Vorwort

Prävention bewegt sich in einem Spannungsfeld. Einerseits werden in die Möglichkeit der Krankheitsvorbeugung hohe Erwartungen gesetzt, andererseits gibt es aber auch große Befürchtungen. Die Programme zur Vorbeugung bei Essstörungen, die in diesem Buch vorgestellt werden, finden an Schulen ergänzend zum normalen Unterricht statt: pro Programm jeweils neunmal 1,5 Stunden. Kann in so kurzer Zeit überhaupt eine Beeinflussung derart grundlegender Betätigungen wie des Ess- und Bewegungsverhaltens erreicht werden? Ja, sagen die Auswertungen unserer wissenschaftlichen Begleitstudien. Die Programme können ein wichtiger erster Anstoß sein, um riskante Entwicklungen bei Mädchen und Jungen zu erkennen und – falls nötig – gegenzusteuern. Trotzdem fürchten manche Eltern und Lehrer, dass das Ansprechen von Problemen diese erst erzeugt. Eine Mutter bemerkte einmal auf einem der Informationsabende, die wir an unseren Projektschulen vor dem Start der Programme durchführen: „Meine Tochter interessiert sich nicht für ihre Figur oder ihren Körper. Die isst, was ihr schmeckt und interessiert sich für Pferde.“ Vielleicht hat sie damit Recht. Wahrscheinlich ist dies aber nicht, denn unsere Auswertungen der Fragebogen, die die Mädchen und Jungen anonym ausfüllten, zeigen: Figur, Gewicht, Aussehen und alles, was damit an Unsicherheiten, Hänseleien, Ängsten, aber auch Anerkennung und Bewunderung einhergeht, sind vor allem für Mädchen mit dem Beginn der Pubertät Schulhofthema Nummer eins.

Beim Thema „Essstörungen“ treffen gleich mehrere Probleme aufeinander, die für viele Jugendliche heutzutage typisch für die Entwicklungsphase der Pubertät sind. An erster Stelle ist dies die wachsende Bedeutung der äußeren Erscheinung für Ansehen, Selbstwert, Attraktivität und Erfolg. Wer gut aussieht und dem herrschenden Schlankheitsideal entspricht, hat es leichter – privat und im Beruf –, das zeigen wissenschaftliche Studien, aber noch mehr ist das eine zentrale Botschaft vieler Massenmedien, wie Fernsehen (siehe Casting-Shows) oder Modezeitschriften. Hinzu kommt die allgemeine Unsicherheit vor allem zu Beginn der Pubertät: Wie wird sich mein Körper entwickeln? Wie kann ich schlank bleiben oder werden? Gehöre ich zu den (vermeintlich) attraktiven, begehrten Mädchen, denen die Jungs nachschauen, oder werde ich wie meine Mutti? Der Druck von außen, das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, ist zur Zeit für Mädchen noch größer als für Jungen. Dies könnte ein Grund sein, warum Essstörungen wie Magersucht (Anorexia Nervosa) oder Ess-Brech-Sucht (Bulimia Nervosa) bei Mädchen ca. zehnmal häufiger sind als bei Jungen.

Kommen dann noch Probleme mit den Eltern oder eine enttäuschte Liebe hinzu, sehen viele Jugendliche unbewusst in der immer stärkeren Fixierung auf den eigenen Körper und das Essverhalten einen scheinbaren Ausweg, eine Lösung der übermächtig wirkenden Probleme. Das Essen wird dann, wie im Falle der Magersucht, immer rigider eingeschränkt, verbunden mit der Hoffnung auf vollständige Kontrolle über den eigenen Körper. Noch häufiger wird die Lösung im „Gegenteil“ gesucht: Regelrechte „Fressanfälle“ mit vollständigem Kontrollverlust, wie bei der Bulimie, verschaffen durch das darauf folgende „Auskotzen“ wenigstens kurzzeitig ein Gefühl der Erleichterung. Ein betroffenes Mädchen berichtet in einer Fernsehreportage: „Kurzfristig hatte ich das Gefühl, mit dem Essen auch meine Probleme auszukotzen. Aber natürlich kamen sie alle wieder und erschienen dann noch unlösbarer als zuvor. Dafür schämte ich mich dann sehr.“

Wichtigstes Ziel der vorgestellten Programme ist es, diese Ausweglosigkeit des „Lösungsversuches Essstörung“ klar zu machen und Alternativen aufzuzeigen, bevor Schuld- und Schamgefühle dazu führen, dass sich das Mädchen oder der Junge zurückzieht und „verschließt“. Die Alternativen sind ein besserer Zugang zu den eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen und vor allem eine Hinwendung zum Miteinander bei der Lösungssuche. Die Jugendlichen, Eltern und Lehrer haben mit der Durchführung der Programme an den Schulen die Möglichkeit, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu schaffen, um drastische Fehlentwicklungen abzuwenden. Selbstverständlich sind die Programme keine Selbstläufer. Unsere Erfahrungen der letzten Jahre mit mehreren Tausend beteiligten Jugendlichen und weit über Hundert engagierten Lehrerinnen und Lehrern zeigen aber, dass sich das Engagement lohnt: Die Mädchen und Jungen fühlen sich mit ihren Problemen ernst genommen, Lehrer werden zu echten Bezugspersonen und Eltern müssen nicht mehr hilflos Besorgnis erregenden Entwicklungen zusehen, sondern können rechtzeitig und aktiv mithelfen, Essstörungen und krankhaftem Übergewicht vorzubeugen.

