Der Autor

Christian Lindmeier ist Professor für Grundlagen sonderpädagogischer Förderung an der Universität Koblenz-Landau. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen bildungsphilosophische, -theoretische und -soziologische Grundfragen der Sonderpädagogik. Außerdem widmet er sich derzeit in mehreren empirischen Forschungsprojekten der inklusionsorientierten Lehrerbildung und der inklusiven Schulentwicklung. Seine praxisbezogene Expertise bezieht sich auf die Handlungsfelder des Übergangs Schule – Beruf, berufliche Bildung sowie Erwachsenen- und Altenbildung.

Christian Lindmeier

Differenz, Inklusion, Nicht/Behinderung

Grundlinien einer diversitätsbewussten Pädagogik

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-036082-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Einleitung: Probleme und Herausforderungen einer aktuellen Gegenstandsbestimmung der Sonderpädagogik
  2. 2 Differenz als Theorieprinzip und Gesellschaftsdiagnose – politische und pädagogische Implikationen
  3. 2.1 Bedeutungsdimensionen des Differenzbegriffs
  4. 2.2 Ansätze des philosophischen und sozialtheoretischen Differenzdenkens
  5. 2.3 Politische und pädagogische Implikationen des Differenzdenkens
  6. 2.4 Zwischenfazit
  7. 3 Anerkennung und Differenz
  8. 3.1 ›Egalitäre Differenz‹ – ein tragfähiges Theorem für eine inklusive Pädagogik?
  9. 3.2 Die konstitutive, die performative und die adressierende Dimension der Anerkennung
  10. 4 Othering – ein theoretischer Analyserahmen zur Untersuchung binärer Differenzkonstruktionen
  11. 4.1 Die performative Erzeugung sozialer Differenzierungen
  12. 4.2 Theoretische Grundlagen des Othering
  13. 4.3 Othering als Forschungs- und Analyseperspektive
  14. 5 Differenztheoretische Reflexionen zum schulpolitischen Legitimationsbegriff des sonderpädagogischer Förderbedarfs
  15. 5.1 Kritik im Kontext der Einführung des Begriffs des sonderpädagogischen Förderbedarfs
  16. 5.2 Aktuelle Kritik am Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs
  17. 5.3 Otheringprozesse im Kontext der Etikettierung als Schüler oder Schülerin mit sonderpädagogischem Förderbedarf
  18. 6 Pädagogik bei Nicht/Behinderung – eine diversitätsbewusste Pädagogik?!
  19. 6.1 Diversitätsbewusste Pädagogik als Querschnittsaufgabe von Bildungsorganisationen
  20. 6.2 Zielgleiches vs. zieldifferentes Lernen – Otheringprozesse im Umgang mit Leistungsdifferenz
  21. 7 Bildungsgerechtigkeit, Inklusion und Differenz
  22. 7.1 Erziehungswissenschaftliche Konzepte der Bildungsgerechtigkeit
  23. 7.2 Inklusivität als Gebot der Bildungsgerechtigkeit
  24. 8 Ausblick
  25. Literaturverzeichnis

 

 

 

1

Einleitung: Probleme und Herausforderungen einer aktuellen Gegenstandsbestimmung der Sonderpädagogik

 

Die Sonderpädagogik sieht sich zunehmend mit Auseinandersetzungen über eine aktuelle Bestimmung ihres ›Gegenstands‹1 als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin konfrontiert. Dabei stehen sich zwei Positionen gegenüber:

