Books
Sie ließ ihren Blick noch einmal prüfend durch den Salon schweifen. Die Lehnstühle waren vor dem Kamin zu einer Gruppe arrangiert, und der gedeckte Teetisch leuchtete aus der Dämmerung hervor. Die chinesischen Vasen waren mit mächtigen, mattgetönten Schneeballbüschen gefüllt. Sie senkte ihre Hand in die blühenden Zweige, so daß die silberglänzenden Blütenbälle sich leise berührten.
Dann betrachtete sie sich ernst und nachdenklich im Spiegel und blickte seitwärts gewandt über die Schulter weg, um die feinen Linien ihrer Gestalt zu verfolgen, wie sie sich unter dem eng anliegenden schwarzen Atlaskleid abzeichneten, in dessen leichtem, lose flatterndem Überwurf dunkelleuchtende Perlen zitterten. Nun trat sie noch dichter heran – es interessierte sie lebhaft, wie ihr Gesicht heute aussah. Der Spiegel warf ihr ihren eigenen ruhigen Blick zurück, ganz so, als ob jene sympathische junge Frau, deren Züge sie da mit Wohlgefallen studierte, ihr Leben ohne heiße Freude und ohne tiefen Schmerz dahinlebte.
Leer und schweigsam lag der große Salon da. Die Gobelins mit ihren gedämpften Farben und den schattenhaften Gestalten, die sich mit müder Anmut in den Spielen von ehedem bewegten, die Terrakotta-Statuen auf kleinen, säulenförmigen Sockeln, die Nippfiguren aus altem Meißner Porzellan und die Malereien aus Sèvres, die die Glasschränke füllten – alles das schien von längst entschwundenen Zeiten zu reden. Auf einem reich in Bronze gearbeiteten Postament stand die Marmorbüste irgendeiner Prinzessin des königlichen Hauses, die als Diana dargestellt war. Das Gesicht war welk und unschön, während die Brust sich kühn aus den gekünstelten Draperien hervorhob. Das Deckengemälde zeigte die Göttin der Nacht, gepudert wie eine Marquise, Amoretten umschwebten sie, Blüten entsanken ihren Händen. Das Ganze sah so gelangweilt und schläfrig aus; man hörte nur das Feuer im Kamin knistern und das leise Rascheln der Perlen in der leichten Gaze.
Sie trat jetzt vom Spiegel weg, schob die Gardine etwas zurück und blickte zum Fenster hinaus. Es war ein trüber Tag; hinter den schwarzen Bäumen des Quai sah man die Seine ihre gelblichen Fluten dahinwälzen. Der müde Schein des Himmels und des Wassers spiegelte sich in ihren zartgrauen Augen.
Jetzt kam unter dem Bogen des Pont de l’Alma ein Dampfboot hervor und fuhr vorüber, ärmlich gekleidete Passagiere nach Grenelle und Villancourt an Bord. Sie folgte ihm eine Zeitlang mit dem Blicke, während es in dem trüben Strome dahinglitt, dann ließ sie den Vorhang wieder fallen, setzte sich auf ihren Lieblingsplatz in der Sofaecke, gerade unter den Blumenbüschen, und nahm ein Buch zur Hand, das auf dem Tisch lag. Auf dem strohgelben Einband stand in goldenen Lettern der Titel: »Die blonde Isolde« von Vivian Bell. Es waren französische Gedichte, von einer Engländerin verfaßt und in London gedruckt. Sie schlug das Buch auf und stieß zufällig auf die Verse:
»Und wenn die Glocke wie der Beter auf dem Knie
zum offenen Himmel ruft: ich grüße dich, Mariel,
dann geht Madonna durch die Apfelbäume
und sieht des Herren Boten durch die Räume
ihr eine rote Lilie reichen, so von Duft,
daß, wer sie atmet, nach dem Tode ruft.
Im abendmilden Garten die Maria spürt,
wie sich die Seele schaudernd auf den Lippen rührt,
und meint, sie sieht ihr Leben wie ein Bächlein rinnen
in lichtem Strahl aus ihrer weißen Brust tief innen.«
Während sie zerstreut und gleichgültig diese Worte las und dabei auf ihre Gäste wartete, beschäftigten ihre Gedanken sich weniger mit dem Gedicht als mit der Dichterin. Diese Miß Bell war vielleicht ihre beste Freundin, und doch sahen sie sich fast nie. Sie dachte daran, wie Miß Bell sie jedesmal, wenn sie sich getroffen, »Darling« genannt, in die Arme geschlossen und ungestüm auf die Wangen geküßt hatte, wobei sie in einem fort plauderte. Trotz ihrer Häßlichkeit wirkte sie anziehend; obwohl sie sich mitunter beinahe lächerlich machte, war sie von erlesener Kultur. Während sie in England als große Dichterin gefeiert wurde, lebte sie ruhig in Fiesole und ging ganz in Ästhetik und Philosophie auf. Wie Vernon Lee und Mary Robinson hatte sie sich für toskanisches Leben und toskanische Kunst begeistert und ließ sogar ihren Tristan, der Burne Jones zu einigen träumerischen Aquarellen angeregt hatte, unvollendet liegen, um italienische Ideen in französischen und provenzalischen Versen zu besingen. Sie hatte ihrem »Darling« »Die blonde Isolde« geschickt und sie gleichzeitig eingeladen, ein paar Wochen bei ihr in Fiesole zuzubringen. »Kommen Sie, Sie werden die schönsten Dinge der Welt sehen, und durch Sie werden sie noch schöner sein«, hieß es in dem Brief.
Und »Darling« war sich ganz klar darüber, daß sie nicht hingehen würde; sie konnte sich eben in Paris nicht frei machen. Aber der Gedanke, Miß Bell und Italien wiederzusehen, reizte sie dennoch. Während sie weiter in dem Buche blätterte, stieß sie auf die Worte: »Liebe und Anmut des Herzens sind eins«, und etwas ironisch, aber ohne alle Bosheit, dachte sie, ob wohl Miß Bell selbst geliebt hatte und wie die Helden ihrer Liebesgeschichten sein mochten. Die Dichterin hatte dort in Fiesole eine Art Cicisbeo, einen Fürsten Albertinelli.
Er war ein schöner Mann, aber eigentlich doch zu alltäglich und zuwenig geistreich, um der Auserwählte dieser schöngeistigen Frau zu sein, die in dem irdischen Verlangen nach Liebe das Geheimnis einer überirdischen Verkündigung sah.
»Guten Tag, Thérèse, ach, ich bin halbtot.«
Es war die Prinzessin Seniavine, eine schlanke, geschmeidige Erscheinung, deren dunkle Hautfarbe gut zu ihrem Pelzwerk stimmte. Mit einer ungestümen Bewegung nahm sie Platz. Ihre Stimme klang rauh, aber zugleich lag etwas Kosendes darin, wie eine Männerstimme mit einem Anflug von Vogelgezwitscher.
