Mariana Mazzucato
Wie kommt der Wert
in die Welt ?
Von Schöpfern und Abschöpfern
Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Wir leben in einem parasitären System. Darin ist die schnelle Mitnahme von Gewinn, Shareholderdividenden und Bankerboni attraktiver als das Schaffen von Wert, als der produktive Prozess, der eine gesunde Wirtschaft und Gesellschaft antreibt. Wir verwechseln die Schöpfer mit den Abschöpfern und haben den Blick dafür verloren, was wirklich Wohlstand schafft.
Die renommierte amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato stellt in ihrem neuen Buch die für die Veränderung unseres Wirtschaftssystems entscheidende Frage: Wer schöpft Werte und wer zerstört sie? Im Kern geht es darum, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wir brauchen einen neuen Kapitalismus, von dem alle etwas haben!
»Eine Ökonomin entzieht der Businesselite die Lizenz zum Auftrumpfen.« manager magazin
Vita
Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value sowie Direktorin des Institute for Innovation and Public Purpose am University College London. Sie berät Politiker in aller Welt zu Fragen eines smarten und nachhaltigen Wachstums, unter anderem ist sie zurzeit Sonderberaterin des EU-Kommissars für Forschung, Wissenschaft und Innovation und des Generalsekretärs der OECD. 2015 wurde sie mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet, 2018 mit dem Leontief-Preis zur Erweiterung der Grenzen ökonomischen Denkens. 2014 hat sie ihr viel beachtetes Buch »Das Kapital des Staates« veröffentlicht.
FÜR LEON, MICOL, LUCE UND SOFIA
Kapitel Vorwort
Geschichten über die Entstehung von Wohlstand
Kapitel Einführung
Makers versus Takers
Landläufige Kritik an der Wertabschöpfung
Was ist Wert?
Die Produktionsgrenze
Der Wert einer Werttheorie
Zum Aufbau des Buches
Kapitel 1
Eine kurze Geschichte des Werts
Die Merkantilisten: Handel und Staatsschatz
Die Physiokraten: Die Antwort liegt in der Krume
Die klassische Ökonomie: Der Wert der Arbeit
Adam Smith und die Geburt der Arbeitswerttheorie
David Ricardo: Die Erdung von Smith’ Werttheorie
Karl Marx über Produktionsarbeit
Kapitel 2
Wert als subjektive Größe: Der Aufstieg der Marginalisten
Andere Zeiten, andere Theorien
Der Niedergang der Klassiker
Vom Objektiven zum Subjektiven: Eine neue Werttheorie auf der Basis individueller Präferenzen
Der Aufstieg der »Neoklassiker«
Die marginalistische oder Grenznutzenrevolution
Die Produktionsgrenze wird formbar
Vom Klassenkampf über Profit und Löhne hin zum »Gleichgewicht«
Das Verschwinden der Rente und seine Bedeutung
Kapitel 3
Wie misst man den Wohlstand der Nationen?
BIP: Eine gesellschaftliche Konvention
Eine kurze Geschichte der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
Die Geburt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
Die Berechnung des Nationaleinkommens bringt alles unter einen Hut
Die Wertschöpfung des Staats im BIP
Ausgaben und Wert
Das Merkwürdige an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: BIP facit saltum!
Investitionen in künftige Kapazitäten
Der Wert der Hausarbeit und des Hauses selbst
Prostitution, Umweltverschmutzung und Produktion
Die schwarze Wirtschaft hält Einzug in die SNA
Profite versus Renten
Mit Flickwerk an den VGR ist es nicht getan
Kapitel 4
Der Finanzsektor: Geburt eines Ungetüms
Banken und Finanzmärkte verbünden sich
Das Bankenproblem
Deregulierung und das Saatgut des Crashs
Die Herren der (Geld-)Schöpfung
Der Finanzsektor und die »richtige« Wirtschaft
Von Ansprüchen auf Profite zu Ansprüchen auf Ansprüche
Schulden in der Familie
Schlussfolgerung
Kapitel 5
Der Aufstieg des Kasinokapitalismus
Der entfesselte Prometheus (mit Pilotenschein)
Neue Akteure der Volkswirtschaft
Wie die Finanzwirtschaft Wert abschöpft
Schlussfolgerung
Kapitel 6
Die Finanzialisierung der Realwirtschaft
Der Aktienrückkauf als Bumerang
Die Maximierung des Shareholder-Value
Der Rückzug des »geduldigen« Kapitals
Kurzfristiges Denken und unproduktives Investieren
Finanzialisierung und Ungleichheit
Von der Maximierung des Shareholder-Value zum Stakeholder-Value
Schlussfolgerung
Kapitel 7
Wertabschöpfung durch die Innovationswirtschaft
Geschichten um die Wertschöpfung
Wie kommt es zu Innovation?