Mit dem vorliegenden Buch habe ich mir zwei Ziele gesetzt: Zum einen möchte ich anschaulich und kompakt, aber auch wissenschaftlich fundiert über Ausprägungen und Ausmaß von Essstörungen – jenseits medialer Sensationssucht – informieren. Zum anderen liegt mir im Hauptteil des Buches ein tieferer Einblick in unsere Präventionsprogramme am Herzen, als dies in Fachartikeln möglich ist. Die Programme führen wir seit 2004 in Kooperation mit dem Thüringer Kultusministerium (TKM) an mittlerweile über 50 Thüringer Schulen durch. Daher gilt mein Dank an erster Stelle den vielen begeisterungsfähigen Mädchen, Jungen, Lehrerinnen, Lehrern und Eltern. Auf den Weg gebracht haben die Programme die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums, Ministerialrat Johann Fackelmann, Marion Schütt, Thomas Hess und Torsten Holz, sowie Dr. Sabine Hild vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM). Die Initiative zu diesem Projekt kam von Prof. Dr. Bernhard Strauß, dem Direktor des Institutes für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Uniklinikum Jena. Unverzichtbar für die methodisch-didaktische Beratung und Durchführung der Fortbildungen waren und sind Jutta Beinersdorf und Margrit Lüdecke.

Grundlegend für die Programmentwicklung und wissenschaftliche Begleitung (Evaluation) waren die Qualifikationsarbeiten von Carolin Schilke, Katja Aschenbrenner, Sophia Hafermann, Andrea Joseph, Petra Ziegler, Esther Gerhard, Melanie Sowa und Jana Fischer. Derzeit wird die Programmevaluation und -verbreitung durch Forschungsgelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF: 01EL0602) unterstützt. Mein besonderer Dank gilt den im BMBF-Projekt und per Landesgraduiertenstipendium mit scharfem Verstand und viel Herzblut engagierten drei Diplom-Psychologinnen Bianca Bormann, Christina Brix und Melanie Sowa. Für die Initiative zu diesem Buch und den Feinschliff bedanke ich mich bei den Verlags-Lektorinnen Alina Piasny und Ulrike Merkel.

Schließlich möchte ich noch eine oft unterschätzte Botschaft der Auswertung unserer Evaluationsfragebogen vorwegnehmen: Prävention muss nicht anstrengend sein oder „todernst“ betrieben werden – im Gegenteil: Je mehr Spaß die Mädchen und Jungen im Projektunterricht hatten, desto größer war der Erfolg! Dies ist ein Vorteil von Prävention gegenüber Behandlung, der nicht genug betont werden kann.

Daher wünsche ich allen Beteiligten mit den hier vorgestellten Programmen nicht nur weiterhin Erfolg, sondern auch maximalen Spaß!

Jena, Frühjahr 2008
Uwe Berger

1 Essstörungen: von der „Modekrankheit“ zur Epidemie?

Essstörungen sind seit einigen Jahren in den Massenmedien allgegenwärtig. Regelmäßig „zieren“ magersüchtige Models oder Filmstars die Titelblätter, insbesondere der Boulevard-Presse, oder sind Gegenstand mehr oder weniger reißerischer TV-Sendungen. Dadurch sind Essstörungen nicht mehr das, was sie einmal waren: heimliche, unbekannte und daher oft unerkannte Erkrankungen. Betroffene finden heute schneller Hilfe, Angehörige erkennen frühzeitig, wenn etwas mit ihren Kindern, Freunden, Verwandten nicht stimmt. Doch trifft das wirklich zu? Beschreibt das Bild in den Medien eine veränderte Wirklichkeit? Eher nein. Denn erstens leiden immer noch viele Betroffene unerkannt und heimlich unter „ihrer“ Essstörung und finden oft erst nach Jahren die richtige Hilfe; zweitens sind viele Medienmacher nach unserer eigenen Erfahrung mehr an schockierenden Bildern als an sachlicher Darstellung und nachhaltiger Lösung der Probleme interessiert. Darum möchte ich im ersten Kapitel unter den folgenden Überschriften grundlegende Fragen zum Thema „Essstörungen“ so beantworten, wie sie sich aus Sicht der wissenschaftlichen Forschung, aber auch vor dem Hintergrund der Erfahrung mit unseren Projekten an den Schulen darstellen: Was sind Essstörungen? Wie entstehen Essstörungen? Wie verbreitet sind Essstörungen „wirklich“? Dabei beschränke ich mich auf Aspekte, die für die Prävention von Essstörungen besonders wichtig sind. Für genauere Informationen empfehle ich die übersichtlichen und umfassenden neueren Darstellungen bei Reich, Götz-Kühne und Killius (2004, deutschsprachiger Ratgeber), Jacobi, Paul und Thiel (2004, deutschsprachige wissenschaftliche Abhandlung), Grilo (2006, englischsprachige wissenschaftliche Abhandlung) sowie, speziell zum Thema „Prävention von Essstörungen“, Levine und Smolak (2006, englischsprachig).

