Marc Degens

Das kaputte Knie Gottes

Roman

Knaus

 

1. Auflage
Copyright © 2011 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Gesetzt aus der Minion von Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-06139-5

www.knaus-verlag.de

 

für Laura

Ich habe dieses Buch nicht geschrieben,
um mich an Dennis zu rächen.

Aber verzeihen kann ich ihm auch nicht.

Kinderspiele

Kunst verstehn heißt sie kaufen.

Jupp

1 Bocksprünge

Wir standen an einem Stehtisch in der »Schnitzel-Zentrale«, einer der ranzigsten Imbissbuden des Ruhrgebiets, und stocherten in unserem Essen.

»Ein Leben als vierundzwanzigjähriger Bildhauer in Bochum-Wattenscheid ist ebenso traumhaft wie der Aufstieg eines Armlosen in die Top Ten der Tennisweltrangliste«, sagte Dennis. Er hatte ein paar Pommes aufgespießt und untermalte seine Worte mit wilden Bewegungen der Plastikgabel, die in seinen riesengroßen Händen wie ein Spielzeug wirkte. »Vor allen Dingen dann, wenn man wie ich auf die dreihundert bis vierhundert Kilogramm schwere Darstellung von Gliedmaßen spezialisiert ist.«

Diese Leidenschaft beschäftigte Dennis seit dem zehnten Schuljahr, seit er im Kunstunterricht einen Daumen aus Speckstein gefertigt hatte. Die Arbeitsaufgabe lautete damals »Ängste im industriellen Zeitalter«. Ich saß neben ihm, war bekifft, zeichnete verstümmelte Comicfiguren und redete ununterbrochen auf ihn ein. Dennis ließ sich davon nicht stören.

»Drei betende Fingerkuppen«, »Der große und der kleine Zeh«, »Fuß ohne Meinung« und »Nabel I–IV« hießen die Werke, die er in oft monatelanger Arbeit aus Stein oder Holz meißelte, abformte und schließlich in Beton ausgoss. An meinem zwanzigsten Geburtstag schenkte er mir den »Fuß ohne Meinung«.

»Das ist deine Altersvorsorge«, sagte Dennis, und in seiner Stimme lag der Klang einer Kirchenglocke. Der Fuß ist das schwerste Geschenk, das ich bis heute erhalten habe.

Nach dem Zivildienst begannen wir an der Ruhr-Universität zu studieren, Dennis Kunstgeschichte, ich Germanistik und Anglistik. Nach drei Semestern warf Dennis allerdings das Handtuch. Seitdem nannte er sich freischaffend. Käufer mieden seine Plastiken, oft kam bloß ein »Ach, wenn sie nur nicht so groß wären!«.

»Aber dann hätte ich auch Goldschmied werden können«, sagte er missmutig.

Zur Finanzierung seiner Berufung, seiner Ernährung und seines Einzimmerappartements, das ihm gleichzeitig als Atelier diente, war Dennis deshalb auf verschiedene Nebenjobs angewiesen. Im Laufe der Zeit arbeitete er als Gartenteichreiniger, Medikamententester und Gepäckschließfachgeldentleerer – für den letztgenannten Job musste Dennis sogar einen Eid auf die Deutsche Bahn ablegen. Nicht weniger bizarr war seine Arbeit als Kartenverkäufer in dem Pornofilmkino »Kurbel« im Rotlichtviertel an der Gussstahlstraße.

Vier Tage in der Woche, von Donnerstag bis Sonntag, saß Dennis hinter der Kinokasse auf dem Eierberg und verkaufte in sechs Stunden etwa dreißig Eintrittskarten an fast immer dieselben Gesichter, dazu einige Flaschen Bier und ein paar eingeschweißte Ausgaben von »Titten-Kurier« und »Popp-Shop«. An den ätzenden Geruch der Desinfektionsmittel konnte er sich überhaupt nicht gewöhnen. Die Arbeitszeit von acht Uhr abends bis zwei Uhr nachts empfand er dagegen als äußerst angenehm, da sie ihm die Möglichkeit gab, direkt nach dem Wachwerden seine Lieblingsfernsehsendung anzuschauen.

