein zu kommen. Schließlich versprach Sybille, zum Training am kommenden Wochenende einmal vorbeizuschauen.

»Wenn die wüßten«, sagte Sybille mit schiefem Grinsen zu Therese.

Therese sah das schwere dunkle Haar der Schwester, das in einem dicken Zopf über ihrer Schulter lag. Sybilles Haut war unempfindlich gegen die Sonne, seidig und glatt hob sie sich ab von dem weißen Strickstoff des Badeanzuges. Wie eine Skulptur lag Sybille da, wie eine schön gemeißelte Statue, jedenfalls fand das Therese, und sie dachte bitter und wütend, daß alle verdammt sein sollten, alle. Sybille war begabter, schöner und klüger als die meisten hier im Schwimmbad, und doch hatte sie kein Recht, hierzusein. Ebensowenig hatte Therese das Recht dazu. Immer mehr fühlte sie sich in ihrem Leben, als sei sie im Theater ohne Eintrittskarte. Dabei hatte sie früher einen Logenplatz gehabt. Ohne sich das bewußtzumachen, empfand sie sich als etwas Besonderes. Sie wußte, daß sie Therese Karoline Suttner war, Münchnerin, Bayerin. Es war für sie von Anfang an gewiß, daß ihr Leben in geräumigen Häusern stattfand, auf Parkettböden, die von Zugeherinnen mit Bienenwachs zum Duften und Glänzen gebracht wurden. Daß Väter blütenweiße Stehkrägen und englische Sakkos trugen, im Automobil verreisten und eigentlich nicht besonders schmerzlich vermißt wurden, bis sie dann wieder am Frühstückstisch saßen und Zigarillos rauchten.

Mütter trugen weiße Seidenkleider, spielten auf dem Flügel oder malten, wie Thereses Mutter in ihrem Atelier, wo es nach Ölfarben roch und nach Terpentin. Gerüche, die Therese ebenso liebte wie die nach Rumaroma und Mandelöl, wenn das Dienstmädchen Anni Torten buk oder bayerische Creme rührte. Düfte, Lichter, Wärme, und jede Abwesenheit von Mühsal war für Therese selbstverständlich gewesen.

Einer der sichtbaren Garanten für dieses helle, sorglose Leben Thereses war das Kaufhaus der Familie Suttner im Rosental. Früher ein riesiger Bauchladen, hatte Thereses Vater ihn in ein modernes Kaufhaus verwandelt, mit Aufzuganlagen und Registrierkassen. Besonders als Kind war Therese gern mit Anni hingegangen, die dort oft Verwandte aus dem Isarwinkel traf.

Später wurde für Therese Vaters Fabrik interessanter. Die großen Stricksäle, erfüllt vom Rattern der Rundstühle, faszinierten sie. Die Arbeiterinnen und Arbeiter grüßten Therese freundlich, ganze Familien arbeiteten bei den Suttners. In der letzten Zeit jedoch war Therese nicht mehr in die Fabrik gegangen. Sie wollte den Arbeitern und Angestellten den Konflikt ersparen, als Arier eine Jüdin so ehrerbietig grüßen zu sollen, wie sie es noch vor wenigen Jahren selbstverständlich getan hatten.

Ihre Vergangenheit erschien Therese wie ein heller, warmer Raum, in dem vielfarbiges Licht sich spiegelte. Die Menschen kamen und gingen, schienen leicht und konturenlos wie Bilder französischer Impressionisten. Aber dann, wenn die Erinnerung kraftvoll zurückkehrte und wie mit Messern jede einzelne Figur aus Thereses Bildern herausschnitt, dann war sie in ihren Alpträumen gefangen, angekettet an die dunkle Zeit, in der Therese lernte, daß Glanz zum Makel wird, Glücksmarie zur Pechmarie. Frühere Bewunderer riefen Jude.

Immer seltener ging Therese durch München. Es war ihr, als sei sie der Stadt, in deren glänzende obere Etage sie hineingeboren war, nun ausgeliefert. Dunkle Gestalten, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte, herrschten jetzt über die Straßenschluchten und über die erleuchteten Tempel der Künste und Wissenschaften. Daß München, ja ganz Deutschland, ihr nun feindlich gesinnt schien, ließ Therese kaum noch schlafen. Ständig wachte sie auf, wurde sich nach wenigen Sekunden bewußt, daß ihr Bett nur geliehen war, eine Frage der Zeit. Wie lange würden die Nazis sie noch darin schlafen lassen? Therese lauschte klopfenden Herzens auf jedes Geräusch. Kamen sie wieder? Heute nacht? Oder morgen?

