Werner Freigang | Barbara Bräutigam | Matthias Müller
Gruppenpädagogik
Eine Einführung
Die Autor_innen
Prof. Dr. Werner Freigang ist Dekan an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich
Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung.
Prof. Dr. Barbara Bräutigam ist Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie
an der Hochschule Neubrandenburg.
Prof. Dr. Matthias Müller ist Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur
Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg.
Basistexte Erziehungshilfen
Herausgegeben im Auftrag der
Internationalen Gesellschaft für erzieherische
Hilfen (IGfH) von
Josef Koch | Friedhelm Peters |
Elke Steinbacher | Wolfgang Trede
Einleitung
Anliegen dieses Buches
Arbeit mit Gruppen in den Hilfen zur Erziehung als Thema von Forschung und Fachliteratur
Zum Aufbau dieses Bandes
Glossar: Erläuterungen zu den wichtigsten in diesem Band verwendeten Begriffen
Gruppe
Gruppenpädagogik
Soziale Gruppenarbeit
1 Gruppen, ihre Eigenschaften und Merkmale
1.1 Gruppe aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Ansätze
Gruppen in soziologischer Perspektive
Gruppe aus tiefenpsychologischer Perspektive
Gruppe im systemischen Verständnis
Gruppe im Verständnis der Verhaltenstheorie
1.2 Merkmale von Gruppen aus sozialpsychologischer Perspektive
1.3 Gruppen als Lernfeld
1.4 Gruppenzugehörigkeiten im Lebenslauf
2 Gruppen als Gegenstand von Pädagogik und Sozialer Arbeit
2.1 Gruppendynamik
Aspekte der Kommunikationstheorie
Themenzentrierte Interaktion (TZI)
Developmental-Modell
2.2 Leiten, Führen und Moderation von Gruppen
2.3 Abgrenzung unterschiedlicher Gruppentypen der Sozialen Gruppenarbeit
3 Geschichte und Konzepte der Gruppenarbeit und Gruppenpädagogik
3.1 Geschichte, Ziele und Methoden der Sozialen Gruppenarbeit
3.2 Konzepte und Geschichte der Gruppenpädagogik
August Aichhorn: Verwahrloste Jugend
Janusz Korczak: Kinderrechte
Fritz Redl und Bruno Bettelheim: Ich-Stärkung im therapeutischen Milieu
Glen Mills Schools: Die Gruppe als positive Gang
Just Community in Adelsheim
Lothar Kannenberg: „Durchboxen im Leben“
Positive Peerkultur
3.3 Gruppentherapie
4 Gruppenpädagogik und Gruppenarbeit in spezifischen Arrangements in der Erziehungshilfe
4.1 Das Besondere von Gruppen in der Erziehungshilfe
4.2 Differenzierung der Gruppenkonstellationen als Ausgangspunkt von Gruppenpädagogik
Klassische Differenzierung stationärer Angebote: Familienähnlich (altersgemischt) – Peergruppen-ähnlich (altershomogen)
Familienersetzende Angebote – familienergänzende Angebote
Kurz- bis mittelfristige Hilfen – dauerhafte Hilfen
Spezialisierte Angebote – unspezialisierte Angebote
Verabredete Gruppentreffen/-sitzungen – Zusammenleben der Gruppe
Unterschiedliche Informationen und unterschiedliche Informationskontrolle
4.3 Wohn- und Tagesgruppe als planvoll gestaltetes Lernfeld
4.3 Gruppenpädagogik als Etablierung einer Gruppenkultur
Etablierung einer Gruppen- und Einrichtungskultur durch Beteiligung
4.4 Gruppenpädagogik als begleitete Gruppenerfahrung
Deeskalation als Ich-Unterstützung
Peer Group Counseling
Themenzentrierte Prozessanalyse
4.5 Gruppenpädagogik und Gruppenarbeit als Training
Gruppentraining sozialer Kompetenzen nach Hinsch und Pfingsten
5 Fazit und Herausforderungen
Rahmenbedingungen für gute Gruppenpädagogik
Absicherung der Kontinuität der Gruppenmitglieder
Leben-Lernen in Gruppen anstelle von Erzogen-Werden
Wissenstransfer in andere Bereiche
Literatur
Für fast alle Menschen in modernen Gesellschaften spielt sich ein großer Teil ihres Lebens, insbesondere ihrer Kindheit und Jugend, in institutionalisierten oder informellen Gruppen ab. Ob in Schulklassen, in Vereinen oder gemeinnützigen Organisationen – Lernen und Arbeiten und auch freie Zeit sind zu einem erheblichen Teil in Gruppen organisiert. Vordergründig betrachtet geschieht dies häufig aus praktischen Erwägungen, etwa in der Schule, um Inhalte leichter und ökonomischer zu vermitteln, damit also nicht Lehrende vielfach dasselbe erzählen müssen. In Gruppen werden Kinder und Jugendliche unterrichtet, unterwiesen und trainiert, in Gruppen verbringt man die meiste Schulzeit, dort findet aber auch ein erheblicher Teil der Freizeit statt. Verschiedene Arten von Gruppen spielen dabei für uns eine Rolle, die wir hier nicht systematisch, sondern nur kurz an Beispielen benennen wollen.
