Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. 1. Teil
    1. 1. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
    2. 2. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
    3. 3. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
    4. 4. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
    5. 5. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
    6. 6. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
    7. 7. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
    8. 8. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
    9. 9. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
  8. 2. Teil
    1. 1. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
      7. Sieben
    2. 2. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
      7. Sieben
    3. 3. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
    4. 4. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
    5. 5. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
  9. 3. Teil
    1. 1. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
      7. Sieben
      8. Acht
      9. Neun
    2. 2. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
      7. Sieben
      8. Acht
      9. Neun
      10. Zehn
      11. Elf
      12. Zwölf
    3. 3. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
      7. Sieben
      8. Acht
    4. 4. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf
      6. Sechs
      7. Sieben
      8. Acht
      9. Neun
      10. Zehn
    5. 5. Kapitel
      1. Eins
      2. Zwei
      3. Drei
      4. Vier
      5. Fünf

Über dieses Buch

Ein alter Fall holt E.L. Pender ein …

1985: Der 15-jährige Luke wächst im Trailerpark bei seinem kriminellen Vater und seiner Stiefmutter auf – bis beide bei einem Polizeieinsatz erschossen werden. Der traumatisierte Junge landet schließlich in einer psychiatrischen Anstalt. Dort sinnt er auf Rache an allen, die Schuld an seiner Situation tragen. Ganz oben auf der Liste: der ehemalige FBI-Agent E.L. Pender!

Über den Autor

Jonathan Nasaw (geboren 1947) lebt in Kalifornien und ist der Autor zahlreicher Horror- und Psychothriller. Viele davon sind SPIEGEL-Bestseller.

Jonathan Nasaw

Der Sohn
des Teufels

Aus dem amerikanischen Englisch von
Jochen Stremmel

beTHRILLED

Für Luke Nasaw
(der immer wie ein Sohn für mich war)

1. Teil

1. Kapitel

Eins

An dem Morgen, als mein Vater aus Marshall City anrief, um uns mitzuteilen, dass ihm das FBI auf die Pelle rückte, war ich im Wohnwagen und sah zu, wie Teddy, meine Stiefmutter, sich anzog.

Versteht mich nicht falsch, ich war nicht scharf darauf, ihr dabei zuzusehen. Teddy war eine Transe mit Implantaten vor ihrer Geschlechtsumwandlung und gebaut wie ein Footballverteidiger mit Titten. Aber der August in den Sierras kann mörderisch sein (die Temperatur lag schon bei vierunddreißig Grad im Schatten), und der Wohnwagen hatte die einzige Klimaanlage auf dem Gelände. Ich war fünfzehn und wohnte allein in einem Schulbus ohne Klimaanlage, der vierhundert Meter von dem Wohnwagen entfernt den Berg hoch lag. Kein fließendes Wasser, aber ich hatte Elektrizität und so viel Intimsphäre, wie ich brauchte. Und was aus ihrer Perspektive wichtiger war: Big Luke und Teddy ebenfalls.

Als mein Vater anrief, saß ich an dem Klapptisch in der Kochnische und beschäftigte mich mit meiner zweiten Tasse Kaffee. Teddys umgekehrter Striptease fand am anderen Ende des Wohnwagens statt. Sie hatte die Schlafzimmertür offen gelassen und kam halb angezogen heraus, um ans Telefon zu gehen. Ich trug selbst nur Shorts und Sandalen. Weil ich nicht wollte, dass sie auf dumme Gedanken kam, tat ich so, als wäre ich wirklich daran interessiert, durch die halbgeöffneten Jalousien auf das Gemüsebeet hinter der Küche zu schauen, wo die staubigen Tomatenpflanzen an ihren Stangen hingen wie Soldaten, die man vor einem Erschießungskommando festgebunden hatte.

Irgendwie konnte ich an dem Schweigen erkennen, dass es sich um schlechte Nachrichten handelte. Teddy hatte sich in den Liegestuhl fallen lassen und sah aus, als hätte sie jemand mit einem Baseballschläger in den Bauch gehauen, und sie versuchte immer noch, Luft zu bekommen.

»Was ist los?«, fragte ich sie.