Das Programm in der »Kurbel« bestand aus jeweils drei Filmen, die in einer Endlosschleife liefen und nach zwei Wochen durch drei neue Streifen ersetzt wurden. Die Kinokarte berechtigte zum Anschauen sämtlicher Filme, doch die meisten Zuschauer suchten nach ein-, höchstenfalls zweimaligem Onanieren das Weite.

Als die seltsamen Ereignisse in der »Kurbel« ihren Anfang nahmen, wurden »Ins rote Meer tauchen«, »Bocksprünge« und »Die drei und der Schleudersitz« gezeigt. Im Kino hatten eine Handvoll Männer Platz genommen und begafften »Bocksprünge«. Aus dem Dunkel drang die übliche Mischung aus Gestöhne, Flehen und knappen Kommandos.

Nach dem »Bocksprünge«-Abspann traten zwei laut diskutierende Männer aus dem Kinosaal, keiner wollte den anderen zu Wort kommen lassen.

»Also mir hat ja besonders die Kameraführung am Anfang gefallen«, sagte ein vielleicht vierzigjähriger Glatzkopf mit Nickelbrille. »Diese genialen Spiegelszenen. Das wirft ein Licht auf die geheimen Wünsche der Figuren. Wie bei Fassbinder.«

»Ich finde den Film ja eher lynchhaft«, antwortete ein etwa fünfundzwanzigjähriger Rollkragenpulloverträger. »Das Laken als Tür zu einer anderen Welt. Da muss ich sofort an den Vorspann von ›Blue Velvet‹ denken. Oder an ›Twin Peaks‹ und die schwarze Hütte.«

»Keine Spur«, erwiderte der Glatzkopf, »der Film ist so deutsch wie ein Schäferhund. Dieses laute Denken aus dem Off, während die Kamera starr auf den Brüsten der Frau ruht. Diese Technik stammt original von Alexander Kluge. Das ist Anti-Fernsehen, das würde sich nie im Leben ein Amerikaner trauen.«

Dennis wunderte sich, doch er vergaß das Gespräch, nachdem die Männer in der Nacht verschwunden waren. Doch als zwei Tage später eine zehnköpfige Gruppe, die Hälfte davon Frauen, in der »Kurbel« auftauchten und Eintrittskarten für »Bocksprünge« kaufen wollten, fiel es ihm wieder ein. Dennis erklärte den Anstehenden, dass er nur Eintrittskarten verkaufe, mit denen man auch den Film, der gerade lief, anschauen könne, woraufhin einige in der Gruppe ganz unruhig wurden: »O Gott, wir müssen uns beeilen, der Vorfilm hat schon angefangen!«

Während der Vorstellung kamen immer wieder Zuschauer zu Dennis und wollten Eis und Popcorn kaufen, obwohl er doch nur Bier und Pornohefte im Angebot hatte. Ein Langhaariger in einem Comic-T-Shirt wollte sogar das »Bocksprünge«-Filmposter erstehen, auf dem eine Wasserstoffblondine ihre Brust leckt und ein südländischer Kerl eine Rothaarige missioniert. Er bot für das Poster im Schaukasten einen Haufen Geld, doch es war das einzige Exemplar und damit unverkäuflich.

Am nächsten Abend waren sämtliche Vorstellungen ausverkauft. Nur mit Mühe und Androhung der Polizei konnte Dennis ein Biker-Pärchen daran hindern, ihren zwölfjährigen Sohn in den Film mitzunehmen.

Vor und nach dem Film löcherten die Zuschauer Dennis mit Fragen. Wer die Filmmusik komponiert habe? Wie die Romanvorlage heiße? Wann der Film in Originalfassung gezeigt werden würde?

Während einer »Bocksprünge«-Vorstellung verließ Dennis für einen kurzen Moment seinen Platz hinter der Kasse und schlich in den Vorführraum. Zwei Männer nahmen eine Frau gleichzeitig, das Publikum lachte. Als sich ein Mann in den Mund der Frau ergoss, gab es lauten Szenenapplaus.

Nach dem Film hörte Dennis wieder die üblichen Sätze.