(a) Kumulative Innovation
(b) Ungewisse Innovation
(c) Kollektive Innovation
Die Finanzierung der Innovation
Risikokapital – Timing ist alles
Kopf, ich gewinne – Zahl, du verlierst
Patentierte Wertabschöpfung
Patente können der Innovation im Wege stehen
Unproduktives Unternehmertum
Die Preisgestaltung der Pharmabranche
Geduldige Patienten und ungeduldige Profite
Netzwerkeffekte und Pioniervorteile
Netzwerkprofite
Plattform-Kapitalismus
Über Schöpfung und Abschöpfung digitalen Werts
Risiken und Früchte teilen
Schlussfolgerung
Kapitel 8
Der unterbewertete öffentliche Sektor
Die Mythen der Austerität
Magische Zahlen
Der Wert des Staats in der Geschichte des ökonomischen Denkens
Keynes und der antizyklische Staat
Der Staat in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen
Die Multiplikation des Werts
Neue Politische Ökonomie: Theorie der Privatisierung und des Outsourcings
Privatisierung und Outsourcing im Gesundheitswesen
Das Outsourcing von Schottlands Infrastruktur
Privat ist gut, öffentlich ist schlecht
Es braucht wieder Selbstvertrauen und Ziele
Privater und öffentlicher Sektor – jeder, was er verdient
Von öffentlichen Gütern zu öffentlichem Wert
Die Verwaltung öffentlichen Werts
Kapitel 9
Eine Ökonomie der Hoffnung
Märkte als Ergebnisse
Volkswirtschaft mit Mission
Eine bessere Zukunft für alle
Dank
Anmerkungen
Vorwort: Geschichte über die Entstehung von Wohlstand
Einführung: Makers versus Takers
Kapitel 1: Eine kurze Geschichte des Werts
Kapitel 2: Wert als subjektive Größe
Kapitel 3: Wie misst man den Wohlstand der Nationen?
Kapitel 4: Der Finanzsektor
Kapitel 5: Der Aufstieg des Kasinokapitalismus
Kapitel 6: Die Finanzialisierung der Realwirtschaft
Kapitel 7: Wertabschöpfung durch die Innovationswirtschaft
Kapitel 8: Der unterbewertete öffentliche Sektor
Kapitel 9: Eine Ökonomie der Hoffnung
Dank
Bibliografie
Register
Zwischen 1975 und 2017 verdreifachte sich in den USA das reale Bruttosozialprodukt – die Größe der Wirtschaft unter Berücksichtigung der Teuerungsrate – von 5,49 auf 17,29 Billionen Dollar.1 In diesem Zeitraum stieg die Produktivität um etwa 60 Prozent. Der reale Stundenlohn der Mehrzahl der Amerikaner stagnierte jedoch von 1979 an, wenn er nicht gar sank.2 Anders ausgedrückt, streicht seit nunmehr fast vier Jahrzehnten eine winzige Elite nahezu alle Gewinne aus dieser expandierenden Wirtschaft ein. Sollte das etwa daran liegen, dass diese Elite aus besonders produktiven Mitgliedern der Gesellschaft besteht?
Der griechische Philosoph Platon war der Ansicht, dass Geschichtenerzähler die Welt regieren; mit Märchen sollte in seinem idealen Staat die Wächterkaste erzogen werden, deren Elite den Herrscher stellt. Das vorliegende Buch stellt die heute herrschenden Märchen darüber infrage, wer im modernen Kapitalismus die Schöpfer des Wohlstands und welche Aktivitäten angeblich produktiv im Gegensatz zu unproduktiv sind, also Geschichten über den Ursprung des Werts. Das Buch beschäftigt sich mit der Wirkung dieser Geschichten auf die Fähigkeit der Wenigen, im Namen der Wohlstandsschaffung mehr als andere von der Wirtschaft zu profitieren.
Diese Geschichten finden sich überall. Der Kontext mag unterschiedlich sein – Finanzwelt, Pharmaindustrie oder Hightech-Sektor –, die Selbstdarstellungen ähneln sich jedoch: Ich bin ein besonders produktives Mitglied der Wirtschaft, meine Aktivitäten schaffen Wohlstand, ich gehe große »Risiken« ein, also habe ich ein höheres Einkommen verdient als Leute, die lediglich von den Auswirkungen meines Tuns profitieren. Aber was, wenn es sich bei diesen Selbstdarstellungen letztlich nur um Geschichten handelt? Was, wenn es letztlich nur Narrative sind, eigens dazu geschaffen, die Ungleichheit von Wohlstand und Einkommen zu rechtfertigen, um die Wenigen zu belohnen, die Staat und Gesellschaft davon zu überzeugen vermögen, sie allein hätten es verdient, reich belohnt zu werden, während der Rest mit Krümeln zurechtkommen soll.
2009 behauptete Lloyd Blankfein, CEO von Goldman Sachs: »Die Leute von Goldman Sachs gehören zu den produktivsten der Welt.«3 Dabei hatte Goldman im Jahr zuvor ganz erheblich zu einer der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrisen seit den 1930er Jahren beigetragen. Der amerikanische Steuerzahler musste 125 Milliarden Dollar berappen, um den Banken aus der Patsche zu helfen. Im Lichte eines derartigen Schnitzers im Jahr zuvor wirkt das Statement des CEO also ziemlich vollmundig. Die Bank entließ zwischen November 2007 und Dezember 2009 etwa 3 000 Angestellte; die Profite gingen in den Keller.4 Die Bank und ihre Konkurrenten bekamen ein Bußgeld aufgebrummt, das freilich klein ausfiel im Vergleich zu späteren Profiten; so hatte zum Beispiel Goldman 550 Millionen Dollar und J. P. Morgan 297 Millionen zu zahlen.5 Bei alledem wettete Goldman – zusammen mit anderen Banken und Hedgefonds – gleich darauf gegen eben die Instrumente, die sie geschaffen und die uns derart in die Bredouille geritten hatten.
