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ÜBER DEN AUTOR

Philipp Tingler wurde 1970 in Berlin (West) geboren. Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie in St. Gallen, London und Zürich. Hochbegabten-Stipendium, Doktorarbeit über Thomas Mann und den transzendentalen Idealismus Immanuel Kants. Diverse Beiträge für Anthologien sowie für Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, u. a. für den Westdeutschen Rundfunk, Schweizer Radio DRS, Vogue, Stern, Neon und NZZ am Sonntag. Kolumnen u. a. in GQ und Welt am Sonntag. 2001 Ehrengabe des Kantons Zürich für Literatur, 2008 Kasseler Literaturpreis für komische Literatur.

Weitere Titel von Philipp Tingler bei Kein & Aber: Juwelen des Schicksals (2005), Leute von Welt (2006), Stil zeigen! (2008), Doktor Phil (2010) und Leichter Reisen (2011) sowie die CD Das Abc des guten Benehmens (2008).

Der Autor lebt in Zürich.

www.philipptingler.com

ÜBER DAS BUCH

Die letzten Tage von West-Berlin sind angebrochen. Allerdings merkt davon niemand etwas, jedenfalls nicht in Zehlendorf. Dort bewohnt der siebzehnjährige Gustav zusammen mit seiner Großmutter ein Haus namens Fischtal. Gustav lebt inmitten einer Gesellschaft, deren größte Sorge es zu sein scheint, dass die Putzfrau heimlich das Konfekt isst. Doch je mehr er im Fischtal über seine Familie erfährt, desto deutlicher wird ihm, dass es mit dem Nervenkostüm dieser Verwandtschaft nicht zum Besten steht. Man zahlt einen Preis für das Wahren der Fassade. Als die Großmutter Jahre später stirbt, kehrt Gustav zur »Sichtung der Erbmasse« ins Fischtal zurück. Es ist sein letzter Besuch in der Festung einer Welt, wo kühler Realitätssinn, glatte Oberfläche und puritanische Sittenstrenge gepredigt werden und über andere Menschen streng Gericht gehalten wird. Aber dabei immer griffbereit in der krokodilledernen Handtasche: der silberne Flachmann und die Pillendose von Cartier.

»Verzweifelt amüsant, hinreißend absurd, zum Heulen komisch.«

taz

Gewidmet der Erinnerung

an meine Großmutter

Doris Schopohl (1911–1996)

ERSTER TEIL

in dem wir die Hauptfigur und einige andere wichtige (und weniger wichtige) Figuren kennenlernen, vor allem jede Menge Tanten

1. KAPITEL

Zauber des Letzten

»Ich weiß nicht«, flüsterte Lilli und fasste Gustav am Arm, »ist es richtig, was wir hier tun?«

»Was meinst du?«, fragte Gustav zurück.

»Ich meine, hier das Haus auszuräumen«, erwiderte Lilli. »Damit will ich sagen: Das ist doch im Grunde … nun ja: skrupellose Raffgier – und steht somit gegen alles, was mir anerzogen wurde.«

Die schwere Eichentür öffnete sich knarrend. Sie hatte immer geknarrt, weshalb unbemerktes nächtliches Nachhausekommen für Gustav nie ein einfacher Vorgang gewesen war, denn seine Großmutter hörte (obschon sie das Gegenteil behauptete) zwar nicht mehr alles, aber das Knarren der Haustüre war ihr doch so vertraut, dass es sie noch in ihrem Schlafzimmer in der Beletage alarmierte. Und dann konnte es passieren, dass sie plötzlich am Kopfe der Treppe erschien, die mit einem schweren himmelblauen Teppich bespannt war, und direkt auf die Haustüre zulief. Dort stand sie, im Nachthemd, und verlangte Rechenschaft. Das war immer sehr unangenehm für Gustav. Deshalb hatte er mit der Zeit eine perfekte Übung darin entwickelt, die Türe mit den leicht verwitterten Messingbeschlägen so zu handhaben, dass sie sich ohne jedes Geräusch öffnete. Man musste dazu einen präzisen kleinen Schwung anbringen, indem man die Haustüre zunächst ganz langsam, ab einem gewissen kritischen Punkt jedoch sehr zügig aufdrückte. Das war nun nicht mehr nötig. Gustavs Großmutter war gestorben.

Vor ihnen lag also die Treppe. Nach rechts und links verzweigte sich der Korridor, einer jener langen Korridore, die charakteristisch für die Bauart Berliner Häuser sind. Es war dunkel. Dabei war draußen heller Vormittag. Nun, nicht vollkommen hell. Es war einer jener nebligen Juni-Vormittage, die charakteristisch für den Berliner Frühsommer sind. Jedenfalls in Zehlendorf. Gustavs Großmutter war tot, und es war Zeit, die Erbmasse zu sichten.