Vielfach nehmen wir Gruppen als solche gar nicht wahr, weil die Zugehörigkeit nur einen sehr kurzen Zeitraum umfasst, wie etwa bei einer Arbeitsgruppe im Studium oder bei einer Fachtagung. Dass es sich in solch einem Fall wirklich um eine Gruppe handelt, wird manchmal erst dann deutlich, wenn es darum geht, eine/n Teilnehmer*in zu finden, die/der die Ergebnisse der Gruppenarbeit im Plenum vorstellt.
Manche Gruppen verstehen sich selbst nicht unbedingt als Gruppen, weil sie sich nicht als solche organisieren und konstituieren, etwa Cliquen mit wechselnder Besetzung, Kaffeekränzchen oder ähnliches. Sie unterscheiden sich damit deutlich von formellen Gruppen wie Schulklassen, Sportmannschaften oder Teams in Einrichtungen, die über relativ feste Strukturen verfügen und bei denen die Zugehörigkeit formal geregelt ist.
Relativ neu ist die zunehmende Bedeutung von Gruppen, in denen die Zugehörigkeit klar geregelt wird, wechselseitige Interaktion stattfindet, allerdings die Menschen sich nicht direkt kennen (müssen), wie etwa bei WhatsApp-Gruppen.
Wir werden uns in diesem Band auf die Betrachtung solcher Gruppen beschränken, die auf (relative) Dauer angelegt sind und deren Mitglieder direkt miteinander kommunizieren (können), also informelle Gruppen oder spontane Ad-hoc-Gruppen sowie Gruppen in sozialen Netzwerken des Internets nicht berücksichtigen. Wir wissen, dass z. B. der Umgang mit Facebook u. ä. in vielen Wohngruppen ein sehr wichtiges Thema ist, werden diesen Aspekt aber in diesem Band nicht behandeln.
Jeder hat schon die Erfahrung gemacht, dass sich – insbesondere in dauerhaften Gruppen mit intensiver Interaktion – viel mehr innerhalb der Gruppe abspielt als das, worauf die Mitglieder oder auch die Gruppenleiter*innen, Lehrer*innen, Trainer*innen, Mitarbeiter*innen in Jugendgruppen und Freizeiteinrichtungen usw. offiziell oder bewusst abzielen. Dieses Dahinterliegende ist für die Beteiligten oft wichtiger und interessanter als das, worum es vereinbarungsgemäß in der Gruppe gehen soll. Und genau das, was sich in Gruppen „unter der Oberfläche“ abspielt, was dort „scheinbar nebenbei“ gelernt wird, und wie dies gelernt wird, soll ein wichtiges Thema in diesem Band sein. Wir wollen uns mit Merkmalen von Gruppen und mit den Gesetzmäßigkeiten dessen beschäftigen, wie sich Gruppen entwickeln, was in Gruppen geschieht, um dann die Bedingungen, Möglichkeiten und Schwierigkeiten zu betrachten, wie sich Lernprozesse in Gruppen, insbesondere in Gruppen in der Erziehungshilfe planen und gestalten lassen.