Bei allem Gerede über Strafen für die Banker, die für die Krise gesorgt hatten, ging nicht einer dafür ins Gefängnis, und die vorgenommenen Änderungen hinderten sie gewiss nicht daran, ihr Geld weiter mit Spekulationen zu verdienen: zwischen 2009 und 2016 erwirtschaftete Goldman einen Reingewinn von 63 Milliarden bei einem Nettoerlös von 250 Milliarden Dollar.6 Allein 2009 brachte man es auf einen Rekordgewinn von 13,4 Milliarden Dollar.7 Und obwohl der amerikanische Staat das Bankensystem mit Steuergeldern rettete, fehlte es dem Staat an Selbstbewusstsein, die Banken für ein derart risikoreiches Unterfangen zur Kasse zu bitten. Er war letztlich nur einfach froh, sein Geld zurückzubekommen.
Finanzkrisen sind selbstverständlich nichts Neues. Aber noch ein halbes Jahrhundert zuvor wäre Blankfeins überschwängliches Vertrauen in seine Bank nicht so selbstverständlich gewesen. Noch bis in die 1960er Jahre hinein galt die Finanzbranche durchaus nicht überall als »produktiver« Teil der Volkswirtschaft. Man sah ihre Bedeutung darin, bestehenden Wohlstand zu transferieren, nicht darin, neuen Wohlstand zu schaffen. Die Ökonomen waren so überzeugt von der reinen Mittlerrolle des Finanzsektors, dass die meisten Leistungen der Banken, wie etwa ihre Rolle als Spar- und Kreditinstitute, in ihren Berechnungen der von der Wirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen noch nicht einmal auftauchten. Der Finanzsektor schlich sich gerade mal in Form von »Vorleistungen« in ihre Berechnungen des Bruttosozialprodukts ein, das heißt als Dienstleistungen, die zum Funktionieren anderer Industrien beitragen, die die eigentlichen Wertschöpfer sind.
Etwa um 1970 jedoch begann sich das zu ändern. Die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, die ein statistisches Bild von Größe, Zusammensetzung und Richtung einer Wirtschaft liefern, begannen den Finanzsektor in ihre Berechnungen des Bruttosozialprodukts, den Gesamtwert der von einer bestimmten Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen, miteinzubeziehen.8 Diese Änderung bei der volkswirtschaftlichen Bilanzierung ging einher mit der Deregulierung des Finanzsektors, die unter anderem für laxere Kontrollen bei der Höhe zu vergebender Kredite sorgte, der Höhe der Zinsen, die Banken verlangen, und hinsichtlich der Art der Produkte, die sie verkaufen konnten. Zusammengenommen läuteten diese Neuerungen eine grundlegende Veränderung des Verhaltens des Finanzsektors ein und vergrößerten seinen Einfluss auf die Realwirtschaft oder »richtige« Ökonomie. Plötzlich war ein Job in der Finanzwelt keine biedere Laufbahn mehr; vielmehr bot sie smarten Leuten eine Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen. Es kommt nicht von ungefähr, dass 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, einige der brillantesten Wissenschaftler aus dem Ostblock an der Wall Street landeten. Der Sektor expandierte und gewann an Selbstvertrauen. Ungeniert begann er mit dem Lobbying für seine Interessen; man sei schließlich ein entscheidender Faktor bei der Schaffung von Wohlstand, lautete die Begründung dafür.
Heute geht es längst nicht mehr um die Größe des Finanzsektors oder darum, dass er die gewerbliche Wirtschaft an Wachstum überrundet hat, sondern um seine Wirkung auf das Verhalten der übrigen Wirtschaft, von der bereits große Teile »finanzialisiert« sind. Finanzgeschäfte und die Mentalität, die sie gebären, durchdringen die Industrie, was sich etwa daran ersehen lässt, dass Manager – zur Manipulation von Aktienkursen, Optionen und ihrer eigenen Bezüge – einen Gutteil der Unternehmensprofite in Aktienrückkäufe stecken, anstatt sie in die langfristige Zukunft ihrer Unternehmen zu investieren. Sicher, sie nennen das Wertschöpfung, aber wie im Finanzsektor selbst handelt es sich in Wirklichkeit oft um das Gegenteil, um Wertextraktion beziehungsweise Wertabschöpfung.
Derlei Geschichten um die Wertschöpfung beschränken sich mitnichten auf die Finanzwelt. 2014 bezifferte der Pharmagigant Gilead eine dreimonatige Behandlung des lebensgefährlichen Hepatitis-C-Virus mit seinem Medikament Harvoni auf 94 500 Dollar. Gilead rechtfertigte den Preis mit dem »Wert«, den das Medikament für das jeweilige Gesundheitssystem darstelle. Laut John LaMattina, dem ehemaligen Forschungs- und Entwicklungschef beim Pharmakonzern Pfizer, rechtfertige sich der hohe Preis von Spezialpharmazeutika aus dem Nutzen für die Patienten und die Gesellschaft ganz allgemein. In der Praxis bedeutet dies, dass man den Preis nach den Kosten kalkuliert, die der Gesellschaft entstünden, würde die Krankheit mit dem zweitbesten Medikament oder gar nicht behandelt. Die Branche spricht hier von »wertorientierter Preisgestaltung«. Kritiker dieser Praxis führen gerne Fallstudien an, denen zufolge es keinerlei Korrelation gibt zwischen dem Preis von Krebsmedikamenten und ihrem Nutzen.9 Ein interaktiver Rechner im Internet, mit dem sich der »korrekte« Preis einer Krebsdroge auf der Basis seiner abschätzbaren Charakteristika (Erhöhung der Lebenserwartung, Nebenwirkungen und so weiter) errechnen lässt, zeigt, dass der wertorientierte Preis für die meisten Medikamente unter dem des tatsächlichen gegenwärtigen Marktpreises liegt.10
Trotzdem sinken die Preise für Medikamente nicht. Es sieht ganz so aus, als hätte die in der Branche gängige Darstellung der Wertschöpfung jeder Kritik den Wind aus den Segeln genommen. Tatsache ist, ein erheblicher Anteil der Gesundheitskosten in der westlichen Welt hat mit Gesundheitsfürsorge an sich nichts zu tun; es handelt sich bei diesen Kosten schlicht um den von der Pharmaindustrie abgeschöpften Wert.