»Das ist die neue Nouvelle Vague«, behauptete ein älterer Herr beim Entzünden seiner Pfeife. »Der hier ist noch besser als ›Außer Atem‹.«

»Ich glaube«, gestand eine Baskenmützenträgerin mit glitzerndem Blick, »der Geschlechterkampf wurde seit Bergman nicht mehr so radikal inszeniert.«

»Der Mann ist ein Genie«, schwärmte ein Rotschopf und wickelte hastig seinen Palästinenserschal um den Hals. »Ich muss morgen sofort in die Bibliothek und alles über Peter Black herausfinden.«

Eine Woche später hatte sich die »Kurbel« von Grund auf verändert. »Ins rote Meer tauchen« und »Die drei und der Schleudersitz« waren aus dem Programm genommen worden, auf der Anzeigentafel vor dem Kino stand in riesigen Lettern:

Linda Dur      Tina Ferrari

Zack Slam

in

B O C K S P R Ü N G E

von

Peter Black

Die »Kurbel« glich einem Warenhaus während des Schlussverkaufs. Alle zwei Stunden lief eine »Bocksprünge«-Vorstellung. Neben Bier und Pornoheften konnte man nun auch Chips, Schokoriegel, Weingummi, Eis, Popcorn, Sprite und Fanta kaufen. Dennis hatte keine ruhige Sekunde mehr, ständig wurde er gefragt, ob er auch Lakritz verkaufe, wie teuer eine mittelgroße Cola und wo die Toilette sei.

Als seine Chefin erklärte, dass bald auch Mittagsvorstellungen gezeigt werden würden und Dennis deshalb bereits um elf Uhr mittags zur Arbeit kommen müsse, riss sein Geduldsfaden. Er kündigte, denn das Sonnenlicht am Mittag war für seine bildhauerische Arbeit unverzichtbar. Fortan schnürte er die Keulen von Masthähnchen zusammen, werktags von sieben bis elf Uhr früh.

Man könnte glauben, dass es bessere Gelegenheiten gibt, um die Liebe seines Lebens kennenzulernen.

2 Lily

»Wenn ich mich bildhauerisch betätige, dann bin ich nie allein«, gestand mir Dennis eines Abends. »Zwei Geschöpfe leisten mir im Atelier stets Gesellschaft. Das eine ist die gerade in Arbeit befindliche Skulptur, meine Geliebte. Das andere die Einsamkeit, meine Gemahlin.«

Wir saßen auf der Matratze am Boden in seinem Zimmer und lehnten an der Wand. Ich wollte Dennis eigentlich überreden, mich in den »Zwischenfall« zu begleiten, doch das war ein aussichtsloses Unterfangen: Dennis mochte keine Diskotheken. Er trank auch keinen Alkohol, rauchte nicht, ging nicht ins Kino, hörte keine Musik, interessierte sich nicht für Fußball oder sonst einen Sport … Er ruhte in seiner eigenen Welt. Ich wäre vor Langeweile geplatzt.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich die Stelldicheins mit meiner Geliebten genieße«, schwärmte Dennis. »Das sanfte Tasten und die groben Berührungen. Es sind unvergleichliche Begegnungen, körperlich und geistig. Doch jede Zusammenkunft ist ein Schritt hin zur Auflösung unserer Beziehung.«

Das Leuchten in seinen Augen verschwand.

»Ich kann einfach nicht treu sein«, seufzte er. »Der letzte Schliff tötet all mein Begehren. Mich erregt das Fehlerhafte, Unfertige, Nichtvollendete. Sobald meine Gespielin makellos ist, verliert sie für mich jeden Reiz.«

Dennis stand auf und stellte sich in die leere Zimmerecke mit dem Rücken zur Wand.

»Ganz anders ist es mit der Einsamkeit. Sie ist meine Sandkastenliebe und weicht nie von meiner Seite. Wenn ich mich mit meinen Plastiken vergnüge, steht sie mit geballten Fäusten daneben. Die Einsamkeit ist schrecklich eifersüchtig, oft fürchte ich mich vor ihr, doch es gibt ebenso viele Momente, in denen ich mich nach dem Zwiegespräch mit ihr sehne.«

Dennis gab der Unsichtbaren einen Kuss, dann setzte er sich wieder neben mich auf die Matratze.