Angesichts dessen, dass in der Erziehungshilfe so vielfältig und dauerhaft mit Gruppen gearbeitet wird, überrascht es, dass in den letzten Jahren – wie oben bereits angedeutet – über Gruppenpädagogik und Gruppenarbeit im Kontext der Erziehungshilfen und darüber hinaus nur sehr wenig geforscht und geschrieben wurde. Michael Galuske (2007) betrachtet in seinem Band „Methoden der Sozialen Arbeit“ Gruppenarbeit nur noch historisch als Bestandteil eines herkömmlichen Methodenkanons aus Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. Christian Schrapper stellt in einem der seltenen Beiträge zur Gruppenpädagogik angesichts der Literaturlage der neueren Methodenbücher zur Sozialen Arbeit fest: „Gruppenarbeit oder Gruppenpädagogik werden schlicht nicht mehr behandelt“ (Schrapper 2009: 205). Ähnlich wie Schrapper kommen Behnisch u. a. zu der Einschätzung, „dass sich soziale Gruppenarbeit als methodisches Konzept der Kinder- und Jugendhilfe seit den 1980er Jahren konzeptionell und in seiner theoretischen Begründung nur partikular weiter entwickelt zu haben scheint“ (Behnisch u. a. 2013: 29).
„Ist damit die Entwicklungsgeschichte einer eigenständigen Methodik und Didaktik der pädagogischen Arbeit in und mit Gruppen am Anfang des 21. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen? Aufgelöst einerseits in die zwar folgenreiche, aber doch auch banale Erkenntnis, dass in zahlreichen Handlungskontexten Gruppen eine Rolle spielen, und andererseits in die Entwicklung entweder kommunikativer oder therapeutischer Verfahren und Techniken in Gruppen?“ (Schrapper 2009: 205)
Oder liegt das geringe Interesse der Forschung an diesem Thema eher daran, dass „Kernsätze gruppenpädagogischer Methodik (…) (banal) klingen“, obwohl sie doch „komplexe Prozesse und Wechselwirkungen (reflektieren)? Es muss daher wohl als Verdienst gruppenpädagogischer Konzeptentwicklungen der zurückliegenden rund 100 Jahre verstanden werden, solche und andere ‚Grundregeln‘ der Prozesse menschlicher Arbeit bei der Aneignung und Gestaltung von Sozietät mehr experimentiert als reflektiert erarbeitet und erprobt zu haben“ (Schrapper 2009: 207 f.), sie dabei aber so erfolgreich und als selbstverständlich etabliert zu haben (vgl. auch Hartwig u. a. 2011), dass sie nicht mehr eigens thematisiert werden.
Auch Behnisch u. a., die 2013 eine der wenigen umfassenden Veröffentlichungen zu Sozialer Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen verfasst haben, teilen die Einschätzung, „wonach soziale Gruppenarbeit nach wie vor keinen zentralen Stellenwert in den fachlichen Debatten der Jugendhilfe findet“ (ebd.: 22). Sie belegen dies mit dem geringen Stellenwert, den die Themen Gruppenarbeit und Gruppenpädagogik mit Kindern und Jugendlichen in Monografien, Handbüchern, Herausgeberbänden und Fachzeitschriften in den letzten 15 Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – einnehmen.
Ein wesentlicher Grund liegt ihrer Meinung nach darin, dass Erziehungshilfen rechtlich – und auch sozialpädagogisch – als Hilfe für den Einzelfall konzipiert sind und nicht als Angebot für Gruppen. Auch das Hilfeangebot für ein Kind oder einen Jugendlichen, an einer Maßnahme der Sozialen Gruppenarbeit teilzunehmen, geht von den individuellen Bedarfen des Heranwachsenden aus und nicht von (der Situation) einer Gruppe.
Weiterhin merken diese Autor*innen (vgl. ebd.) noch an, dass Soziale Gruppenarbeit meist historisierend bearbeitet wird und aktuelle Bezüge nur selten dargestellt werden. Auch sie führen das – wie Schrapper – unter anderem auf fehlende pädagogische Forschung und Konzeptentwicklung zurück, insbesondere das weitgehende Fehlen einer pädagogisch empirischen Forschung der Sozialen Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Eine Ausnahme jüngster Zeit ist die schon genannte Arbeit von Hartwig u. a. (2011), die auf ein Forschungsprojekt zur „Gruppenarbeit in der Heimerziehung“ zurückgeht.