Oder denken Sie an einschlägige Geschichten aus dem Hightech-Sektor. Im Namen von Unternehmergeist und Innovation macht sich hier die Lobby der IT-Branche immer wieder für weniger Regulierung und eine bevorzugte steuerliche Behandlung stark. Unter dem Banner der »Innovation« als neuer Kraft des modernen Kapitalismus geriert sich das Silicon Valley erfolgreich als unternehmerische Kraft hinter der Schaffung von Wohlstand, die für die »schöpferische Zerstörung« sorgt, aus der die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen sollen.
Diese zugegeben durchaus reizvolle Darstellung der Wertschöpfung hat nicht nur zu niedrigeren Sätzen bei der Kapitalertragsteuer für die Risikokapitalgeber hinter den Tech-Unternehmen geführt, sondern obendrein auch zu fragwürdigen steuerpolitischen Maßnahmen wie der »Lizenz- oder Patentbox«. Letztere senkt den Steuersatz für Erträge aus dem Verkauf von Produkten mit patentiertem immateriellem Input, was angeblich Anreize bietet, indem es die Schaffung geistigen Eigentums belohnt. Es ist eine Maßnahme, deren Sinn sich nicht ganz erschließen will, schließlich sind Patente an sich schon Instrumente, die auf zwanzig Jahre Erträge aus Monopolen und damit hohe Profite garantieren. Es sollte nicht Ziel politischer Entscheidungsträger sein, die Profite aus Monopolen zu erhöhen, sondern vielmehr die Reinvestition solcher Profite, zum Beispiel in die Forschung, zu fördern.
Viele dieser sogenannten Wohlstandsschöpfer im Tech-Sektor, wie etwa der Mitbegründer von PayPal Peter Thiel, ziehen immer wieder gegen den Staat vom Leder, der ihrer Ansicht nach der Schaffung von Wohlstand nur im Wege steht.11 Thiel ging gar so weit, in Kalifornien eine »Sezessionsbewegung« ins Leben zu rufen, die die Schöpfer von Wohlstand weitestgehend von der Zuchtrute des Staats befreien soll. Und Eric Schmidt, CEO von Google, hat wiederholt behauptet, die Daten der Bürger seien bei Google sicherer als beim Staat. Eine solche Haltung nährt eine moderne Binsenweisheit: Unternehmen gut, Staat schlecht oder zumindest unfähig.
Das Problem ist nur, wenn Apple und Konsorten sich zur Rechtfertigung ihrer immensen Profite und Geldberge als moderne Helden gerieren, vergessen sie dabei geflissentlich die Pionierrolle, die der Staat im Bereich neuer Technologien seit jeher spielt. So erklärte Apple ganz ungeniert, seinen Beitrag zur Gesellschaft nicht in Form von Steuern leisten zu sollen, die Genialität seiner großartigen Geräte sollte doch wohl genügen. Nur, woher kam die smarte Technologie hinter diesen großartigen Geräten? Aus öffentlichen Mitteln! Internet, GPS, Touchscreen, SIRI wie auch die Algorithmen hinter Google – sie alle wurden von öffentlichen Einrichtungen finanziert. Sollte der Steuerzahler davon nicht etwas zurückbekommen – über eine Reihe zweifelsohne brillanter Gadgets hinaus? Aber allein schon diese Frage stellen zu müssen unterstreicht die Notwendigkeit eines radikal neuen Narrativs darüber, wer diesen Wohlstand überhaupt erst geschaffen hat und wer davon profitiert.
Aber wie genau passt nun der Staat in diese Geschichten um die Schaffung von Wohlstand? Wenn es in der Industrie derart viele Schöpfer von Wohlstand gibt, so drängt sich der Schluss auf, dass leichtfüßigen Bankern, hochwissenschaftlichen Pharmazeuten und geschäftstüchtigen Geeks am anderen Ende des Spektrums träge, wertabschöpfende Beamte und Bürokraten gegenüberstehen. Wenn in dieser Weltsicht die private Unternehmung der pfeilschnelle Gepard ist, der der Welt Innovationen bringt, dann ist der Staat eine schwerfällige Schildkröte, die den Fortschritt hemmt – oder, um eine andere Metapher zu bemühen, ein kafkaesker Bürokrat hinter Stapeln von Papier, umständlich und ineffizient. Dieser Weltsicht nach ist der Staat nichts weiter als eine von der Steuerpflicht seiner leidgeprüften Bürger finanzierte Last für die Gesellschaft. Diese Geschichte endet immer auf dieselbe Weise: mit der Forderung nach mehr Markt und weniger Staat. Je schlanker, ranker und effizienter die Staatsmaschinerie, desto besser.