»Heute vormittag bin ich mit dem General Larivière zu Fuß durch das ganze Bois gegangen. Ich traf ihn in der Allée des Potins und habe ihn bis zur Brücke von Argenteuil mitgeschleppt. Er bestand darauf, mir dort beim Parkwächter eine dressierte Elster zu kaufen, die mit einem kleinen Gewehr Kunststücke macht. Ich bin wie gerädert.«
»Warum haben Sie ihn denn so weit mitgeschleppt?«
»Weil er Gicht in der großen Zehe hat.«
Thérèse zuckte lächelnd die Achseln: »Sie gehen zu leichtfertig mit ihrer Bosheit um. Sie sind eine Verschwenderin.«
»Ja, was wollen Sie denn? Soll ich etwa mit meiner Bosheit oder mit meiner Liebenswürdigkeit sparen, wenn ich sie so lohnend anlegen kann?« Dabei trank sie ein Glas Tokaier.
Draußen ließ sich ein mächtiges Schnaufen vernehmen, und schweren Schrittes trat der General Larivière in den Salon, küßte beiden Damen die Hand und nahm dann zwischen ihnen Platz. Ein eigensinniger, selbstzufriedener Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er lachte und zwinkerte mit den Augenlidern, wobei die Schläfen sich in lauter kleine Falten legten.
»Wie geht es Monsieur Martin-Bellème? Immer beschäftigt?«
Thérèse glaubte, ihr Mann sei in einer Kammersitzung und hielte Reden. Die Prinzessin Seniavine aß Kaviarbrötchen und fragte, warum sie gestern nicht bei Madame Meillan gewesen sei. Man hatte Theater gespielt.
»Ja, ich weiß, ein skandinavisches Stück. Taugte es was?«
»O ja – ich weiß eigentlich nicht. Ich saß in dem kleinen grünen Salon, gerade unter dem Bild des Herzogs von Orléans. Dann kam Monsieur Le Ménil und erwies mir einen jener kleinen Freundschaftsdienste, die man nie wieder vergißt. Er rettete mich nämlich vor Monsieur Garain.«
Bei diesem Namen spitzte der General die Ohren. Er wußte die Ranglisten auswendig und pflegte alle irgend nützlichen Winke in seinem dicken Kopf aufzuspeichern.
»Garain«, fragte er, »ist das nicht der Minister, der das Kabinett mit gebildet hat, als die Orléans vertrieben waren?«
»Derselbe. Er schien außerordentliches Wohlgefallen an mir zu finden. Er sprach von seinem Liebesbedürfnis und warf mir erschreckend zärtliche Blicke zu. Dann und wann sah er mit einem tiefen Seufzer das Bild des Herzogs von Orléans an. ›Monsieur Garain‹, sagte ich schließlich, ›ich bin keine Orleanistin, Sie verwechseln mich mit meiner Schwägerin.‹ – In diesem Moment erschien Monsier Le Ménil, um mich zum Buffet zu führen. Er machte mir gewaltige Komplimente, und zwar – über meine Pferde. Dann sprach er davon, wie schön der Wald im Winter sei, und erzählte mir von Wölfen und kleinen Wölfchen. Es war wirklich ganz erfrischend.«
Der General, der keine jungen Leute ausstehen konnte, erzählte, daß er Le Ménil gestern abend im Bois auf Leben und Tod habe reiten sehen, und erklärte, die älteren Herren seien die einzigen, die noch die guten Traditionen aufrechterhielten. Die jungen Leute von heutzutage ritten ja wie Jockeis. Beim Fechten sei es ebenso, setzte er hinzu, »zu meiner Zeit –«
Die Prinzessin Seniavine fiel ihm plötzlich ins Wort. »General, sehen Sie doch nur, wie hübsch Madame Martin aussieht. Sie ist ja immer reizend, aber gerade in diesem Moment ist sie reizender denn je. Sie langweilt sich nämlich, und nichts auf der Welt kleidet sie besser als Langeweile. Wir beide haben sie vom ersten Augenblick an schrecklich gelangweilt. Sehen Sie sie nur an, wie sie mit umwölkter Stirn und schmerzhaft verzogenem Mund ins Leere starrt. Das reine Opferlamm!«
Sie sprang auf, schloß Thérèse ungestüm in die Arme und stürzte davon. Der General war ganz verblüfft.
Madame Martin-Bellème bat ihn, nicht auf das tolle Zeug zu hören, was sie da geschwatzt hatte.
Er erholte sich wieder und fragte dann: »Und was machen ihre Dichter, Madame?«
Er konnte es Madame Martin eigentlich nicht verzeihen, daß sie mit Leuten verkehrte, die nichts weiter taten als schreiben und die nicht einmal zur Gesellschaft gehörten.
»Nun ja, Ihre Dichter. Was ist aus jenem Monsieur Choulette geworden, der Ihnen mit einem roten Schal um den Hals seinen Besuch machte?«
»Ach, meine Dichter haben mich vergessen und sind mir untreu geworden. Man kann wirklich auf keinen Menschen rechnen – weder auf Menschen noch auf sonst etwas, es hält alles nicht stand. Das Leben ist eine fortlaufende Kette von Treulosigkeiten. Die arme Miß Bell ist noch die einzige, die mich nicht vergißt. Sie hat mir von Florenz aus geschrieben und mir ihr Buch geschickt.«
»Miß Bell? War das nicht die junge Dame mit den krausen, blonden Haaren, die beinah aussieht wie ein kleiner Pinscher?«
Er rechnete nach und kam zu dem Schluß, daß sie jetzt ungefähr dreißig sein müsse.
Jetzt trat eine alte Dame ein, die ihre Krone von weißem Haar mit bescheidener Würde zu tragen wußte, und gleich darauf ein lebhafter kleiner Herr mit klugen Augen – es waren Madame Marmet und Monsieur Paul Vence. Dann erschien Monsieur Daniel Salomon, die ausschlaggebende Autorität in allem, was Eleganz betraf. Er sah sehr feierlich aus und trug ein Monokel im Auge. Der General machte sich schleunigst aus dem Staube.
Man sprach von dem neuesten Roman, der diese Woche erschienen war. Madame Marmet hatte den Autor verschiedentlich bei Diners getroffen. Es sollte ein liebenswürdiger junger Mensch sein. Paul Vence fand das Buch langweilig.
»Oh«, seufzte Madame Martin, »Bücher sind immer langweilig. Aber die Menschen sind noch langweiliger und dabei viel anspruchsvoller.«
Madame Marmet erzählte, ihr Mann, der sich sehr für Literatur interessierte, habe bis zu seinem Ende den Naturalismus verabscheut. Er war Mitglied der Académie des Inscriptions gewesen, und sie spielte in den Salons mit Vorliebe die Witwe des berühmten Mannes. Aber die alte Dame mit ihrem schwarzen Kleid und mit ihren schönen weißen Haaren war trotzdem immer liebenswürdig und bescheiden.