1.1 Zwei Joghurts statt einem: Was sind Essstörungen?

Essstörungen sind ein Phänomen innerhalb der Gesellschaften, die einen Nahrungsüberschuss produzieren. Trotzdem zählt gerade die überschüssige Energieaufnahme (im Verhältnis zum Energieverbrauch durch Bewegung), aus der schließlich Übergewicht resultiert, nicht zu den Essstörungen im klinischen Sinne. Das liegt daran, dass auch Menschen mit medizinisch bedenklichem Übergewicht (Adipositas) nicht notwendigerweise unter ihren überzähligen Pfunden leiden. Dasselbe gilt für Menschen mit besonderen Ernährungsgewohnheiten, sei es aus Gründen körperlicher Unverträglichkeit oder persönlichen Geschmacks. Bevor in diesem Kapitel die Essstörungen im engeren Sinne beschrieben werden (Magersucht, Bulimie und Binge-Eating), möchte ich auf die für die Gesundheitsförderung und Prävention wichtigen Phänomene des starken Übergewichts (Adipositas) und des Bewegungsmangels eingehen (ausführlich hierzu vgl. Graf, Dordel & Reinehr, 2007; Laessle et al., 2001; Warschburger, Petermann & Fromme, 2005). Für einen Überblick zum Thema „Übergewicht und Adipositas im Kinder- und Jugendalter“ siehe Bjarnason-Wehrens und Dordel (2005), zur Prävention von Adipositas Hilbert und Rief (2006). Jede dieser Gesundheitsstörungen bzw. Erkrankungen wird zunächst anhand eines Fallbeispiels eingeführt und dann, zusätzlich zur Beschreibung der wichtigsten Aspekte, in einer Übersicht zu „Diagnosekriterien“, „Fakten und Zahlen“ sowie „Besonderheiten“ zusammenfassend skizziert.

1.1.1 Adipositas (starkes Übergewicht, veralteter Begriff: Fettsucht)

Adipositas ersten Grades ist gegeben, wenn der sog. Body Mass Index (BMI) eines Erwachsenen größer ist als 30.

Der BMI wird berechnet als Verhältnis von Größe und Gewicht.

Formel: Gewicht in Kilogramm geteilt durch Größe in Metern zum Quadrat

Der BMI ermöglicht es, Erwachsene unterschiedlicher Statur zu vergleichen. Bei Kindern muss der BMI noch mit einer Altersnormkurve (sog. Perzentilkurve) verglichen werden. Ein Kind gilt dann als übergewichtig, wenn sein BMI größer ist als der BMI von 90 % seiner Altersgruppe. Ist der BMI größer als der von 97 % der Altersgruppe, gilt das Kind als adipös (siehe Tabelle 1.1).

Mit dem Vorliegen von Adipositas steigt das Risiko für Augen-, Gelenk- und Rückenerkrankungen und vor allem für das sog. Metabolische Syndrom, der Kombination aus Diabetes Typ II, Bluthochdruck sowie Herzkreislauferkrankungen (Pott, 2007). Im folgenden Fallbeispiel wird eine typische „Übergewichtskarriere“ geschildert, deren Dramatik die Notwendigkeit verdeutlicht, einer solchen Entwicklung entgegenzusteuern.

Tab. 1.1: Altersabhängige Normwerte des Body Mass Index (BMI) bei Mädchen und Jungen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren nach Kromeyer-Hauschild et al. (2001)

Fallbeispiel Adipositas

Anna ist elf Jahre alt. Sie war bis vor kurzem ein fröhliches, manchmal etwas vorlautes Mädchen. Bei einer Größe von 1,52 m wiegt sie schon 60 kg. Dies entspricht einem BMI von 26 und damit medizinisch bedenklichem Übergewicht (= Adipositas, siehe Tabelle 1.1). In der Klasse wird sie nur „Tonne“ oder „Brummer“ gerufen, was sie aber bisher scheinbar mit Humor ertrug. Neulich verliebte sie sich in einen Mitschüler und schickte ihm heimlich einen Liebesbrief. Am nächsten Tag in der großen Pause musste sie dann miterleben, wie ihr Brief unter den Jungen der Klasse herumgereicht wurde und sich alle „kaputtlachten“. Seither geht sie nach der Schule immer schnell alleine nach Hause, kauft sich unterwegs Chips und Schokolade, schließt sich dann mit den Süßigkeiten in ihrem Zimmer ein und sieht den ganzen Nachmittag fern. Nur zum Abendessen kommt sie kurz raus. Ihre Eltern akzeptieren, dass sie dann viel zu große Portionen isst, weil sie fürchten, dass Anna ganz „dichtmacht“, wenn sie ihr das Essen oder Fernsehen verbieten.

Wenngleich Adipositas keine Essstörung im klinischen Sinn ist, kommt der Prävention von Übergewicht innerhalb des umfassenden Versuchs der Gesundheitsförderung im Bereich des Ess- und Bewegungsverhaltens eine entscheidende Bedeutung zu (siehe z. B. Hilbert & Rief, 2006). Dies hat vor allem zwei Gründe. Erstens steigt in der Regel das Gewicht im Verlauf der Lebensspanne immer weiter (Fachbegriff: Progredienz). Dieser Effekt wird sogar häufig bei dem Versuch der Gegensteuerung über zeitweilige Nahrungseinschränkung (Diät) noch verstärkt. Daher ist es wichtig, rechtzeitig eine dauerhafte Umstellung auf gesündere Ernährung und vor allem ein deutlich gesteigertes Pensum an Alltagsbewegung anzusteuern. Zweitens sind die medizinischen Auswirkungen von Adipositas umso dramatischer, je früher das Übergewicht vorliegt. Hier sind besonders die Kinder stark übergewichtiger Eltern gefährdet, da diese häufig ihr eigenes Ernährungs- und Bewegungsverhalten an die Kinder weitergeben. Der oft geäußerte Einwand einer gewissen genetischen Bedingtheit von Adipositas spielt hierbei keine Rolle, denn im Gegenteil: Gerade bei Vorhandensein einer ungünstigen genetischen Veranlagung ist die aktive Beeinflussung und Veränderung des ungesunden Verhaltens umso wichtiger (siehe auch Kapitel 4).