»Die Einsamkeit ist immer für mich da, sie kennt meine Ängste und tiefsten Abgründe. Sie spricht nicht viel, vielleicht kann ich deshalb mit ihr über alles reden. Ihr zwei«, sagte Dennis und legte den Arm um meine Schultern, »seid meine besten Freunde.«

In solchen Momenten fiel es mir schwer, ernst zu bleiben. Ich öffnete die dritte Bierdose meines mitgebrachten Sixpacks. An sich war Dennis ein sehr abgeklärter Mensch, der nur ungern über seine Kunst sprach. Doch wenn er einmal ins Reden kam, war er nicht mehr zu bremsen.

Dennis wollte wissen, wie ich das Schreiben erlebte. Ich erklärte ihm, dass ich meine Werke zwar gern in der Öffentlichkeit vortrüge und über sie spräche, dass ich das Schreiben an sich aber eher als lästige Pflicht empfände, als notwendiges Übel. Stattdessen träumte ich von einer Werkstatt, in der Mitarbeiter meine Buchideen verwirklichten und meine Textentwürfe zu Ende führten. So wie in der Malerei – oder wie beim Autor von »Der Graf von Monte Christo«, für den zeitweise über fünfzig Lohnschreiber tätig gewesen waren.

Mein Wunsch entsetzte Dennis.

»Ich glaube nicht«, sagte er streng, »dass man Schriftsteller sein kann, wenn man das Schreiben nicht liebt und sich zur Arbeit immer zwingen muss.«

Ich widersprach ihm, wir stritten uns, doch meine Argumente überzeugten ihn nicht. Das verletzte mich.

Dennis war ein Romantiker, wahrscheinlich sogar der romantischste Mensch, den ich kannte. Trotzdem kam er auf der Abschlussfahrt unserer Jahrgangsstufe mit Sandra Lippmann zusammen. Sie war ein nettes Mädchen, still, freundlich, fast noch ein Kind. Sandra passte überhaupt nicht zu Dennis, ich fand sie so spannend wie ein leeres DIN-A4-Blatt.

Sandra spielte in einem Sportverein Frisbee, las »Bücher zum Film« und hielt »Starlight Express« für die größte künstlerische Leistung der Menschheit. Als Leistungskurse hatte sie Biologie und Religion gewählt. Ihr ganzes Geld gab sie für Schnickschnack aus, der mit Motiven einer japanischen Comic-Katze bedruckt war. Als Dennis ihr die Plastik »Mahnender Zeigefinger« schenkte, verschwand diese unter Stoffbergen mit dem Katzen-Logo.

In der Zeit ihrer Beziehung sank seine bildhauerische Produktion auf den Nullpunkt, sie sprach immer nur von seiner »Bodyart«. Zum Geburtstag schenkte Sandra Dennis ein Schnupperabonnement für ein Kraftstudio. Das war, wenn ich mich recht erinnere, auch der Auslöser ihrer Trennung.

Nach dem Abitur studierte Sandra in Duisburg Grundschulpädagogik, später heiratete sie einen Chiropraktiker. Mit ihrem Mann und ihren Kindern Dinah und Rusty wohnt sie heute in einer Reihenhaussiedlung in Oberhausen mit Blick auf das Gasometer. Ich bin ihr kürzlich zufällig auf dem Flohmarkt im Rhein-Ruhr-Zentrum in Mülheim begegnet.

Sandra stand hinter einem Tapeziertisch voll mit diesem Comic-Katzenplunder: Kissen, Kaugummispender, Schlüsselanhänger, Stifte, Magneten … Auf dem Tisch lag auch ein pinkfarbener Plastikstab mit dem Katzengesicht oben und einem Drehregler unten.

»Das ist ein vibrierendes Schultermassagegerät«, erklärte mir Sandra, »äußerst selten. Dafür will ich mindestens siebzig Euro haben.«

Offensichtlich hatte ich mich in Sandra getäuscht. Und wahrscheinlich hätte ich in meiner Jugend mehr Spaß gehabt, wenn ich mein Herz den stillen Wassern und bienenfleißigen Mauerblümchen geschenkt hätte, anstatt den wahnsinnig interessanten Mädchen mit Vaterkomplex, Essstörung und Bindungsängsten hinterherzurennen.