Madame Martin wandte sich jetzt an Salomon und sagte, sie möchte ihn wegen einer Porzellangruppe um Rat fragen. »Es ist ein Saint-Cloud, Sie sollen mir sagen, ob es Ihnen gefällt. Vence, Sie müssen mir ebenfalls mit Ihrem Rat beistehen, vorausgesetzt, daß Sie nicht über solche Kleinigkeiten erhaben sind.«
Daniel Salomon blickte Paul Vence durch sein Monokel gereizt und hochmütig an.
Dieser sah sich im Salon um: »Sie haben sehr schöne Sachen, Madame – das will noch nicht viel sagen. Aber Sie haben nur schöne Sachen, und Sie passen ausgezeichnet in diese Umgebung.«
Sie konnte nicht verbergen, daß es ihr Freude machte, ihn so sprechen zu hören. Von allen, die bei ihr verkehrten, war Paul Vence ihrer Ansicht nach der einzige wirklich intelligente Mensch. Sie hatte schon immer viel auf ihn gehalten, noch ehe er durch seine Bücher berühmt geworden war. Vence ging nicht viel in Gesellschaft, denn er war kränklich und melancholisch und arbeitete unausgesetzt. Er war ein kleiner, galliger Mensch und nicht gerade liebenswürdig. Trotzdem hatte sie ihn in ihren Kreis gezogen. Die tiefe Ironie und der wilde Stolz, der ihm eigen war, machten ihn ihr sympathisch, und sie dachte sehr hoch von seinem in der Einsamkeit herangereiften Talent. Sie hatte übrigens auch allen Grund, ihn als ausgezeichneten Schriftsteller zu bewundern, als den Verfasser wertvoller Abhandlungen über Kunst und Sittengeschichte.
Der Salon füllte sich immer mehr. In der glänzenden Versammlung, die da im Kreise vor dem Kamin Platz genommen hatte, saß jetzt auch Madame de Vresson, von der man sich die haarsträubendsten Geschichten erzählte. Sie hatte sich immer noch ihre Kinderaugen und ihr jungfräuliches Gesicht bewahrt, obwohl sie zwanzig Jahre lang ein Leben voll schlecht vertuschter Skandale geführt hatte. Dann war da die alte Madame de Morlaine. Mit durchdringender Stimme und lebhaften Gebärden sagte sie die geistreichsten Sachen; in ihren überquellenden Formen sah sie aus wie eine Schwimmerin mit Schwimmblasen. Ferner Madame Raymond, deren Mann der Akademie angehörte, Madame Garain, die Frau des ehemaligen Ministers, und noch drei andere Damen. Vor dem Kamin stand Monsieur Berthier d’Eyzelles, Redakteur des »Journal des Débats« und außerdem Deputierter. Er streichelte seinen weißen Backenbart und blähte sich förmlich auf, als Madame de Morlaine ihm zurief: »Ihr Artikel heute über Bimetallismus ist ein Kleinod, eine Perle. Besonders der Schluß – einfach berauschend.«
Im Hintergrund des Salons standen die jungen Herren vom Club und tuschelten mit wichtiger Miene untereinander.
»Was hat er eigentlich angestellt, um zur Jagd beim Prinzen eingeladen zu werden?«
»Er? Nichts! Seine Frau alles.«
Sie hatten ihre eigene Ansicht vom Leben. Einer von ihnen hielt nichts von Versprechungen:
»Das sind auch solche Kerle, die mir zuwider sind: die das Herz auf der Zunge tragen. Da heißt es: ›Sie wollen in den Club aufgenommen werden? Aber selbstverständlich! Ich verspreche Ihnen eine weiße Kugel …‹ Und ob sie weiß sein wird! Wie Alabaster! Wie ein Schneeball! Man stimmt ab: bums! Schwarz wie eine Trüffel! Das Leben ist eine dreckige Sache, wenn ich so daran denke.«
»Dann denke nicht dran«, sagte ein dritter.
Daniel Salomon trat zu ihnen und flüsterte ihnen mit seiner keuschen Stimme intime Skandalgeschichten ins Ohr. Und bei jeder sensationellen Enthüllung über Madame Raymond, über Madame Berthier d’Eyzelles oder die Prinzessin Seniavine fügte er nachlässig hinzu: »Aber das ist allgemein bekannt.«
Allmählich verlief der Schwarm der Gäste sich wieder. Nur Madame Marmet und Paul Vence blieben noch. Er näherte sich der Gräfin Martin und fragte: »Wann soll ich Ihnen meinen Freund Dechartre vorstellen?«
Es war schon das zweitemal, daß er davon sprach. Sie war nicht sehr dafür, neue Gesichter um sich zu sehen. Aber sie antwortete ziemlich gleichgültig: »Ihren Bildhauer? Wann Sie wollen. Ich habe in der Ausstellung auf dem Champ-de-Mars sehr gute Medaillons von ihm gesehen. Aber er produziert wenig. Er ist ein Dilletant, nicht wahr?«
»Er ist sehr gewissenhaft. Er braucht nicht für seinen Unterhalt zu arbeiten und gestaltet seine Figuren mit einer Art verliebter Langsamkeit. Aber Sie dürfen das nicht verkehrt auffassen, Madame – er ist sehr gebildet und hat viel Empfindung. Er wäre ein Meister, wenn er nicht so einsam lebte. – Ich kenne ihn von Kindheit an. Die Leute halten ihn für melancholisch und unliebenswürdig, aber in Wirklichkeit ist er ein leidenschaftlicher und dabei sehr schüchterner Mensch. Das, was ihm fehlt und was ihn immer hindern wird, das höchste in seiner Kunst zu leisten, ist die Klarheit über sich selbst. Er zergrübelt und zerquält sich; daran gehen seine besten Ideen zugrunde. Nach meinem Gefühl ist er weniger zum Bildhauer geschaffen als zum Dichter und Philosophen. Er hat ein umfassendes Wissen, und Sie werden sich über den Reichtum seines inneren Lebens wundern.«
Madame Marmet stimmte ihm wohlwollend bei. Die alte Dame war sehr beliebt in der Gesellschaft, weil sie sich überall wohl zu fühlen schien. Sie sprach wenig und hörte gern zu. Immer bereit, anderen einen Dienst zu leisten, wußte sie ihrer Gefälligkeit einen noch höheren Wert zu verleihen, indem sie sie etwas zögernd gewährte. Es wäre schwer zu sagen gewesen, ob sie wirklich eine besondere Vorliebe für Madame Martin hatte oder ob sie in jedem Hause, wo sie verkehrte, so tat, als ob sie sich gerade hier am wohlsten fühle – so zufrieden und behaglich, wie eine alte Großmutter, wärmte sie sich an dem Kamin, dessen reiner Louis-Seize-Stil vorzüglich zu der Erscheinung der stillen alten Dame paßte.
Ihr fehlte jetzt nur noch ihr Bologneserhündchen.