»Wir tun hier nichts Unrechtes!«, sagte Gustav, »wir sichern bloß das Erbe, bevor die Familie einfällt. Du weißt, Lilli, dass ich meine Familie liebe. Auch wenn ich den einen oder anderen manchmal mit dem Auto überfahren möchte. Nein, weiß Gott, wir tun hier nicht Unrechtes. Und meine Großmutter wäre auf unserer Seite! Man kann zwar sagen, dass wir, sie und ich, nun, dass wir beide unsere Differenzen hatten …«

»Du meinst das eisige, ungemütliche Schweigen, das nur hin und wieder durch Beleidigungen unterbrochen wurde?«, erkundigte sich seine Freundin.

»Das ist der normale Umgangston bei uns zuhause«, erklärte Gustav, wobei sein Mund einen widerwilligen Ausdruck annahm.

»Gewiss«, sagte Lilli, »das ist völlig normal. Ich … ich habe nur so ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube – so, als würde ich einem Unfall in Zeitlupe zusehen. Als ob wir schreckliche und egoistische Menschen wären! Außerdem ist es hier kalt und dunkel. Was, wenn ich hinfalle und irgendwelche meiner Organe dabei kaputtgehen?«

Gustav hob ein wenig das Kinn, als hätte er einen Stoß empfangen, und antwortete: »Da du von schrecklichen und egoistischen Menschen sprichst: Tante Gretel ist unterwegs hierher. Sie hat die Inventarliste in ihrer Handtasche und dürfte momentan emotional so stabil sein wie ein Käfig voller Ratten in einem brennenden Crack-Labor. Reiß dich also zusammen, Elisabeth! Gehorche mir einfach blind und roboterhaft und führe jeden Befehl aus, egal wie klein oder absurd er dir erscheint!«

Bei seinen letzten Worten packte Gustav seine alte Kameradin am Arme und schüttelte sie ein wenig, um sie zur Besinnung zu bringen.

»Schon gut, schon gut!«, machte Lilli, »das war bloß so ein Anflug. Los geht’s! Ich muss sowieso um sechs Uhr zur Maniküre bei Amanda sein. Die ist verdammt schwer zu kriegen. Und würdest du mich freundlicherweise loslassen. Du hast den Griff eines Eisenbahnbremsers.«

Der Nebel war gewaltig, ja er schien vor den efeubewachsenen Mauern nicht haltzumachen, sondern schwärzlich durchs Haus zu quellen, zog in gespenstischen Schwaden über die angesprungenen Kacheln aus Solnhofer Platten, die den Boden des Korridors bedeckten, umflorte die Möbel, den hohen, von einem Mahagoni-Frontispiz bekrönten Biedermeierspiegel neben einer kleinen Sitzbank zur rechten Hand, die Garderobe und weiter hinten die Marmorkonsole vor der Küche zur linken. Der Marmor war schwarz, wie der Nebel. Und wie die Bananen, die in einer Schale aus durchbrochenem preußischem Porzellan auf der Konsole lagerten. Gustavs Großmutter hatte irgendwann erklärt, sie würde von nun an zum Frühstück eine Banane essen, und seither hatte Hildchen die Order, Bananen zu kaufen – Bananen, die auf der Konsole lagerten, denn natürlich aß Gustavs Großmutter niemals Bananen zum Frühstück. Insofern waren die Bananen praktisch immer schwarz gewesen, auch als noch Leben im Hause war.

Für einen Augenblick hörte Gustav das Ticken. Das Ticken von Pfennigabsätzen im Korridor. Seine Großmutter hatte bis zuletzt hochhackige Schuhe getragen, hochhackige Schuhe aus butterweichem Saffianleder mit stechenden Pfennigabsätzen und pfeilscharfer Spitze. Dieses Schuhwerk erhöhte ihre feingliedrige, zierliche Gestalt in der Art jener Stelzschuhe, wie man sie im alten Griechenland auf der Bühne anzuschnallen pflegte. Noch in seinem Zimmer in der ersten Etage hatte Gustav jeden ihrer Gänge über den Korridor verfolgen können. Damals. Tick-tick-tick. Ihre Schritte klangen wie das Metronom, das auf dem Blüthner-Flügel im Musikzimmer stand, und ihre hohen Hacken spiegelten sich in den cremefarbenen Kacheln, die sich wie eine Eisfläche vor ihr ausbreiteten. Das hatte nie was Gutes zu bedeuten, dieses Ticken. Dieses ewige Ticken! Übrigens hatte sich Gustavs Mutter gelegentlich darüber mokiert, dass man in diesem Alter noch mit derartigen Schuhen herumlaufen könne. Das sei nicht gesund und gar gefährlich.