Etwas irritierend ist diese Situation deswegen, da jenseits des Diskurses in den Hilfen zur Erziehung Gruppen und Gruppenpädagogik an Bedeutung gewinnen. Erkennbar wird dies in der zunehmenden Institutionalisierung von Kindheit (d. h. den Tendenzen zur Defamilialisierung, der höheren Bedeutung der außerfamiliären Kleinkinderziehung und des Kita-Bereichs), in der Aufwertung informeller Bildung im Kinder- und Jugendbereich (mit dem Ziel, Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, zu partizipieren und demokratische Kultur zu erlernen) sowie auch in der Indienstnahme von – z. T. rigiden – Gruppensettings beim Scheitern an den mit der zunehmenden Individualisierung verbundenen Anforderungen des ‚selbstverantwortlichen Individuums‘, das dann auch die Konsequenzen falscher oder risikobehafteter Entscheidungen tragen muss. Eventuell aber heißt das dann nicht mehr Gruppenpädagogik, sondern ‚Kleinkindpädagogik‘, ‚frühkindliche Erziehung‘ resp. ‚Peer Culture‘, ‚Training‘ oder ‚Intensivpädagogik‘. Diese Form der ‚Modernisierung‘ oder Neu-Erfindung von Gruppen in der Kindheit kann allerdings hier nicht behandelt werden, obwohl eine Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen sicherlich wichtig wäre.
Dieses Buch will und kann keinen Leitfaden vermitteln, wie man sich als Mitarbeiter*in im Gruppenalltag behaupten und durchsetzen kann, will aber helfen, den Alltag und spezifische Situationen und Phasen in Gruppen zu verstehen, und Hinweise geben, wie es möglicherweise gelingen kann, die Arbeit mit Gruppen zu strukturieren und besser zu bewältigen.
Wir werden versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse praxisbezogen und kompakt darzustellen, dabei nicht zu sehr zu verkürzen, aber auch nicht zu sehr zu differenzieren. Wir werden Erkenntnisse der Forschung zu den Themen Gruppe, Gruppenarbeit, Gruppenpädagogik und Gruppendynamik nur insoweit darstellen, wie uns das für das Verstehen und Bearbeiten von Gruppenprozessen im Bereich der Erziehungshilfen notwendig erscheint, alles andere würde den Rahmen eines Basistextes sprengen. Dieses Buch soll eine Hilfe für die Reflexion von Prozessen darstellen, die in Gruppen geschehen, und Möglichkeiten aufzeigen, wie mit Gruppen gearbeitet werden kann. Die Leser*in wird aber keine einfachen Rezepte finden, auf die sie in schwierigen Situationen zur Bewältigung zurückgreifen kann. Im günstigen Fall kann die Lektüre dazu beitragen, dass die Leser*innen auf manche Situationen besser vorbereitet sind, sodass Fehler und Eskalationen vermieden werden können. Unsere Hoffnung ist, dass die Lektüre dazu beiträgt, Gruppengeschehen strukturierter zu beobachten und zu reflektieren und in dessen Folge auch besser handeln zu können.
Der Band richtet sich insbesondere an Praktiker*innen der Erziehungshilfen, d. h. an Fachkräfte aus der Heimerziehung, aus Tagesgruppen und Sozialer Gruppenarbeit sowie an Studierende der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, die mit Gruppen arbeiten wollen oder es bereits tun. Er ist auch gedacht für Fachleute, die in einem anderen Arbeitsbereich wie etwa dem Jugendamt arbeiten, oder für Interessierte, die außerhalb der Erziehungshilfe mit Gruppen arbeiten, also z. B. Fachkräfte und Ehrenamtliche in der Jugendarbeit, Schulsozialarbeiter*innen, sowie – künftige – Lehrer*innen und alle, die etwas über Gruppen wissen wollen. Es lässt sich bei diesem Unterfangen nicht vermeiden, auch einiges zu wiederholen, was manchen bekannt ist. Deshalb haben wir uns bemüht, so zu schreiben, dass auch die einzelnen Kapitel für sich verständlich sind.