»Wie geht es denn Toby?« fragte Madame Martin. »Kennen Sie Toby, Monsieur Vence? Er hat so langes seidenweiches Haar und ein entzückendes schwarzes Schnäuzchen.«
Madame Marmet schwelgte förmlich in den Komplimenten, die ihr über Toby gemacht wurden, als wieder jemand eintrat. Es war ein kurzbeiniger älterer Herr mit rosigem Gesicht und lockigem, blondem Haar. Er war sehr kurzsichtig, fast blind hinter seiner goldenen Brille, stieß gegen alle Möbel an, verbeugte sich vor leeren Stühlen und rannte fast in den Spiegel hinein. Madame Marmet blickte ihn ganz entrüstet an, als er mit seiner krummen Nase auf sie zu kam.
Es war Monsieur Schmoll, ein Mitglied des Archäologischen Instituts. Er lächelte geziert, schnitt Grimassen und sagte der Gräfin Martin mit seiner rauhen, fetten Stimme die schwungvollsten Komplimente. Dabei sprach er langsam und schleppend; der große Philologe, Mitglied des Institut de France, konnte alle Sprachen, nur nicht die französische. Und Madame Martin amüsierte sich über seine schwerfälligen Galanterien, die alt und verrostet waren wie Eisenkram beim Trödler und unter die sich hin und wieder ein welkes Blümchen Poesie verirrte. Monsieur Schmoll war ein großer Feinschmecker in bezug auf Frauen und Dichter, und er hatte Geist.
Madame Marmet tat, als ob sie ihn nicht kenne, und verabschiedete sich, ohne seinen Gruß zu erwidern.
Als Monsieur Schmoll mit seiner Begrüßungsrede zu Ende war, setzte er eine klägliche Miene auf und erging sich in bitteren Klagen über sein Schicksal: Man hatte ihn nicht genug ausgezeichnet, sein Amt brachte so wenig ein. Der Staat tat nichts für ihn, und er hatte doch für seine Frau und seine fünf Töchter zu sorgen. Er beklagte sich mit einer gewissen Größe, es lag etwas von alttestamentarischem Geiste darin.
Er ließ seine goldbebrillten kurzsichtigen Augen dicht über die Tischplatte wandern und entdeckte zum Unglück die Gedichte von Vivian Bell.
»Ah, die blonde Isolde«, rief er in bitterem Ton, »das Buch lesen Sie, Madame? Nun, ich will Ihnen etwas sagen: Miß Vivian Bell hat mir eine Inschrift gestohlen, und nicht nur das, sie hat sie auch noch verändert und in Verse gebracht. Sie finden sie auf Seite hundertneun:
›Weine nicht, die meine Geliebte war.
Was nicht mehr ist, war niemals wahr.
Laß rinnen die Schmerzen, die meinen.
Schatten darf Schatten beweinen.‹
Verstehen Sie, Madame: ›Schatten darf Schatten beweinen‹. Diese Zeile ist wörtlich aus einer Grabinschrift genommen, die zuerst von mir übersetzt und erklärt worden ist. Voriges Jahr bei einem Diner in Ihrem Hause saß ich neben Miß Bell. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihr den Satz zitiert, und er gefiel ihr. Auf ihre Bitte habe ich am folgenden Tage die ganze Inschrift ins Französische übersetzt und ihr zugeschickt. Und nun finde ich sie verstümmelt und entstellt in dieser Gedichtsammlung wieder unter dem Titel: ›Die heilige Straße‹. – Die heilige Straße, das bin ich in diesem Fall.«
Und in seiner komischen Verdrießlichkeit wiederholte er noch einmal: »Die heilige Straße, ja, das bin ich.«
Es ärgerte ihn, daß die Verfasserin ihn bei der Bearbeitung der Inschrift nicht erwähnt hatte. Sein Name hätte in der Überschrift und womöglich auch noch in den Versen stehen sollen. Schmoll wollte seinen Namen überall sehen. Er hatte eine ganze Tasche voll von Zeitungen, in denen er beständig suchte, ob etwas von ihm drin stände. –
Aber er hatte deshalb doch keinen Groll auf Miß Bell, er trug es ihr nicht nach. Er gab sogar gern zu, daß sie eine hervorragende Persönlichkeit sei, die Dichterin, die England heute die meiste Ehre mache.
Als er fort war, wandte Madame Martin sich ganz unbefangen an Paul Vence und fragte, ob er wüßte, warum die gute Madame Marmet, die sonst so menschenfreundlich war, Monsieur Schmoll so stumm und wütend angeblickt habe. Er war überrascht, daß sie das nicht wußte.
»Mein Gott, solche Sachen weiß ich nie.«
»Aber der berühmte Streit zwischen Joseph Schmoll und Louis Marmet hat doch eine Zeitlang die ganze Akademie in Aufruhr versetzt. Ganz erloschen ist er erst mit dem Tode Marmets; aber sein unversöhnlicher Kollege hat ihn bis zum Père-Lachaise verfolgt. Als man den armen Marmet zu Grabe trug, schneite es in großen nassen Flocken. Wir waren alle bis auf die Knochen durchweicht und durchfroren. Und in dem stürmischen, nebligen und schmutzigen Wetter stand Schmoll am Rande des Grabes und verlas unter seinem Regenschirm eine Rede voll jovialer Grausamkeit und herablassendem Triumph. Nachher fuhr er gleich in seinem Trauerwagen los, um sie an die Zeitungen zu bringen. Irgendein ungeschickter Freund des Hauses brachte sie der guten Madame Marmet. Sie fiel in Ohnmacht, nachdem sie sie gelesen hatte. Haben Sie niemals von diesem blutigen Gelehrtenstreit gehört?
Es drehte sich um die etruskische Sprache, die Marmet zu seinem Hauptstudium gemacht hatte. Man nannte ihn deshalb sogar ›Marmet, den Etrusker‹. Weder er noch sonst jemand hat auch nur ein einziges Wort von dieser alten, spurlos verlorengegangenen Sprache gekannt. Und Schmoll pflegte ihm immer wieder zu sagen: ›Sie wissen selbst, mein lieber Kollege, daß Sie nicht etruskisch verstehen, und in dieser Erkenntnis liegt Ihr Wert als aufrichtiger Gelehrter und gescheiter Kopf.‹
Diese grausame Anerkennung verletzte Marmet aufs tiefste, und er kaprizierte sich nun erst recht darauf, etruskisch zu verstehen. Er las seinen Kollegen einen Aufsatz vor über die Rolle der Flexionen in der alttoskanischen Sprache.«
Madame Martin fragte, was das sei: Flexionen.
»O Madame, wenn ich Ihnen das erst erklären soll, verwickeln wir uns vollständig – beschränken wir uns also lieber auf die Tatsachen. Marmet hatte in seinem Aufsatz eine Menge lateinischer Texte angeführt und dabei beständig falsch zitiert. Nun ist aber Schmoll ein Lateiner ersten Ranges und nächst Mommsen der beste Inschriftenkenner der Welt. Er hielt seinem jungen Kollegen – Marmet war noch nicht fünfzig – vor, daß er die etruskische Sprache zu gut, die lateinische aber nicht genug verstände. Und von da an hatte Marmet keine ruhige Stunde mehr. Bei jeder Sitzung verspottete Schmoll ihn mit wahrhaft satanischer Freude und machte ihn in einer Weise lächerlich, daß er bei all seiner Sanftmut doch schließlich böse wurde.