München, das war Heimat gewesen. Die schönsten Straßen, die stattlichsten Häuser waren ihr vertraut. Alle standen sie noch da, aber für Therese waren sie rätselhaft geworden, gefahrvoll, eine einzige große Frage. Warum? Therese sah die weichen Grünflächen im Englischen Garten, die Weite, die jede Vorstellung von Gefangennahme aufzuheben schien. Der Anblick der herrschaftlichen Ludwigstraße ergriff sie schmerzlich. Die früher so beruhigende Behäbigkeit der Theatinerkirche, die Türme des Liebfrauendoms – alle vertrauten Räume hatten für Therese jetzt etwas Ungewisses, nicht mehr Verläßliches. Es war, als könnten sie jeden Moment einstürzen, um Therese unter sich zu begraben. Dazu war noch Winter. In den schmuddligen Schnee der Straßen fiel feiner Nadelregen. Therese und Sybille gingen, dick in ihre Mäntel vermummt, durch die Kaufingerstraße hinunter ins Tal, wo sie im Sterneckerbräu etwas Heißes trinken wollten. Doch dann sahen sie die Flagge mit dem Hakenkreuz über dem Gasthaus, und Therese erinnerte sich sofort daran, daß dieses alte Münchner Lokal jetzt einer der Treffpunkte der Nazis war. Therese hängte sich fester bei Sybille ein, und sie gingen weiter. Es war später Nachmittag, auffällig viele Menschen hasteten über die Gehsteige, es schien Therese, als seien alle Leute unruhig und beeilten sich, ihre Besorgungen zu machen und heimzukommen. Allein die SS- und SA-Leute schienen guter Laune. In Gruppen marschierten sie über die Straße, machten sich Platz. Die Menschen wichen ihnen ohnehin aus, wo es nur ging. Doch die Uniformierten wollten nicht ausweichen, sie wollten rempeln, Angst machen, Macht spüren. Sie blieben vor Passanten stehen, musterten sie forschend und voller Häme. Wer ruhig weiterging, dem geschah nichts. Wer jedoch Angst zeigte, war verloren. Therese sah, wie ein Trupp SA-Leute einen Mann grob vom Gehsteig stieß. Der Gestoßene fiel hin, rappelte sich beschämt auf, rannte weg unter dem Hohngelächter der Uniformierten. Therese und Sybille waren jetzt auf der Höhe der SA-Leute, die sofort auf die beiden Mädchen aufmerksam wurden. Einer sah sie triumphierend an: »Wir haben ihn laufenlassen, den Jud. Großzügig wie wir nun mal sind. Stimmt’s oder haben wir recht?« Sie lachten selbstgefällig.

Therese und Sybille versuchten gleichgültig auszusehen, nur weg wollten sie, weg. Sie nickten, um die Uniformierten nicht gegen sich aufzubringen. Jetzt hörten sie aus einiger Entfernung wüstes Geschrei, Krachen und Splittern und Johlen. Rasch bogen Therese und Sybille in die Sparkassenstraße ein. Sie hörten Rufe: »Nieder mit der Judensau.« Andere Leute riefen nach der Polizei. »Heil Hitler«, schrien die SA-Leute und rannten zufrieden und voller Erwartung den Zivilisten hinterher.

Es war dunkel geworden. Therese und Sybille beeilten sich heimzukommen. Sie konnten nicht reden, doch jede wußte, was die andere dachte. Therese sah, daß auch Sybille schluckte, daß ihnen beiden das Weinen nah war. Im warmen gelben Licht der Gaslaternen gingen sie nun die Maximilianstraße hinunter, rasch, hastig, als erwarteten sie den Augenblick, wo auch sie in ihrem Jüdischsein entdeckt und vom Gehsteig auf die Straße gestoßen würden.