Sie schaute überrascht zu mir herüber, als hätte sie vergessen, dass sich noch jemand in dem Raum befand, und nickte dann langsam mit offen stehendem Mund und dem Telefon am Ohr. Mir war nicht klar, ob ihr Nicken eine Reaktion auf meine Frage oder das Telefon war. Schließlich bekam sie sich aber wieder in den Griff. Sie fing an, Sachen zu sagen wie: »Mach jetzt keine Dummheiten« und »Ich kümmere mich um alles« und »Niemand braucht was davon zu erfahren«. Dann schaute sie wieder zu mir hoch. »Das verklickerst du ihm besser selber«, sagte sie ins Telefon und hielt es mir hin.

Zehn Jahre sind seit diesem schrecklichen Morgen vergangen, aber ich kann mich immer noch an den merkwürdigen Geruch des Wohnwagens, das Brummen der Klimaanlage und die Art und Weise erinnern, wie die Staubkörnchen in den Streifen des Sonnenlichts tanzten, das sich durch die Jalousien hereindrängte, als ich durch den Raum ging und meiner Stiefmutter das Telefon abnahm. »Hallo?«

»Little Luke?«

»Dad?«

»Hau ab.«

»Was?«

»Verpiss dich. Gleich wird die Kacke ganz schön am Dampfen sein. Du solltest besser nicht darin verwickelt werden.«

»Wo soll ich denn hingehen?«

»Zu deinen Großeltern.«

Er meinte die Eltern meiner toten Mutter. Er war Vollwaise. Ich war kurz davor, einer zu werden. »Auf keinen Fall. Vergiss es.«

»Ich habe keine Zeit zum Diskutieren. Gib mir nochmal Teddy.«

Das war’s. Kein letzter väterlicher Rat: Bleib dir selber treu oder: Piss nicht gegen den Wind. Nicht mal ein popeliges Tschüss, geschweige denn: Ich liebe dich. Ich konnte die Sirenen im Hintergrund hören, also ist mir klar, unter welchem Druck der Mann stand. Aber hätte ihn ein nettes Wort zu mir denn umgebracht, zum Teufel nochmal?

Stattdessen bekam ich Teddys letzte Worte an ihn zu hören. »Ich liebe dich Baby.« Darauf folgte eine Pause, die lang genug für ein: »Ich liebe dich auch, Baby« war. Sie muss gewusst haben, was als Nächstes kam, weil sie das Telefon von ihrem Ohr nahm. Wir hörten beide den Schuss. »Ihr Ärsche!«, begann Teddy in den Hörer zu schreien. »Ihr blöden Arschlöcher, leckt mich doch am Arsch!« Sie strapazierte ihren Wortschatz ganz schön.

Ich entwand ihr das Telefon, hörte eine Männerstimme, nicht die von Big Luke, etwas von einem feigen Hurensohn brüllen und legte auf. Ich weiß nicht, ob ich erklären kann, was ich in dem Moment fühlte. Es war so, als ob ich wüsste, was passiert war, und als ob ich es zur gleichen Zeit nicht wüsste. Alles andere war jedoch vollkommen klar, alles was ich sehen, hören und anfassen konnte. Teddy war in dem Sessel zusammengebrochen. Sie hatte einen Slip an, aber kein Hemd. Ihre fleischigen Arme hingen seitlich vom Sessel herunter, als gehörten sie nicht zu ihr. Ich legte ihr meine Hand auf die nackte Schulter. Sie war warm. Sie ergriff mein Handgelenk und lehnte ihre feuchte Wange gegen meine Hand. Dann zog sie meine Hand hinunter und drückte sie fest gegen ihre Brust. Ich glaube, sie hatte eine Sekunde lang vergessen, wer ich war, oder dachte, ich wäre mein Vater oder so. Mehr aus benommener Neugier als aus sonst einem Grund ließ ich meine Finger wandern. Sie fühlte sich okay an, entsprach aber nicht meinen Erwartungen. Ich konnte spüren, wie sich das Implantat hin und her bewegte.

Einen Augenblick später fand ich mich auf dem Boden wieder, und mir klangen die Ohren. Meine Stiefmutter war auf dem Weg ins Schlafzimmer. »Wenn du immer noch hier bist, wenn ich rauskomme, bring ich dich um.«

Zwei

Zehn Uhr am Dienstagmorgen. Eine Überwachungsmaßnahme im Postamt in Marshall City, Kalifornien. Auf Penders Hula-Hemd breiteten sich schon, ausgehend von den Achselhöhlen, der Wölbung seines Bauchs und unten am Kreuz, Schweißflecken in Form von Landmassen aus und drohten sich zu vereinigen, als wollten sie die Pangäa-Hypothese in umgekehrter Reihenfolge illustrieren. Sein Partner Bill Izzo saß in einem Wagen mit Klimaanlage, der auf der anderen Straßenseite geparkt war, und machte Pender durch seinen fleischfarbenen Ohrhörer immer dann Meldung, wenn jemand, der der groben Beschreibung des unbekannten Subjekts, des Unsubs, entsprach – weiß, männlich, dunkelhaarig, Bodybuilder-Figur –, das Gebäude betrat.

Der Grund dafür, warum Special Agent William C. Izzo es im Wagen kühl hatte, während Special Agent E. L. Pender im Postamt vor Hitze verging, bestand darin, dass Izzo, egal wie er angezogen war, immer wie ein FBI-Mann aussah und Pender nie. Über einen Meter neunzig groß, kahl wie eine Melone, massig, unattraktiv, gekleidet in dieses durchschwitzte Hawaiihemd, Bermudashorts, kniehohe schwarze Strümpfe und offene Sandalen, stand er in der Schalterhalle und gab vor, ein Formular für einen Expressbrief auszufüllen, während er insgeheim die vierte winzige Tür von rechts, dritte Reihe von oben, in der Wand von Postfächern aus Messing und Glas ins Auge fasste. Weil vielleicht nicht das Unsub die Post abholen würde, wie Pender sich immer wieder sagen musste. Konnte im Grunde jeder sein: ein Bruder, eine Freundin, eine kleine alte Dame.

»Ed, der hier könnte es sein.« Izzos Stimme knisterte in Penders Ohr. »Jeans, rotes Top. Arme wie Popeye. Könnte bewaffnet sein.«

Indem er zweimal gegen das Mini-Mikrofon unter seinem Hemdkragen klopfte, signalisierte Pender, dass er verstanden hatte. Die Eingangstür lag auf seiner rechten Seite. Als der Mann in dem roten Top auf dem Weg zu den Postfächern an ihm vorbeikam, warf Pender einen verstohlenen Blick auf das Foto unter dem braunen Briefumschlag, den er angeblich verschicken wollte. Es war eine unscharfe Vergrößerung des Unsubs, auf der es die Lone-Ranger-Maske wie auf dem Video trug. Das sah nach dem gleichen Mann aus, er griff nach dem richtigen Postfach, und er drehte das Rädchen des Kombinationsschlosses sogar mit den Knöcheln, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

»Das ist unser Typ«, flüsterte Pender in seinen Hemdkragen. Aber das Postamt war voller Zivilisten, und deshalb kamen er und Izzo überein, sich den Mann draußen zu schnappen, auf der Straße. Izzo gab die Nachricht an den Deputy vom Sheriff’s Department des Marshall County weiter, der die Laderampe hinter dem Postamt im Auge behielt.

Pender wartete, bis Unsub wieder an ihm vorbeikam und folgte ihm dann mit zwei bis drei Schritten Abstand. Aber als dieser die Eingangstür öffnete, kam der Deputy Sheriff um die Ecke des Gebäudes geschossen und fuchtelte mit einer Pumpgun herum.

Ach du Scheiße, dachte Pender, als der Mann sich umdrehte und ins Postamt zurückging, wobei er fast mit ihm zusammenstieß. Ihre Blicke trafen sich; Pender wusste, dass er erkannt worden war. Die Zeit zum Showdown war gekommen. Unsub griff nach der .38er Selbstladepistole im Hosenbund seiner Jeans, Pender nach der Smith & Wesson Model 10, die er in einem Gürtelholster im Rücken statt in seinem bewährten Schulterholster aus Kalbsleder trug, was bedeutet hätte, dass er in der Augusthitze ein Jackett hätte anziehen müssen.

Vorteil Unsub, der zuerst zog und den Abzug betätigte, während Pender immer noch in seinem Rücken herumfummelte. Zum Glück für Pender war entweder die Patrone ein Versager oder Unsub hatte es versäumt, die Waffe durchzuladen.

Mittlerweile hatte Pender es fertiggebracht, seine Pistole zu ziehen, aber in der Schalterhalle waren so viele Menschen, dass er nicht schießen konnte. Unsub täuschte links an und lief blitzschnell nach rechts durch die Schalterhalle, wobei er in Panik geratenen Postkunden auswich und im Sprung über den Schalter setzte, um nach hinten zur Laderampe zu flüchten. Für deren Absicherung der Deputy zuständig gewesen war, der die Überwachung gerade verpatzt hatte, sich jetzt aber natürlich auf der Vorderseite befand.

Man schrieb das Jahr 1985. Pender, der vierzig Jahre alt war, zehn Kilo über seinem Kampfgewicht lag und eine Packung Marlboro am Tag rauchte, hievte sich unrühmlich über den Schalter und jagte dem Mann durch die Hintertür nach, über die Laderampe, die Betontreppe hinunter, quer über eine staubige Gasse und durch die Hintertür eines zweistöckigen Antiquitätenladens. Izzo kam durch die Vordertür des Geschäfts gerannt, als Pender hinten hineinrannte. Eine Frau, die hinter einer Glasvitrine mit Nippsachen Deckung gesucht hatte, zeigte ängstlich auf die Treppe, die in den ersten Stock führte.

»Kommt man da oben irgendwie raus?«, fragte Izzo flüsternd.

»Nur durchs Fenster.«

Izzo trug eine schusssichere Weste unter einem einreihigen grauen Jackett, das entsprechend großzügig geschnitten war, und übernahm deshalb die Führung. Durch die dritte der drei Türen im ersten Stock konnten die Agenten hören, wie Unsub mit jemandem telefonierte. Der kleinere Izzo gab Pender durch eine Handbewegung zur Tür hin die Frage zu verstehen, ob er den Vortritt haben wolle. Pender zeigte auf seine Sandalen. Izzo zuckte mit den Achseln und trat das Türschloss mit seinem Florsheim zu Splittern. Die Tür sprang auf. Über Izzos Schulter sah Pender Unsub mit dem Telefon in einer Hand und dem .38er in der andern hinter einem leeren Schreibtisch sitzen.

Izzo schrie: »Fallen lassen! Nehmen Sie die Hände hoch!«

Unsub sagte: »Ich liebe dich auch, Baby«, in das Telefon, steckte sich die Mündung des .38ers in den Mund, sog die Wangen ein und zog den Abzug durch. Diesmal war die Patrone offenbar kein Versager.

Drei

Ich glaubte Teddy, als sie sagte, sie würde mich umbringen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir einen prekären Waffenstillstand geschlossen, aber nachdem mein Vater nicht mehr im Spiel war, konnte man unmöglich sagen, was passieren würde. Ich verließ allerdings nicht das Grundstück. Stattdessen schlich ich hinter den Wohnwagen und schaute durch die Jalousie, wo ich gerade noch sah, wie Teddy, die inzwischen eine kurze Hose und ein T-Shirt trug, rückwärts aus dem Schlafzimmer kam und Big Lukes alten grünen Schrankkoffer hinter sich herzog.

Als sie weiterging und den Koffer zur Tür hinaus und die aus einem Schlackestein bestehende Eingangsstufe (die Big Luke mindestens so lange, wie ich bei ihnen wohnte, durch etwas Dauerhaftes hatte ersetzen wollen) hinunterzerrte, nahm ich an, dass sie sich auch verpissen würde, wie er es mir befohlen hatte. Ich lugte um die Ecke des Wohnwagens, um nachzusehen, ob sie schon verschwunden war, aber sie hatte den Koffer nur bis zur Feuerstelle gezogen, einem mit der Schaufel ausgehobenen Kreis geschwärzter Erde mit gespaltenen Holzblöcken drumherum, auf denen man sitzen konnte. Wir hatten sie den ganzen Sommer über nicht benutzt, weil der Wald in der Umgebung zu trocken für ein offenes Feuer war.

Teddy kniete sich hin und öffnete den Koffer mit einem Schlüssel, bevor sie in den Schuppen am Ende der Zufahrt ging und mit einem großen roten Benzinkanister wieder herauskam. Sie machte sich nicht die Mühe, den Ausgießer einzusetzen, sondern schraubte nur den Deckel ab und schüttete Benzin über den ganzen Koffer. Sie klopfte auf der Suche nach einem Feuerzeug alle ihre Taschen ab, aber sie hatte ausnahmsweise (Big Luke und Teddy rauchten beide wie die Schlote) keins dabei.

Sie ging zurück zum Wohnwagen. Ich duckte mich wieder, damit sie mich nicht sehen konnte, aber sobald sie drinnen war, rannte ich gerade über die Lichtung zu der Feuerstelle. Ich musste einfach wissen, was in diesem Koffer war, daran führte kein Weg vorbei. Und um ehrlich zu sein, was ich zu finden erwartete, war Rauschgift. (Big Luke und Teddy waren kleine Dealer, hauptsächlich Gras und Speed.) Stattdessen war der ganze Koffer mit Videokassetten vollgestopft. Was sollte das denn, verdammte Scheiße? Ich griff hinein und schnappte mir eine, die irgendwie vom Benzin verschont geblieben war, und drehte sie gerade herum, um die Beschriftung zu lesen, als ich einen Knall hörte. Gleichzeitig wurde einen halben Meter links von mir ein bisschen Staub aufgewirbelt. Ich schaute hoch und sah Teddy mit ihrer zierlichen kleinen .22er Pistole mit dem Perlmuttgriff in der Hand im Eingang des Wohnwagens stehen. Sie schoss noch einmal aus der Hüfte. Der Koffer machte einen kleinen Hopser, dann gab es einen Schlag und ein Zischen, und als Nächstes flog ich rückwärts durch die Luft.

Als ich ungefähr drei Meter weiter wieder auf dem Boden landete, war ich barfuß: Die Explosion hatte mich glatt aus meinen Sandalen gepustet. Durch die Flammen und den öligen schwarzen Rauch und die flirrenden Hitzewellen sah ich Teddy langsam durch den Hof auf mich zukommen, während sie die Pistole mit beiden Händen auf mich richtete. Alle zwei Schritte zuckte die Pistole nach oben, aber ich hörte keine Schüsse: Offenbar war ich durch die Explosion taub geworden. Es war so, als würde ich einen Film sehen, und jemand hätte den Ton abgestellt.

Aber meine Nase funktionierte noch. Ich roch den Gestank von Benzin und schmelzendem Plastik und etwas noch Schlimmerem, zu dessen Identifizierung ich einen Moment brauchte. Es waren verbrannte Haare: Ich begriff plötzlich, dass mein Irokesenschnitt qualmte. Und Teddy kam immer noch auf mich zu. Also rappelte ich mich auf und schlug mit der flachen Hand auf meine Haare, während um mich herum Kugeln, die ich nicht hören konnte, in den Boden klatschten und kleine Staubwolken aufwirbelten.

Dann geschah ein Wunder. Als sie den brennenden Koffer erreichte, blieb Teddy stehen, hob die Pistole, steckte den Lauf in ihren Mund, schaute mir direkt in die Augen, während sie von Rauchschwaden umgeben war, und drückte auf den Abzug.

Noch ein Wunder: Ich konnte wieder hören. Nicht den Schuss, aber das leise Knistern der Flammen und das Blubbern des schmelzenden Plastiks und schließlich, nach einer Zeitspanne, die mir unglaublich lang vorkam, einen zweiteiligen dumpfen Aufschlag, als Teddy auf die Knie fiel und kopfüber in den Koffer stürzte.

Dann war es bis auf einen letzten unheimlichen Ton vorbei, ein schrilles, langgezogenes Iiiiiiiiiiii, wie Dampf, der aus einem Teekessel pfeift. Ich weiß nicht genau, was es war, ob Teddy nun geschrien hat, was bedeuten würde, dass sie irgendwie noch am Leben war, oder ob es nur etwas war, das passiert, wenn eine Leiche in dieser Stellung verbrennt, überhitzte Luft, die an den Stimmbändern vorbeigepresst wird oder etwas in der Art. Aber selbst nach all diesen Jahren kann ich es manchmal nachts, wenn es sehr still ist, noch hören: Iiiiiiiiiiii

Vier

Vor 1985 waren Snuff-Filme eine Art Großstadtmythos. Jeder kannte irgendjemanden, der irgendjemanden kannte, dessen Cousin behauptete, ein Pornovideo gesehen zu haben, in dem tatsächlich ein Mord begangen wurde, aber niemand behauptete, persönlich einen gesehen zu haben, bis die FBI-Abteilung für Organisiertes Verbrechen im Juni jenes Jahres eine Razzia in einem Lagerhaus in Paramus, New Jersey, machte und einen Karton identischer Videokassetten fand, die die Aufschrift trugen: Principals of Accounting, Tape 3 – Rektoren der Buchhaltung, Band 3.

Sogar zu diesem Zeitpunkt wären die Videos vielleicht nicht aufgefallen, wenn Special Agent William C. Izzo in seiner Jugend nicht Sieger im Buchstabierwettbewerb der Primary School 139 in Queens gewesen wäre. Er kannte nicht nur den Unterschied zwischen principals (Rektoren) und principles (Prinzipien), er erinnerte sich auch noch an die Eselsbrücke: The princiPAL is the student’s PAL – Der Rektor ist der Kumpel des Schülers.

Als er den Film zum ersten Mal sah, dachte Izzo, er wäre auf einen durchschnittlichen Amateurporno gestoßen: pummelige Frau mittleren Alters hat Geschlechtsverkehr mit einem durchtrainierten, dunkelhaarigen Weißen, der eine weiße Lone-Ranger-Maske trägt. Aber in den letzten fünfzehn Minuten des halbstündigen Videos wird die Frau bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, wiederbelebt, gewürgt, wiederbelebt und schließlich so lange gewürgt, bis sie tot ist.

Diesen Film auch nur einmal zu sehen war alles andere als einfach – der arme Izzo musste ihn mehrfach sehen, zunächst mit dem ASAC (Assistant Special Agent in Charge), dann mit dem SAC und schließlich mit dem AD (Assistant Director). Und nachdem die anschließende Untersuchung mit Izzo als CA (Case Agent) grünes Licht bekommen hatte, sah er ihn mit einem Techniker immer wieder, Einstellung für Einstellung, auf der Suche nach Hinweisen, die zur Identifizierung und/oder zum Wohnort der Videofilmer führen konnten.

Für den großen Durchbruch in der Untersuchung sorgte jedoch nicht Izzo, sondern ein ganz junger Agent, der auf einem vor Perth Amboy vertäuten Frachtkahn den Müll aus dem Lagerhaus sichtete. Anfang August entdeckte er einen fleckigen und zerknüllten Frachtbrief für einen Karton Videokassetten zu Ausbildungszwecken, der von einem Postfach in Marshall City in Kalifornien abgeschickt worden war.

Als die Bemühungen fehlschlugen, die Identität des Postfachmieters zu ermitteln, schlug Izzo eine potenziell arbeitsintensive Überwachung vor. Da er annahm, dass er mindestens vier Agenten brauchte, um den Job richtig zu machen, beantragte er acht und bekam einen. Special Agent E. L. Pender von der Liaison Support Unit, der an einem ähnlichen Fall im nahe gelegenen Calaveras County gearbeitet hatte, wurde abgestellt, um Izzo zu unterstützen.

Pender war schon seit fast drei Wochen in Kalifornien und half den Agenten vor Ort dabei, die Opfer der Serienkiller Charles Mapes und Leonard Nguyen zu identifizieren. Tag für Tag studierte er die Frauen in den Videoaufzeichnungen, die Mapes und Nguyen von ihren Folter-Morden gemacht hatten, um sie mit den Beschreibungen und Bildern von Frauen zu vergleichen, die in allen Staaten im Westen der USA als vermisst gemeldet waren. Und Nacht für Nacht trank er sich in einen Vollrausch, um den gottverdammten Videorekorder in seinem Kopf so lange auszuschalten, bis er eingeschlafen war.

Das einzige Gute an den Ermittlungen im Fall Mapes-Nguyen war, zumindest was Pender betraf, dass sie vorüber waren. Mapes war tot, Nguyen war geflohen, und auf die eine oder andere Weise waren alle Opfer, die identifiziert werden konnten, auch identifiziert worden – übrig geblieben waren von ihnen nur ein paar verkohlte Knochenfragmente, die anonym begraben werden mussten.

Und jetzt, wo Unsub (a) tot und (b) kein Unsub mehr war, weil er an Hand seiner Fingerabdrücke als ein Ex-Sträfling namens Luke Sweet – letzte bekannte Adresse: ein Wohnwagen in den Ausläufern der Sierra – identifiziert worden war, gab Pender sich der Hoffnung hin, dass auch die Ermittlungen im Marshall County so gut wie abgeschlossen waren. Er freute sich darauf, nach Hause zu kommen und sich ein bisschen Ruhe und Erholung zu gönnen.

»Ich werde ein bisschen Krabbenfleisch essen, ein bisschen Golf spielen und vielleicht eine Nummer schieben, wenn die Missus in der richtigen Stimmung ist«, erzählte er Izzo, während ihr Dienstwagen, ein dunkelblauer Crown Victoria, der ihnen vom FBI Field Office in Sacramento zur Verfügung gestellt worden war, sich ans Ende eines Polizeikonvois anschloss, der im Wesentlichen aus jedem Fahrzeug im Marshall County mit Blaulicht und Sirene bestand.

»Du bist verheiratet?«, fragte Izzo. »Wir arbeiten jetzt seit wie lange, fast einer Woche zusammen – ich hatte keine Ahnung, dass du verheiratet bist.«

Pender zuckte mit den Achseln. »Na ja, vielleicht hast du deinen Finger damit auf den wunden Punkt gelegt.«

Fünf

Wenn ich mir jetzt die Mühe machen würde, mich an Teddys Stelle zu versetzen, würde sie mir vermutlich ein bisschen leidtun. Damals war ich zu sehr damit beschäftigt, das Feuer zu löschen, um etwas anderes als Freude darüber zu empfinden, dass sie sich selbst umgebracht hatte und nicht mich. Da meine Augenbrauen versengt waren und mein Gesicht zu brennen begann, spritzte ich mich zuerst selber ab, und dann zerrte ich den Schlauch so weit von der Rückseite des Wohnwagens nach vorn, wie es ging. Er war immer noch mehr als zehn Meter zu kurz, aber wenn ich damit nach oben zielte, konnte ich einen Wasserstrahl auf den Schrankkoffer richten.

Und auf Teddy natürlich, die immer noch da kniete, aber so über den Koffer gebeugt war, dass ihr Kopf und ihre Arme sich darin befanden und ihr großer Arsch herausragte. Das Feuer zischte und dampfte und blubberte, der Rauch stieg in schwarzen und dann in weißen Wolken empor. Ich legte den Schlauch auf den Boden und ging hin, um mir das Ganze von Nahem anzusehen. Glücklicherweise bin ich nicht zimperlich, weil nicht nur der Geruch absolut haarsträubend war, außerdem wurde auch das ganze geschmolzene Plastik und Zelluloid langsam wieder hart, während es abkühlte. Wenn sie vorhatten, Teddy zu begraben, mussten sie ihr entweder den Kopf abschneiden oder ein T-förmiges Loch ausheben und den Koffer mit ihr begraben.

Also war ich jetzt pitschnass, leicht verbrannt und frisch verwaist. Vermutlich hatte ich auch einen Schock erlitten, weil ich mich trotz Big Lukes Warnung immer noch nicht verpisste. Stattdessen wanderte ich zurück zu meinem Bus, trocknete mich ab, schmierte Neosporin auf einige kleinere Brandwunden, warf zwei Aspirin ein, zog mir eine abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt mit der handgeschriebenen Frage Warum glotzt du so blöd? auf dem Rücken an und rollte mir einen Dicken. Dann legte ich eine Bob-Marley-LP auf den Plattenspieler, schaltete die Außenlautsprecher ein, drehte auf volle Lautstärke, kletterte auf das Dach des Busses und setzte mich auf meinen Liegestuhl, um mich zu bekiffen und meine Lage zu überdenken.

Ich kam allerdings nicht lange zum Denken. Als ich den Truthahngeier im Himmel über dem Wohnwagen von meinem Dad kreisen sah, konnte ich spüren, wie ich allmählich wütend wurde. Big Luke hasste Geier. Manchmal nahm er mich mit in die Berge, und dann benutzten wir sie zum Zielschießen. Deshalb kletterte ich die Leiter hinunter, schnappte mir meine Winchester dreißig-nullsechs und eine Schachtel Munition und schlich auf dem Pfad nach unten, barfuß und leise wie ein Indianer, während Bob Marley das bisschen Krach, das ich machte, übertönte.

Wie sich herausstellte, hätte ich wahrscheinlich in einem Panzer runterfahren können, ohne dass der auf dem Kofferrand hockende Geier etwas gemerkt hätte. Indem er mit seinem kahlen roten Kopf immer wieder zustach, riss er zischend und krächzend einen Brocken nach dem andern mit seinem gebogenen elfenbeinfarbenen Schnabel aus Teddys Arsch und hinterließ tiefe rote Furchen in dem verkohlten Fleisch.

Ich bezog Deckung hinter dem Schuppen, beugte mich vor, zielte sorgfältig und fegte den hässlichen alten Aasfresser mit einem einzigen Schuss von dem Koffer runter. Repetierte. Wartete. Zehn Minuten, fünfzehn Minuten … und da kam noch einer. Die schwarze Silhouette vor dem blauen Himmel war in ihrem mühelosen Gleitflug ein leichtes Ziel. Ich hielt ein paar Zentimeter vor und schoss ihn ab. Repetierte. Wartete. Eine halbe Stunde später glitt ein dritter Geier aus dem Norden heran und schraubte sich in die Lüfte, aber irgendetwas, möglicherweise die Leichen seiner Artgenossen, beunruhigte ihn, und er trieb davon, ohne je in Schussweite zu kommen.

Und nun war ich wieder allein, abgesehen von den Resten, die von Teddy übrig geblieben waren, und ich wurde von einem derartigen Gefühl der Leere gepackt, dass ich fast die Geier vermisst hätte. Aber dann musste ich lachen. Denn von weitem, oben vom Hügel her, konnte ich Bob Marley darüber singen hören, dass er die schmutzigen Kahlköpfe »out of de town« jagen würde.

Als Nächstes zog ich eine Plane aus dem Schuppen, drapierte sie über Teddy und den Schrankkoffer und beschwerte anschließend die Ränder mit Steinen, nicht so sehr, weil mir Teddys Leiche so wichtig gewesen wäre, sondern weil ich den Geiern nicht die Genugtuung geben wollte. Dann durchsuchte ich den Wohnwagen. Ich fand nicht das, was Big Luke und Teddy das Inventar nannten, aber ihr persönlicher Notgroschen war eindrucksvoll. An die zweitausend Dollar Bargeld, rund sechzig Gramm Gras und ein paar Gramm Eis. (Falls Sie nicht wissen, was Eis ist: Es ist Speed in einem Zustand, in dem man es rauchen kann. Falls Sie nicht wissen, was Speed ist: Es ist Metamphetamin. Falls Sie nicht wissen, was Metamphetamin ist, können Sie von Glück reden.) Ich fand außerdem eine Flasche Percodan zusammen mit Teddys ganzen Hormonen und dem übrigen Kram im Arzneischränkchen. Swantzer, Theodora: eine Tablette alle sechs bis acht Stunden, wenn die Schmerzen nicht auszuhalten sind.

Ich nahm das Bargeld, das Gras und die Schmerztabletten, aber alles andere ließ ich liegen. Und jetzt musste ich eine schwere Entscheidung treffen. In den Worten des Clash-Songs: Sollte ich bleiben oder sollte ich gehen? Ich hatte nichts Schlimmes getan, aber wenn man fünfzehn ist, spielt das keine Rolle. Wenn ich blieb, bestand nicht die geringste Chance, dass die Cops nur meine Aussage aufnehmen und mich laufenlassen würden. Stattdessen würden sie mich wahrscheinlich in ein Jugendheim stecken, während sie die Dinge klärten, die geklärt werden mussten, und mich dann nach Santa Cruz in die Obhut meiner Großeltern Fred und Evelyn verfrachten, die mir vorschreiben würden, was ich essen, wann ich ins Bett gehen, was ich anziehen und wie ich mir die Haare schneiden lassen sollte.

Entweder das oder sie würden mich irgendwohin in Pflege geben, wahrscheinlich in ein Fürsorgeheim, wo sie mir auch vorschreiben würden, was ich essen, wann ich ins Bett gehen, was ich anziehen und wie ich mir die Haare schneiden lassen sollte. Sowohl hier wie dort würden sie mich zwingen, in die Schule zu gehen, bis ich achtzehn war.

Natürlich konnte ich jederzeit einfach ausreißen, aber dann wäre ich obdachlos. Obdachlos mit so viel Geld und Drogen, dass ich eine Zeit lang der König der Ausreißer wäre, schon richtig, aber was dann?

Am Ende beschloss ich, Fred und Evelyn noch eine Chance zu geben, sich mir gegenüber richtig zu benehmen, aber unter drei Bedingungen. Erstens würde ich lieber auf eigene Faust dort hinkommen als darauf zu warten, dass die Cops eintrafen, und ich möglicherweise mehrere Nächte in einem Jugendheim verbringen müsste, bis sie geklärt hatten, wer für mich zuständig war. Zweitens würde ich mit ausreichend Bargeld dort ankommen, um die nächsten paar Monate zu überstehen. Drittens würde ich nicht vorher anrufen. Wenn meine Großeltern mich nicht haben wollten, sollten sie es mir ins Gesicht sagen, fand ich.