Vertreter*innen der ersten Position sprechen immer häufiger von Förderpädagogik und verstehen sich in erster Linie als Individualpädagog*innen (Speck 2008; Wember & Prändl 2009). Speck (2008) begründet seine Hinwendung zu dem von ihm eingeführten Legitimationsbegriff der speziellen Erziehungserfordernisse damit, dass sich Heilpädagogik in erster Linie an dem zu orientieren habe, »was individuell erforderlich ist, und nicht an dem, was eine Einrichtung mit welcher Begründung auch immer für geboten hält« (2008, S. 254). Heilpädagogik sei deshalb »in erster Linie Individualpädagogik« (ebd.). Auch aus den ›Standards sonderpädagogischer Förderung‹, die der Verband Sonderpädagogik e. V. zusammen mit einigen Wissenschaftler*innen vorgelegt hat, lässt sich ablesen, dass sonderpädagogische Förderung »als eine intensive, hochgradig individualisierte und spezifische Förderung« (Wember 2009, 19) aufgefasst wird. Förderpädagogik steht im Einklang mit einer Bildungspolitik, die seit 1994 mit dem ressourcenorganisierenden Konstrukt des sonderpädagogischen Förderbedarfs und dem Konzept der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte operiert. Sie hält damit an der sogenannten ›Zwei-Gruppen-Theorie‹ der 1970er und 1980er (KMK 1994, 2011) sowie an der Parallelstruktur von allgemeinen Schulen und Förderschulen fest, individualpädagogisch begründet mit einer sonderpädagogischen Förderung ›unabhängig von Förderort‹ (Drave, Rumpler & Wachtel 2000; Pluhar 2003).

Die zweite Position wird durch die inklusive Pädagogik repräsentiert. Sie tritt dafür ein, sonderpädagogische disziplinäre Bestände zu dekategorisieren und deren Expertise zu ›deprofessionalisieren‹ bzw. ›de-spezialisieren‹ (u. a. Boban et al. 2014; Hinz & Köpfer 2016; Boban & Hinz 2017). Die Dekategorisierungsforderung, die bereits von der integrativen Pädagogik erhoben wurde, führt seit ca. 25 Jahren zu heftigen innerdisziplinären Kontroversen (z. B. Benkmann 1994; Wocken 1996, 2015; Bleidick 1999; Schröder 2000; Grubmüller et al. 1999; Eberwein 2000; Hinz 2002, 2013; Lindmeier 2005; Eberwein & Knauer 2009; Ahrbeck 2011; Haas 2012, 2016; Köbsell 2015; Katzenbach 2015; Dederich 2015, 2016; Musenberg, Riegert & Sansour 2017; Einhellinger 2017). In anderen Teildisziplinen, die sich zunehmend mit der Querschnittsaufgabe Inklusion beschäftigen, spielt sie hingegen bislang kaum eine Rolle. Hinz und Köpfer zufolge ist im Kontext inklusiver Bildung »mit dem professionsorientierten Konzept der Dekategorisierung … die Infragestellung von sonderpädagogischen, behinderungsspezifischen Begriffskategorien verbunden, die durch ihre personenbezogene Ausrichtung bzw. Etikettierung Exklusions- und Stigmatisierungsrisiken enthalten« (2016, S. 38). Ferner treten Inklusionspädagog*innen für die Abschaffung der Förderschulen zugunsten einer ›Schule für alle‹ (inklusive Schule) ein. Begründet wird diese Position mit dem normativen Prinzip der Differenzanerkennung (›Es ist normal, verschieden zu sein!‹). Differenz wird damit ebenfalls tendenziell individualpädagogisch und dekontextualisierend (s. das weit verbreitete ›Willkommenheißen von Verschiedenheit‹) ausgelegt.2

Beide Positionen weisen ein je spezifisches Reflexionsdefizit auf, das auch die Frontstellung zueinander begründet. Im Falle der Förderpädagogik bezieht sich dieses Defizit auf die unzureichende Reflexion der hegemonialen Differenzordnung, die der von der Bildungspolitik aufoktroyierten binären Ordnungslogik zugrunde liegt. Bei der inklusiven Pädagogik besteht das Reflexionsdefizit in einer fragwürdigen Normalisierung menschlicher Verschiedenheit, die soziale Differenz auf eine »quasi-biologische Diversität« (Liebsch 2015, S. 365) verkürzt und die Ambivalenz pädagogischer Anerkennungsverhältnisse (Balzer 2007, 2012; Balzer & Ricken 2010; Fritzsche 2018) verkennt.