Sie gingen heim. Im Herzogpark waren sie zu Hause. Nur – wie lange noch. Aus einem Wirtshaus hörten sie grölende Männerstimmen. Dazwischen immer wieder ein scharfes, lautes »Sieg Heil, Heil Hitler«. Die Vorstellung, daß diese singenden Männer jetzt auf die Straße kommen könnten, trieb Therese und Sybille zu noch größerer Eile an. Es schien Therese, als wären die Menschen nur noch eine bedrohliche, von Uniformierten gesteuerte, Heil Hitler rufende Masse, die sich langsam in Bewegung setzte, langsam, aber stetig auf Therese und ihre Familie zuwalzte, um sie schließlich zu überrollen.

 

Doch es gab Anni. Anni machte es nicht einen Tag, nicht einmal eine Minute lang Konflikte, daß der Zufall ihrer Geburt die Familie Suttner zu Juden gemacht hatte, daß sie durch die Machtergreifung Hitlers Verfemte wurden. Aussätzige, ein lebensgefährlicher Umgang. Auch für Anni.

Von Anfang an war Anni bei Therese gewesen. Jedenfalls schien das Therese so. In Wahrheit war Therese schon fast fünf, als die sechzehnjährige Anna-Maria Lechner aus Steinbach im Isarwinkel ins Haus der Familie Suttner nach München kam. Thereses Schwester Sybille war geboren, und Anni sollte Mutter bei der Pflege des Säuglings unterstützen. Doch schon nach drei Tagen gehörte Anni für immer Therese. Jedenfalls stand sie ihr näher als dem Vater oder der Mutter, denen sie mit frisch gebürstetem Haar und sauberen Kleidern zugeführt wurde. Therese aß zwar gemeinsam mit den Eltern, doch schon den Nachtisch durfte sie bei Anni in der Küche einnehmen. Meist hatten die Eltern Gäste, und Therese war ohnehin überflüssig. Auch an den Gesellschaftsabenden der Eltern, an denen sogar manchmal das in der ganzen Stadt berühmte und begehrte Ehepaar Thomas Mann teilnahm, war Therese jedesmal erleichtert, wenn sie nicht mehr beim Musizieren und Rezitieren stillsitzen mußte. Therese fand, daß sie zu Anni und in die Küche viel besser paßte als zu ihren gebildeten Eltern. Ihrer Schulfreundin Delia Rosental ging es genauso. Ihr Vater war Opernsänger, ihre Mutter eine bekannte Pianistin. Doch Delia wollte ebensowenig wie Therese Gesangsstunden nehmen oder gar Klavierunterricht. Therese und Delia hatten sich vorgenommen, niemals in gewienerten Salons bei Kerzenschein zu sitzen und sich anzuhören, wie ältere Damen Arien sangen oder Gedichte deklamierten. Therese und Delia gingen lieber, angetan mit den Hüten ihrer Mütter, in Kinovorstellungen, in denen sie als Vierzehnjährige noch nichts zu suchen hatten. Doch die Kinobesitzer, auf jeden zahlenden Kunden angewiesen, ließen sie hinein. Delia rauchte heimlich. Sie hatte das im humanistischen Domgymnasium in Freising gelernt, einer Klosterschule für Buben, die Pfarrer werden wollten. Delia war dort das einzige Mädchen gewesen, und sie war froh, als ihre Eltern von Freising umzogen nach München. Im Max-Gymnasium lernten sich Therese und Delia kennen. Delia war Christin, katholisch, ihre Eltern waren getaufte Juden.