In all diesen Fällen, von der Finanzierung von Medikamenten bis hin zur Informationstechnologie, scheut der Staat keine Anstrengungen, um diese angeblich wertschöpfenden Individuen und Unternehmen anzuziehen, lockt sie mit Steuererleichterungen und Befreiungen von einer Bürokratie, die angeblich ihre wohlstandsschaffenden Energien hemmt. Die Medien loben Schöpfer von Wohlstand über den grünen Klee, Politiker hofieren sie, und für viele haben sie einen bewundernswürdigen Status, dem es nachzueifern gilt. Aber wer hat eigentlich entschieden, dass ausgerechnet sie Wert schaffen? Welche Definition von Wert zieht man hier zur Unterscheidung von Wertschöpfung und Wertabschöpfung beziehungsweise Vernichtung von Wert heran?
Warum haben wir uns dieses Narrativ so bereitwillig verkaufen lassen? Wie misst man vom öffentlichen Sektor geschaffenen Wert? Warum behandelt man den öffentlichen Sektor in der Regel einfach als ineffizientere Version des privaten Sektors? Was, wenn diese Geschichte in Wirklichkeit völlig haltlos wäre? Was, wenn dahinter nur eine Reihe tief verwurzelter Ideen stünde? Welche neuen Geschichten könnten wir dann erzählen?
Platon hatte erkannt, dass Geschichten Charakter, Kultur und Verhalten formen: »Zuerst also, wie es scheint, müssen wir Aufsicht führen über die, welche Märchen und Sagen dichten, und die Märchen, welche sie gut gedichtet haben, einführen, die andern aber ausschließen. Die eingeführten aber wollen wir Wärterinnen und Mütter überreden, den Kindern zu erzählen, um so noch weit sorgfältiger die Seele durch Erzählungen zu bilden, als mit ihren Händen den Leib. Von denen aber, die sie jetzt erzählen, sind wohl die meisten zu verwerfen.«12
Für Platon gehörten dazu Mythen über ungezogene Götter. Das Buch, das Sie in Händen halten, beschäftigt sich mit einem moderneren Mythos über die Wertschöpfung in der Wirtschaft. Diese Art von Mythenbildung, so mein Argument, hat zu einer Wertabschöpfung von ungeheuren Ausmaßen geführt, die einigen Wenigen immensen Reichtum beschert, die Gesellschaft allgemein jedoch Wohlstand gekostet hat.
Sinn und Zweck dieses Buches ist es, diesen Stand der Dinge zu ändern, und das zunächst einmal durch eine Wiederbelebung der Wertdebatte, die früher im Herzen ökonomischen Denkens stand – und meiner Ansicht nach dort auch wieder hingehört. Wenn Wert sich durch den Preis definiert – der sich nach den angenommenen Kräften von Angebot und Nachfrage richtet –, dann schöpft eine Aktivität Wert, solange sie einen Preis erzielt. Demnach muss einer, der viel verdient, auch ein Wertschöpfer sein. Mein Argument läuft darauf hinaus, dass die Art und Weise, wie der Begriff »Wert« in der modernen Ökonomie zur Anwendung kommt, erheblich dazu beigetragen hat, dass wertabschöpfende Aktivitäten heute allenthalben als wertschöpfende Aktivitäten durchgehen. Im Verlauf dieses Prozesses verwechselt man Renten (unverdientes Einkommen) mit Profiten (verdientem Einkommen); die Ungleichheit steigt, und die Investitionen in die wirkliche Wirtschaft sinken. Schlimmer noch, wenn wir nicht mehr unterscheiden können zwischen Wertschöpfung und Wertabschöpfung, dann wird es auch nahezu unmöglich werden, die Erstere statt der Letzteren zu belohnen. Wenn wir smartes, also innovationsgetriebenes, integratives und nachhaltiges Wachstum wollen, müssen wir zu einem besseren Verständnis von Wert gelangen, das uns dabei als Leitstern zu dienen hat.
Es handelt sich hier, anders gesagt, nicht um eine abstrakte Debatte, sondern um eine mit weitreichenden – sozialen, politischen und ökonomischen – Konsequenzen für alle. Die Art, wie wir den Wert diskutieren, wirkt sich darauf aus, wie wir alle – vom Konzerngiganten bis zum bescheidensten Shopper – uns als ökonomische Akteure verhalten, auf die Art, wie dieses Verhalten in die Ökonomie zurückfließt, und wie wir deren Leistung messen. Philosophen sprechen hier von »Performativität«: Wie wir über etwas sprechen, wirkt sich auf unser Verhalten aus und damit wiederum auf die Art, theoretische Überlegungen darüber anzustellen. Es handelt sich mit anderen Worten um eine sich selbst bewahrheitende Aussage.
Oscar Wilde hat das Wertproblem treffend in einem seiner berühmten Bonmots erfasst, als er sagte, ein Zyniker sei einer, der von allem den Preis kenne, aber von nichts den Wert. Womit er Recht hatte – und in der Tat steht die Ökonomie im Ruf einer zynischen Wissenschaft. Aber genau das ist der Grund, weshalb eine Veränderung in unserem Wirtschaftssystem dadurch zu untermauern ist, dass wir den Wert wieder ins Zentrum unseres Denkens stellen. Wir brauchen eine Wiederbelebung unserer Fähigkeit, unsere Nutzung des Wertbegriffs infrage zu stellen; wir müssen die Debatte am Leben erhalten, und wir dürfen uns auf keinen Fall von simplen Geschichten erzählen lassen, wen wir für produktiv halten und wen nicht. Woher kommen diese Geschichten? In wessen Interesse erzählt man sie? Solange wir nicht definieren können, was eigentlich unter Wert zu verstehen ist, können wir weder dafür sorgen, dass wir Wert schaffen, noch diesen gerecht verteilen oder wirtschaftliches Wachstum aufrechterhalten. Ein Verständnis des Wertbegriffs ist also grundlegend für alle anderen Debatten, die es darüber zu führen gilt, wohin unsere Wirtschaft geht und wie wir ihren Lauf ändern können. Und erst – und nur – dann kann aus der zynischen Wissenschaft Ökonomie ein Hoffnungsträger werden.