Eine aktuelle Bestimmung des ›Gegenstands‹ der Sonderpädagogik steht in dieser Situation vor zwei Herausforderungen, die auf die antinomische Struktur pädagogischer Probleme verweisen:

– Die erste Herausforderung besteht darin, die Sonderpädagogik in eine differenztheoretisch reflektierte Pädagogik mit einem spezifischen Fokus auf die soziale Differenz Behinderung/Nicht-Behinderung zu transformieren. Der theoretische Perspektivenwechsel, der mit einer solchen Transformation einhergeht, ist kaum zu unterschätzen, denn mit ihm wird die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik ebenso obsolet wie die Fachbezeichnung Sonderpädagogik. Mit dem Fokus auf Nicht/Behinderung wird der ›Gegenstand‹ der ›Sonderpädagogik‹ zu einer Differenzkategorie unter anderen (Tervooren & Pfaff 2018; Budde 2018), was auch aus der Perspektive der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie (Powell 2007) und der Systemtheorie (Emmerich 2017) naheliegend erscheint.

– Die zweite Herausforderung besteht in der Transformation in eine diversitätsbewusste Pädagogik. Die Sozialpädagogik, die Interkulturelle Pädagogik und die rassismuskritische Migrationspädagogik befinden sich bereits in einem solchen Transformationsprozess, wobei neuerdings auch Behinderung als Diversitätsdimension zu berücksichtigen versucht wird (Leiprecht 2008, 2011; Mecheril & Plößer 2009, 2015; Mecheril & Vorrink 2012; Plößer 2010, 2013; Tuider 2014). Innerhalb des sonderpädagogischen Diskurses ist Diversität bislang nur in der Soziologie bei Behinderung ein Thema (Wansing & Westphal 2014; Wansing 2014; Waldschmidt 2014; Puhr 2014; Wacker 2014, 2015), die in ihrer praktischen Ausrichtung meist auf außerschulische Handlungsfelder bezogen ist. Dabei geht es nicht nur um den ›Umgang‹ mit Diversität, sondern um angemessene pädagogische und politische Antworten (responding to diversity).

Zu Transformationsprozessen der sonderpädagogischen Theoriebildung und zu einem Inclusive Turn wird es – so die zentrale These dieses Buches – nur kommen, wenn sich die deutschsprachige Sonder- und Inklusionspädagogik mit Fragen der Differenz, Prozessen des Othering und Phänomenen des Ableism kritisch auseinandersetzt.

Im Verlauf des Buches erfolgt daher zunächst eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bedeutungen des Differenzbegriffs sowie ihren philosophischen, sozialpolitischen und pädagogischen Implikationen ( Kap. 2).

Auf Grund der zentralen Bedeutung von Anerkennung im Kontext von Differenz im pädagogischen und insbesondere im inklusionspädagogischen Diskurs wird im Anschluss der Zusammenhang von Differenz und Anerkennung thematisiert ( Kap. 3). Ausgehend von der bereits angesprochenen ›bedingungslosen Differenzanerkennung‹ (Cramer & Harant 2014) greift Prengel (1993) das von Honneth formulierte Theorem der ›egalitären Differenz‹ auf, das in diesem dritten Kapitel kritisch analysiert wird. Da die daraus abgeleiteten ›Vielfaltspädagogiken‹ als differenztheoretisch unterbestimmt einzuschätzen sind, wird die Ambivalenz pädagogischer Anerkennungsverhältnisse skizziert, die es ermöglicht, die konstitutive, die performative und die adressierende Dimension der Anerkennung klarer zu fassen.

Das vierte Kapitel führt den weitgehend erziehungswissenschaftlichen Diskurs mit dem in der postkolonialen Theorie entwickelten Analyserahmen des Othering (Riegel 2016) zusammen ( Kap. 4). Otheringprozesse werden als soziale Differenzierung performativ erzeugt, wodurch die Konstruktion der oder des Anderen als Prozess des machtvollen ›Different-Machens‹ beschrieben wird. Diese Perspektive ist anschlussfähig an die in der kritischen Sonderpädagogik rezipierte Stigmaforschung, ist aber besser geeignet, das Zusammenspiel von wissenschaftlichen, politischen und Alltagsdiskursen zu analysieren und sowohl Adressierungen als auch (Re-)Positionierungen beschreibbar zu machen. An dieser Stelle wird auch die Intersektionalität verschiedener sozialer Differenzkategorien knapp thematisiert.