Einmal, in einer Pause, kam ein Kind auf Delia und Therese zu und zischte: »Ihr seid Juden. Juden sind böse, sie haben Jesus Christus ans Kreuz geschlagen. Sie sind schuld, daß er gekreuzigt wurde.« Therese und Delia hatten sich betroffen angesehen, schließlich beschlossen sie, daheim nachzufragen. Therese wandte sich an Anni, aber die mochte das nicht glauben. Damit war auch für Therese das Thema erledigt, und auch für Delia gab es Wichtigeres, und zwar drehte sich alles um Anni, die einen Verlobten hatte, nicht nur einen Verehrer, nein, seit einer Woche trug sie einen Ring am Finger und war verlobt. Er hieß Georg Klaffenböck, wurde aber Girgl genannt. Therese fand diesen Verlobten enttäuschend, viel zu klein und schmächtig für die blühende Anni. Für sie wünschte Therese sich einen der Prinzen oder Großherzoge von Schloß Hohenburg im Isarwinkel, von denen Anni so viel erzählte. Aber da war nichts zu machen. Anni war stolz auf Girgl, denn er war ein Studierter und würde einmal Lehrer sein. Zu Anni aufs Zimmer, das im Dachgeschoß des Suttnerschen Hauses lag, durfte Girgl nicht. Er selbst wohnte in einem katholischen Jung-Männerheim, und deshalb kam Therese dazu, wie er es mit Anni im Bügelzimmer machte. Niemals würde Therese das vergessen. Zunächst war sie erschrocken, als sie Anni sah, deren Haare völlig aufgelöst waren, und ihre Röcke kringelten sich irgendwo oben am Hals. Therese wußte jedoch instinktiv, daß Anni keine wirkliche Gefahr drohte, und so schaute Therese für einen Moment vor sich hin auf den Boden des Bügelzimmers, wo die Nachmittagssonne Muster malte und wo Sonnenstäubchen auf und ab schwebten. Ein kurzer Moment der Verlegenheit. Therese sah durchs Fenster. Sie sah die Rasenfläche des Gartens, und alles, was sie sah, sah sie sehr genau, wie zum erstenmal und wie verschärft durch diese Verlegenheit, und es war ihr völlig gleichgültig, bedeutete nichts, gemessen an dem, was Anni und Girgl in diesem Moment taten. Therese dachte, daß es nicht recht war, hier zu stehen. Sie hätte sofort hinausschleichen sollen, doch Therese wußte, daß sie hierbleiben mußte und leise sein und sehen, was sie niemals zuvor erlebt hatte, und morgen würde sie alles Delia erzählen. Delia ließ Therese auch keine Ruhe mehr, als sie begonnen hatte, ihr das mit Anni und Girgl zu erzählen. Wie schlecht kam sich Therese vor. Sie war eine Verräterin, eine üble Lauscherin und Petze, und das wußte sie, und trotzdem erzählte sie Delia alles, denn Delia hatte daheim nur Berta, das langjährige Hausmädchen. Berta war über fünfzig, und mit ihr ging kein Mann ins Bügelzimmer. »Also noch mal von Anfang an«, bettelte Delia, »wie hat er das gemacht, zuerst das Mieder auf, und dann am Busen gedrückt und wie ging es dann weiter?«

Therese fand sich wieder gemein, und doch konnte sie nicht mehr zurück, und sie mußte auch alles erzählen, weil das Erlebte mächtig in ihr war und übersprudelnd, und weil es ihr ein Gefühl im Bauch machte, das tief war und süß und ziehend, so daß sie die Bilder wieder und wieder heraufbeschwor. Flüsternd stürzten die Worte aus ihr heraus.

»Dann hat Anni gestöhnt und ›NeinneinGirgl‹ gesagt und ›eskanndochjemandkommenGirgl‹. Doch Girgl hat noch mehr gestöhnt als Anni und hat sich zwischen ihre Beine geschoben, und Anni hat gesagt ›daßdumiraberfeinaufpaßtGirgl‹ und Girgl hat ›Jaja‹ gesagt und hat Anni auf die Kommode mit der Bettwäsche gedrückt. Die Hose ist ihm heruntergerutscht und Anni hat ihre Beine oben um Girgl gelegt, und bald hat Girgl gesagt ›Jetztmußinaus-Anni‹ und Anni ist hochgekommen und hat beim Girgl was gemacht und er bei ihr auch, und Anni hat gesagt ›jetztdarfstfeinetaufhörenGirglgell‹ und Girgl hat nicht aufgehört, bis Anni gesagt hat, ›jetztisausGirgl‹.