Aber jetzt standen die Pfennigabsätze in drei Reihen oben im Ankleidezimmer. Größe sechsunddreißig, beinahe Puppenschuhe. Jedes Paar steckte in einem Beutel aus rohrzuckerfarbenem Leinen, auf den das Monogramm von Gustavs Großmutter gestickt war. Zu den Pfennigabsätzen hatte sie meistens (jedenfalls zu der Zeit, als sie das Haus nur noch verließ, um zum Friseur zu fahren) einen taillierten Kittel aus feiner, schlohweißer Baumwolle getragen. Diese Kittel, von denen eine erkleckliche Zahl vorhanden sein musste, stammten aus der Praxis von Gustavs Großvater. Sie waren in Hüfthöhe mit großen Taschen versehen, die offenbar für medizinische Instrumente gedacht waren, und endeten eine Handbreit unter dem Knie, die makellosen Unterschenkel von Gustavs Großmutter freigebend, wohlgeformt in schwarzem Nylon.

»Okay«, sagte Gustav, indem er das Ticken der Pfennigabsätze mit einer kleinen Willensanstrengung verscheuchte und sich in derselben Bewegung an seine Freundin wandte, »wir haben wenig Zeit. Wir gehen jetzt da rein, und wenn du etwas siehst, was auf der Liste mit einem Kreuz versehen ist, dann packst du es ein, halt dich daran fest, egal, was passiert. Du hast doch die Liste, die ich dir gefaxt habe?«

»Jawohl, Comandante!«, erwiderte Elisabeth, genannt Lilli, und hielt die Liste hoch, ein etwa zwanzigseitiges, von einer Heftklammer zusammengehaltenes Inventar des Hauses, das im Auftrag der Familie von einem Auktionshaus erstellt worden war.

»Gut«, sagte Gustav, »es geht los. Und zwar mit dem Holzschnitt dort hinten, diese Frau mit dem Ding auf dem Kopf, außerdem die Zeichnung mit dem Hahn … nein, warte, die lassen wir für meinen Bruder … und den Gong – nein, nicht den Gong. Den darf Gretel haben. Gretel kann übrigens jeden Moment hier auftauchen. Wir müssen uns wirklich beeilen. Ich wette, sie rast jetzt schon die Transitstrecke hinunter …«

»Ach«, machte Lilli, »die Transitstrecke. Das war früher.«

»Es wird jedenfalls kein Zuckerschlecken«, sagte Gustav, »du kriegst es hier mit meiner Familie zu tun. Vertraue niemandem.«

»Willst du mir Angst machen?«, fragte Lilli leicht zischelnd, denn sie war soeben damit beschäftigt, den Sitz ihres Lippenstiftes im spiegelnden Deckglas ihrer zyklopischen Armbanduhr zu kontrollieren, zu welchem Zweck sie ihre beneidenswert hübschen Zähne fletschte. »Ich habe Angst vor vielen Dingen«, zischelte sie weiter, »Angst vor dem nächsten Ricky-Martin-Album, Angst davor, dass die Sonne ausbrennt oder dass sie irgendwann aufhören, diese Speckschwarten in Tüten zu verkaufen, die ich liebe … aber nicht davor, mit ein paar alten Tanten um irgendwelche Kupferstiche und Bodenvasen zu rangeln!«

»Die Angst wird dir das Leben retten«, erwiderte Gustav.

Lilli hatte wirklich makellose Zähne. Gustav auch.

2. KAPITEL

Das Nervöse ist nicht totzukriegen

Vom Korridor aus waren sieben Türen zu sehen. Alle standen offen. In einige waren gelbliche Glasscheiben eingesetzt, zum Beispiel in diejenigen, die zum Wohnzimmer führten. Das Wohnzimmer war der größte Raum im Erdgeschoß und beherbergte neben einem Kamin aus schwarzem Marmor und eingebauten Schränken und Regalen aus Grunewaldbuche auch den Esstisch, ein beachtliches, kreisrundes Möbel aus schwarzem Palisander. Der Tisch war für etwa fünfzehn Personen zugeschnitten, denn vor einigen Jahrzehnten hatten größere Gesellschaften in diesem Hause gegessen (wobei hier Kinder nicht mitgezählt sind. Die hatten separat zu sitzen). In der Politur der Tischplatte war trotz der Düsternis deutlich der Fleck zu erkennen, den die herunterfallende glühende Asche einer Zigarette von Gustavs Großmutter vor langer, langer Zeit dort hineingebrannt hatte. Der Fleck war von allen möglichen Leuten auf alle möglichen Arten ausgedeutet worden.