Im fünften Kapitel erfolgt eine erste Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse auf einen zentralen sonder- und inklusionspädagogischen Diskurs ( Kap. 5): Der schulpolitische Legitimationsbegriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs stand seit seiner Einführung im Jahr 1994 bis heute in der Kritik, weil das damit Bezeichnete höchst unklar ist. Im Anschluss an die Zusammenfassung wesentlicher Kritikpunkte wird gezeigt, dass hier in geradezu lehrbuchhafter Form Otheringprozesse im Kontext der Etikettierung als Schüler oder Schülerin mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die einer binären Differenzlogik folgen und eine Essentialisierung des angeblichen ›Andersseins‹ dieser Schülerinnen und Schüler nach sich ziehen.

Die anschließende Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine diversitätsbewusste Pädagogik überhaupt möglich ist, greift die in dieser Einleitung aufgestellte Forderung nach einer solchen diversitätsbewussten Pädagogik auf, ohne sie abschließend beantworten zu können ( Kap. 6). Diversitätsbewusste Pädagogik wird als Querschnittsaufgabe von Bildungsorganisationen konzipiert, die nur auf der Basis der Reflexion der Ambivalenz von Anerkennung, der Gefahr der Dramatisierung und Bagatellisierung von Differenzen und der daraus entstehenden Antinomien geleistet werden kann. Als Beispiel eines derzeit virulenten, noch ungelösten Problems in inklusiven schulischen Settings wird der Umgang mit zielgleichem vs. zieldifferentem Lernen bzw. Leistungsdifferenz gewählt.

Das siebte Kapitel schließlich greift ein Thema systematisch auf, das implizit bis zu diesem Zeitpunkt bereits vielfach angesprochen wurde, aber im Differenzdiskurs ebenso wie im Inklusionsdiskurs allenfalls als kaum hinterfragte ethische Leitfigur fungiert: den Zusammenhang von Bildungsgerechtigkeit, Inklusion und Differenz ( Kap. 7). Dazu werden zunächst erziehungswissenschaftliche Konzepte der Bildungsgerechtigkeit dargestellt, um daraus die Folgerung abzuleiten, dass Inklusivität als Gebot der Bildungsgerechtigkeit anzusehen ist.

Die gewählte Schreibweise Nicht/Behinderung (Dis/Ability) ergibt sich aus der angestrebten differenztheoretischen Reflexion. Sie nimmt Entwicklungen auf, die in den internationalen Disability Studies in den vergangenen Jahren zu den kritischen Dis/ability Studies führten (z. B. Campbell 2009; Harpur 2012; Goodley 2014; Köbsell 2016; Weisser 2018). Die Problematisierung der Differenz von ›disability‹ und ›ability‹ greift das konflikthafte Verhältnis von (Leistungs-)Fähigkeiten (abilities) und Anforderungen oder Erwartungen auf (Lindmeier 1993; Bendel 1999; Weisser 2005a; Gronemeyer 2014) – ein Konflikt, der bereits bei Linton (1998a, b) im Blick ist. Linton macht ›Non Disability Studies‹, zu denen sie auch die Sonderpädagogik (Special Education) zählt, dafür verantwortlich, diesen Konflikt mit heraufzubeschwören (Dederich 2010). Die Begriffe ›ableism‹ und ›disableism‹ verweisen auf die Exklusions- und Diskriminierungsgefahren, die mit institutionellen (Fähigkeits-)Anforderungen und -erwartungen verbunden sind (Weisser 2018). Da es bei der schulisch relevanten Differenzkategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs ebenfalls um dieses konflikthafte Verhältnis geht, ist diese Differenzkonstruktion als funktionales Äquivalent zu Behinderung (disability) anzusehen.

1     Die Apostrophierung des Wortes rührt daher, dass sich Disziplinbildung nicht an unterschiedlichen Gegenstandsfeldern orientiert, »die vorher schon vorhanden wären und wie Kolonien nach und nach okkupiert werden« (Luhmann 1992, S. 451). Disziplinbildung führt deshalb auch nicht »zu gegeneinander abgeschlossenen Regionalontologie, sondern bildet ihre Gegenstände nach Maßgabe ihrer Theorien« (ebd.).