Der im Fallbeispiel geschilderte Teufelskreis aus Verletzung (Gehänselt-Werden), sozialem Rückzug und Frustessen mit der Folge von weiterer Gewichtszunahme ist – mit Variationen – typisch für die Entwicklung einer „Übergewichtskarriere“. Dieser Kreislauf kann nur zerschlagen werden durch eine Minimierung der Verletzungen (Förderung von Empathie und Bewusstsein in der Klasse, z. B. durch Rollenspiele, vgl. Kapitel 3, 4 und 5) und eine Aktivierung und „Immunisierung“ der Betroffenen. Die Umkehrung der stetigen Gewichtszunahme erfordert eine Ernährungs- und Bewegungsumstellung im Alltag sowie eine soziale (Re-)Integration. Auch hier gilt wieder: Je früher die problematischen Bewältigungsmechanismen erkannt werden, desto größer ist die Chance, der Störungsentwicklung entgegenzuwirken. Oftmals wird Adipositas nicht als Krankheit ernst genommen, sondern lediglich als Normabweichung des Gewichts betrachtet. Dabei wird jedoch die Funktionalität und Ursache der Gewichtszunahme und vor allem das Leiden der Betroffenen übersehen. Wenn Hilfe angeboten wird, dann meist über gut gemeinte Ratschläge zur Einschränkung oft gerade der Nahrungsmittel, die die Betroffenen zur Kompensation ihrer Kränkungen zu sich nehmen (wie Süßigkeiten). Verständlicherweise würde dann z. B. Anna mit wenig Begeisterung solchen Ratschlägen folgen, weil diese Einschränkungen ihr Leiden nur noch vergrößern. Nicht nur aus diesem Grund funktioniert Abnehmen durch gezügeltes Essen nicht: Auch der bekannte Jo-Jo-Effekt führt eher zu einer Gewichtszu- statt -abnahme. Dies liegt, wie bei den sog. Light-Produkten, an der Flexibilität unseres Körpers, sich schnell auf neue Gegebenheiten einzustellen. In diesem Fall ist es die Nahrungsverknappung, auf die er mit Sparsamkeit reagiert: Er minimiert seinen Energieverbrauch und maximiert die Energieausbeute aus der Nahrung. Dem kann nur mit einer Steigerung des Bewegungsverhaltens entgegengewirkt werden. Ein erster Schritt bei stark übergewichtigen Kindern und Jugendlichen kann ein Aufenthalt in einer Spezialklinik sein, da unter „Leidensgenossen“ neue, positive Erfahrungen gefahrloser möglich sind.

Um die Entwicklung und die Folgen der Adipositas besser verstehen, aber auch um geeignete Maßnahmen der Prävention und Behandlung ergreifen zu können, ist die Kenntnis der möglichen Funktionalität des starken Übergewichts wichtig. Mit Funktionalität ist hier die Frage gemeint, welche Rolle ein Symptom im Denken, Fühlen und Handeln, also der Psyche der Betroffenen spielt.

Daran schließen sich die Fragen an, welche Vor- und Nachteile das Symptom hat und wodurch es zur Erreichung eines weniger krankhaften (im Idealfall gesunden) „Funktionierens“ der Psyche ersetzt werden könnte. Diese Aspekte sind in Tabelle 1.2 in einer systematischen Übersicht dargestellt.

Tab. 1.2: Mögliche Funktionalität von starkem Übergewicht (Adipositas)

Symptom

Funktion

Vorteil

Nachteil

Alternative

Hohes Körpergewicht

Gefühlspanzer und Ausdruck von (körperlicher) Stärke

„Fester Stand“, Unangreif-
barkeit

Hänseln, Abwertung

Mehr Bewegung, Abwehr-
strategien
, „negative“ Energiebilanz

Sozialer Rückzug

Vermeidung von Abwertung und Hänseln

Erhaltung des Selbstwertgefühls

Rückzug, Vereinsamung

Selbstbewusst-
sein
stärken

Geringes Selbstwertgefühl

Konfrontation vermeiden

Kein „lohnendes“ Angriffsziel mehr

Soziale Ausgrenzung

Konfrontation üben

Körperliche Erkrankungen (z. B. Metabolisches Syndrom)

„(Er-)Tragen“ des zu hohen Gewichts

Schonung, um Verschlimmerung zu vermeiden

Steigendes Gewicht wegen Bewegungsmangel und „positiver“ Energiebilanz

Langfristige Ernährungs-
umstellung
mit Steigerung der Alltagsbewegung

Heißhungeranfälle (= subjektive „Fressanfälle“)*

Befriedigung

Spannungsabfuhr („Sich-gehen-Lassen“)

Kontrollverlust, Scham, Schuldgefühle

„Lustgewinn“ aus Bewegung, Unternehmungen ...

Leiden unter „Dicksein“

Abgabe von Eigenverant-
wortung

Aufschub anderer Probleme

Gefühl der Ohnmacht

Erhöhung des Körperselbstwerts

Diäten (ständig gezügeltes Essen)

Kontrolle über Nahrungsauf-
nahme

Gewichts-
kontrolle

Jo-Jo-Effekt und Verlust von Hunger- und Sättigungsgefühl

Langfristig „gesunde“ Ernährung ohne Verzicht

* Ob „Fressanfälle“ objektiv oder subjektiv sind, hängt von Menge, Regelmäßigkeit und erlebtem Kontrollverlust ab und kann nur von einer Fachkraft im Rahmen eines standardisierten diagnostischen Interviews bestimmt werden.