Aber Schmoll ist im Grunde nicht gehässig; es ist das eine spezifische Eigenschaft seiner Rasse. Er ist imstande, jemand zu verfolgen, ohne ihm darum übelzuwollen. Als er eines Tages mit Renan und d’Oppert die Treppe des Instituts hinaufstieg, begegnete er Marmet und streckte ihm die Hand entgegen. Marmet wollte sie nicht nehmen und sagte: ›Ich kenne Sie nicht.‹ – ›Halten Sie mich vielleicht für eine lateinische Inschrift?‹ entgegnete Schmoll.
Dieser Ausspruch hat mit dazu beigetragen, den armen Marmet ins Grab zu bringen.
Nach alledem können Sie sich denken, daß seine Witwe, die das Andenken des Verstorbenen so heilighält, seinen Feind mit Schrecken und Abscheu betrachtet.«
»Gott, und ich habe sie zusammen zum Diner eingeladen und sie sogar nebeneinander bei Tisch sitzen lassen.«
»Das ist nicht gerade unmoralisch, Madame, aber grausam.«
»Lieber Vence, ich fürchte, Sie werden schockiert sein, aber wenn ich mich für eins von beiden entscheiden sollte, so will ich lieber eine unmoralische Handlung begehen als eine Grausamkeit –«
In diesem Augenblick trat ein hochgewachsener junger Mann mit gebräuntem Gesicht und langem Schnurrbart in den Salon. Es lag etwas Ungestümes und zugleich Geschmeidiges in der Art, wie er sich verbeugte.
»Ich glaube, die Herren kennen sich schon.«
Ja, sie kannten sich. Sie hatten sich schon ein paarmal bei Madame Martin getroffen und sahen sich dann und wann auf dem Fechtboden, wo Le Ménil ein häufiger Gast war. Gestern noch waren sie zusammen bei Madame Meillan gewesen.
»Bei Madame Meillan ist es gewöhnlich sehr langweilig«, meinte Vence.
»Und doch verkehrt die ganze Akademie bei ihr«, erwiderte Le Ménil. »Ich will damit nicht sagen, daß ich den Wert dieser Herren überschätze, aber immerhin ist es doch eine Art Elite.«
Madame Martin lächelte.
»Oh, wir haben schon gehört, daß Sie sich bei Madame Meillan weniger mit den Herren der Akademie als mit den Damen beschäftigen. Sie haben die Prinzessin Seniavine zum Büffet geführt und ihr von Wölfen erzählt.«
»Was, von Wölfen?«
»Von Wölfen, Wölfinnen und kleinen Wölfchen. Und dann haben Sie auch davon gesprochen, wie schön der Forst im Winter ist mit seinen schwarzen Bäumen. Wir fanden eigentlich, daß das ein ziemlich wildes Thema ist, wenn man sich mit einer schönen Frau unterhält.«
Paul Vence erhob sich: »Also, wenn Sie gestatten, Madame, werde ich Ihnen meinen Freund Dechartre vorstellen. Er möchte Sie so gern kennenlernen, und ich glaube, er wird Ihnen sympathisch sein. Er ist wirklich ein kraftvoll lebendiger Geist und voller Gedanken.«
»Oh, so viel verlange ich gar nicht«, fiel Madame Martin ihm ins Wort. »Ungekünstelte Menschen, die sich so geben, wie sie sind, haben mich noch nie gelangweilt, im Gegenteil.«
Vence verabschiedete sich, und Le Ménil wartete, bis seine Schritte im Vorzimmer verhallt und die Türen wieder zugefallen waren. Dann näherte er sich Madame Martin: »Morgen um drei Uhr bei uns, ja?«
»Du liebst mich also immer noch?«
Er bat sie, doch schnell zu antworten, da sie jetzt gerade allein seien, aber sie meinte neckend, es sei schon spät, jetzt würde kein Besuch mehr kommen, höchstens ihr Mann.
Er bat noch einmal, und nun ließ sie ihn auch nicht länger warten, sondern sagte: »Ich habe morgen den ganzen Tag zur Verfügung. Erwarte mich Rue Spontini um drei Uhr, und nachher können wir etwas spazierengehen.«
Er dankte ihr mit einem Blick, dann nahm er seinen gewohnten Platz ihr gegenüber am Kamin ein und fragte, wer denn dieser Dechartre sei, den sie bei sich einführen lassen wollte.
»Ich lasse ihn nicht bei mir einführen. Vence besteht darauf, ihn herzubringen. Es ist ein Bildhauer.«
Le Ménil war unzufrieden, daß sie immer nach neuen Bekanntschaften verlangte. »Und ein Bildhauer. Diese Art Leute sind fast immer roh und ungebildet.«
»Oh, dieser arbeitet nicht viel. – Aber wenn es dir unlieb ist, werde ich ihn nicht empfangen.«
»Mir wäre es nur unlieb, wenn andre Leute die Zeit in Anspruch nähmen, die mir sonst gehört.«
»Nun, mein Lieber, du kannst dich eigentlich nicht darüber beklagen, daß ich zu viel Menschen sehe. Gestern bin ich nicht einmal zu Madame Meillan gegangen.«
»Es ist auch wirklich besser, wenn du dich dort nicht zu oft blicken läßt, es ist kein Verkehr für dich.«
Dann setzte er ihr näher auseinander, wie er das meinte: Alle Damen, die dort verkehrten, hatten ihre Abenteuer gehabt, die jedermann kannte und von denen allgemein gesprochen wurde. Und Madame Meillan begünstigte derartige Geschichten. Er wußte verschiedene Beispiele dafür anzuführen.
Sie saß in einer anmutig ruhenden Pose in ihrem Sessel, während er so sprach; beide Hände auf die Lehnen gelegt und den Kopf leicht zur Seite geneigt, blickte sie auf das verlöschende Feuer im Kamin. Ihre Gedanken waren weit fort; nichts lebte in dem beinahe schwermütigen Antlitz und dem wie ermattet ruhenden Körper, und in dieser Weltverlorenheit war sie begehrenswerter denn je. Eine Zeitlang blieb sie völlig regungslos wie eine Statue; zu dem sinnlichen Reiz des atmenden Lebens kam der Zauber des Kunstwerks. Dann fragte er, woran sie dächte. Sie versuchte sich der melancholischen Verzauberung zu entreißen, die sie beim Anblick der verglimmenden Kohlen gefangenhielt, und sagte:
»Laß uns morgen wieder einmal die entlegenen Viertel von Paris aufsuchen, diese eigentümliche Gegend, wo man das Leben der armen Leute beobachten kann. Willst du? Ich habe diese alten Straßen der Armut so gern.«
Er versprach ihren Wunsch zu erfüllen, ließ jedoch durchblicken, daß er ihn töricht fand. Diese Streifzüge, zu denen sie ihn manchmal verleitete, langweilten ihn, und er hielt sie für gefährlich. Wie leicht konnte man gesehen werden.