2     In England vollzog die sonderpädagogische Theoriebildung seit Mitte der 1990er Jahre einen ›inclusive turn‹ in klarer Abgrenzung von dem individualisierenden und dekontextualisierenden Begriff der Special Educational Needs (SEN), der als Vorbild für den Begriff des ›sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ (KMK 1994) in Deutschland diente (Pluhar 2003). Wie Dyson (2007) berichtet, war die Kritik am Warnock-System und das Eintreten für Inklusion zunächst vor allem politisch motiviert. Die hieraus resultierende ›Politik der Anerkennung‹ (Slee 1998) nahm vor allem die ›mikropolitischen‹ (Benjamin 2002) Prozesse in den Blick, die zu Marginalisierung und sozialer Exklusion führen. Ein weiterer Aspekt war die massive Kritik an den englischen Schulreformen, die (Gegen-)Strategien der inklusiven Schulentwicklung wie den ›Index for Inclusion‹ (Booth/ Ainscow 2002) hervorbrachte. Drittens kam es nach dem Amtsantritt der ersten New Labour-Regierung im Jahr 1997 zu einer Fokussierung auf soziale und bildungsbezogene Benachteiligungen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit dem sozialen Kontext wurde von der Regierungspolitik der Begriff der ›sozialen Exklusion‹ eingeführt, der eine stärkere Wahrnehmung gesellschaftlicher Barrieren einleitete (Lindmeier 2013b). Das breite Verständnis von ›inclusive education‹, das sich aus diesen Transformationsprozessen pädagogisch ableiten ließ, beschreiben Ainscow, Dyson und Weiner bilanzierend als Eliminierung von »exclusionary processes from education that are a consequence of attitudes and responses to diversity in race, social class, ethnicity, religion, gender and attainement, as well as to disabilities« (2013, 4; s. hierzu auch Slee 2011).

 

 

 

2

Differenz als Theorieprinzip und Gesellschaftsdiagnose – politische und pädagogische Implikationen

 

In erziehungswissenschaftlichen Publikationen zum Thema ›Differenz‹ findet sich in jüngerer Zeit immer häufiger die theoretische Unterscheidung zwischen relativer und radikaler Differenz (z. B. Ricken & Balzer 2007; Koller 2008, 2014; Göhlich, Reh & Tervooren 2013; Dederich 2010, 2013; Ricken & Reh 2014; Wimmer 2014; Katzenbach 2016; Lindmeier 2016; Musenberg 2016). Sie geht davon aus, dass sich ein Begriffswandel des Differenzbegriffs »von einem bloß untergeordneten Theorem zu einem theoretischen Grundbegriff« (Ricken & Reh 2014, 26) entlang zweier Bedeutungshorizonte vollzogen hat:

•  Differenz als Theorieprinzip bzw. Theoriearchitektur: Wie Kimmerle (2000) in seiner Einführung in die Philosophie der Differenz zeigt, wird das Problem der Differenz seit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in wissenschafts- und erkenntnistheoretischen als auch sprach- und fundamentalphilosophischen Arbeiten »aus den eingewöhnten Unterordnungskonstellationen des Einen und Allgemeinen kritisch gelöst …« (Ricken & Reh 2014, S. 27) und zunehmend zur »Krise der Repräsentation und zur Grundlosigkeit des Wissens« (Wimmer 2014, 220) zugespitzt. Der Differenzbegriff gerät dadurch zu einer Reflexionsund Theoriefigur, mit der nicht nur eine relative Verschiedenheit, sondern auch eine radikal gedachte Unterschiedenheit (Singularität, Inkommensurabilität) bezeichnet wird.

•  Differenz als Gesellschaftsdiagnose und moralisch-politische Kampfvokabel: Parallel zu der beschriebenen philosophischen Auseinandersetzung taucht ›Differenz‹ in den 1950er Jahren als moralisch-politischer Begriff auf, der Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit des Ungleichen betont und soziale Gerechtigkeit sowohl als Forderung nach Bekämpfung sozialer Ungleichheit als auch für die Anerkennung und Wertschätzung von Verschiedenheit fordert. Diese Position zielt darauf ab, (vorhandene) Differenzen zu achten und nicht zu verallgemeinern bzw. zu normalisieren und zu nivellieren. Über die ›Politik der Differenz‹ (Liebsch 2015) wandert der Differenzbegriff seit den 1980er Jahren in die Erziehungswissenschaft ein (Walgenbach 2014a, b). Als herausragendes Beispiel kann Prengels ›Pädagogik der Vielfalt‹ (Prengel 1993) angeführt werden, die das Theorem der ›egalitären Differenz‹ (Honneth 1990, 1992) in den pädagogischen Fachdiskurs einführte (Prengel 2001; Kron 2010).