Adipositas in Kürze
Diagnosekriterien
Zahlen und Fakten
Besonderheiten

1.1.2 Bewegungsmangel

In engem Zusammenhang mit Übergewicht steht Bewegungsmangel. Während viele Jahrzehnte hauptsächlich die Ernährung für das Gewicht verantwortlich gemacht wurde, steht heute sowohl bei der Vorbeugung als auch bei der Behandlung, insbesondere des krankhaften Übergewichts bei Kindern, die körperliche Bewegung im Mittelpunkt. Die größere Bedeutung der Bewegung gegenüber der Ernährung für die Gewichtszunahme im Verlauf der Pubertät konnte in einer internationalen Studie mit 2 300 Mädchen nachgewiesen werden, die in einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Fachzeitschriften, The Lancet, 2005 veröffentlicht wurde. Die Autoren (Kimm et al.) begleiteten die Mädchen zehn Jahre lang (ab dem Alter von zehn bis zum Alter von 20 Jahren) und stellten fest, dass Mädchen, die sich mehr bewegten, um bis zu 9 kg weniger wogen als solche mit weniger Bewegung. Dabei nahm die körperliche Aktivität der Mädchen über die Jahre drastisch ab, während sich die tägliche Kalorienzufuhr nicht merklich änderte.

Um Übergewicht zu vermeiden, ist daher nicht die Einschränkung der Nahrungsmenge, sondern die Steigerung der Bewegung entscheidend. Das Verhältnis von Energieverbrauch und Energieaufnahme ergibt die sog. Energiebilanz. Ziel jeder Adipositasvorbeugung und -therapie ist das Erreichen einer negativen Energiebilanz.

Negative Energiebilanz = mehr Energieverbrauch (durch Erhöhung des Grundumsatzes des Körpers und durch mehr Bewegung) als Energieaufnahme (durch Nahrung)

Eine positive Energiebilanz führt zwar nicht bei allen Menschen zu einer Gewichtszunahme, ist aber eine notwendige Voraussetzung dafür. Umgekehrt: Ohne eine negative Energiebilanz ist eine Gewichtsabnahme nicht möglich. Wenn Sie sich wundern, dass Sie trotz strenger Diät oder gar Fasten kein Gewicht verlieren, liegt das daran, dass Ihr Körper angesichts der Nahrungsknappheit ein Notprogramm einschaltet. Dies bedeutet, er fährt seinen unbedingt notwendigen Energiebedarf (den sog. Grundumsatz) herunter – im Extremfall bis auf 700 Kalorien am Tag! (Götz-Kühne, 2007) Führen Sie ihm nach der Diät wieder eine normale Nahrungsmenge zu, werden erst einmal Fettreserven angelegt, um für die nächste Hungersnot gerüstet zu sein. Aus diesen biologischen Mechanismen können wir lernen, dass eine dauerhafte Gewichtsabnahme oder das Halten eines bestimmten Gewichts nur möglich ist durch eine ausgewogene Ernährung (bei der kein Signal „Achtung Nahrungsmangel!“ erfolgt) in Kombination mit ausreichend Bewegung (zur Erhöhung des Grundumsatzes und des Gesamtenergiebedarfs). Im folgenden Fallbeispiel ist dargestellt, welche Konsequenzen mangelnde Bewegung gerade bei Kindern haben kann.

Fallbeispiel

Kevin ist mit seinen zwölf Jahren ein aufgeweckter, neugieriger, manchmal etwas „anstrengender“ Junge. Bis vor Kurzem interessierte er sich sehr für Sport, vor allem Formel 1 und Fußball. Leider spielte er nicht so gut, wie es sein Trainer gern gehabt hätte. Außerdem war er oft aufbrausend und foulte seine Mitspieler aus Wut über ein Gegentor. Deshalb saß er meistens auf der Ersatzbank. Dort beschäftigte er sich mit seinem Gameboy, der auch sonst sein Lieblingsspielzeug ist. Nach der Schule muss er oft lange Hausaufgaben machen, weil ihm das Lernen schwer fällt. Oft darf er nachmittags auch nicht mit den anderen Jungs auf den Bolzplatz, weil seine Eltern mit seinen Noten unzufrieden sind und weil aus ihm mal etwas „Besseres“ werden soll. Weil er bei den Hausaufgaben immer so zappelig und unkonzentriert ist, bekommt er seit einem halben Jahr ein Medikament (Ritalin®). Seither kann er besser still sitzen, wirkt aber immer öfter traurig und mutlos. Weil er sich weniger bewegt als früher, hat er 5 kg zugenommen. Jetzt träumt er davon, dass ihm seine Eltern erlauben, Cart-Rennen zu fahren, denn da kann man was erleben, ohne aus der Puste zu kommen.

Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist der Mensch von Natur aus mit einem ausgeprägten Bewegungsdrang ausgestattet, der unseren Körper in die Lage versetzt, jedes andere Landsäugetier zu Tode zu hetzen. Aber auch ohne solche Verfolgungsjagden finden wir durch neugieriges Suchen und Ausprobieren in Bewegung unseren Platz in der Welt und entwickeln uns weiter. Es ist also nicht übertrieben zu sagen, dass Leben Bewegung ist. Bewegung kostet aber Energie – und die stand uns nicht zu allen Zeiten so reichlich in Form von Nahrung zur Verfügung wie heute. Daher haben wir auch ein eingebautes Sparprogramm. Dieses äußert sich auf der psychischen Seite als „Bequemlichkeit“, nach dem Motto: „Besser schlecht gefahren, als gut gelaufen“. Auf der körperlichen Seite spürt dieses Sparprogramm jeder sehr schnell, der schon einmal versucht hat, sich körperliches Durchhaltevermögen (Kondition) oder Muskeln anzutrainieren: Beides wird bei nachlassendem Training (leider) wieder sehr schnell abgebaut, um den Energieverbrauch so niedrig wie möglich zu halten. Bewegungsdrang und Bequemlichkeit führen also einen ständigen Kampf in uns, den wir – wenn wir uns das leisten können – gerne zugunsten der Bequemlichkeit entscheiden. Dabei müssten wir heute ein Verbrauchsprogramm statt ein Sparprogramm einschalten, weil wir nicht nur Nahrung im Überfluss, sondern auch Lebensmittel mit einer höheren „Energiedichte“ (vor allem mit mehr Fett- und Zuckeranteilen) haben als früher und weil wir uns immer weniger zum Nahrungserwerb bewegen müssen. So verbraucht heute jeder von uns durchschnittlich 500 Kalorien am Tag weniger als noch vor Hundert Jahren.

Abgesehen von einer stetigen Gewichtszunahme bei uns selbst wirkt sich unsere Vorliebe für bequeme „Tätigkeiten“ aber auf Kinder doppelt negativ aus: Diese nehmen ebenfalls immer mehr zu, beeinflusst von unserer Vorbildfunktion in Richtung Trägheit. Zudem werden Süßigkeiten oft zur Belohnung eingesetzt und gleichzeitig können heutzutage kalorienreiche Nahrungsmittel auch mit relativ wenig Taschengeld in größeren Mengen gekauft werden. Trotzdem ist bei vielen Kindern der Bewegungsdrang sehr stark. Oft sind jedoch die Möglichkeiten, sich angemessen austoben zu können, sehr eingeschränkt. Hinzu kommt die zunehmend falsche Einschätzung vieler Eltern, welches Pensum an Bewegung für ein Kind „normal“ und angemessen ist. Eigentlich könnte hier die einfache Faustregel „je mehr, desto besser“ angewandt werden. Wichtig ist auf jeden Fall tägliche, am besten mehrstündige Bewegung und nicht wie bei Kevin wöchentlicher „Sport“ auf der Ersatzbank. Bewegen sich Kinder zu wenig, können Aufmerksamkeits- oder Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) auftreten (nähere Informationen hierzu siehe z. B. Internet-Portal „MedizInfo®“ unter www.medizinfo.de/kinder/probleme/ads/medikamente.shtml). Auch Depressionen, die ebenfalls bei Kindern in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten sind, stehen häufig in Zusammenhang mit Bewegungsmangel. Solche krankhaften Verhaltensauffälligkeiten sollten auf jeden Fall mit familien- und bewegungstherapeutischen Angeboten behandelt werden. Medikamente sind nur in Extremfällen zur Unterstützung dieser Behandlung notwendig. „Eine Behandlung mit Medikamenten ist in ein umfassendes Therapiekonzept einzubinden und stellt für sich genommen keine geeignete Behandlungsmethode dar“ (zitiert nach dem Eckpunktepapier der ADHS-Konsensuskonferenz im Bundesgesundheitsministerium 2002; kostenloser Download unter: www.bzga.de Broschüre „ADHS … Was bedeutet das?“). Bislang gibt es keine zuverlässigen Studien über die körperlichen, psychischen und geistigen Folgen der längerfristigen Einnahme von Psychopharmaka bei Kindern. Diese Warnung gilt insbesondere für Methylphenidat, dem Haupt-Wirkstoff in den gebräuchlichen Medikamenten zur Behandlung von ADHS. Dieser steht auf dem Betäubungsmittel-Index, ist also pharmakologisch eine Droge. Der Nachweis, dass die langjährige Einnahme eines solchen Medikaments nicht das Risiko für den Missbrauch anderer Drogen erhöht, trägt meines Erachtens nicht zur Entwarnung bei.

Um die Entwicklung und die Folgen von Bewegungsmangel besser verstehen zu können, aber auch um geeignete Maßnahmen der Prävention und Behandlung zu ergreifen, kann die Kenntnis der möglichen Funktionalität dieses Verhaltens wichtig sein. Diese Aspekte sind in Tabelle 1.3 in einer systematischen Übersicht dargestellt.

Tab. 1.3: Mögliche Funktionalität von Bewegungsmangel

Symptom

Funktion

Vorteil

Nachteil

Alternative

„Faulheit“, Bequemlichkeit

Energie-
einsparung

Überleben bei Nahrungsmangel

Gewichtszunahme bei Nahrungsüberangebot

Mehr Bewegung, „negative“ Energiebilanz

Sozialer Rückzug

Vermeidung von Abwertung und Hänseln

Erhaltung des Selbstwertgefühls

Vereinsamung

Selbst-
bewusstsein
stärken

„Nicht-Können“

Ausrede für „inneren Schweinehund“

Keine Gefahr zu scheitern

Keine Erfolgs-
erlebnisse

Langsames Üben

Hyperaktivität

Ausagieren des Bewegungs-
dranges
„im Kleinen“

Bewegungsdrang wird signalisiert

Innere Erregung, Unruhe

Angemessene Bewegungs-
angebote

Konzen-
trations-
schw
äche

Einstellung auf Bewegungs-
absicht

Bewegungsdrang wird Priorität eingeräumt

Dauernde Nichterfüllung führt zu An-
triebslosigkeit

Ausgleich zwischen Bewegungs- und Konzen-
trationsphasen

Traurigkeit, Depression

Rückzug nach innen

Immunisierung nach außen

Vereinsamung, Antriebslosig-
keit

Soziale Aktivierung

Substanz-
missbrauch

Ablenkung von Langeweile, Traurigkeit

Innere Erlebnisse oder Betäubung innerer Leere

Soziale Entfremdung; körperliche und psychische Schädigung

Erlebnisse durch gesteigerte körperliche Aktivität

Im Projekt TOPP (siehe Kapitel 4) werden nicht nur zahlreiche Möglichkeiten der Steigerung der Bewegung im Alltag ausprobiert, sondern auch der Erlangung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstwertgefühls bei Jungen besondere Bedeutung beigemessen. Auch bei Kevin gilt es, den Teufelskreis zu durchbrechen, der bei ihm durch das Ausgestoßen-Sein aus der Fußballmannschaft und den anschließenden sozialen Rückzug beginnt.

Bewegungsmangel in Kürze
Kriterien
Zahlen und Fakten
Besonderheiten

Starkes Übergewicht und Bewegungsmangel sind Ausdruck eines gestörten Ess- und Bewegungsverhaltens. Trotzdem gelten diese Phänomene heute fast schon als normal, weil sie den größten Teil der Bevölkerung betreffen. Nur in Extremfällen sollte dabei eine medizinische Behandlung angestrebt werden. Bei der Adipositas sind dies, ab einem BMI von 40, zunehmend chirurgische Eingriffe, wie Magenband- oder Magen-Bypass-Operationen (Fettabsaugung gilt nicht als Behandlung, sondern als rein ästhetische Maßnahme). Eindeutig krankhaft (pathologisch) ist das Essverhalten dann, wenn es mit einer lebensbedrohlichen Abmagerung oder regelmäßigen „Fressanfällen“ mit Kontrollverlust einhergeht. Hierbei handelt es sich um „Essstörungen“ im engeren Sinne.

Als „Essstörungen“ werden in der Medizin und Psychologie drei Erkrankungen bezeichnet, die zu den psychosomatischen Erkrankungen gehören: Magersucht (Anorexia Nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia Nervosa) und „Fressanfälle“ (Binge-Eating Disorder). Zu den körperlichen Auswirkungen dieser drei Störungsbilder treten definitionsgemäß psychosoziale Leidenszustände wie Kontrollverlust, starke Ängste, Schuld- und Schamgefühle hinzu. In der Realität lassen sich die drei Essstörungen oftmals nicht eindeutig voneinander trennen. Häufig zeigen sich bei den Betroffenen im Laufe mehrerer Jahre auch Übergänge zwischen verschiedenen Erscheinungsbildern. Daher werden nach Einschätzung des Münchener Therapiezentrums für Essstörungen (TCE) ca. 20 % Essstörungen vom nicht näher bezeichneten Typ diagnostiziert (Gerlinghoff & Backmund, 2000). In einer aktuellen Studie von Nutzinger und Andreas (2007) sind dies sogar 37 %. Von Essstörungen sind zehnmal mehr Mädchen als Jungen und überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene betroffen (siehe Kapitel 1.3). Grundlage für die Diagnose aller Essstörungen sind zwei Diagnosesysteme. Das erste ist eher innerhalb der Medizin gebräuchlich, das sog. ICD-10 (10. Auflage der International Classification of Diseases, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation, WHO bzw. Dilling, Mombour & Schmidt, 2005). Das zweite System wird hauptsächlich von Psychotherapeuten benutzt, weil dort psychische Störungen genauer beschrieben sind, das sog. DSM-IV (4. Revision des Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders, herausgegeben von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, APA, 2000 bzw. Saß et al., 2003). Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat beide Systeme in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zusammengefasst, die unter der Internet-Adresse www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/028-011.htm kostenlos heruntergeladen werden können. Zur Zeit werden von der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS) aktualisierte Leitlinien erarbeitet (siehe www.dgess.de)

1.1.3 Magersucht (Anorexia Nervosa)

Die bekannteste Essstörung ist die Magersucht. Dies liegt zum einen an der von außen guten Erkennbarkeit der Störung durch das „abgemagerte“ Erscheinungsbild. Zum anderen erschreckt diese Erkrankung aber auch durch ihre hohe Sterberate (Mortalität) und die vergleichsweise schlechten Behandlungsaussichten (vgl. Neumärker, 2000; Richard, 2005). So verstarben in einer viel zitierten wissenschaftlichen Studie nach 21 Jahren über 15 % der Patientinnen an den Folgen der Magersucht (Zipfel et al., 2000). Davon nahmen sich 17 % selbst das Leben. Trotz großer Bemühungen mit zum Teil langjährigen Klinikaufenthalten kann Magersucht nur in knapp der Hälfte der Fälle geheilt werden (Steinhausen, 2002). Circa ein Viertel der Erkrankungen nehmen einen chronischen Verlauf. Magersucht wird häufig auch als Pubertätsmagersucht bezeichnet. Dies liegt am sehr frühen Auftreten der Erkrankung. So finden sich die meisten Betroffenen in der Altergruppe der 15-jährigen Mädchen, wie im nachfolgenden Fallbeispiel beschrieben.