»Sag mal«, fragte ich Sandra, »was hast du eigentlich mit der Plastik gemacht, die dir Dennis damals geschenkt hat?«

»Ach, du meinst den Finger«, antwortete sie. »Der steht jetzt unten bei uns im Heizungskeller. Schon dreimal bin ich mit dem Teil umgezogen, dabei habe ich überhaupt keine Verwendung dafür. Er ist ja auch viel zu groß und außerdem hässlich. Uwe wollte ihn schon auf die Straße zum Sperrmüll stellen. Wenn du willst, kannst du den Finger gerne haben. Du musst ihn nur abholen.«

Ich zögerte keine Sekunde. Eine Woche später fuhr ich mit einem Nachbarn und seinen beiden Lehrlingen nach Oberhausen. Seit diesem Tag hat der »Mahnende Zeigefinger« einen Ehrenplatz in unserem Esszimmer, direkt neben dem »Fuß ohne Meinung«, sehr zum Leidwesen von Katharina, meiner Frau.

Sandra war Dennis’ erste Freundin – und lange Zeit glaubte ich, dass sie auch seine letzte bleiben würde. Spätestens, nachdem er den Job in der Geflügelfabrik angefangen hatte, war ich davon überzeugt: Die Arbeit war wie Kerkerhaft in einem Gemälde von Hieronymus Bosch.

Frühmorgens wurden die Hühner in der Fabrik angeliefert, palettenweise, in niedrigen, viel zu engen Plastikkörben, in denen bis zu zwanzig Tiere zusammengepfercht waren. Die Körbe wurden ausgeleert, die Tiere fielen auf eine Förderrinne, die sogenannte Schlachtlinie.

Mehrere Arbeiter hingen die Hühner kopfüber mit den Beinen in eine Transportschiene, die herabhängenden Köpfe wurden dann durch ein unter Strom gesetztes Wasserbad gezogen, dem elektrischen Betäuber. Die Tiere fielen in Ohnmacht, anschließend schlitzten ihnen zwei rotierende Messerblätter den Hals auf.

Dann wurden die Tierleichen abgespritzt und maschinell gerupft. Die herabhängenden Köpfe wurden abgeschnitten und die Gedärme mit einem Spiralbohrer aus den Körpern entfernt.

Danach wurden die Leichen vermessen. Die nicht so schweren Körper wurden weiter zerlegt, in Brust, Schenkel, Flügel, die anderen fielen auf ein Förderband und wurden einzeln geprüft. Ein Arbeiter hob jede Leiche hoch, besah sie von drei Seiten und bewegte mit den Händen die Flügel und Schenkel.

Der nächste Arbeiter nahm dann den Körper, stopfte einen Beutel mit Eingeweiden in das tote Tier und legte es auf eine der weißen Kunststoffschalen, die auf einem Fließband an ihm vorbeizogen. Ihm gegenüber stand Dennis, der mit Gummibändern die Keulen der Hähnchen zusammenschnürte, alle drei Sekunden ein Paar. Zum Schluss wurden die Hähnchen eingeschweißt, etikettiert und verfrachtet. Auf diese Weise wurden täglich über fünfzehntausend Tiere getötet.

Die Arbeit veränderte Dennis. Er ließ den Kopf oft hängen, war niedergeschlagen und entdeckte in jeder Ecke Trauerzüge. Ich drängte ihn, sich einen neuen Job zu suchen oder arbeitslos zu melden – letzteres kam für Dennis überhaupt nicht in Frage. Sein Verhalten war mir unbegreiflich. Ich hatte den Eindruck, er wolle sich selbst bestrafen.

Dann, eines Tages, schien er plötzlich wie verwandelt. Seine Miene hatte sich aufgehellt, seine Augen strahlten, und fortan eilte er sogar mit Freude in die Fabrik. Der Grund war die neue Mitarbeiterin in der Lebendanlieferung. Sie hieß Lily.

Lily arbeitete nicht in der Fabrik, um Geld zu verdienen, sondern um die Werktätigen zum Klassenkampf zu bewegen. Sie war Leninistin, rauchte Zigarillos und konnte die »Internationale« in einundzwanzig Sprachen singen. Als Schülerin hatte sie einen erotischen Briefwechsel mit einem in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen unterhalten.