Da bin ich ganz schnell rausgeschlichen und bin in den Garten gerannt. Nachher bin ich laut reingerumpelt in die Küche. Da hat Anni für Girgl Kaffee gekocht, und ich hab auch einen gekriegt, mit viel Milch, und Anni hat gefragt: ›WowarstdudennTherese?‹ und ich habe gesagt: ›IchkommgradausmeinemZimmerAnni‹ und dann habe ich ›GutenTagGirgl‹ gesagt. Anni hatte schöne leuchtende Augen, ihr Mund war rot, viel röter als sonst und Girgl war größer als sonst und er hat stolz auf Anni geschaut und mir wurde ganz komisch.«

Delia wollte dann unbedingt einmal mitkommen ins Bügelzimmer, aber da war Therese hart geblieben. Sie selbst war auch nicht mehr hingegangen, wenn Girgl da war, und bald darauf hatten Anni und Girgl ohnehin geheiratet. Weil sie kein Geld hatten, gab Thereses Mutter Anni ihr Hochzeitskleid und den Schleier und die Spitzenhandschuhe, und Anni sah so vornehm aus, daß Therese sie sich gar nicht mehr auf der Wäschekommode vorstellen konnte. In der Kirche dachte Therese dauernd daran, daß die beiden es von nun an immer im Bett tun würden. Therese spürte wieder die wilde, unnennbare Süße in sich, wie eine glutrote Welle, die sich in ihrem Inneren brach und zerbarst. Und die nächste Welle kam, und dann immer wieder eine, und zuletzt war das Kirchenschiff ein Ozean, über dem silberne Möwen kreisten, immer höher, immer weiter, und Therese fühlte sich seltsam leicht und frei und voller Erwartung.

 

Anni hieß nun Frau Klaffenböck, aber nur Thereses Eltern nannten sie so, Sybille und Therese sagten weiterhin Anni. Anni kam ins Haus der Familie Suttner zur Arbeit wie immer. Girgl hatte noch keine Anstellung als Lehrer gefunden, aber er war trotzdem nie daheim. Therese sah Girgl ebenso wie Anni bald in einem anderen, schärferen Licht. Vielleicht lag es daran, daß Thereses Leben sich ihr öffnete, daß sie mehr und genauer sah und hörte, was um sie herum geschah. Doch immer noch war Anni und damit auch Girgl Thereses unmittelbare Welt, beide schienen ihr geheimnisvoll und hochinteressant, waren ihr viel näher als die Eltern, deren persönliches Leben sich hinter weißlackierten Türen abspielte, in Räumen, die Therese natürlich nicht verboten waren, die sie jedoch mied, wenn man vom Atelier der Mutter absah, in dem sie manchmal viele Stunden zubrachte, ohne der Mutter auch nur sekundenlang nahezusein. Mutter schien besonders beim Malen nur sich selbst zu gehören, sie war in einer derart starken Intensität in ihre Arbeit versunken, daß sie Therese fremd blieb.

Anni hingegen war für Therese jederzeit begreiflich. Durch Anni bekam Therese auch eine Ahnung von Girgl, und mit der neuen Sicht auf ihn wuchs Thereses Respekt. Anni erklärte Therese, daß Girgl Sozialdemokrat sei und fast ständig in der Zentrale seiner Partei in der Pestalozzistraße arbeite. Auch bei den Naturfreunden war Girgl Mitglied. Anni war stolz auf ihren Mann, aber sie hatte auch Angst um ihn. Die Sozialdemokraten kämpften gegen die Nationalsozialisten. Mitglieder der SA und der SS brachen in Versammlungen der SPDein, mißhandelten die Teilnehmer. Es gab Morde. Girgl, eher klein und mager, war wie viele seiner Genossen im Judokampfsport trainiert. Er war schon oft bei Zusammenstößen mit den Nazis verletzt worden.

Thereses Vater warnte Girgl, bat ihn, in Annis und seinem eigenen Interesse die Arbeit in der SPDaufzugeben, aber Girgl sah Vater nur kopfschüttelnd an. Sosehr er den Arbeitgeber seiner Frau respektierte, ihn menschlich schätzte – politisch schien Dr. Richard Suttner Girgl völlig weltfremd. Dabei war der Mann Jude. Wo hatte der seine Augen und seine Ohren, lebte der nur für Soll und Haben, für sein Automobil, für seine Telefonate, seine Briefe, seine Depeschen? Einmal hörte Therese, wie Girgl zu ihrem Vater sagte: »Lesen Sie das Buch Hitlers, dann werden Sie einsehen, daß wir etwas tun müssen, daß auch Sie etwas tun müssen.« Therese wußte nicht mehr, was ihr Vater geantwortet hatte. Wahrscheinlich war er wortlos in sein Zimmer gegangen, wie immer, wenn ihm ein Gespräch zu unbequem wurde. Therese hatte auch niemals gesehen, daß ihr Vater Hitlers Buch in die Hand genommen hätte.