Bereits im Verlauf der 1990er Jahre und insbesondere seit Beginn des 21. Jahrhunderts häufen sich im sozialphilosophischen und erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs kritische Hinweise auf Probleme, die ein anerkennender pädagogischen Umgang mit Differenz aufweist (Katzenbach 2000; Lutz & Wenning 2001; Mecheril 2005; Mecheril & Plößer 2009; Balzer 2007, 2012, 2014; Budde 2012a; Stinkes 2012; Dederich 2013; Emmerich & Hormel 2013; Wimmer 2014; Cramer & Harant 2014; Liebsch 2015; Mecheril & Vorrink 2017; Fritzsche 2018). Diese Kritik findet allerdings in der Pädagogik der Vielfalt als Repräsentantin ›inklusionsorientierter Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung‹ (Prengel 2015a)3 bislang kaum Gehör, obwohl von ihr wichtige Impulse für eine theoretische Weiterentwicklung dieser ›Vielfaltspädagogiken‹ (Schröder 2007; Trautmann & Wischer 2010) ausgehen könnten. Mit der Unterscheidung von relativer und radikaler Differenz lassen sich diese Probleme noch präziser fassen als mit der Kritik an der Enthierarchisierung von Differenz (z. B. Emmerich & Hormel 2013). Da das Differenzdenken in der Philosophie, Politik und Pädagogik unauflöslich mit dem Problem der Anerkennung verknüpft ist, gilt es dabei insbesondere die Ambivalenz der Anerkennung in den Blick zu nehmen.

Nachfolgend wird zunächst die von Ricken und Balzer (2007) vorgelegte historisch-systematische Aufarbeitung des Differenzdenkens nachgezeichnet, ohne allerdings näher auf die Begriffe der Alterität und Alienität einzugehen. In einem ersten Schritt wird die Bedeutungsverschiebung und -erweiterung, die dem Differenzbegriff im 20. Jahrhundert widerfahren ist, mit dem Ziel rekonstruiert, die Unterscheidung von relativer und radikaler Differenz zu plausibilisieren.4 Im Anschluss daran wird in zwei weiteren Abschnitten auf die zentralen philosophischen und sozialtheoretischen Ansätze des Differenzdenkens und auf seine politischen und pädagogischen Implikationen Bezug genommen.

2.1       Bedeutungsdimensionen des Differenzbegriffs

Der Differenzbegriff steht für eine sich seit wenigen Jahrzehnten abzeichnende und zunehmend »alle sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen übergreifende thematische wie kategoriale Um- und Neuorientierung des Denkens« (Ricken & Balzer 2007, S. 56f.). Dieser Entwicklung liegt eine Bedeutungsverschiebung und -erweiterung von Differenz zugrunde, die sich nicht einfach mit dem traditionellen Differenzbegriff in Zusammenhang bringen lässt, sondern einen Bruch mit dem im traditionellen Begriff noch mitgedachten übergreifenden Ordnungsvorstellungen markiert.

In der philosophischen Tradition (Aristoteles, Thomas von Aquin) wird mit Differenz (gr. diaphora, lat. differentia, aus differe, dt. unterscheiden, auseinandertragen) »ein Unterschied bzw. eine Verschiedenheit (und insofern auch eine Unstimmigkeit) bezeichnet, die aus einem Vergleich bzw. einer Unterscheidung resultiert und nur darauf sich bezieht« (Ricken & Balzer 2007, S. 57; s. hierzu auch Muck 1972). Der Verschiedenheit kommt deshalb zunächst kein klassifikatorischer Status zu, »insofern man nur anderes bezüglich einer – gemeinsam unterstellten – Eigenschaft, nicht aber schlechthin verschieden sein kann« (ebd.). Diese Bedeutung einer relativen Verschiedenheit innerhalb einer vor- bzw. übergeordneten Einheit und Gleichheit kam dem Differenzbegriff bis in die 1970er Jahre zu.