»Wahrscheinlich steht sie auch in Kontakt zu verfassungsfeindlichen Gruppen«, vermutete Dennis. »Sie hat mal etwas in diese Richtung angedeutet.«

Lily studierte Russisch und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität, ihr Vater war Professor für Mathematik, ihre Mutter eine ehemalige Tänzerin. Dennis lauschte Lilys Worten mit Andacht … Sie hätte auch Kisuaheli mit ihm reden dürfen.

Ihre Schichten begannen ein wenig zeitversetzt zu seinen. Jeden Werktag verzichtete Dennis deshalb auf seine Lieblingsfernsehsendung und wartete eine Stunde vor dem Fabriktor auf Lily, nur damit er sie ein paar Meter bis zur Haltestelle begleiten und dann in den Bus verabschieden konnte. Nach ein paar Tagen erwarb er sogar ein Monatsticket, damit er die zwanzig Minuten im Bus noch mitfahren und ihr länger zuhören konnte.

In ihren Ansprachen entlarvte Lily den Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus, fand es ein Unding, dass Mobilitätsbeschränkungen andere Unternehmen daran hinderten, die Profitratenposition eines begünstigten Unternehmens zu gefährden, und belegte stichhaltig, warum Fanny Kaplan nicht die Attentäterin Lenins sein konnte. Täglich nach der Arbeit rief mich Dennis an und breitete sein neues Wissen vor mir aus: Er erklärte mir Sinowjews Rolle innerhalb der linken Opposition, zitierte aus Molotows Liebesbriefen an Polina und nannte mir die Öffnungszeiten des Lenin-Mausoleums in Moskau. Schon freitagnachmittags freute er sich auf Montagfrüh.

Von ihm aus hätte es ewig so weitergehen können, doch eines Mittags erhielt ich von Dennis einen Anruf. Er schien bedrückt und bekam fast keinen Ton heraus.

»Es gibt grauenhafte Neuigkeiten, Mark«, klagte er schließlich, »bitte komm sofort zu mir. Mir geht es erbärmlich. Lily hat mir vorhin erzählt, dass in der nächsten Woche die Vorlesungen wieder anfangen und morgen ihr letzter Tag in der Fabrik ist. Ich werde sie nie mehr wiedersehen. Alles ist aus!«

So verzweifelt hatte ich Dennis zuletzt in der siebten Klasse erlebt, als er zum ersten Mal einen blauen Brief nach Hause geschickt bekommen hatte und seine Versetzung gefährdet gewesen war. Dennis wollte sich sogar wieder an der Ruhr-Universität einschreiben und Russisch studieren – dabei sprach er noch nicht einmal anständig Englisch.

Ich eilte sofort zu ihm und versuchte ihn zu trösten.

»Dennis«, sagte ich, »wirf die Flinte nicht so schnell ins Korn. Du kannst Lily schließlich auch privat sehen. Lade sie doch mal ins Kino ein. Oder ins Museum oder in den Zoo.«

Dennis starrte auf die weißgetünchte Wand, verfiel in regungsloses Schweigen … Dann, nach einer Weile, ballte er die Fäuste, nickte entschlossen und bat mich zu gehen. Er hatte einen Plan gefasst, am anderen Morgen wollte er ihn in die Tat umsetzen.

In der Nacht bekam er kein Auge zu. Seine Arbeit am anderen Tag erledigte er fahrig, vor dem Werktor trampelte er fast einen Pfad in den Asphalt. Als Lily aus der Fabrik kam, wurde ihm schwindelig. Kreidebleich und schwitzend saß er neben ihr im Bus, während sie ihm den Unterschied zwischen weißem und rotem Terror erklärte.

Am Hauptbahnhof trennten sich gewöhnlich ihre Wege: Sie lief die Treppe zur U-Bahnstation hinunter, er stieg wieder in denselben Bus und fuhr zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. An diesem Tag begleitete er sie jedoch nach unten. Als er im Tunnel die Lichter der einfahrenden U-Bahn sah, unterbrach er ihren Vortrag.