»Und gerade, weil es uns bis jetzt gelungen ist, das Gerede zu vermeiden.« Sie schüttelte den Kopf.
»Glaubst du denn wirklich, daß man nicht über uns redet? Die Leute reden ja immer, ob sie etwas wissen oder nicht. Man weiß nicht alles, aber man redet über alles.«
Dann sank sie wieder in ihre Träumereien zurück; er glaubte, sie sei unzufrieden, verstimmt über irgend etwas, was sie nicht eingestehen wollte, und blickte tief in ihre schönen Augen, die mit vagem Blick ins Leere starrten und den Schein des Kaminfeuers widerspiegelten. Aber sie beruhigte ihn wieder: »Ich habe keine Ahnung, ob über mich geredet wird. Und außerdem läßt es mich kalt. Um ein bloßes Nichts mache ich mir keine Sorgen.«
Dann nahm er Abschied. Er wollte im Club speisen. Sein Freund Caumont war auf der Durchreise in Paris und erwartete ihn. Sie blickte ihm nach, und ein Ausdruck von ruhiger Sympathie lag in ihren Augen. Und nun starrte sie wieder in die verglimmende Asche. –
Sie dachte an ihre Kindheit zurück – sie sah das alte Schloß wieder vor sich, in dem sie so lange melancholische Sommertage verlebt hatte, die verschnittenen Sträucher, den finstern, feuchten Park, den regungslosen Teich mit seinem grünlichen Wasser und die marmornen Nymphen unter den großen Kastanienbäumen. Wie manches Mal hatte sie dort auf einer Gartenbank gesessen und geweint und sich gesehnt, sterben zu können. Sie war sich heute noch nicht klar darüber, warum sie in ihrer Jugend so verzweifelt gewesen war, damals, als das geheimnisvolle Herannahen der Reife und das jähe Erwachen ihrer Phantasie sie in eine Wirrnis von Wünschen und Ängsten warf. Als Kind hatte sie Verlangen nach dem Leben und zugleich etwas wie Furcht davor empfunden. Und jetzt wußte sie, daß das Leben nichts Ungewöhnliches mit sich bringt, daß es gar nicht der Mühe wert war, so viel zu hoffen und zu fürchten. Es konnte ja gar nicht anders sein. Sie hätte es sich im voraus sagen können. – ›Ich sah, was für ein Leben meine Mutter führte‹, dachte sie weiter. ›Sie war eine gute, einfache Frau, aber glücklich war sie nicht. Ich träumte mir ein ganz anderes Schicksal als das ihre. Und warum? Das Leben, das mich umgab, kam mir so leer und so inhaltlos vor, und die Zukunft, die ich mir ersehnte, schien mir so voller Duft und Reiz. Und wie kam das? Was habe ich damals gewollt und vom Leben erwartet? Hatte ich nicht damals schon genug davon gesehen, um zu wissen, wie trostlos das alles ist?‹
Sie war im Reichtum geboren, in dem übertriebenen Luxus der Parvenus. Ihr Vater war jener Montessuy, der in Paris als kleiner Bankbeamter angefangen hatte und später zwei große Bankhäuser gründete und leitete, der sie mit unerschöpflich reichem Geist, mit unbeugsamem Willen und einer einzigartigen Verbindung von Schlauheit und Redlichkeit, ungefährdet auch durch schwierige Zeiten brachte und als gleichberechtigte Macht mit der Regierung unterhandelte. Er hatte das alte historische Schloß Joinville gekauft, es restaurieren lassen und mit verschwenderischer Pracht eingerichtet, so daß es im Laufe von sechs Jahren mit seinem Park und den Wasserkünsten ein zweites Vaux-le-Vicomte geworden war. Dort war sie aufgewachsen.
Montessuy war ein Mann, der dem Leben alles abzugewinnen suchte, was es überhaupt bieten kann. Von Natur unbedingter Atheist, begehrte er nur nach dem, was die Erde an Gütern und Genüssen zu geben vermag. Er füllte die Galerien und Salons von Joinville mit berühmten Bildern und kostbaren Statuen an. Als er schon über fünfzig Jahre alt war, hatte er noch Verhältnisse mit den schönsten Schauspielerinnen und Damen aus der Gesellschaft, die er mit erlesenem Luxus umgab. Er wußte alles, was in seinen Bereich kam, mit der ganzen Brutalität seines Temperaments und dem ganzen Raffinement seines Empfindens zu genießen.
Unterdessen siechte seine Frau, die sparsame, ewig besorgte Madame Montessuy, in Joinville dahin. Mit kränklicher, kümmerlicher Miene lag sie in ihrem Prunkschlafzimmer mit den goldenen Balustraden und blickte auf die zwölf riesigen Karyatiden, die die Decke trugen, auf die Lebrun den Titanensturz gemalt hatte. Und dort, in ihrer eisernen Bettstelle, die zu Füßen des Paradebettes aufgeschlagen war, starb sie eines Abends vor Kummer und Müdigkeit. Sie hatte auf der Welt nichts geliebt als ihren Mann und den kleinen Salon mit den roten Damastmöbeln in der Rue Maubeuge.
Zwischen ihr und der Tochter war es niemals zu einem innigen Verhältnis gekommen. Sie fühlte instinktiv, daß Thérèse ihr innerlich zu fernstand. Sie war zu selbständigen Geistes, zu kühnen Herzens. Bei aller Sanftmut und Güte ihres Wesens hatte sie die starke Natur des Vaters geerbt, dieses Feuer der Seele und der Sinne, unter dem ihre Mutter so viel gelitten hatte, und das diese ihrem Manne eher verzeihen konnte als ihrer Tochter.
Montessuy selbst dagegen liebte sein Kind, gerade weil er sein eigenes Wesen in ihm wiederfand. Wie alle stark sinnlichen Menschen, so hatte auch er Stunden, wo er hinreißend liebenswürdig sein konnte. Obgleich er meist außer dem Hause war, wußte er es doch so einzurichten, daß er fast täglich mit seiner Tochter zusammen frühstückte, und ging öfters mit ihr spazieren. Er hatte sehr viel Sinn für modischen Schick und Charme, so entdeckte er auf den ersten Blick jeden Mißgriff in der Kleidung seiner Tochter, an dem gewöhnlich die Mutter mit ihrem trüben, unkultivierten Geschmack schuld war, und wußte ihn geschickt zu korrigieren. Er unterrichtete Thérèse und bildete ihren Charakter. Sein Geschmack und sein gewalttätiges Wesen fesselten und unterhielten sie. Ihre Gegenwart beflügelte seinen Trieb, seine Lust, zu erobern; er, der immer gewinnen wollte, wußte auch das Herz seiner Tochter zu gewinnen. Er machte sie der Mutter abwendig, und sie bewunderte und vergötterte ihn.
In ihrer Träumerei sah sie ihn wieder wie in vergangenen Tagen: die einzige Freude ihrer Kinderzeit, und sie war heute noch überzeugt, daß es auf der ganzen Welt keinen liebenswerteren Mann geben könne als ihren Vater.