Für Girgl wurde es immer schwieriger, seine gefahrvolle Arbeit gegen die NSDAP fortzusetzen. Im März war das Münchner Gewerkschaftshaus gestürmt worden. Glücklicherweise hatte Girgl noch gemeinsam mit seinem Freund Nepomuk Fuchs Karteikarten und die Schreibmaschine herausgeholt, die Nepomuk gehörte. Seitdem war es nicht leicht gewesen für Girgl und Nepomuk, sich zu orientieren. Es gab überall Mißtrauen. Viele Genossen schwenkten um in das Lager der Nationalsozialisten. Jugendliche, die früher bei Girgl und Nepomuk in der Kindergruppe waren, begegneten ihnen plötzlich in Uniform der Hitler-Jugend. Ein wirklicher Schock war es für Girgl, als ihm der Bindinger Sepp in der Dienerstraße entgegenkam. Der Bub, der im Jugendheim an der Dom-Pedro-Straße in Neuhausen immer der Eifrigste gewesen war, trug jetzt die HJ-Kluft. Girgl erinnerte sich, wie verzweifelt Sepp weinte, als die Nazis versucht hatten, das Jugendheim in Brand zu stecken. Sepp wußte viel über die politischen Ziele der Gruppe. Dies alles schoß Girgl durch den Kopf, und daher ging er auf den Bindinger Sepp zu, der ihn offenbar nicht gesehen hatte. »Grüß di, Sepp«, sagte er und faßte den Überraschten unter. »Denk dir nichts, aber wir zwei müssen reden«, und er setzte sich mit Sepp ins »Augustiner«, und dann erfuhr er, was er sich schon gedacht hatte. Der Sepp hatte sich um eine Lehrstelle beworben, er wollte Bäcker werden. Wo er sich auch beworben hatte, immer hieß es, er müsse bei der Hitler-Jugend sein. Der Sepp fand es gut, daß er als Bäckerlehrling in der Nacht arbeiten und am Tag schlafen mußte. »Da muß ich nicht dauernd zum Appell.«

Girgl schärfte dem Sepp ein, niemals auch nur ein Wort über die Zeit bei den Kinderfreunden in Neuhausen verlauten zu lassen, und Sepp versprach es. Von dem Tag an erschien der Sepp auch wieder im Helferkreis der Kinderfreunde. Heimlich, ohne HJ-Uniform. So langsam sammelte sich wieder eine Gruppe, vorzugsweise in der Großmarkthalle. Sie bekamen auch Kontakt mit einer Regensburger Gruppe, die machte sogar eine Zeitung. Das war der neue ›Vorwärts‹, den die Münchner Gruppe dann weiterverteilte.

Eines Morgens holte die Gestapo Girgl aus seiner Wohnung in der Tengstraße. Als Anni am Spätnachmittag von der Arbeit heimkam, empfing sie der Hauswart im Treppenhaus: »Jetzt ham s’ ihn abgeholt, den Herrn Gemahl«, sagte er mit seinem fettigen Grinsen, und Anni rannte sofort in die Brienner Straße in das Palais der Gestapo. Sie fragte den ersten Polizisten, der ihr in dem dämmrigen Flur begegnete: »Wo ist mein Mann? Georg Klaffenböck. Er ist heute morgen aus unserer Wohnung abgeholt worden.«

Der Beamte schickte sie gelangweilt weiter. Zimmer 34, erster Stock. Anni rannte hinauf, kam in einen Raum, in dem viele Leute warteten. Zwei Beamte nahmen Protokolle auf. Anni wandte sich an einen der Beamten, rief, daß er entschuldigen solle, aber ihr Mann – die Wartenden murrten. Der Polizist beschied Anni kühl, daß sie aufgerufen werde wie alle anderen. Anni sah, daß auf jeden Beamten mehr als zehn Leute kamen, die alle möglichen Angaben machten, die von den Beamten umständlich aufgeschrieben wurden. Anni konnte sich ausrechnen, daß sie hier noch Stunden warten mußte. Sie entschloß sich, in der Zwischenzeit in die Nymphenburger Straße zu laufen, zu Nepomuk Fuchs, sie mußte ihn warnen. Leise drückte sie sich zur Tür, niemand beachtete sie, und dann rannte sie von Furcht gehetzt in die Nymphenburger Straße, schellte, doch niemand machte ihr auf. Schließlich klingelte sie bei der Hausmeisterin, und da erfuhr sie, daß der Nepomuk schon in der Nacht abgeholt worden sei. Seine Frau, die sei gleich heute morgen mit dem ersten Zug zu ihren Eltern nach Augsburg gefahren. Als Anni zurückkam in die Brienner Straße, hatte sich der Raum geleert. Die Beamten, schon im Weggehen, musterten sie unfreundlich und mißtrauisch. Was sie denn jetzt noch hier wolle.