»Die barbarischen Goldbarone – sie haben das Gold nicht gefunden, sie haben das Gold nicht abgebaut, sie haben das Gold nicht gewonnen, aber durch irgendeine merkwürdige Alchemie gehörte alles Gold ihnen.«
Big Bill Haywood, Mitbegründer der ersten Industriegewerkschaft, 1929 1
Besser hätte Bill Haywood seine Befremdung nicht ausdrücken können. Er vertrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts und während der Großen Depression in den 1930er Jahren im amerikanischen Bergbau beschäftigte Männer und Frauen. Haywood hatte die Branche im Blut. Aber selbst er hatte keine Antwort auf die Frage: Warum verdienten die Kapitaleigner, die kaum mehr taten, als mit Gold auf dem Markt zu handeln, derartige Summen, während der Lohn für die Arbeiter, die ihre körperlichen und geistigen Energien einbrachten, um es zu finden, abzubauen und zu gewinnen, gar so dürftig ausfiel? Warum bekamen die Nehmer so viel Geld auf Kosten der Macher?
Ähnliche Fragen stellt man sich noch heute. Die britische Kaufhauskette BHS meldete 2016 Insolvenz an. 2000 hatte der Kaufhausmilliardär Sir Philip Green das 1928 gegründete Unternehmen für 200 Millionen Pfund gekauft; 2015 verkaufte er es für 1 Pfund an eine Investorengruppe unter der Führung von Dominic Chappell. Während der Zeit, in der er BHS kontrollierte, zogen Sir Philip und seine Familie geschätzte 580 Millionen Pfund in Form von Dividenden, Mietzahlungen und Zinsen aus Krediten aus dem Unternehmen ab, die sie an BHS vergeben hatten. Der Zusammenbruch von BHS kostete 11 000 Beschäftigte den Arbeitsplatz und hinterließ ein Loch von 571 Millionen Pfund in der Pensionskasse, und das, obwohl diese einen Überschuss aufgewiesen hatte, als Sir Philip das Unternehmen erstand.2 Ein Bericht des Arbeits- und Pensionsausschusses des britischen Unterhauses über das BHS-Desaster warf Sir Philip, Mr. Chappell und ihrem »Gefolge« ein »systematisches Plündern« des Unternehmens vor. Für die damaligen wie auch die ehemaligen Angestellten von BHS, die mitsamt ihren Familien von den Zahlungen des Unternehmens abhängig waren, stellte dies eine Wertabschöpfung von biblischen Ausmaßen dar – eine dem wirtschaftlichen Beitrag völlig unangemessene Aneignung von Gewinnen. Für Sir Philip und alle anderen mit einem Anteil am Unternehmen war es eine Wertschöpfung.
Man mag Sir Philips Handlungsweise als Anomalie betrachten, als die Exzesse eines Einzelnen, so ganz ungewöhnlich ist die Denkart dahinter allerdings nicht. Es gibt heute zahlreiche Großkonzerne, die sich vorwerfen lassen müssen, Wertschöpfung mit dem Abschöpfen von Wert zu verwechseln. Im August 2016, zum Beispiel, sorgte die Europäische Kommission, das Exekutivorgan der EU, für einen internationalen Eklat zwischen der EU und den USA, als man Apple eine Steuernachzahlung von 13 Milliarden Euro an Irland befahl.3
Apple ist seinem Börsenwert nach das größte Unternehmen der Welt. 2015 verfügte das Unternehmen außerhalb der USA über einen Berg von Cash und Papieren im Wert von 187 Milliarden Dollar4 – etwa die Größe der gesamten tschechischen Wirtschaft im selben Jahr.5 Damit umging man die amerikanische Steuer, die fällig gewesen wäre, hätte man diesen Betrag in die Vereinigten Staaten zurückgeführt. Im Rahmen eines Deals mit Irland von 1991 hatte man zwei irischen Apple-Töchtern eine bevorzugte steuerliche Behandlung gewährt: Apple Sales International (ASI), die für alle Profite aus dem Verkauf von iPhones und anderen Apple-Geräten in Europa, Nahost, Afrika und Indien zuständig ist, sowie Apple Operations Europe, die Computer herstellt. Für einen nominellen Betrag übertrug Apple die Entwicklungsrechte seiner Produkte an ASI, was den amerikanischen Steuerzahler um die Einkünfte aus den in Apple-Geräten verbauten Technologien brachte, Technologien, deren frühe Entwicklung von ihm finanziert worden waren. Wie die Europäische Kommission erklärte, betrage der maximale Steuersatz auf diese in Irland verbuchten Profite 1 Prozent, Apple habe jedoch 2014 gerade mal Steuern in Höhe von 0,005 Prozent bezahlt. Der übliche Körperschaftsteuersatz in Irland beträgt 12,5 Prozent.