Als sie ins Leben trat, hielt sie es von vornherein für ausgeschlossen, bei irgendeinem Manne diesen Reichtum an natürlichen Gaben, diese Fülle von Arbeits-und Denkkraft wiederzufinden. Dieses Gefühl hatte sie bei der Wahl ihres Gatten und vielleicht auch später bei einer anderen, geheimen und freieren Wahl beeinflußt.
Eigentlich hatte sie sich ihren Mann überhaupt nicht selbst ausgesucht. Unwissend hatte sie sich von ihrem Vater verheiraten lassen. Damals, als er Witwer geworden war, beunruhigte ihn der Gedanke, daß er sich bei seinem tätigen, vielfach in Anspruch genommenen Leben nicht genug um seine Tochter würde kümmern können, und er hatte die Angelegenheit, wie es seine Gewohnheit war, rasch und gut erledigen wollen. Er sah dabei vor allem auf die äußeren Vorteile, auf das, was die gesellschaftlichen Rücksichten verlangten, und wußte zu schätzen, was Graf Martin in die Ehe einbrachte: achtzig Jahre Adel aus der Zeit des Kaiserreiches und den ererbten Glanz einer Familie, die für die Juliregierung von 1830 und das liberale Kabinett Napoleons III. Minister gestellt hatte. Der Gedanke war ihm nicht gekommen, daß seine Tochter in der Ehe die Liebe finden könne. Er schmeichelte sich damit, daß sie an der Seite dieses Mannes Befriedigung finden würde für das Verlangen nach Prunk und Glanz, von dem er sie erfüllt glaubte: die Lust, etwas zu sein und eine Rolle zu spielen, die starke Wonne der Gewöhnlichkeit, das platte Selbstgefühl, die sichtbare Macht – alles das, was für ihn den ganzen Wert des Lebens ausmachte. Worin das Glück für eine anständige Frau in dieser Welt bestand, davon hatte er im übrigen keine sehr klaren Vorstellungen; aber er zweifelte keinen Augenblick daran, daß seine Tochter eine anständige Frau bleiben würde. Das war etwas, woran er niemals gerührt hatte, eine absolute Gewißheit.
Sie lächelte mit melancholischer Ironie, wenn sie an seine kindliche Vertrauensseligkeit in diesem Punkte dachte, die eigentlich so wenig mit seiner eigenen Auffassung und mit seinen Erfahrungen, was Frauen anbetraf, übereinstimmte. Aber sie bewunderte ihren Vater nur um so mehr, weil er zu klug war, um sich mit seiner Klugheit lästig zu sein.
Und eigentlich war die Partie, die er für sie ausgesucht hatte, auch gar nicht so übel, wenn man in Betracht zog, was die Ehe für Menschen bedeutet, die in jeder Beziehung unabhängig sind. Ihr Mann war ebensoviel wert wie jeder andere. Er war sogar mit der Zeit ganz erträglich geworden. Wie sie so dasaß, bei dem verschleierten Lampenlicht in die Asche blickte und an die Vergangenheit dachte, fühlte sie, daß die Erinnerungen an ihr Zusammenleben in der Ehe weit hinter allem anderen zurücktraten. Es waren nur einzelne, unzusammenhängende Ereignisse, deren sie sich mit fast peinlicher Deutlichkeit zu entsinnen vermochte, einige lächerliche Szenen und ein allgemeines, unbestimmtes Gefühl von Langerweile. Nein, es war wirklich nichts von jener kurzen Zeit in ihr zurückgeblieben. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie sie es vor jetzt ungefähr sechs Jahren angefangen hatte, ihre Freiheit wiederzuerringen, so leicht und schnell war der Sieg über diesen höflichen, aber kalten und selbstsüchtigen, stets kränkelnden Gatten gewesen. Er war ein trockener Geschäftsmann und Politiker, sehr mittelmäßig begabt, aber strebsam und ehrgeizig. An Frauen dachte er nur, wenn seine Eitelkeit dabei mit im Spiel war, und seine eigene Frau hatte er niemals geliebt. Nach einer offenen Aussprache hatten sie sich dann innerlich ganz voneinander getrennt. Seitdem waren sie sich völlig fremd geworden, und jedes war dem andern im stillen für seine Befreiung dankbar. Sie hätte sogar eine Art Freundschaft für ihn empfinden können, wenn er sie nicht mehrmals in unschön listiger Weise dazu bewogen hätte, ihre Unterschrift herzugeben, wenn er gerade Geld für irgendeine Unternehmung brauchte, die er übrigens weniger aus Gewinnsucht betrieb, als um damit zu renommieren. Und so war es gekommen, daß dieser Mann, mit dem sie ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahm, mit dem sie plauderte, Reisen machte und das tägliche Leben teilte, ihr nichts mehr war, nichts mehr bedeutete.
Sie ließ diese leeren Jahre an sich vorüberziehen; die Wange in die Hand gestützt, saß sie in sich versunken vor dem erloschenen Feuer, als ob sie eine Sybille befragte. Da sah sie den Marquis de Ré wieder, und dieses Gesicht stand so deutlich und unverwischt vor ihrem Blick, daß sie fast erschrak. Ihr Vater hatte ihr den Marquis gerühmt, ihn bei ihr eingeführt; dreißig Jahre intimer Triumphe und gesellschaftlicher Erfolge gaben ihm in ihren Augen Glanz und Bedeutung. Seiner galanten Abenteuer war Legion. Er hatte drei Generationen Frauen verführt und im Herzen aller, die er geliebt hatte, unvergängliche Erinnerung hinterlassen. Seine männliche Anmut, seine weltmännisch vornehme Zurückhaltung und die Gewohnheit zu gefallen, hatten ihn weit über die Zeit hinaus jung erhalten. Er zeichnete die junge Gräfin Martin ganz besonders aus, und die Huldigungen dieses Kenners schmeichelten ihr; noch jetzt erinnerte sie sich ihrer mit Vergnügen. Er wußte wundervoll zu plaudern. Sie war gefesselt, sie ließ es ihn merken, und von da an nahm er sich in seiner verwegen leichtfertigen Begehrlichkeit vor, seine glückliche Laufbahn zu krönen mit der Eroberung dieser jungen Frau, die ihm mehr galt als alle andern und die offensichtlich eine Neigung für ihn hatte. Um sie zu gewinnen, ließ er alle Künste des erfahrenen Don Juan spielen, aber mühelos entzog sie sich ihm.