Als Band in der Buch-Reihe „Basistexte Erziehungshilfen“ versucht er grundlegendes Wissen für die Praxis zu vermitteln und ist in vier Kapitel gegliedert, die vom Allgemeinen – „Was sind eigentlich Gruppen und welche Merkmale haben sie?“ – zum spezifischen Thema der Erziehungshilfe – „Wie können wir in den Hilfen zur Erziehung mit Gruppen arbeiten?“ – führen. Insgesamt folgen wir annähernd den Anforderungen, wie sie Geißler und Hege (2007) formuliert haben, orientieren uns daran, über welches Wissen eine Fachkraft verfügen sollte, die mit Gruppen arbeitet. Dazu auch Galuske (2007: 94 ff.):
„Wissen aus der Kleingruppenforschung
Handlungsleitende und ethische Prinzipien
Phasierungen des Gruppenprozesses
Rolle und Verhalten des/der Gruppenpädagogen/Gruppenpädagogin
Verfahren/Techniken der Einflussnahme auf das Gruppengeschehen“
In Kapitel 1 geht es um das, was wir über Gruppen wissen, deren Eigenschaften und Merkmale. Zunächst werden die zentralen Merkmale von Gruppen beschrieben, danach das Verständnis von Gruppen aus den Perspektiven unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze erläutert. Daran anschließend werden Merkmale und Arten von Gruppen vorgestellt sowie Gesetzmäßigkeiten von Gruppen, die sich aus der Kleingruppenforschung der letzten Jahrzehnte ergaben. Schließlich wird (1.4) Gruppe als zentrales Lernfeld im Lebensfeld dargestellt, dabei wird insbesondere auf die Besonderheiten von Primär- und Peergruppen eingegangen.
Im 2. Kapitel werden die theoretischen Grundlagen sowohl für das Verstehen von Gruppenprozessen wie auch für die Steuerung von und der Arbeit mit Gruppen vorgestellt. Zunächst geht es um die Dynamiken in Gruppen (2.1), dann um das Verstehen von Gruppenprozessen und -strukturen und unterschiedlichen Rollen in Gruppen, schließlich um die Leitung und Moderation von Gruppen und unterschiedliche Gruppentypen in der Sozialen Gruppenarbeit.
Im 3. Kapitel werden Geschichte und Konzepte der Sozialen Gruppenarbeit und der Gruppenpädagogik in ihren jeweiligen Kontexten vorgestellt. Gewöhnlich erwartet man die Geschichte eines Arbeitsfeldes zu Beginn eines Bandes. Bei dieser Thematik erscheint es uns allerdings so, dass die Rückbezüge zu den Wurzeln aktueller Ansätze so stark ausgeprägt sind, dass sich der unmittelbare Zusammenhang zwischen historischen und aktuellen Ansätzen auch in der Gliederung wiederfinden sollte.
Schwerpunkt des 4. Kapitels dieses Bandes ist die Arbeit mit Gruppen in den Hilfen zur Erziehung. Zunächst (4.1) wird auf die Besonderheiten der Gruppen in den Erziehungshilfen eingegangen, um im Anschluss (4.2) Ansätze der Gruppenpädagogik vorzustellen, die auf den zuvor beschriebenen Konzepten aufbauen.
Im 5. Kapitel werden offene Fragen und Herausforderungen für die weitere Entwicklung der Arbeit mit Gruppen in den Erziehungshilfen benannt.
Formal versteht man unter einer Gruppe ganz allgemein zwei oder mehr Menschen, die miteinander interagieren und sich gegenseitig in ihren Bedürfnissen und Zielen beeinflussen (Cartwright & Zander 1968; Lewin 1948, zit. nach Aronson et al. 2008: 275).
Behnisch u. a. konkretisieren diese allgemeine Definition für die soziale Gruppe folgendermaßen:
Demnach bilden Menschen „eine Gruppe,
1. wenn sie sich als zusammengehörig erleben
2. an gemeinsamen Aufgaben tätig werden und gemeinsame Ziele anstreben
3. Normen und Verhaltensvorschriften für einen bestimmten Bereich teilen
4. Ansätze von Aufgabenteilung und Rollendifferenzierung entwickeln
5. mehr Interaktionen untereinander als nach außen zeigen
6. sich mit ‚einer gemeinsamen Bezugsperson oder einem gemeinsamen Sachverhalt oder einer Aufgabe‘ identifizieren (Sader 1997: 39)
7. sich ‚räumlich und/oder zeitlich von anderen Individuen der weiteren Umgebung‘ unterscheiden (ebd.).“ (Behnisch u. a. 2013: 13 f.)