Für die Bedeutungsverschiebung und -erweiterung, durch die ›Differenz‹ als eigenständiger Denk- und Theoriebegriff fokussiert wird, ist aufschlussreich, in welchen Begriffsrelationen der Begriff verwendet wird: »Offensichtlich ist zunächst, dass er sich längst aus der einfachen Entgegensetzung von Gleichheit und Verschiedenheit, von Identität und Differenz, gelöst hat und nicht mehr nur mit den Fragen des Einen und Vielen wie des Allgemeinen und Besonderen verknüpft ist; insofern hat er sich auch aus seiner traditionellen Position als Begriff des ›Unwesentlichen‹ – gegenüber dem ›Wesentlichen‹ als dem Einen oder Allgemeinen – entfernt und umfasst daher sowohl Probleme der Zugehörigkeit, Nichtzugehörigkeit und Mehrfachzugehörigkeit als auch der Abweichung, Nichtpassung und Brüchigkeit« (Ricken & Balzer 2007, S. 57). Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Einheits- und Allgemeinheitsvorstellungen nicht mehr als gleichsam ›naturgegeben‹ und insofern übergeordnet angesehen werden, sondern ebenfalls als sozial bzw. gesellschaftlich hergestellt, »so dass dann auch zwischen Norm, Normierung bzw. Normation und Normalisierung (vgl. Foucault 2004, S. 98) unterschieden werden muss« (ebd.). Der Differenzbegriff gerät damit in die semantische Nähe von Singularität und Inkommensurabilität und markiert damit inzwischen in gewisser Weise ein Besonderes, zu dem es kein Allgemeines mehr gibt, was Ricken und Balzer als radikale Differenz bezeichnen.

Es lässt sich festhalten, dass – durch die beschriebene Bedeutungsverschiebung und -erweiterung – »mit ›Differenz‹ nicht bloß eine relative, d. h. eine auf ein Gemeinsames bezogene Verschiedenheit, sondern zunehmend auch eine radikal gedachte Unterschiedenheit und Singularität bezeichnet, die durch keinen übergreifenden Kontext bzw. kein einheitliches Fundament (mehr) zusammengehalten wird und so die klassische Frage nach dem Verhältnis des Einen und des Vielen, des Allgemeinen und des Besonderen insgesamt aufbricht« (Ricken & Balzer 2007, S. 57). Eine Bedeutungserweiterung, die zwischen relativer und radikaler Differenz zu unterscheiden vermag, situiert Differenz demnach sowohl innerhalb als auch außerhalb des Denkens in Gegensätzen bzw. des bipolaren Denkens (Kimmerle 2000). Diese Erkenntnis bildet auch die theoretische Grundlage der kritischen Analyse von Prozessen des ›Othering‹ (Hall 2004), auf die im vierten Kapitel näher eingegangen wird.

2.2       Ansätze des philosophischen und sozialtheoretischen Differenzdenkens

Für die Etablierung einer zwischen relativer und radikaler Differenz oszillierenden Differenztheorie sind verschiedene philosophische und sozialtheoretische Denktraditionen bedeutsam.

Systematisch unerlässlich für die philosophische Problemjustierung ist bis heute die von Heidegger geprägte Denkfigur der ›ontologischen Differenz‹. Mit ihr bezeichnet Heidegger (1929) den Unterschied von Sein und Seiendem als konstitutiven Verweisungszusammenhang beider: »Da ein jedes Seiendes immer als ›Seiendes des Seins‹ und das Sein immer als ›Sein des Seienden‹ … gedacht werden muss, ist deren … dichotome Aufspaltung in Sein und Seiendes irreführend, insofern es die Differenz selbst gerade ungedacht lässt« (Ricken & Balzer 2007, S. 59). Soll die ›Differenz als Differenz‹ in den Blick genommen werden, dann geht es darum, »deren Charakter als ›Nicht‹ … zu verstehen und als entbergend-verbergendes ›Hineingehaltensein‹ … des einen in das andere zu bedenken« (ebd.). Wie die ›ontologische Differenz‹ zu denken ist, zeigt Heidegger in ›Identität und Differenz‹ (1957). Diese Schrift wird Kimmerle zufolge zum »Gründungsdokument des neuen Denkens der Differenz« (2000, S. 28), das sich als ›nachmetaphysisches‹ Denken versteht.