»Mein Mann«, sagte Anni atemlos. »Mein Mann, Georg Klaffenböck, heute morgen haben sie ihn abgeholt.«

Die Beamten musterten verdrossen ihre Listen. »Ich hab nichts«, sagte der eine erleichtert und klappte sein Heft zu. Auch der andere Beamte sichtete unlustig seine Unterlagen.

»Klaffenböck, hier ist nichts eingetragen«, dann hämisch in Richtung Anni: »Ham wir nicht, Fräuleinchen, kriegen wir auch nicht mehr rein.«

»Aber wo könnte er denn sein, er ist doch abgeholt worden?« Der preußisch sprechende Beamte riet ihr großmütig, es doch mal in der Ettstraße zu versuchen.

Inzwischen hatte es angefangen zu regnen, und Anni kam ganz naß und völlig außer Atem auf dem Frauenplatz an. Dick standen die Türme des Doms unter dem bleifarbenen Himmel. Anni huschte rasch in das Gotteshaus. Herrgott, jetzt hilf dem Girgl. Dann war sie schon wieder draußen. Vor dem Portal in der Ettstraße stand eine Wache.

»Ja, wo wollen denn Sie noch hin?«

»Mein Mann«, sagte Anni wieder, »mein Mann, Georg Klaffenböck, heut morgen haben sie ihn abgeholt.«

»Ja mei«, der Beamte tat bekümmert, »woher soll ich das wissen, hier herinnen sind so viele, kommen S’ morgen wieder, heut dürfen S’ eh nicht rein, oder Sie versuchen es in der Brienner Straße.«

»Da komm ich doch her«, sagte Anni, und es schien ihr für einen Moment, als müsse sie mit ihrem Kopf gegen diese Tür schlagen, gegen dieses Portal, über dem geschrieben stand: »Nach seinem Sinne leben ist gemein, der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz«. Anni las es und las es auch nicht. Sie dachte, Girgl, Girgl, und daß sie einen Wettlauf verlor, auf den sie nicht vorbereitet war, bei dem sie keine Chance hatte.

Am nächsten Morgen ging Anni wieder in die Brienner Straße. Diesmal gehörte sie zu den ersten der Wartenden, und diesmal hatten zwei andere Beamte Dienst.

»Ach, Sie suchen jemanden?« fragte der für Anni Zuständige. Er fragte es höflich, interessiert, so daß Anni für einen Moment Hoffnung schöpfte.

»Ja«, sagte sie hastig, »ja, meinen Mann suche ich. Klaffenböck, Georg, Lehrer, dreißig Jahre alt.«

Der Höfliche kramte in seinen Karteikarten: »Kaiser, Kerschbaum, Kirchner, Klaffenböck, ja hier. Georg Klaffenböck – der ist hier.«

Anni liefen die Tränen übers Gesicht. Gott, Jesus und Maria, Girgl war hier. Er war hier, ihr Girgl.

»Kann ich ihn sprechen, ich bin seine Frau, wann komnt er raus?«

Der Höfliche sah sie bedauernd an: »Tut mir leid, Frau Klaffenböck, ihr Mann ist heute nacht gestorben.«

Der Beamte führte Anni zur Tür. Die Wartenden machten ihr Platz. Anni ging hinaus. Sie stand auf dem Platz. Stürzten die Häuser auf die Straße? Begruben die Bäume, die Laternenmaste sie unter sich? Anni stützte sich an eine Hauswand. Sie spürte, daß der Putz kalt war und naß. Es hatte wieder zu regnen begonnen.