Gruppenpädagogik stellt nach einer klassischen Definition von Magda Kelber einen bewusst in dieser Form gestalteten Erziehungsprozess dar:
„Die Gruppenpädagogik stellt bewußt die kleine überschaubare Gruppe in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Hier können die persönlichen Beziehungen entstehen, ohne die eine Erziehung unmöglich ist. Solche kleinen Gruppen werden durch ein gemeinsames Anliegen (Sport, Musik, Kameradschaft, Arbeit) zusammengeführt. Die Gruppenpädagogik befaßt sich mit der bewußt pädagogisch geleiteten Gruppe. Nicht alles, was in kleinen Gruppen geschieht, ist schon Gruppenpädagogik.“ (1959: 4, zit. nach Behnisch u. a. 2013: 68)
Eine neuere, noch umfassendere Definition stammt von C. Wolfgang Müller (1987: 130):
„Die Gruppenpädagogik ist eine Methode, die bewußt die kleine überschaubare Gruppe als Mittelpunkt und Mittel der Erziehung einsetzt, und zwar beruht die pädagogische Hilfestellung auf einer Durchleuchtung und bewußten Beeinflussung des Gruppenprozesses. Das ist eine formale Bestimmung. Inhaltlich handelt es sich
1. um die Ablösung einer autoritären durch eine partnerschaftliche Erzieherhaltung;
2. um das Freimachen der Aktivität des Einzelnen in einem gemeinsam gestalteten Tun (Programm);
3. um das Ernstnehmen der selbsterzieherischen Tendenz schon in Kindheit und Jugendzeit; um das Raumgeben für ursprüngliche, entwicklungsgemäße Gemeinschafts- und Ausdrucksformen;
4. um ein pflegendes, bildendes oder führendes Arbeiten des Gruppenleiters in einer aktiv an ihrer Entwicklung mitbeteiligten Gruppe.“
Christian Schrapper (2009: 189 f.) findet am Vergleich von vier exemplarischen Gruppen (Kita-Gruppe, Heimgruppe, Gruppe in einer Jugendvollzugsanstalt und Jugendgruppe im Konfirmandenunterricht) „das Gemeinsame und Typische (…) für Gruppen, in denen Pädagogik gemacht wird“, in
1. „der sozialen „Struktur einer absichtsvoll ‚komponierten‘ Zahl von Menschen, genannt Gruppe. (…)
2. Die Organisation dieser vier Gruppen ist ebenfalls nicht zufällig, sie wird gestaltet und verantwortet von dafür eigens benannten Institutionen, die mit Aufträgen und Ressourcen ausgestattet (…) ihre pädagogischen Aufträge und Absichten realisieren.
3. Neben der so in mehrfacher Weise bestimmten sozialen Struktur dieser pädagogischen Gruppen ist auch ihre Leitung eindeutig definiert; auch hier wird nichts dem Zufall überlassen, wenngleich die vier Gruppen (…) ihre jeweils eigenen Hierarchien, Regeln und Rollen ausprägen. Die daraus in allen vier Gruppen in jeweils spezifischer Weise – abhängig von Strukturen und Personen – geprägten und gespeisten Spannungsverhältnisse von formeller und informeller Einflussnahme machen einen wesentlichen Teil der pädagogischen Kultur dieser Lerngruppen aus.
4. Ebenso wie Zugehörigkeit und Leitung sind die Programme oder Inhalte aller vier Gruppen ausdrücklich beschrieben, meist in schriftlichen Konzepten. (…)
5. Nicht zuletzt sind alle vier Gruppen durch methodische und didaktische Konzepte ausgewiesen, die (…) durch Institutionen, Gesetze, Gruppenleiterinnen und -leiter sowie ihre konkreten Programme bestimmt werden.“
Soziale Gruppenarbeit ist neben der Einzelfallhilfe und der Gemeinwesenarbeit eine der klassischen Methoden der Sozialen Arbeit. Zugleich steht Soziale Gruppenarbeit in spezieller Bedeutung für Leistungen des SGB VIII § 29.
Gisela Konopka, die maßgeblich an der Etablierung der Sozialen Gruppenarbeit in Deutschland beteiligt war, definierte Soziale Gruppenarbeit als „eine Methode der Sozialarbeit, die dem Einzelnen hilft, seine soziale Funktionsfähigkeit durch sinnvolle Gruppenerlebnisse zu erkennen und um persönlichen, Gruppen- oder gesellschaftlichen Problemen besser gewachsen zu sein.“ (Konopka 1978: 39) Behnisch u. a. spezifizieren dies mit ihrem Definitionsvorschlag:
„Soziale Gruppenarbeit umfasst alle Handlungsformen, in denen die pädagogisch geleitete Gruppe ‚Ort und Medium der Erziehung‘ (Galuske 2007: 93) ist.
Der normative Bezugspunkt sozialer Gruppenarbeit ist die ‚Entwicklung der eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit‘ (§ 1 SGB VIII).