Überhaupt hatten diese »irischen« Apple-Töchter steuerlich keinen Sitz, weder in Irland noch sonst wo. Möglich war dies durch die unterschiedliche Definition von »Firmensitz« in Irland und den USA. Fast alle Gewinne der beiden Töchter gingen an ihre irische »Hauptverwaltung«, die jedoch nur auf dem Papier existierte. Die Kommission begründete Apples Steuernachzahlung damit, dass Irlands Deal mit Apple eine illegale staatliche Beihilfe darstelle (eine staatliche Unterstützung, die einem Unternehmen Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten verschafft); Irland hatte anderen Unternehmen ähnliche Konditionen nicht eingeräumt. Irland, so die Kommission, habe Apple den absurd geringen Steuersatz im Gegenzug für die Schaffung von Arbeitsplätzen in anderen Apple-Niederlassungen im Land gewährt. Apple und Irland wiesen die Forderungen der Kommission gemeinsam zurück. Selbstverständlich ist Apple nicht der einzige Großkonzern, der seine Zuflucht in exotischen Steuerstrukturen sucht.
Apples Wertabschöpfungszyklus beschränkt sich nicht auf internationale Steuertricks – das Ganze funktioniert durchaus auch näher der Heimat des Unternehmens. Nicht nur hat Apple dem irischen Steuerzahler Wert entzogen, sondern auch der irische Staat dem amerikanischen Steuerzahler. Warum? Apple hat sein geistiges Eigentum in Kalifornien geschaffen, wo das Unternehmen seine Zentrale hat. Und wie ich bereits in meinem Buch Das Kapital des Staates6 erklärt habe und hier in Kapitel 7 ansprechen werde, wurde die gesamte Technologie, die das Smartphone smart macht, durch die öffentliche Hand finanziert. 2006 jedoch gründete Apple zur Vermeidung kalifornischer Steuern eine Tochter in Reno, Nevada, einem Bundesstaat, der weder Körperschaftsteuer noch Kapitalzuwachssteuer kennt. Unter dem kreativen Namen Braeburn Capital leitete Apple einen Teil seiner US-Gewinne an Kalifornien vorbei an die Tochter in Nevada. Zwischen 2006 und 2012 verbuchte Apple 2,5 Milliarden Dollar an Zinsen und Dividenden in Nevada, um den kalifornischen Fiskus zu umgehen. Kaliforniens sagenhaft hohe Schulden ließen sich erheblich reduzieren, würde Apple seine US-Einkünfte gänzlich und korrekt in diesem Staat deklarieren. Immerhin hat hier ein Gutteil seines Werts (Architektur, Design, Verkauf, Marketing et cetera) seinen Ursprung. Die Wertabschöpfung stellt also nicht nur die USA gegen den Rest der Welt, sie spielt auch einen amerikanischen Bundesstaat gegen den anderen aus.
Es ist offensichtlich, dass Apples hoch komplexe Steuerarrangements in der Hauptsache dazu dienten, maximalen Wert aus seinem Geschäft abzuschöpfen, indem man die erheblichen Steuern umging, von denen die Gesellschaften profitiert hätten, in denen das Unternehmen operiert. Sicher, Apple schöpft Wert, das soll hier nicht in Abrede gestellt werden, aber die Unterstützung zu leugnen, die der Steuerzahler der Firma gewährte, und dann auch noch Bundesstaaten und Länder gegeneinander auszuspielen, ist sicher kein Weg zum Aufbau einer innovativen Wirtschaft oder zur Schaffung eines integrativen Wachstums, von dem weite Teile der Bevölkerung profitieren, nicht nur die, die besonders gut darin sind, sich das System zunutze zu machen.
Apples Wertabschöpfung hat aber auch noch eine andere Dimension. Viele Unternehmen dieser Art benutzen ihre Gewinne, um kurzfristig ihre Aktienkurse in die Höhe zu treiben, anstatt sie langfristig in die Produktion zu reinvestieren. In der Regel kaufen sie dazu mit Cash-Reserven Anteile von Investoren zurück, selbstverständlich unter dem Vorwand der Maximierung des »Aktionärswerts« beziehungsweise »Shareholder-Values« (des Einkommens, das der Aktionär eines Unternehmens auf der Basis des Aktienkurses bezieht). Es kommt jedoch nicht von ungefähr, dass die Hauptnutznießer dieser Aktienrückkäufe Manager mit großzügigen Optionen im Rahmen ihrer Vergütungspakete sind – eben jene Manager, die die Rückkaufprogramme implementieren. Apple gab zum Beispiel 2012 ein Rückkaufprogramm in der schwindelerregenden Höhe von 100 Milliarden Dollar bekannt, teils um »aktivistische« Aktionäre abzuwimmeln, die von der Firma Cash verlangten, um »Shareholder-Value freizusetzen«.7 Anstatt in das Unternehmen zu reinvestieren, zog Apple eine Ausschüttung an seine Aktionäre vor.
Die Alchemie von Nehmer versus Macher, die Big Bill Haywood in den 1920er Jahren ansprach, ist heute so wirksam wie damals.