Die poststrukturalistischen Arbeiten Derridas lassen sich als Radikalisierung und Dynamisierung der bei Heidegger bedachten Differenzproblematik interpretieren: De Saussures Strukturalismus basiert auf der zentralen These, dass sprachliche Zeichen nicht in ihrem Verweis auf Wirklichkeit, sondern im Zusammenhang mit anderen Zeichen Sinn ergeben. Ihre Bedeutung erhalten sprachliche Zeichen, Signifikanten genannt, nicht aus dem Bezug zu dem von ihnen Bezeichneten (Signifikat), sondern aus der Differentialität der Zeichen selbst. Derrida entwickelt auf dieser Grundlage mithilfe des von ihm eingeführten Neologismus ›différance‹ die Grundfigur der Dekonstruktion. Der Neologismus ›différance‹ markiert nicht nur jene mit ›différence‹ bezeichnete wechselseitige Verweisung der Zeichen, »sondern trägt in diese – sprachlich unhörbar – ein räumlich-zeitliches Moment der Verschiebung wie des Aufschubs ein, so dass sich das System sprachlicher Differenzen als ein Spiel des permanenten Sich-Unterscheidens und Aufeinander-Verweisens verstehen lässt, in dem das Bezeichnete nicht nur permanent verschoben (Verräumlichung), sondern auch dessen Präsenz immer wieder aufgehoben wird (Temporisation)…« (ebd.). ›Dekonstruktion‹ meint zunächst – hermeneutisch – eine Praxis der Textlektüre, die der Unmöglichkeit einer eindeutigen Bestimmbarkeit und Begrenzbarkeit der sprachlichen Zeichnen Rechnung zu tragen versucht. Als (Handlungs-)Praxis bezeichnet ›De-Konstruktion‹ hingegen eine permanente ethisch-politische Arbeit, die nicht nur auf Gerechtigkeit als immer ausstehende, d. h. ›kommende Gerechtigkeit‹ abzielt, sondern bereits selbst die Gerechtigkeit zur Anwendung bringt.

Eng mit dem poststrukturalistischen Denken verknüpft und für die Entfaltung des differenztheoretischen Denkens bedeutsam sind ferner die unterschiedlichen Überlegungen zur Differenz des Selbst bzw. des Subjekts oder der Identität. »Nicht nur, weil sie die fundierungstheoretische Kritik aufgreifen und sich auf die Figur des autonomen, mit sich selbst (unmittelbar) vertrauten und über sich verfügenden Subjekts beziehen; sondern auch, weil sie darin das Selbst als ein offenes Geschehen der Differenz auslegen – und damit als ein Verhältnis zu sich markieren, das sich weder schließen noch vereindeutigen lässt, weil es auf andere konstitutiv bezogen und verwiesen ist« (Ricken & Balzer 2007, S. 60). Hierzu zählen sowohl Meads Einsicht, dass sich das Selbst zuallererst vom anderen her begreift und sich insofern immer auch entzogen bleibt, als auch Lacans psychoanalytische Überlegungen zum ›imaginären Selbst‹, das sich im ›Selbsterkennen‹ notwendigerweise ›verkennt‹ und dieser Differenzstruktur nicht entkommen kann (s. auch Koller 2012). Die Folgerungen, die aus diesem unauflösbaren Ineinander von Selbstbezug und Bezug auf Andere zu ziehen sind, sind weitreichend, stellen sie doch den traditionellen Subjektbegriff radikal infrage, »insofern das Subjekt sich zwar immer sowohl gegeben als auch aufgegeben ist, darin sich aber dauernd entzogen bleibt – und so zu Fundierungszwecken sich nicht eignet…« (Ricken & Balzer 2007, S. 60). Koller (2012) zufolge kommt diesen Erkenntnissen auch eine konstitutive Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu.