MICHAEL BALLHAUS
mit Claudius Seidl
Bilder im Kopf
Die Geschichte meines Lebens
Deutsche Verlags-Anstalt
MICHAEL BALLHAUS
mit Claudius Seidl
Bilder im Kopf
Die Geschichte meines Lebens
Deutsche Verlags-Anstalt
1. Auflage
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Typographie und Satz: Brigitte Müller/DVA
Gesetzt aus der Garamond
ISBN 978-3-641-08823-1
www.dva.de
Inhalt
Prolog
1
Kindheit und Jugend
Krieg, Nachkrieg und Leben
in einer Künstlerkommune
2
Große Lieben
Die Kamera und Helga
3
Ein erster Beruf
Beim Fernsehen in Baden-Baden
4
Es bewegt sich was
Die späten Sechziger in Berlin
5
Fassbinder, die erste
Der Meister und sein Kreis
6
Blicke und Begehren
Vom Leben jenseits der Filme
7
Fassbinder, die zweite
Wie das junge Kino erwachsen wurde
8
Eine Zeit dazwischen
Die guten Bücher auf der Leinwand
9
Amerika
Eine andere Art des
Filmemachens
10
Scorsese
After Hours
11
Die Kugeln rollen
Schlöndorff, Scorsese und die Farben Amerikas
12
Das größte aller Wunder
The Last Temptation
13
Auf der Höhe der Zeit
Die fabelhaften Achtziger
14
Bilder der Gewalt
Goodfellas und die Farben des Bluts
15
Oben bleiben
Die frühen Neunziger,
Coppolas Dracula
16
Zufälle? Daran glaube ich nicht
Action – und ihr Gegenteil
17
Primärfarben
Emma Thompson und der Wilde,
Wilde Westen
18
Spätwerk
Gangs of New York und
The Departed
19
Klimawandel
Gibt es ein Leben nach dem Film
20
Ein neuer Anfang
Sherry und ich
Epilog
Personen- und Filmregister
Prolog
Dies sind die Erinnerungen eines Mannes, der mit seinen Augen gelebt und gearbeitet hat. Zwei Augen haben die meisten, und die meisten können damit auch sehen – aber für mich waren diese Augen immer das wichtigste Sinnesorgan, das wichtigste Werkzeug, das ganze Kapital. Man braucht gute Augen als Kameramann; eine gute Kamera ist hilfreich, es geht aber auch mit einer schlechten. Ich arbeitete schon als Fotograf, da ging ich noch zur Schule, und dann wurde ich Kameramann und blieb es, das ganze Leben lang. Das war es, was ich immer wollte.
Man erinnert sich anders, wenn man, was geschehen ist, vor allem mit den Augen erfahren hat. Ein Lächeln bleibt genauer im Gedächtnis als ein Name, eine Stimmung steht deutlicher vor Augen als die genaue Zeit, da diese Stimmung herrschte. Es sind die Farben, die bleiben, die Gesichter, das Leuchten weißer Lichter in einer dunkelblauen Nacht. Manchmal rundet sich das alles zu einer Geschichte, mit einem Anfang, einem Konflikt, einem Schluss, in dem sich alles auflöst. Manchmal bleiben nur ein paar Momente, in denen das Licht gut war und eine Wahrheit sichtbar wurde. Manchmal bleibt da ein Mensch, dessen Namen ich vergessen habe, weil es nur darum ging, seine Bewegungen, seine Gesten und seine Mimik anzuschauen.
Dies sind die Erinnerungen eines Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens beim Film gearbeitet hat. Man lebt da anders als einer, der jeden Morgen zu seinem Arbeitsplatz geht, und abends kommt er nach Hause. Man lebt auch anders als einer, der, ganz egal ob in der Wirtschaft, der Politik, dem Staat, konsequent nach oben strebt und den Karrieregipfel, den er zu erreichen sucht, immer vor Augen hat.
Das Ziel des Filmemachens ist es, einen guten Film zu machen, und wenn der Film fertig ist, bereitet man den nächsten vor. Aufsteigen kann man als Kameramann nur insofern, als man, wenn die Arbeit gut ist, vielleicht bessere Gagen bekommt, bessere Angebote, Filme mit wunderbaren Regisseuren, großen Schauspielern, klugen und wahrhaftigeren Büchern. Aber manchmal macht ein kleiner, billiger Film mehr Vergnügen als ein großer, teurer. Ein Kameramann war ich schon, als ich beim Südwestfunk anfing in den Sechzigern, und ich war es immer noch, als ich meinen letzten großen Film mit Martin Scorsese drehte. In Amerika heißt der Beruf Director of Photography, was bedeutender klingt; aber die Arbeit ist die gleiche. Und wenn man, was ein Kameramann so schafft in mehr als vierzig Jahren, nicht eine Karriere nennen kann: umso besser. Dann ist es eben ein Leben. Und im Glücksfall ein Werk.
Wenn man vom Drehen nach Hause kommt, dann ist das selten das echte Zuhause. Man lebt in einem Hotel, in einer Wohnung, welche die Filmproduktion für ein paar Wochen oder Monate angemietet hat, man ist in einer fremden Stadt oder irgendwo auf dem Land, und so ganz ist man dort ja auch nicht, weil man die meiste Zeit am Drehort ist, einem fiktiven, einem künstlichen Ort. Man übernachtet in einem tunesischen Hotel, aber den ganzen Tag über steht man im Heiligen Land, weil dort der Film spielt, an dem gerade alle arbeiten. Und wenn man, was die Pflicht des Kameramanns ist und manchmal auch seine Leidenschaft, den Menschen vor der Kamera sehr nahekommt, wenn man versucht, das Gesicht, den Körper, die Bewegungen eines Schauspielers zu verstehen, und abends, wenn der Dreh vorüber ist, spricht man miteinander, dann kann es einem schon auch passieren, dass man sich hinterher fragt: Habe ich wirklich diesen Menschen kennengelernt – oder nur die Rolle, die er spielt in diesem Film?
Man trifft sehr viele und sehr interessante Menschen, wenn man Filme dreht, man lebt eng und intensiv miteinander, für ein paar Monate vielleicht, und dann ist der Film fertig, man geht auseinander und trifft sich vielleicht nie mehr. Oder ein paar Jahre später, bei einem ganz anderen Film. Wenn man Pech hat, treibt einen dieses Leben in die Heimatlosigkeit, die Bindungslosigkeit. Wenn man Glück hat, hat man eine Frau, die bei einem bleibt, Kinder, die man groß werden sieht, ein Leben, in dem man einigermaßen weiß, wer man ist.
Dies sind die Erinnerungen eines Mannes, der sich nur ungern in den Dienst einer Sache gestellt hat und schon gar nicht in den Dienst einer Gruppe, einer Partei, eines Vereins. Ich wollte gute Filme machen; ob es eine Bewegung namens »Junger Deutscher Film« gab, war mir weniger wichtig. Ich hatte Sympathien für meine Filmstudenten, die 1968 auch im Kino alles umstürzen wollten. Aber Teil ihrer Revolte war ich nicht. Ich war linksliberal, und in den letzten Jahren habe ich mich sehr für den Klimaschutz engagiert. Beides habe ich auf eigene Verantwortung getan.
Ich habe fünfzehn Filme mit Rainer Werner Fassbinder gedreht, aber in der Familie, deren Patriarch er war, im Kreis der Menschen, die er um sich versammelte und die er zu beherrschen versuchte, im Leben wie im Film: In dieser Familie war ich ein Fremder, bestenfalls ein Gast. Ich hatte eine Frau, ich hatte Kinder, ich wollte nicht nebenbei mit Fassbinder verheiratet sein. Es gab eine Gruppe um Peter Stein, mit dem ich mehrere Theaterfilme machte, es gab, natürlich, eine Gang um Martin Scorsese. Es lag mir nie, da beizutreten, es reichte mir schon, wenn ich meine Mitgliedsbeiträge für die Gilde der Kameraleute zahlte.
Ich bin niemandem etwas schuldig, das ist meine Freiheit. Ich kann die Wahrheit sagen, was keine Drohung ist. Eher ein Auftrag und eine Herausforderung. Ich hatte mit vielen Menschen zu tun, die jeder kennt, über die fast jeder etwas wissen möchte, ein bisschen mehr als das, was in den Zeitungen steht. Viele leben noch, manche sind tot. Über Lebende soll man nichts Schlechtes sagen, über die Toten erst recht nicht. Oder nur im Notfall, nur dann, wenn es um eine Wahrheit geht, die anders nicht zum Vorschein käme.
Manchmal staune ich selber darüber, wie viele Bilder sich sammeln und stapeln, während man sich in der Gegenwart zu bewähren versucht. Als ich geboren wurde, waren die Nazis seit zwei Jahren an der Macht, als ich zehn war, lag das Land in Trümmern, und die Nazis waren besiegt. Ich war über dreißig, als die Studenten revoltierten, ich war fast fünfzig, als ich meinen ersten Film mit Martin Scorsese drehte und beschloss, fortan nur noch in Amerika zu arbeiten. Wir drehten in New York »Goodfellas«, als in Berlin die Mauer fiel, und als ich nach Berlin kam, um die Folgen zu sehen, hatte ich das Gefühl, immer noch rechtzeitig da zu sein.
Es gab in diesem Leben immer viel Anfang. Davon will ich erzählen.
1
Kindheit und Jugend
Krieg, Nachkrieg und Leben
in einer Künstlerkommune
Es waren gute Jahre in Berlin, das Glück des Kindes hing nicht davon ab, ob die Erwachsenen von Adolf Hitler nur leise und mit Abscheu sprachen. Und wenn es hieß: Halt die Klappe, wenn der Nachbar in der Nähe ist, er ist bei der Gestapo, dann machte mir das keine Angst. Es klang nach Spannung und Abenteuer.
Sie lebten, als ich geboren wurde, in Dahlem, haben später die Eltern erzählt. Aber das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist eine Wohnung in der Meerscheidtstraße, Berlin-Charlottenburg, gleich um die Ecke vom Kaiserdamm. Fünf Zimmer im vierten oder fünften Stock. Meine Mutter Lena war dunkelhaarig, ein Meter sechsundsechzig groß, eine resolute Person, die das Kommando übernahm, wann immer das Kommando übernommen werden musste. Sie war Schauspielerin und hatte doch mit uns Kindern, mit mir und meiner Schwester Nele, die drei Jahre nach mir geboren wurde, zu viel zu tun, als dass ihr die Zeit und die Kraft für eine große Karriere geblieben wären.
Mein Vater Oskar war Schauspieler und liebte das leichte Leben. Er hatte die Folkwangschule in Essen besucht und ernährte die Familie vor allem mit Engagements beim Radio, das Haus des Rundfunks lag nur ein paar Minuten entfernt. Er sah gut aus, die Frauen mochten ihn, und wenn er ein wenig neidisch auf seinen großen Bruder war, dann konnte er das gut verbergen. Carl Ballhaus hatte im »Blauen Engel« eine kleine Rolle gespielt und größere Rollen in kleineren Filmen, und in »M«, Fritz Langs berühmtem Film über eine Verbrecherjagd, war er der Mann, der Peter Lorre das »M« auf den Mantel zeichnete. Es waren solche Menschen, die in die Wohnung meiner Eltern kamen, Schauspieler, Künstler, Bohemiens, und dass die Eltern mit den Kommunisten sympathisierten, haben sie mir später erzählt, damals hätte ich das nicht verstanden.
Sie schickten mich, als ich alt genug war, zur deutsch-russischen Schule am Nollendorfplatz, wo ich Russisch als erste Fremdsprache lernte. Zwei, drei Sätze, mehr habe ich mir nicht gemerkt; man hat wenig Gelegenheit, sein Russisch aufzufrischen, wenn man in Westdeutschland und Amerika als Kameramann arbeitet.
Im Sommer mieteten sie ein Haus auf Valentinswerder, der hübschen kleinen Insel in der Havel, die nur mit dem Boot erreichbar ist. Man konnte dort gut schwimmen gehen, das Wasser war sauber, weil die Spree, die den ganzen Dreck der großen Stadt Berlin transportierte, erst weiter unten, in Spandau, in die Havel mündet. Ich kann mich erstaunlicherweise noch an die Adresse erinnern, Valentinswerder 85, so wie ich mich an unsere Berliner Telefonnummer erinnern kann, 933677, ich hatte immer einen Groschen dabei, damit ich meine Mutter anrufen konnte, falls irgendetwas passierte. Es ist erstaunlich, dass man sich eine sechsstellige Telefonnummer mehr als siebzig Jahre lang merken kann, während man viel wichtigere Dinge vergisst.
Ich erinnere mich zum Beispiel nicht mehr, wie genau das schöne langgestreckte Haus an der Ostsee mit der Familie meiner Mutter zusammenhing; die Großmutter, eine Pianistin, war gestorben, als meine Mutter noch ein Kind war. Der Großvater war Opernsänger, und irgendetwas hatte die Familie mit diesem Landhotel in Henkenhagen zu tun, dem Kurort in Westpommern, in der Nähe von Kolberg, wo wir manchmal hinfuhren in den endlosen Sommerferien meiner Kindheit. Jedes Zimmer hatte einen Balkon, und wenn man aus der Tür ging, stand man am Strand, und ich sprang jeden Morgen als Erstes ins Wasser, und das Kindermädchen wanderte manchmal am Meer entlang und sammelte den Bernstein, von dem es sehr viel gab, wie ich mich zu erinnern glaube.
Michael Ballhaus im Alter von vier Jahren
© privat
Ich weiß auch nicht mehr, wie der Film hieß, in dem mein Vater dann doch mal eine kleine Rolle hatte. Ich weiß nur noch, dass ich zu jung dafür war. Und dass mein Vater heftig einreden musste auf die Kassiererin, bis die mich dann doch hineinließ in den Kinosaal. Ich war gerade vier geworden, als der Krieg begann, und bald wurde mein Vater eingezogen. Wir sind ihn besuchen gefahren, erst in Fallingbostel, dann in Innsbruck, wo er bei der Flak seinen Dienst tun musste. Er war Obergefreiter, höher wollte er nicht kommen in der Wehrmacht, deren Krieg nicht seiner war, aber mit seinen Kameraden und den Vorgesetzten schien er ganz gut auszukommen, und irgendwann haben sie wohl gemerkt, dass er vom Theaterspielen und der Unterhaltung eindeutig mehr verstand als vom Schießen. Und so wurde er nach Frankreich abkommandiert, zur Betreuung und Unterhaltung der Truppe, wie es hieß, und nach allem, was er später erzählte, muss das eine herrliche Zeit gewesen sein. Der Krieg war weit weg, er konnte Theater spielen und Unterhaltungsprogramme gestalten, und wie so viele deutsche Soldaten, die als Besatzer nach Frankreich kamen, fand er keinen einzigen Grund, in den Franzosen die Gegner zu sehen und in deren Land das Feindesland. Er hat sich, ganz im Gegenteil, in dieses Land verliebt und anscheinend auch in die eine oder andere Französin, und als er zurückkam aus dem Krieg, merkten selbst wir Kinder, dass die Ehe unserer Eltern nicht mehr so gut funktionierte. Sie schliefen in getrennten Schlafzimmern.
Wenn es an der Tür klingelte in der Meerscheidtstraße, wurden wir sofort in unser Kinderzimmer geschickt; danach erst öffnete jemand die Tür. Denn eine Weile wohnte Herr Nebhut bei uns, der ein Freund der Eltern war, Schauspieler, Schriftsteller, Drehbuchautor, Jude. Ernst Nebhut musste sich verstecken vor den Nazis, meine Eltern stellten ihm ein Zimmer zur Verfügung, und wenn es Fliegeralarm gab und wir hinunter in den Keller gingen, musste er oben in der Wohnung bleiben. Irgendwann wollte er unsere Familie nicht länger in Gefahr bringen, er floh aus Berlin und konnte sich ins Ausland retten, in die Schweiz, nach Amerika, das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur, dass er, als er nach dem Krieg zurück nach Deutschland kam, sehr erfolgreich war. Er schrieb Drehbücher fürs deutsche Kino, Theaterstücke, die gut liefen, und Liedtexte, ausgerechnet für Zarah Leander.
Einmal sah ich aus dem Fenster zum Hinterhof, wie zerlumpte Menschen in den Mülltonnen wühlten. Was tun die Leute?, fragte ich meine Mutter, und sie drückte mir eine Tüte mit Äpfeln und ein Stück Brot in die Hand und sagte: Gib das den Leuten, das sind russische Zwangsarbeiter, die brauchen etwas zu essen. Aber pass auf, dass dich der Hausmeister nicht dabei erwischt. Es ist nämlich verboten, denen etwas zu geben.
Ich schlief gut in den Nächten des Weltkriegs, ich fürchtete mich, wie so viele Kinder, vor der Dunkelheit, aber je länger der Krieg ging, desto heller wurden die Nächte. Es brannte ja immer irgendwo, und weil wir weit oben wohnten, drang auch der Schein entfernter Feuer in unser Kinderzimmer. Ich war zu jung, als dass ich verstanden hätte, welches Leid diese Brände für die bedeuteten, die in diesen Nächten ihr Zuhause verloren. Ich freute mich nur, dass es niemals absolut dunkel wurde. Und wenn Fliegeralarm war, freute ich mich auf das Abenteuer. Meine Mutter war nachtblind, ich nahm sie also bei der Hand und war stolz, dass ich auf sie aufpassen konnte, und unten im Keller spielten wir mit den Kindern des Gestapomannes. Der Junge hatte einen Sprachfehler, den fand ich sehr lustig, er nannte mich Misael, und zu meiner Schwester sagte er Niedel. Einmal wurden wir verschüttet im Luftschutzbunker, da hat uns dann doch die Angst gepackt. Die Tür war unerreichbar, Staub war überall, das Licht ging aus. Dass wir ziemlich bald befreit wurden, lag wohl daran, dass dieser Bunker dem Oberkommando der Kriegsmarine unterstand.
Ein andermal traf eine Brandbombe unser Haus. Sie explodierte nicht, der Schrecken war trotzdem groß, und je heftiger die Wut der Mutter wurde, auf Hitler, die Nazis, die diesen Krieg begonnen hatten, desto dringlicher wurden aber auch die Ermahnungen, da draußen gefälligst die Klappe zu halten. Der Hauswart war ein Nazi, kein bedeutender Funktionär, nur ein kleiner, ganz normaler Denunziant, und als er bekanntgab, dass der Führer sprechen würde, auf dem Adolf-Hitler-Platz, wie der heutige Theodor-Heuss-Platz damals hieß, war schon klar, dass das auch für uns ein Pflichttermin war. Ich war fünf oder sechs, ich kann mich an Adolf Hitler nicht erinnern. Vielleicht war er zu weit entfernt, vermutlich verstand ich einfach nicht, worum es ging. Woran ich mich aber genau erinnern kann, das ist die große Menschenmasse, die vor der Rede ganz still zu sein schien, gespenstisch schweigsam, der große Platz war voller Menschen, und keiner sagte ein Wort, und dieses Bild, diese gewaltige Stille, das fand ich gruselig und beängstigend. Und dann, in diese Stille hinein, brüllte die Stimme Hitlers, an die ich mich dann doch zu erinnern glaube. Aber wer weiß schon, siebzig Jahre später, ob er damals wirklich diese Stimme gehört hat. Oder ob er sie nur aus dem Radio kannte oder aus all den Dokumentationen, die später, als der Spuk vorbei war, den Schrecken zu erklären versuchten.
Im Sommer 1943 kündigte meine Mutter die Wohnung, löste unseren Haushalt auf, die Möbel wurden abgeholt, und dann sind wir weggefahren aus Berlin, es war ihr zu gefährlich geworden. Wenn sie schon nichts zu schaffen hatte mit diesem Krieg, dann wollte sie ihn wenigstens überleben, und ihre Kinder, fand sie, hatten auch etwas Besseres verdient als ein Leben zwischen Trümmern und Ruinen und Nächte im Luftschutzkeller. In Coburg wohnte Tante Änne, ihre Schwester, und wir zogen in eine kleine Wohnung, und wie es aussah, gab es dort, in der kleinen Stadt im Norden Frankens, nicht viel zu bombardieren. Nazis gab es aber auch in Coburg, der Nachbar, ein Oberst im Ruhestand, bei dem wir manchmal saßen und bei geschlossenen Fenstern den deutschen Dienst der BBC hören durften, hat irgendwann, es war vielleicht im Sommer 1944, in einem Laden gesagt, er glaube nicht, dass der Krieg noch lange dauern werde. Er hat nicht die Nazis zum Teufel gewünscht, er hat nicht den Führer beschimpft, er sagte nur: Der Krieg wird bald vorbei sein. Das reichte als Grund für seine Verhaftung, er kam in ein Konzentrationslager, und ich glaube, er kam nicht wieder heraus. Er war ein alter Mann.
Als die amerikanische Armee vor Coburg stand, hieß der Befehl an die längst desolaten Truppen, dass die Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen sei. Die Amerikaner beschossen die Stadt, der Stadtkommandant ließ die weiße Fahne hissen, aber es gab tatsächlich in diesem Moment noch immer ein paar Nazis, die an den Endsieg glaubten. Die schossen die weiße Fahne in Fetzen. Einer feuerte seine letzte Panzerfaust ab; dann war der Endkampf um Coburg zu Ende, und die Amerikaner marschierten ein.
Die Stadt war kaum versehrt, die Veste stand auf ihrem Berg, wie immer, das Schloss Callenberg wurde von den Amerikanern besetzt, und auch in dem Haus, in dem wir wohnten, waren amerikanische Soldaten einquartiert. Wir Kinder liebten sie, wir hatten noch nie vorher einen Kaugummi gekaut, und manchmal gab es auch Zigaretten.
Ich war zehn, und ich glaube nicht, dass die GIs mich zum Rauchen ermuntern wollten. Zigaretten waren das Zahlungsmittel, mein erstes Fahrrad kostete zwei Päckchen Camel, eine schöne Leica-Kamera ging für eine Stange weg, und eine Nacht mit einer jungen Frau kostete ein Päckchen.
Ich rauchte aber, schon weil es, direkt nach dem Zusammenbruch des sogenannten »Großdeutschen Reiches«, keine Autorität gab, die es mir hätte verbieten können. Ich hatte immer ein Päckchen Camel in der Tasche, und als die amerikanischen Soldaten die Wohnung nicht mehr brauchten, ließen sie uns ganze Berge von Dosen zurück, es war wie im Schlaraffenland. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es uns schlecht gegangen wäre, der Krieg war vorbei, wir lebten in der vergleichsweise reichen amerikanischen Zone, und dann gab es noch Frau Geheimrat Kaemmerer. Die war die Schwiegermutter meiner Tante Änne, und in Coburg war sie eine einflussreiche Frau, mit besten Beziehungen zu jedem, zu dem sich gute Beziehungen lohnten, und besonders lohnend war ihr gutes Verhältnis zum Direktor des Schlachthofs, der uns einmal in der Woche ein schönes Paket mit Fleisch besorgte. Onkel Rudi, ihr Sohn, ein sehr kluger Mann, hatte, weil er nach den Rassengesetzen der Nazis ein Halbjude war, seine schöne Position beim Insel-Verlag in Leipzig verloren. Nach der Befreiung wurde er, der absolut unbelastet war, Landrat und blieb es bis in die sechziger Jahre.
Ich war ein Kind und freute mich, dass unser Leben so abenteuerlich war. Berlin war fast vergessen, Berlin lag in Trümmern, erzählten die Eltern, die bald beschlossen hatten, in Franken zu bleiben, und ich fand immer ein paar Jungs, mit denen ich herumstreunen und die Gefahren der Welt erforschen konnte. Einmal fanden wir einen Revolver, einen richtigen Trommelrevolver, Kaliber 9 mm, und ich weiß nicht mehr, wer die Munition besorgt hat, aber ich weiß, dass er irgendwann geladen war, und ich sagte, dass wir uns das schon mal trauen dürften, Augen zu und einfach abdrücken. Der Schuss riss die Unterarme zurück, der Knall war überwältigend, und dann lag der Revolver wieder am Boden, und wir Kinder schauten, dass wir weiterkamen.
Oskar Ballhaus war unversehrt aus dem Krieg zurückgekommen, er war Obergefreiter geblieben und in der Wehrmacht nicht aufgestiegen, von der NSDAP hatte er sich immer ferngehalten. Er galt als absolut unbelastet, und so fiel es ihm nicht schwer, die Lizenz, die erste überhaupt in Bayern, für den Betrieb eines Theaters zu bekommen. Vater und Mutter gründeten eine freie Gruppe, die sie »Coburger Kulturkreis« nannten, sie holten ein paar alte Freunde und Kollegen, die froh waren, dass sie herauskamen aus dem ruinierten Berlin. Deutlicher aber als jedes Theaterstück steht mir das erste Gastspiel des Dirigenten Georg Solti mit den Bamberger Symphonikern vor Augen. Das liegt vor allem daran, dass ich für Solti mein Zimmer räumen und in einer Kammer schlafen musste. Es lag aber auch daran, dass ich dem Orchester bei den Proben zusehen durfte. Ich weiß nicht mehr, was sie spielten. Ich weiß nur, dass der Klang mich überwältigte. Und dass der Mann, der vor dem Orchester stand, den Taktstock bewegte und dessen Mienenspiel, das grimmig und freundlich zugleich sein konnte, mich faszinierte; dieser Mann schien die Musik herbeizuzaubern. Selbstverständlich stand fest, dass ich Dirigent werden musste, das war eindeutig der beste Beruf, den es gab. Meine Mutter brauchte eine Weile, bis sie mich davon überzeugt hatte, dass einer wie ich, der einmal in der Woche zur Klavierstunde ging und trotzdem nur winzige Fortschritte machte, dass so einer vielleicht doch nicht das Talent zu einem erstklassigen Dirigenten hatte.
Die erste Theateraufführung des Coburger Kulturkreises war die Komödie »Ein Strich geht durchs Zimmer«, eine russische Komödie aus den dreißiger Jahren, die heute völlig vergessen ist. In den Nachkriegsjahren war sie äußerst populär auf den deutschsprachigen Bühnen, auch nach Coburg kamen die Leute von überall her. Und als sich nach der Währungsreform die Verhältnisse stabilisierten, suchten meine Eltern ein festes Haus für sich und die Truppe. Und fanden ein richtiges Schloss.
Schloss Wetzhausen liegt etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Schweinfurt, ein bisschen versteckt zwischen hohen Bäumen und einem Weiher, mitten in dem Dorf, das genauso heißt, man übersieht es leicht, wenn man heute durch die Hügel der Haßberge fährt, auch weil über dem Dorf, groß und von weitem sichtbar, das Schloss Craheim steht, ein neubarocker Bau aus dem frühen 20. Jahrhundert. Schloss Wetzhausen ist viel älter, gotisch im Kern und immer wieder umgebaut, es kostete damals, 1948, dreihundert Mark Miete im Monat und bot nicht viel Komfort. Aber Platz genug für die ganze Theatertruppe. Es gehörte (und gehört immer noch) der Familie der Truchseß von Wetzhausen, ein uraltes fränkisches Rittergeschlecht, das sich aber damals aus den etwas neueren Verstrickungen wieder lösen musste. Der Vater war Sturmbannführer der SS gewesen und im Krieg umgekommen. Die Mutter, die Baronin, trauerte ums »Tausendjährige Reich«, blieb ihren nationalsozialistischen Überzeugungen treu und war auch sonst keine angenehme Person. Sie hatte vier Kinder, zwei Mädchen, zwei Jungs, ich mochte sie alle, und mit dem Ältesten, mit Hans-Otto, freundete ich mich sehr schnell an.
Ich war dreizehn, als wir nach Wetzhausen kamen, und wenn das Wort damals schon gebräuchlich gewesen wäre, hätte man das wohl eine Kommune genannt, eine Wohngemeinschaft, in der meine Mutter und mein Vater den Kern bildeten, auch später, als sie kein Paar mehr waren. Die Mitbewohner wechselten, aber für die Dauer einer Saison oder auch länger lebte man zusammen, man aß gemeinsam zu Abend, zehn, zwölf Leute. Ein Schreiner aus dem Dorf, der gerade seine Gesellenprüfung gemacht hatte und keinen besseren Job fand, wurde engagiert, sich ums Haus zu kümmern und Kulissen zu bauen. Seine Frau kochte für die ganze Kompanie. Und um mich kümmerte sich ein entfernter Onkel, der ein guter Lehrer und Nazi gewesen war und deshalb an öffentlichen Schulen erst mal nicht unterrichten durfte. Jetzt musste er sich mit Nachhilfestunden und Privatunterricht durchschlagen, drei Stunden täglich war er für mich da und versuchte mir alles beizubringen. Latein, Englisch, Geschichte, sogar Mathematik. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich damals wusste, wie sehr sich dieses Leben vom Leben anderer Jugendlicher unterschied, wie ungeheuer groß die Freiheit war; und dass es diese Enge, den Zwang, den Lehrern zu gehorchen und sich eingesperrt zu fühlen im traurigen Alltag einer Kleinfamilie, mit all den Verboten und den Dingen, über die man niemals sprechen durfte, dass es all das, wogegen die Gleichaltrigen sich dann wehren und revoltieren mussten, in meiner Jugend nicht gab.
Ich glaube, ich fand es normal, dass immer mal wieder jemand ging, jemand Neues zur Truppe stieß. Als ein Mann namens Stiege kam, gefiel mir dies, nicht weil er sehr ehrgeizig war und wohl auch die Ambition hatte, meine Eltern aus der Führung des Theaters zu verdrängen und die Truppe selbst zu übernehmen, sondern weil er zwei Töchter hatte, mit denen ich gerne spielte, und am liebsten hatten wir solche Spiele, von denen wir nicht so genau wussten, ob sie womöglich verboten waren. Es gab im Schloss eine Wendeltreppe, die endete in einem Taubenschlag, und von dort konnte man aufs Dach steigen und kam an einer Stelle heraus, wo zwei Dächer aufeinanderstießen und es eine Art Knick gab, in den wir eine Matratze legten und uns sonnten und an warmen Sommernachmittagen unsere unerfahrenen Körper zu erforschen begannen. Es waren Unschuld und Lüsternheit im Spiel, richtig passiert ist nichts, dazu wären wir wohl zu jung gewesen, mit dreizehn, vierzehn Jahren. Und dann wehrte meine Mutter den Übernahmeversuch des Herrn Stiege ab, und er verließ das Schloss und nahm seine hübschen Töchter mit, obwohl wir, wie ich fand, mit unseren Körpererforschungen noch längst nicht zu Ende waren.
Vor dem Schloss war ein Park, der lange nicht gepflegt worden war. Heute ist er ganz verwildert. Neben dem Schloss: ein kleiner See, der einst auch den Burggraben speiste. Der Graben war trocken, seit er keine militärische Bedeutung mehr hatte, seit langem also, der kleine See war voll mit trägem, dunklem Wasser, man konnte darin schwimmen im Sommer, und wenn er im Winter zufror, spielte ich Eishockey mit den Jungs aus dem Dorf. Der Sohn des Metzgers war der Anführer und verlangte auch von mir, dass ich mich einordnete in die dörfliche Hierarchie. Ich hatte aber keine Lust, ich kam nicht aus dem Dorf, und ich suchte keinen Platz in der Hierarchie der Jungs. Der Metzgersohn suchte Streit mit mir, er war stark und hatte Routine im Raufen, und vielleicht war ich im entscheidenden Augenblick nur zufällig ein bisschen schneller als er. Ich erwischte ihn mit der Faust, was die anderen Jungs als Sieg bewerteten. Er blieb weiterhin der Anführer der Dorfjungs, aber rund ums Schloss, im Park und auf dem See, hatte er mir nichts zu sagen. Und nach dem Kampf kamen wir so gut miteinander aus, dass er nichts dagegen hatte, als ich mich mit seiner Schwester Helga anfreundete. Manchmal trafen Helga und ich uns in einer Scheune, legten uns ins Stroh und spielten ein bisschen miteinander herum. Mehr geschah auch bei diesen Forschungen nicht, außer dass die Aussichten auf das, was da noch kommen würde, klarer und deutlicher wurden. Außerdem war das noch immer die Nachkriegszeit, in der es nie verkehrt war, mit den Kindern eines Metzgers befreundet zu sein.
Auch zu den Theateraufführungen brachte, wer nicht genug Geld flüssig hatte, Naturalien mit. Brot, Eier, Milch, als Eintritt wurde alles akzeptiert, woraus sich ein anständiges Essen zubereiten ließ. Gespielt wurde im Rittersaal, die Bühne war klein, für aufwendige Kulissen gab es weder Geld noch Platz, und wenn ein Stück den Ort oft wechselte, trug am Anfang der Szene jemand ein Schild über die Bühne, auf dem der Ort bezeichnet war. Das war immer mal wieder auch meine Aufgabe, ich war gewissermaßen der Nummernboy des Theaters, der das Schild mit der Aufschrift »Verona« dem Publikum zeigte. Es war ein armes Theater, was aber kaum jemand als Mangel empfand. Pomp passte nicht in die Zeit, aufwendige Dekorationen hätten nur vom Sinn der Stücke abgelenkt. Es ging im Theater um Menschen, nicht um den Budenzauber der Illusionen. Auch an den Münchner Kammerspielen waren damals die Inszenierungen eher karg, das war der Geist der Zeit. Theater war wichtig, nicht nur weil noch niemand einen Fernseher hatte und Kinos auf dem Land eher selten waren. Die Leute ahnten, dass sie zwölf Jahre lang in geistiger Isolation gelebt hatten, sie wollten wieder Anschluss finden an die Gegenwart, und das Theater, mehr als alle anderen Künste, versprach dem Publikum die Teilhabe an der Gegenwart – selbst wenn es die Klassiker waren, die gespielt wurden.
Sartres »Schmutzige Hände«, damit hat, wenn ich mich richtig erinnere, die Geschichte des Theaters in Wetzhausen angefangen, aber sie spielten auch Shakespeare, Ibsen, manchmal Kriminalstücke, weil es ja auch darum ging, das Theater zu füllen. Und das Bedürfnis des Publikums nach Unterhaltung einigermaßen zu stillen.
Mein Vater hatte einen Hang, sich in die Hauptdarstellerinnen zu verlieben, die Eltern ließen sich bald scheiden, Oskar Ballhaus heiratete die Schauspielerin Anneliese Wertsch, die in Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung« so eine hinreißende Katharina gewesen war, dass mein Vater ihr nicht widerstehen konnte. Und Lena Hutter, meine Mutter, heiratete Herbert Heinz, der von Anfang an zum Ensemble in Wetzhausen gehört hatte.
Ich hatte mehr Glück als die meisten Scheidungskinder. Vermutlich hatte ich auch mehr Glück als die meisten Kinder, deren Eltern zusammenblieben. Ich mochte die neue Frau meines Vaters, ich mochte den neuen Mann meiner Mutter, und das Schönste war, dass die Familie nicht auseinandergerissen wurde. Beide Paare blieben im Schloss, sie versuchten sich zu arrangieren, was auch meistens gelang, sie spielten miteinander Theater, und es war mir eine Freude zu sehen, wie meine Mutter, die mit meinem Vater einiges mitgemacht hatte, noch einmal aufblühte mit ihrem neuen Mann.
Im Rückblick wirkt das alles womöglich märchenhaft und unglaubwürdig. Es waren ja die fünfziger Jahre, die unser kollektives Gedächtnis als sittenstreng, verklemmt und intolerant abgespeichert hat. Es war Unterfranken, die tiefste bayerische Provinz. Und mittendrin lebten Schauspieler in einer Art Wohngemeinschaft ein Leben, das, als es zum Ende der Sechziger hin in Mode kam, die Sittenwächter empörte. Damals war das mein Leben, ich kannte kein anderes, und schon deshalb spürte ich gar kein Bedürfnis, mir Gedanken darüber zu machen, weshalb die Leute auf dem Land diese Lebensform duldeten.
Die Eltern Lena Hutter und Oskar Ballhaus in den fünfziger Jahren
© Mit freundlicher Genehmigung von Camerimage Film Festival, Polen, www.camerimage.pl
Vielleicht lag es am Schloss, dessen dicke Mauern auch gegen Gerüchte und üble Nachrede schützten. Vielleicht lag es daran, dass wir, anders als die Kommunarden zwanzig Jahre später, uns anständig kleideten, höflich benahmen und die Leute, die anders als wir leben wollten, nicht zu unseren Gegnern erklärten. Sie waren das Publikum, und das Publikum freute sich, weit über Wetzhausen hinaus, über die Theatertruppe, die sich um die kulturelle Grundversorgung der ganzen Region kümmerte. Das erste Auto, mit dem wir auf Tournee gingen, war ein uralter Bus, mit Holzvergaser, ein klappriges Vehikel, das nicht viel kostete und nicht schnell fuhr. Aber es gab Platz für die Truppe, für die Kulissen und Kostüme, und bis nach Schweinfurt, nach Bad Kissingen oder Forchheim kam man damit schon, in all die Städte, die ein Publikum, aber kein Theater hatten. Es gab dafür sogar Zuschüsse aus dem bayerischen Kultusministerium; wenn meine Eltern nach München fuhren, um über diese Zuschüsse zu verhandeln, vergaßen sie einfach, dass sie einst mit den Kommunisten sympathisiert hatten. Und politisch, in dem Sinn, dass die Obrigkeit sich herausgefordert gefühlt hätte; oder avantgardistisch, in dem Sinn, dass Konservative die Ordnung und die Moral bedroht gesehen hätten (was in Bayern damals vorkommen konnte), war das Theater nie.
Nach zwei Jahren Privatunterricht wurde ich am Gymnasium auf Schloss Craheim angemeldet, jenem neubarocken Bau, den die Familie der Truchseß zu Wetzhausen im frühen zwanzigsten Jahrhundert auf einem Hügel oberhalb Wetzhausens hatte errichten lassen, als der Baron eine reiche Amerikanerin heiratete, der das alte Schloss zu unkomfortabel war. Die Amerikaner hatten das Schloss beschlagnahmt und als Lazarett genutzt, der bayerische Staat hatte es der Familie nicht zurückgegeben, und jetzt gab es dort eine Schule mit Internat. Es war ein Internat für reiche Kinder, immer mal wieder stand vor der Schule ein großer Mercedes mit Chauffeur; dann wusste ich, da sind die reichen Eltern der reichen Kinder zu Besuch. Ich war ein Außenseiter im Dorf, weil ich ein Zugereister war, ich war ein Außenseiter an der Schule, weil ich aus dem Dorf kam und nicht im Internat wohnte. Ich fand eigentlich nicht, dass die Kinder dort etwas Besseres waren, bloß weil ihre Nachnamen sehr alt waren oder berühmt, ich fand mich selber eigentlich besser. Ich hatte, wie mir, dem Sechzehn- oder Siebzehnjährigen, das damals erschien, viel mehr Lebenserfahrung. Und ich reagierte auf das Reiche-Leute-Getue der Mitschüler mit jugendlichem Trotz: Na wartet, sagte ich zu mir selbst, ich werde es schon schaffen. Ich werde auch mal so viel Geld verdienen. In die süße Anneliese von Hackewitz verliebte ich mich trotzdem, und dass ich bei ihr nicht wirklich landen konnte, führte ich darauf zurück, dass diese Leute lieber unter sich blieben und in ihrer eigenen Welt leben wollten. Der falschen, wie ich damals fand.
Ich war dann auch langsam reif für mein erstes Auto. Aus irgendeinem Grund, der mir in den sechzig Jahren, die vergangen sind, entfallen ist, war es nicht möglich, das Abitur in Craheim zu machen. Das nächste Gymnasium war in Schweinfurt, und Schweinfurt war fünfundzwanzig Kilometer entfernt. Einen Schulbus oder etwas Ähnliches gab es nicht, also brauchte ich etwas, womit ich fahren konnte. Und den Führerschein. Ich war zwar erst siebzehn, aber der weite Schulweg galt als Härtefall, ich bekam eine Ausnahmegenehmigung. Ich übte mit dem großen, alten Bus, bis ich fahren konnte. Und als ich die erste Fahrstunde hatte, sagte der Lehrer: Du fährst auch nicht zum ersten Mal ein Auto. Nein, sagte ich, und es blieb bei dieser einen Fahrstunde. Wir fanden einen Trumpf Junior, ein schönes kleines Auto, fünfundzwanzig PS, achtundachtzig Stundenkilometer schnell, Baujahr 1937, glaube ich. Es war alt, dieses Auto, aber es hatte nicht so furchtbar viele Kilometer gefahren, weil der Bauer, als die Wehrmacht alle privaten Autos beschlagnahmte, den Trumpf nicht hergeben wollte. Er versteckte ihn in der Scheune, bedeckte ihn mit Stroh, und da stand nun mein erstes Auto, alt, ein bisschen verstaubt, gut genug für mich. Ich hatte, wenn ich von Wetzhausen nach Schweinfurt fuhr, immer wieder ein Lied im Ohr, manchmal wachte ich schon auf und hörte im Kopf dieses Lied, Hildegard Knef sang es, und wenn ich mich richtig erinnere, dann sang sie es gar nicht in dem Film »Die Sünderin«, der damals so viel Wirbel machte und den ich natürlich auch gesehen hatte. Ich glaube, das Lied kam kurz nach dem Filmstart heraus, spielte auf den Film aber an und sorgte dafür, dass ich eine Weile von dieser Frau, die naturgemäß unerreichbar war, noch besessener wurde, als ich es nach dem Kinobesuch ohnehin schon war. »Ein Herz ist zu verschenken« hieß das Lied, und Hildegard Knef sang von dem Mann, nach dem sie sich sehnte, und mir war klar, ich war dieser Mann. »Kennen Sie nicht einen Herrn, der gut zu mir passt, Herz antik, Gestalt modern, klug, doch kein Phantast.«
Ach, ich war am Sex sehr interessiert. Im Bücherschrank der Eltern hatte ich ein Buch entdeckt, das den spröden Titel »Die vollkommene Ehe« hatte, geschrieben von dem holländischen Frauenarzt Theodoor Hendrik van de Velde, ein Buch, das schon in der Zwanzigern auch in Deutschland erschienen und unter den Nazis verboten worden war. »Eine Studie über Physiologie und Technik« hieß der Untertitel, und genau das war es auch. Eine Anleitung, eine einigermaßen exakte Beschreibung, wie Eheleute, und nur Eheleute, miteinander umzugehen hätten, damit der Sex für beide befriedigend werde. Ich las es als Lehrbuch, mit dem Vorsatz, wenn es so weit wäre, all die Regeln zu beachten. Und zugleich las ich es als Pornographie, mit einer Hand unter der Bettdecke. Jungs in diesem Alter sind doch recht leicht erregbar.
Meine erste große Liebe war sieben Jahre älter als ich, sie hatte zwei Kinder und war verheiratet mit einem Mann, der zwanzig Jahre älter war. Sie hieß Mechthild, war Schauspielerin in der Truppe, ihr Mann, der Hans hieß, führte Regie, und als alles anfing, glaubte ich selber nicht, dass ich bei ihr Erfolg haben würde. Ich sah ihr gern beim Spielen zu, ich fand sie witzig, charmant, ich konnte gar nicht wegschauen, und wenn wir zu den Gastspielen fuhren, setzte ich mich neben sie im Bus und versuchte, mich zentimeterweise zu nähern. Ich spürte eine ungeheure Spannung, und dann war es gar nicht so, dass sie meinem Drängen nachgegeben hätte. Irgendwann merkte ich, dass sie es auch wollte, und als wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, konnte ich gar nicht fassen, wie glücklich uns das beide machte. Alles an ihr war mir eine Freude, der Sex, das Lachen, ihre Art, mit mir zu reden, sie war ein bisschen kleiner als ich, und wenn ich sie in den Arm nahm, war ich kein siebzehnjähriger Grünschnabel mehr, sondern ein richtiger Mann.
Es war wie in den Boulevardkomödien, die die Theatertruppe spielte, wenn es etwas Unterhaltsames sein sollte. Ihr Mann ging spät zu Bett, er saß im Sessel und las, bis nach Mitternacht. Sie sagte um neun oder zehn Uhr abends, dass sie müde sei, ging in ihr Schlafzimmer, und dann kam sie, über einen gemeinsamen Balkon, zu mir ins Zimmer. Wir liebten uns, wir hatten viel Freude aneinander. Und wenn ihr Mann ins Bett kam, lag sie da und schlief, als wäre nichts geschehen.
Das ging lange gut, und irgendwann dann nicht mehr, was wir uns hätten denken können. Der Mann war ja nicht blöd, er spürte wohl, dass da etwas angefangen hatte, und eines Abends kam er recht früh ins Schlafzimmer, fand das Bett leer, klopfte an meine Tür, rüttelte, brüllte, dass wir gefälligst aufmachen sollten. Ich dachte nicht daran, und so polterte Hans ins Schlafzimmer meiner Mutter, das nicht abgeschlossen war, und rief: Dein Sohn fickt meine Frau!
Es gab natürlich eine große Aufregung im Haus, ich musste die Tür öffnen, und ich weiß gar nicht mehr, wer da alles in meinem Zimmer stand. Er oder ich, das war es, was Hans forderte: Entweder verlässt der Junge das Haus, oder ich packe meine Koffer.
Dass ich gehen musste, lag nicht nur daran, dass Hans in jener Saison dringend gebraucht wurde, als Schauspieler und Regisseur. Ich war der Schuldige, ich hatte ihm Hörner aufgesetzt, es gab da kein Vertun. Ich wurde also, weil ich dort eh zur Schule ging, nach Schweinfurt ausquartiert, in eine Art Jugendheim. Und an den Wochenenden traf ich mich heimlich mit Mechthild. Es war Sommer, wir breiteten auf einer Waldlichtung eine Decke aus, mehr brauchten wir nicht für unser Glück. Es war spannend und erregend und dramatisch, und dann war es doch vorbei. Wir wurden beide nach Berlin zitiert, wo eine Tante wohnte, die gewissermaßen die Schiedsrichterin spielen sollte. Ich saß allein in einem Zimmer, Mechthild saß in einem anderen, und dann hieß es: Entscheide dich gefälligst. Nimm den Jungen, wenn du wirklich mit ihm leben willst. Und wenn du das nicht willst, dann mach mit ihm Schluss!
Sie hat sich nicht für mich entschieden. Sie hatte zwei Kinder, einen Beruf, eine Ehe, die kaputt war. Ich ging zur Schule und lernte zu wenig fürs Abitur.
Ich war sehr traurig und verlor sie doch allmählich aus den Augen. Die beiden wurden in eine andere Stadt engagiert und schafften es doch nicht, ihre Ehe zu retten. Hans, so erzählte man sich, habe sich später jungen Männern zugewandt. Mechthild hat Theater gespielt und war manchmal in deutschen Filmen zu sehen.
Ich habe das Abitur gemacht. Bestanden habe ich es nicht. Ich war nicht gut genug in Mathe, in Latein auch nicht, ich bin durchgefallen. Und ich war mir ganz sicher, dass ich es nicht noch einmal versuchen wollte.
Ich wusste inzwischen, was ich werden wollte. Das Abitur brauchte ich dafür nicht.