Fallbeispiel Magersucht

Kati ist 15 Jahre alt. Sie ist eine gute und fleißige Schülerin. Dafür muss sie sich aber auch sehr anstrengen. Besonders im Sport ist sie sehr ehrgeizig. Ihr Vater ist Abteilungsleiter in einem großen Betrieb. Er verdient gut, so dass sich die Familie ein kleines Reihenhaus und zwei Autos leisten kann. Aber Katis Vater kommt immer spät nach Hause, weil er viel arbeiten muss. Er ist nicht geizig, achtet jedoch sehr darauf, dass sein sauer verdientes Geld nicht für sinnlosen Quatsch wie Handy und Klamotten verschleudert wird. Kati hat eine jüngere Schwester, der alles ein bisschen leichter fällt und die schon viel mehr darf als Kati in ihrem Alter. Katis Mutter ist eine perfekte Hausfrau, die ihr Studium nach der Heirat und dem ersten Kind aufgegeben hat. Katis Mutter legt sehr viel Wert auf ein harmonisches und geordnetes Familienleben. Als Kati in die Pubertät kam, aß sie gerne Süßigkeiten und wurde öfter wegen ihres „Babyspecks“ gehänselt. Vor knapp zwei Jahren hat sie dann mit ihrer Mutter zusammen eine Diät gemacht. Anders als ihre Mutter wollte sie aber auch dann nicht mit der Diät aufhören, als sie schon viel dünner war als alle anderen Mädchen in ihrer Klasse. Kati ist jetzt 1,65 Meter groß und wiegt 41 kg. Dies entspricht einem BMI von 15 und damit starkem Untergewicht (siehe Tabelle 1.1). Sie isst jeden Tag nur zwei Scheiben Vollkornbrot mit jeweils 10 Gramm magerem Frischkäse, einen Apfel und eine Tasse Gemüsebrühe. Nachts schläft sie kaum noch, weil sie Angst hat vor dem Wiegen am Morgen und der Möglichkeit, wieder dick zu werden.

Das Beispiel scheint ein einfaches Erkennen der Magersucht in der Realität nahe zu legen. Tatsächlich ist aber jede Krankheitsgeschichte so besonders wie die Menschen, die betroffen sind. Hinzu kommt, dass Essstörungen meist heimliche Krankheiten sind, mit viel Schuld- und Scham-, manchmal – besonders bei der Magersucht – auch Überlegenheitsgefühlen. Aus psychologischer Sicht ist bei längerer Krankheitsdauer auch der sog. sekundäre Krankheitsgewinn von Bedeutung. Dieser kann sich z. B. darin äußern, der Verantwortung anderen gegenüber enthoben zu sein, nach dem Motto: „Ich bin krank, also könnt ihr auch nichts von mir erwarten!“, oder es steht das Umsorgt-Werden im Mittelpunkt: „Ich bin krank, also kümmert euch um mich!“ Bei der Magersucht gilt jedoch vor allem am Anfang die Sichtweise als Störung oder Krankheit nur für Außenstehende. Für die Betroffenen ist die Krankheit häufig (unbewusst) eine Problemlösestrategie, die sie nicht „einfach“ aufgeben können.

Daher werden Hilfsangebote oft empört abgelehnt. Diesen Abwehrpanzer können Therapeuten, Angehörige und Freunde nur durchbrechen mit Vertrauen, Verlässlichkeit und Bestimmtheit – und mit viel Geduld. Wichtigste Verhaltensregel hierbei für „Nicht-Therapeuten“: Betroffene möglichst nicht auf die Themen „Figur“ und „Gewicht“ ansprechen. Damit verschlimmert sich in der Regel die Situation, weil die Bedeutung dieser Themen verstärkt und weil signalisiert wird: „Etwas anderes als Figur und Gewicht interessiert mich an dir nicht (mehr)!“ Wenn durch Geduld und Vertrauen keine Annährung an das Thema möglich ist, dann ist direktes Ansprechen mit der Variante: „Ich mache mir Sorgen um dich, wie kann ich dir helfen?“ besser als: „Das ist doch schon lange nicht mehr schön, so dünn wie du bist – schau doch einfach mal in den Spiegel!“

Eine erfolgreiche Prävention der Magersucht setzt voraus, dass zum einen die psychologische Dynamik altersgerecht und in all ihren verschiedenen Facetten vermittelt und diskutiert wird (siehe Tabelle 3.1) und gleichzeitig die Kommunikationsstrukturen zwischen den Mädchen, Eltern und Lehrern gestärkt werden. Ist die Entwicklung erst so weit fortgeschritten wie bei Kati, stehen – wie bereits erwähnt – die Heilungschancen auch mit „vollem therapeutischen Programm“ (ärztliche Behandlung, Psychotherapie, Klinikaufenthalt) nur bei 50 %. Die Magersucht beherrscht Kati so sehr, dass sie in jahrelangem Kampf nun ihr Leben schrittweise verändern muss. Bessere Heilungschancen sind vor allem dann gegeben, wenn die Symptome der Magersucht frühzeitig erkannt werden und wenn alle Beteiligten – Betroffene, Mitschüler, Freunde, Eltern, Ärzte usw. – an einem Strang ziehen.

Diagnostiziert wird Magersucht bzw. medizinisch korrekt „Anorexia Nervosa“, wenn mindestens zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Gewicht unterhalb des für 85 % der Geschlechts- und Altergruppe typischen Gewichts in Relation zur Größe (entspricht BMI unterhalb des zehnten Perzentils nach Tabelle 1.1) und 2. Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt (d. h. hat keine körperlichen Ursachen). In der Regel sind außerdem eine starke Angst vor Gewichtszunahme (Gewichtsphobie) und eine Störung des eigenen Körperbildes kennzeichnend. Der Gewichtsverlust und die Erhaltung des niedrigen Gewichts wird durch Hungern erreicht, oft aber auch durch selbst herbeigeführtes Erbrechen. Daher findet bei ca. 60 % der Mädchen ein Übergang zur Bulimie statt (siehe Kapitel 1.1.4). Die wörtliche Bedeutung von Anorexia Nervosa, „nervlich bedingter Appetitmangel“, ist irreführend, da dies kein Kennzeichen der Erkrankung ist. Um die Magersucht sicher erkennen zu können, aber auch um geeignete Maßnahmen der Prävention und Behandlung zu ergreifen, ist nicht nur die genaue Kenntnis der Krankheitszeichen, sondern auch der möglichen Funktionalität dieser Symptome entsprechend Tabelle 1.4 wichtig.

Tab. 1.4: Mögliche Funktionalität der Magersucht