Zur Beschreibung und Reflexion sozialer Gruppenarbeit sind vier Dimensionen (Individuum, Interaktionsbeziehung, Inhalt, Kontext) unverzichtbar.
In der pädagogischen Gestaltung entwicklungsfördernder Prozesse in Gruppen kommt es auf die balancierte Wechselwirkung individueller, interaktioneller, inhaltlicher und kontextueller Aspekte an.“ (Behnisch u. a. 2013: 21)
Der Begriff Gruppendynamik wird im wissenschaftlichen Bereich für drei verschiedene Gegenstände verwendet, was beim Lesen zu Irritationen führen könnte. Er bezeichnet
ein spezifisches Phänomen, das bei wiederholter sozialer Interaktion im persönlichen Kontakt von Menschen in Gruppen auftritt;
eine Methode, mit der Prozesse in Gruppen erfahrbar gemacht und beeinflusst werden können;
die wissenschaftliche Disziplin, die diese Prozesse, Muster und Dynamiken und die Methoden der Beeinflussung erforscht.
Wir werden im Folgenden den Begriff Gruppendynamik im Sinne des Geschehens innerhalb von Gruppen verwenden, die Tätigkeit der Beeinflussung von Gruppen werden wir Gruppenleitung nennen, die wissenschaftliche Disziplin rechnen wir der Sozialpsychologie zu, ohne sie mit Gruppendynamik zu benennen.
Der gruppendynamische Prozess einer Gruppe umfasst die gesamte Entwicklung der Gruppe, die klassischen Phasen, die Verteilung der Rollen, die Bestimmung der Ziele und Aufgaben, die Bildung der Normen und Regeln, die Gestaltung der Kultur, die Verteilung von Macht, die Aufnahme neuer Mitglieder, der Umgang mit Dritten und anderen Gruppen. Jedes Handeln (aktiv und unterlassend) in der Gruppe gehört zum Prozess und ist dynamisch. Eine zentrale Grundannahme der Gruppendynamik besteht darin, dass Eigenschaften und Fähigkeiten einer Gruppe verschieden sind von der Summe der Eigenschaften und Fähigkeiten der einzelnen Personen dieser Gruppe (vgl. König & Schattenhofer 2012).
Unter Gruppenleitung, einer Gruppenleiterin oder einem Gruppenleiter verstehen wir in diesem Band die zugeschriebene Position einer Fachkraft als Verantwortliche für die Gestaltung der Arbeit mit der Gruppe und die sich daraus ergebenden Handlungen von Steuerung, Moderation, Feedback u. ä. Eine Führer*in oder Anführer*in einer Gruppe kann demgegenüber auch ein Gruppenmitglied werden, das diese Position in der Gruppe erwirbt.
Im Alltagsverständnis erscheint uns der Begriff Gruppe meist klar, und doch gibt es eine ganze Reihe von Definitionen, die um Unterscheidungen bemüht sind. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen haben sich in der Vergangenheit mit dem Thema Gruppe befasst und dabei in unterschiedlichen Definitionen unterschiedliche Verständnisse der Merkmale von Gruppen hervorgebracht, die wir in diesem Kapitel zusammenfassend darstellen wollen.
Formal versteht man – wie in der Einleitung bereits erwähnt – unter einer Gruppe ganz allgemein zwei oder mehr Menschen, die miteinander interagieren und sich gegenseitig in ihren Bedürfnissen und Zielen beeinflussen (Cartwright & Zander 1968; Lewin 1948, zit. nach Aronson et al. 2008: 275).
Anthropologisch und evolutionsgeschichtlich leben Menschen in Gruppen zusammen und sind von Natur aus keine Einzelgänger. Es gibt ein evolutionsbiologisch bestimmtes Interesse, sich in Gruppen zusammenzuschließen, um das Überleben zu sichern, d. h. der Mensch war und ist allein von seiner genetischen Ausstattung her nur sehr schwer in der Lage, allein zu überleben. Menschen brauchen andere, aber nicht nur zum puren biologischen Überleben, sondern auch um ihres psychischen Wohlbefindens willen. Isolation, Einsamkeit und keine ausreichenden sozialen Netzwerke stellen beispielsweise große Risikofaktoren dar, psychisch zu erkranken (vgl. z. B. Sonnenmoser 2012). In Bezug und in Abgrenzung auf andere sind Menschen in der Lage, Identität herzustellen, d. h. ein Gefühl dafür zu bekommen, was sie als Individuum mit anderen Menschen verbindet, aber auch von anderen unterscheidet und in ihrer Eigenheit ausmacht.