»Du, Lily«, sagte er mit geschlossenen Augen, »du bist doch bestimmt hungrig. Ich kenne ein nettes Café in der Nähe, dort kann man prima frühstücken. Ich möchte dich gern einladen, jetzt gleich. Wir können aber auch woanders hingehen, zum Italiener, zum Chinesen oder Araber. Oder in eine Kneipe oder in eine Eisdiele, wohin du willst. Und wenn es dir heute nicht passt, dann –«

»Klar.«

Lily stimmte zu, ohne zu zögern, mit nur einem einzigen Wort. Mit dieser Antwort hatte Dennis nicht gerechnet – zum Glück hatte er genügend Geld dabei. Lily setzte ihre Rede fort, während Dennis sie glücklich und stumm in die »Katzenstube« dirigierte.

Die Sonne schien, es war ein warmer, goldener Oktobertag, im Garten war ein Tisch frei, an dem sie Platz nahmen. Beide bestellten das französische Frühstück, Dennis bekam keinen Bissen hinunter und überließ Lily seine beiden Croissants. Inzwischen klagte sie wieder über die unerträglichen Zustände in der Fabrik.

»Vier Stunden Akkord ohne Pause, das ist ja schlimmer als in der Frühindustrialisierung«, empörte sie sich. »Man darf auch nichts trinken, nur das pisswarme Wasser aus der Plastikflasche, dabei heizt sich die Halle im Sommer auf über vierzig Grad auf, das Dach ist doch nur Wellblech. Aber niemand regt sich auf, die Türkenpapas wählen alle CDU, und die Frauen reden die ganze Zeit über das Scheißfernsehprogramm. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum du dort schuftest.«

Zum ersten Mal erzählte Dennis Lily von seiner eigentlichen Arbeit, der Bildhauerei. Dass er überdimensionale Betonplastiken von menschlichen Körperteilen herstelle und dass ihm diese Betätigung ungeheure Freude und tiefe Befriedigung verschaffe.

»Wenn ich müsste«, gestand er, »würde ich dafür sogar Geld zahlen.«

Dennis schwärmte von dem Werkstoff Beton, zählte seine künstlerischen Vorbilder auf und erläuterte die einzigartigen Möglichkeiten, die die Bildhauerei bot.

»Eine Skulptur kannst du von vorn betrachten«, erklärte er, »von oben und von der Seite. Um eine Skulptur kannst du herumgehen. Ein Bild aber, egal, ob ein Gemälde oder ein Foto, kann nur einen flachen Eindruck von einem Gegenstand vermitteln. Deshalb ist die Bildhauerei auch der Malerei und Fotografie überlegen.«

Lily und Dennis hatten die Rollen getauscht, die Sätze sprudelten nur so aus ihm heraus. Während er sprach, sagte sie kein Wort und schaute ihn mit großen Augen an. Dennis unterbrach seine Rede erst, als er auf die Toilette musste; er hatte damit bis zum letzten Moment gewartet und sich fast in die Hose gemacht.

Als er an den Tisch zurückkehrte, wollte Lily auf der Stelle seine Arbeiten sehen, sie war ganz aufgeregt.

Die beiden fuhren mit dem Bus zu seinem Wattenscheider Domizil. In Dennis’ Einzimmerwohnung herrschte das übliche Chaos. Man wusste nicht, wo man hintreten, geschweige denn sich hinsetzen sollte. Meißel, Hämmer und Spachtel lagen auf dem Boden herum, alle Gegenstände waren mit einer dicken Staub- und Pulverschicht überzogen.

Kaum hatte Dennis die Tür geöffnet, rannte Lily in den Raum, blieb vor »Das kaputte Knie Gottes« stehen, eine Plastik, zu dem ihn eine Biographie über Thomas von Aquin inspiriert hatte, und stieß einen Freudenschrei aus: »Ich habe es gewusst, vom ersten Augenblick an. Das ist sozialistischer Realismus! Du bist wundervoll.«

Sie umarmte Dennis und drückte ihren Kopf an seine Brust. Er legte seine Arme um ihre Schultern, spürte ihren hämmernden Herzschlag und schloss die Augen.

»Sozialistischer Realismus, sozialistischer Realismus«, wiederholte sie leise.

Dann küssten sie sich.

»Meine Kunst hat Lily und mich zusammengebracht«, erzählte Dennis später voller Stolz.

Niemand konnte ahnen, dass sie die zwei auch wieder auseinanderbringen würde.