Zwei Jahre später erhörte sie Robert Le Ménil, der sie mit der ganzen Glut seiner Jugend, der ganzen Geradheit seines Herzens begehrte. Sie sagte sich selbst: ›Ich habe mich ihm hingegeben, weil er mich liebte.‹ Und das war die Wahrheit. Gewiß, sie folgte auch einem dunkelmächtigen Triebe, den geheimen Kräften ihres Seins. Aber das war nicht ihr eigentliches Wesen. Woran sie im Innersten geglaubt hatte, was sie ersehnte, womit sie eins wurde – das war ein wahres Gefühl. So war sie sein geworden, als sie sah, daß er sie liebte und daß er unter dieser Liebe litt, und dann hatte sie auch nicht länger mehr gezögert, ihm anzugehören. Er glaubte, daß es sie keine Überwindung gekostet habe, aber darin irrte er sich. Es war ihr nicht leicht geworden, den unwiderruflichen Schritt zu tun, sie empfand ein drückendes, beschämendes Gefühl darüber, daß plötzlich etwas in ihr Leben getreten war, was sie vor aller Augen verbergen mußte. Sie hatte ja oft genug gehört, wie man über die Frauen sprach, die einen Liebhaber hatten, und wenn sie jetzt daran dachte, stieg ihr das Blut siedendheiß in die Wangen. Aber sie war zu stolz und zu zartfühlend, als daß sie sich hätte anmerken lassen, was es sie gekostet hatte, und wollte nichts sagen, was ihren Freund in höherem Grade hätte verpflichten können, als seine Gefühle es taten. Er ahnte nichts von diesem moralischen Unbehagen, das übrigens nur wenige Tage anhielt und dann einer vollkommenen inneren Ruhe wich. Jetzt, nachdem drei Jahre verflossen waren, war sie sich bewußt, vollkommen natürlich gehandelt zu haben, und sprach sich von jeder Schuld frei. Sie hatte niemand Unrecht zugefügt – warum sollte sie also bereuen, was sie getan. Sie war ganz zufrieden. Diese Liaison war noch das Beste in ihrem ganzen Leben. Sie liebte und wurde geliebt. Den Rausch, von dem sie geträumt, hatte sie allerdings nicht dabei empfunden, aber empfindet man den überhaupt jemals? Ihr Freund war ein guter, gerader Mensch, er war in Gesellschaft und bei den Frauen sehr beliebt. Er galt für hochmütig und eigensinnig, aber ihr gegenüber bewies er echtes Gefühl. Die Genüsse, die sie ihm durch ihre Liebe gewährte, und die Freude, für ihn schön zu sein, fesselten sie an ihn. Er machte ihr das Leben nicht zum Paradiese, aber leicht zu ertragen und mitunter sogar angenehm.
Das, worüber sie sich in ihrer Einsamkeit nicht klargeworden war – obwohl sie manchmal ein unbestimmtes Mißbehagen, eine grundlose Traurigkeit empfand –, ihr innerstes Wesen, ihr Temperament und ihre eigentliche Bestimmung im Leben – alles das war ihr erst durch ihn offenbar geworden. Indem sie ihn erkannte, lernte sie sich selber erkennen, und sie empfand es mit glückseligem Staunen. –
Ihre gegenseitige Sympathie war keine Sache des Geistes oder der Seele; sie fühlte eine einfache, aber ausgesprochene Neigung für ihn, die sich immer gleichgeblieben war.
So freute sie sich auch jetzt in dem Gedanken, ihn morgen in der Rue Spontini wiederzusehen, wo sie seit drei Jahren ihre Zusammenkünfte hatten. Mit einer eigensinnigen Kopfbewegung und einem fast brutalen Achselzucken, das man dieser kultivierten Frau, die da so einsam vor ihrem Kamin saß, niemals zugetraut hätte, sagte sie vor sich hin: »Nun ja, ich brauche Liebe.«
Es war schon beinah dunkel, als sie das kleine Entresol in der Rue Spontini verließen. Robert Le Ménil winkte einen der gerade vorüberfahrenden Fiaker herbei und musterte den Kutscher und seinen Gaul mit einem etwas unruhigen Blick. Dann stieg er mit Thérèse ein. Dicht aneinandergeschmiegt rollten sie dahin. Es war, als ob sie durch eine Gespensterstadt fuhren, zwischen deren schwankenden Schatten hier und da ein jäher Lichtschein aufflammt.
Die Gefühle, die beider Herzen bewegten, waren milde und verlöschend wie das Licht, das sich in den feuchten Fensterscheiben spiegelte. Die Außenwelt erschien ihnen verworren und flüchtig, im Herzen fühlten sie eine angenehme Leere. Der Wagen fuhr am Pont-Neuf vorüber zum Quai des Augustins. Hier stiegen sie aus. Ein scharfer Frost belebte den finsteren Januarabend. Thérèse atmete unter ihrem Schleier mit Genuß die frische Luft ein, vom Fluß her kamen einzelne Windstöße, die über den hartgefrorenen Boden hinfegten und einen scharfen, weißen, salzartigen Staub aufwirbelten. Es machte ihr Freude, so frei durch die unbekannten Straßen zu wandern, diese steinerne Landschaft zu sehen, die die durchsichtige und tiefe Klarheit der Luft einhüllte. Mit raschen festen Schritten ging sie den Quai entlang, das schwarze Gewirr der Baumäste hob sich von dem rauchgeröteten Himmel ab, der über der Stadt hing. Über die Brüstung gelehnt, schaute sie auf den schmalen Arm der Seine, sah ihre Wasser schwermütig vorüberziehen und spürte die Trauer des unbelebten Flusses, dessen Ufer weder Buchen noch Weiden säumten. Droben am Himmel zitterten schon die ersten Sterne.
»Man könnte meinen«, sagte sie, »daß der Wind sie wieder auslöscht.«
Ihm fiel es auch auf, daß sie so unruhig flimmerten, aber er meinte, es sei nicht, wie die Bauern behaupteten, ein Anzeichen, daß Regen käme; im Gegenteil, er habe mehr als einmal beobachtet, daß es schönes Wetter gäbe, wenn die Sterne so funkelten.
Als sie an den Petit Pont gekommen waren, entdeckte Therese auf der rechten Seite der Straße Läden mit allem möglichen Eisenkram, die von qualmenden Lampen beleuchtet wurden. Sie stürzte darauf zu und durchstöberte mit den Augen die staubigen verrosteten Gegenstände in der Auslage. Und nun, da ihr Jagdeifer einmal erwacht war, bog sie um die Straßenecke und wagte sich bis zu einer Bretterbude vor, unter deren feuchten Deckenbalken trübselige Lumpen hingen. Hinter den schmutzigen Fensterscheiben brannte ein Talglicht und beleuchtete allerhand Kasserollen, Porzellanvasen, eine Klarinette und einen Brautkranz.
Er konnte nicht begreifen, daß ihr das Spaß machte.
»Aber du wirst dir womöglich noch Ungeziefer holen. Was interessiert dich denn an dem alten Kram?«
»Alles. Ich denke an die arme Braut, deren Kranz dort unter der Glasglocke steht. Die Hochzeit hat gewiß an der Porte Maillot stattgefunden. Und im Brautzug war ein Schutzmann, wie bei allen Hochzeiten dort, die man samstags im Bois sieht. Rühren sie dich nicht, mein Freund, all diese armen Geschöpfe, die lächerlich und elend sind und doch dereinst eingehen in die Größe der Vergangenheit?«