Menschen sind ebenfalls auf andere Menschen angewiesen, wenn es darum geht, das soziale Miteinander zu organisieren, d. h. wenn es darum geht, gemeinsame Regeln, Normen und Werte zu entwickeln.
Beispiel
Lilli, Krischan und Merle, alle zwischen drei und vier Jahre alt, wollen Mutter, Vater, Kind spielen. Während des Spiels werden von allen am Spiel beteiligten Kindern kontinuierlich explizite Regeln aufgestellt. „Krischan, Du bist der Vater, Du kommst nach Hause und musst fragen, warum das Kind noch nicht schläft. Lilli, Du bist das Baby, Du musst die ganze Zeit schreien. Und Du Merle, Du bist die Mama, Du musst das Baby trösten…“ etc.
Die Anweisungen und Regeln werden immer wieder modifiziert und verändert, bis das Spiel vorbei ist. Das Spiel in der Gruppe organisiert sich bereits im frühen Kindesalter über die Aushandlung von Regeln, was somit auch die implizite Bildung von Normen und Werten beinhaltet: Es kommt häufig vor, dass Säuglinge schreien; es gehört sich dann als ein liebevoller Umgang und ist somit richtig und wertvoll, dass sich ein Erwachsener darum kümmert und das Baby tröstet.
Alle Gruppen haben bestimmte eigene Regeln, Werte und Normen, nur sind diese nicht immer klar formuliert und z. T. auch nicht im Bewusstsein der Gruppe, sondern eher für eine Person außerhalb der Gruppe klar zu erkennen. Dieses wird vor allem beim Aufeinandertreffen von Gruppen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund deutlich.
Beispiel
Beim Besuch einer Sozialarbeitseinrichtung in einer kleineren US-amerikanischen Stadt wird den deutschen Gästen Wasser oder Kaffee zum Trinken angeboten. Bei der Entscheidung für Wasser bekommen alle eine Plastikflasche ohne Glas. Für den deutschen Besucher wird ersichtlich, dass es in diesem kulturellen Kontext offenbar erlaubt ist und keinen Regelverstoß darstellt, in Gegenwart von anderen aus der Flasche zu trinken.
Aronson et al. (2008) verweisen auf die tendenzielle Homogenität von Gruppen. Menschen fühlen sich zu den Menschen hingezogen, die ihre Einstellungen teilen und mit denen sie sich in irgendeiner Weise identifizieren können. Insofern tendieren Gruppen dazu, Mitglieder aufzunehmen, die ihnen ähnlich sind, was wir alle aus beliebigen Alltagserfahrungen kennen: „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Im Gegenzug dienen Gruppen aber auch dazu, sich von anderen abzugrenzen, indem immer wieder Grenzziehungen im Sinne von „wir und die anderen“ erfolgen – häufig, aber nicht notwendig, verbunden mit der Überhöhung der eigenen und Abwertung der ‚fremden‘ Gruppe (mehr dazu in Kap. 1.2).
Insgesamt stellt die Forschung zu Gruppen gewissermaßen das Bindeglied zwischen Soziologie und Psychologie dar, in der Psychologie befasst sich vorwiegend die Sozialpsychologie mit dem Thema der Gruppe. Nach Crawford, Price und Price (2015) wird die sozialpsychologische Forschung zur Sozialen Gruppenarbeit durch vier Theorien maßgeblich geprägt; dazu zählen sie die Psychoanalyse, kognitiv-behaviorale, humanistische und Empowerment-Ansätze. Bevor wir summarisch zentrale Ergebnisse der Sozialpsychologie (Kap. 1.2) referieren, wollen wir kurz auf soziologische, tiefenpsychologische, systemische und verhaltensorientierte Ansätze eingehen, weil diese uns insbesondere im deutschsprachigen Raum für die Gruppenpädagogik als besonders prägend erscheinen. Jenseits aller z. T. schulenspezifischer Differenzierungen ist all diesen theoretischen Auffassungen von Gruppen gemein, die Gruppe als ein gemeinsames und somit auch pädagogisches Lernfeld für den impliziten und expliziten Erwerb sozio-emotionaler Kompetenzen zu verstehen.