Die entscheidende, aber oft ungenaue Unterscheidung zwischen Wertschöpfung und Wertabschöpfung hat Folgen, die weit über das Schicksal von Unternehmen und ihrer Beschäftigten, ja selbst über das Schicksal ganzer Gesellschaften hinausreichen. Die soziale, ökonomische und politische Wirkung der Wertabschöpfung ist immens. Vor der Finanzkrise von 2007 war der Einkommensanteil der 1 Prozent Topverdiener in den USA von 9,4 Prozent 1980 auf schwindelerregende 22,6 Prozent gestiegen. Und es wurde immer schlimmer. Seit 2009 ist die Ungleichheit noch schneller gestiegen als vor dem Crash von 2008. Das Vermögen der 62 reichsten Individuen der Welt entsprach 2015 Schätzungen zufolge dem der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung, also dem von 3,5 Milliarden Menschen.8
Aber wie kommt es denn nun, dass die Alchemie noch immer funktioniert? Eine landläufige Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus ist die, dass er »Rent-Seeker« reichlicher belohnt als echte »Wohlstandsschöpfer«. »Rent-Seeking« bezieht sich hier auf das Bemühen, Einkommen nicht durch die Produktion von etwas Neuem zu generieren, sondern dadurch, dass man mehr als den »wettbewerbsfähigen Preis« (Konkurrenzpreis) verlangt und die Konkurrenz dadurch aussticht, dass man sich bestimmte Vorteile (wie etwa Billigarbeit) zunutze macht – oder, wie etwa im Fall einer Branche mit großen Unternehmen, dass man andere Unternehmen am Eintritt in die Branche zu hindern vermag und sich so den Vorteil eines Monopols erhält. Rent-Seeking wird aber gern auch anders beschrieben: Die »Nehmer« stechen die »Macher« aus und der »Raubtierkapitalismus« obsiegt über den »produktiven Kapitalismus«. Rent-Seeking gilt als eine der wesentlichen, wenn nicht gar die wesentliche Methode, mit der das 1 Prozent die Macht über die 99 Prozent erlangt hat.9 Die üblichen Ziele solcher Kritik sind die Banken und andere Finanzinstitute. Man sieht sie als Profiteure spekulativer Aktivitäten, die auf kaum mehr fußen als darauf, niedrig zu kaufen und hoch zu verkaufen – oder etwas zu kaufen, um seine produktiven Aktivposten loszuschlagen, ohne dass man einen reellen Wert hinzufügt.
Anspruchsvollere Analysen verbinden den Anstieg der Ungleichheit mit der spezifischen Art und Weise, in der die »Nehmer« ihren Wohlstand vermehrt haben. Der französische Ökonom Thomas Piketty konzentriert sich in seinem einflussreichen Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert auf die Ungleichheit, die von einer räuberischen und ungenügend besteuerten Finanzindustrie geschaffen wurde und dadurch, dass Reichtum über Generationen hinweg vererbt wird, den Reichen immer einen Vorsprung geben wird, um noch reicher zu werden. Pikettys Analyse ist der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie Renditen auf Finanzanlagen (die er als Kapital bezeichnet) höher sein können als die auf Wachstum. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, fordert er höhere Steuern auf die daraus resultierenden Vermögen und Erbschaften. Idealerweise sollten seiner Ansicht nach solche Steuern weltweit durchgesetzt werden, damit nicht ein Land das andere »unterbietet«.
Ein weiterer führender Denker, der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz, ist der Frage nachgegangen, wie eine laxe Regulierung und monopolistische Praktiken zur »Rentenerzielung« (beziehungsweise »Rentenextraktion« – wie Ökonomen das nennen) führen konnten, in der er die treibende Kraft hinter dem Aufstieg des 1 Prozent in den USA sieht.10 Für Stiglitz ist diese »Rente« das Einkommen, das man daraus bezieht, Konkurrenten Hürden in den Weg zu stellen, etwa um neue Unternehmen vom Eintritt in einen Sektor abzuhalten; auch die Deregulierung, die dafür gesorgt hat, dass der Finanzsektor im Vergleich zum Rest der Wirtschaft überproportional wachsen konnte, gehört für Stiglitz dazu. Er geht davon aus, dass es bei weniger Hindernissen für einen funktionierenden Wettbewerb zu einer gerechteren Verteilung von Einkommen kommt.11
Meiner Ansicht nach können wir bei diesem »Maker versus Taker«-Ansatz bei der Analyse, warum unsere Wirtschaft derart aus dem Ruder gelaufen ist mit ihrer himmelschreienden Ungleichheit von Einkommen und Reichtum, noch viel weiter gehen. Um zu verstehen, wie die einen »Wert abschöpfen«, das heißt, den Volkswirtschaften Wohlstand entziehen können, während andere »Wert schöpfen«, aber vom Wohlstand nicht profitieren, genügt es nicht, sich die Hindernisse für eine idealisierte Form von perfektem Wettbewerb anzusehen. Die gängigen Vorstellungen von Rente jedoch stellen die Art der Wertextraktion nicht grundsätzlich infrage – und so bleibt sie dann auch bestehen.
Um diese Probleme an der Wurzel zu packen, müssen wir uns ansehen, wo Wert denn überhaupt herkommt. Worum genau handelt es sich eigentlich bei dem, was da extrahiert wird? Welche sozialen, ökonomischen und organisatorischen Bedingungen braucht es zur Schaffung von Wert? Selbst Stiglitz’ und Pikettys Verwendung des Begriffs »Rente« zur Analyse der Ungleichheit muss von ihrer Vorstellung von dem beeinflusst sein, was Wert ist und wofür er steht. Ist Rente lediglich ein Hindernis für den Austausch auf dem »freien Markt«? Oder liegt es an ihrer Machtposition, dass einige »unverdientes Einkommen« verdienen können – Einkommen, das daraus entsteht, lediglich existierende Aktiva umherzuschieben, anstatt neue zu schaffen?12 Dies ist eine Schlüsselfrage, der wir in Kapitel 2 nachgehen.