Vom Wohnzimmer aus gelangte man über einen offenen Durchgang ins Musikzimmer. Diesen Durchgang flankierten Vorhänge aus schwerer, goldgelber Seide. Zerschlissen und angerissen, mit silbernen Schnüren gerafft und mit Spitzen unterlegt, fielen sie üppig und massiv auf das Parkett hinab. Die Vorhänge waren nur an Weihnachten geschlossen worden. Vor der Bescherung. Das letzte Mal war dies etwa 1973 geschehen. Im Übrigen war dieses Musikzimmer, in dem der schwarze Blüthner-Flügel stand und eine ansehnliche Kopie von Menzels Flötenkonzert hing, dem Präsidenten der Berlinischen Baugesellschaft zu verdanken, der mit seiner Familie das Haus nach dessen Errichtung zunächst bewohnt hatte. Der Präsident war ungefähr das, was man in Gustavs Familie »eine humoristisch angeflogene Persönlichkeit« nannte: ein Charakter mit einer musischen, beinahe lässigen Einstellung dem Leben gegenüber und, trotz seiner ohne weiteres respektablen Stellung, mit einer Neigung zum Müßiggang. Er stand den Künsten nahe. Ziemlich bedenkliche und jedenfalls sehr zweischneidige Vorlieben, wenn man auf Gustavs Großmutter hörte. So etwas hatte nämlich den unangenehmen Beigeschmack von Extravaganz und auch ein wenig Liederlichkeit.

Jedenfalls hatte der Präsident, ohne Zweifel herrliche Anlagen des Geistes und des Herzens in sich tragend, das Haus um das großzügige Musikzimmer erweitern lassen – einen langgestreckten Anbau im Parterre, der sich sanft in den Garten zog und vorzüglich die Komposition des Gebäudes ergänzte. Er pflegte hier Hauskonzerte abzuhalten, die in Zehlendorf gesellschaftliche Ereignisse darstellten. Gustavs Familie, die Musik viel lieber hörte als veranstaltete, weil das weniger anstrengend schien (und weil man außerdem selten den richtigen Ton traf), benutzte das Musikzimmer später, wie gesagt, bloß für die Weihnachtsfeierlichkeiten, ließ es aber unversehrt. Der Flügel hatte natürlich schon lange an Klangfülle eingebüßt, aber mit dem Pianopedal, welches die hohen Töne so verschleierte, dass sie an mattes Silber erinnerten, konnte man dafür inzwischen die seltsamsten Wirkungen erzielen.

»Lass uns zügig eine Runde drehen«, sagte Gustav, »und das Inventar kontrollieren. Dabei können wir gleich auch noch nach den Kassetten mit dem Silber Ausschau halten.«

»Sehr schön«, erwiderte Lilli und strich zärtlich über den Rahmen des hohen Spiegels im Eingang, »ich komme mir vor, als wäre ich vier Jahre alt und hätte mich im KaDeWe verlaufen.«

Vom Musikzimmer gelangte man über den Wintergarten ins Zimmer von Gustavs Großmutter – einen Raum mit deckenhohen Bücherregalen und einem unbequemen Biedermeiersofa, auf dem die Hausherrin ihren Mittagsschlaf zu halten gepflegt hatte, weshalb dieses Zimmer als ihres betrachtet wurde. Ein dreireihiger Leuchter hing an einer goldenen Kette von der Decke. Seine kristallene Krone war einigermaßen löchrig. Dies hätte eigentlich dazu führen sollen, dass er jetzt mehr Licht verbreitete, von den acht Glühbirnen funktionierten immerhin noch fünf – doch auch die konnten nicht viel ausrichten. Es blieb düster, und zwar nun umso mehr, als dass irgendjemand, wahrscheinlich eine der letzten Krankenschwestern von Gustavs Großmutter, aus einem nicht nachvollziehbaren Grund Pappe vor die Fenster im Erdgeschoß geklebt hatte.

Es war düster, und es roch, wie es hier immer gerochen hatte: nach altem Papier und nach noch älterer Bitterschokolade von Erich Hamann, nach Tabak, Staub und abgelaufenen Medikamenten. Dazwischen strich irgendetwas anderes, ein herber, böser, phantasmagorischer Hauch, nicht jedem vernehmbar, oh nein, lediglich ein böser kleiner Hauch … der Schein der Farben in Menzels Flötenkonzert verfärbte sich trüb und verworren, die Fontäne des Lüsters erzitterte, und es verschlimmerte sich mit jedem Tag, mit jeder feinen Verwirrung und Verirrung der Nerven. Etwas Spukhaftes hockte in den stolzen und steifen Möbelstücken und schlich durch die knarrende Haustür, etwas Hysterisches. Es durchstieß die Fassade, wirbelte das verdorrende Laub im Springbrunnen auf, strich über die Tastatur des Blüthner-Flügels und machte nicht halt vor der schnurgeraden Treppe mit dem himmelblauen Teppich, die in die Beletage führte. Dort lag das Schlafzimmer von Gustavs Großmutter. Dort war sie gestorben. Daneben befand sich das Ankleidezimmer, das neben Zweiteilern von Chanel und Mainbocher stapelweise taillierte Kittel aus feiner, schlohweißer Baumwolle beherbergte. Irgendwas stimmte hier nicht. Es gibt ein kollektives Fieber. Es gibt eine kollektive Störung der Sinnesfunktionen. Es gibt eine Pandemie des Irreseins und eine noch weit bedrohlichere des Irrefühlens. Man hätte sich nicht übermäßig gewundert, wenn plötzlich die Glyzinie tot von der Fassade gefallen wäre. Es wäre nicht stilwidrig gewesen. Gustav wäre verduftet. Aber er war hier zuhause. Und der Mensch braucht ein Zuhause. Jedenfalls ein bürgerliches Exemplar wie Gustav.

Trotz dem schlechten Licht war nebenbei nicht zu übersehen, dass aus mehr als einem stolzen und steifen Möbelstück das Seegras hervorguckte.

»Was ist mit diesen afrikanischen Fruchtbarkeitsstatuen?«, fragte Lilli und streckte die Hand aus nach dem weiblichen Teil eines aus grobem Holz geschnitzten Figurenpaars mit ziemlich aggressiven Zähnen.

Sie standen neben dem Esstisch. Gustav und Lilli standen dort, meine ich, nicht die Holzfiguren. Diese standen auf der aus lackiertem Buchenholz und Rohrgeflecht bestehenden Verkleidung eines Heizkörpers vor einem mit Pappe zugeklebten Fenster und fletschten die hölzernen Zähne. Drei Streifen nebliges Frühsommerlicht fielen durch Risse in der Pappe.

Überhaupt war, nicht nur im Wohnzimmer, jede Fläche vollgestellt mit Gegenständen, meist Vasen und durchbrochenen Schalen aus preußischem Porzellan, dazwischen ein paar Bücher, Gläser, Münzen und Fotografien sowie, mitten auf dem Esstisch, das silberne Papiermesser von Gustavs Großvater, ein spielzeughaftes und albernes Ding in Form eines Kavalleriesäbels. Dessen Spitze zeigte zufällig auf den Brandfleck.

»Das sind, soviel ich weiß, Hausgötter«, sagte Gustav, »Friederike hat sie mitgebracht, aus Bali. Oder Indonesien oder von irgendwo dort, du weißt schon, von der anderen Seite der Welt.«

»Oh, was macht Friederike?«, erkundigte sich Lilli, die Friederike, genannt Riekchen, Gustavs jüngste Tante, einigermaßen gut kannte.

»Hat Aspirin genommen, liegt in der Badewanne und hört Arien.«

»Wagner?«

»Nein, Verdi. Übrigens will Riekchen diese Figuren. Das ist das Einzige, was sie will. Und den Ring mit dem Skarabäus. Ansonsten interessiert sie die … äh … Abwicklung des Hauses nicht. Sagte sie. Genau genommen sagte sie, sie würde höchstens noch ein Streichholz dranhalten …«

Draußen, vor den verklebten Fenstern, erhob sich ein Wind. Kalk rieselte hinter der Tapete.

»Ich habe aber gehört, dass die Familie ihr das Weinlaub-Service zugesprochen hat«, fuhr Gustav fort, während er einige der ausgestellten Porzellanstücke auf ihre Herkunft prüfte, »sozusagen in Anerkennung ihrer Verdienste um meine Großmutter. Riekchen war ja die Einzige, die sie in ihren letzten Jahren regelmäßig besucht hat. Bekanntlich. Die anderen haben sich selten sehen lassen. Oder nie. Gretel natürlich, wenn sie Geld brauchte. Von meiner Tante Charlotte hingegen geht der Ausspruch, sie hätte nichts dagegen, wenn ihre Mutter die Kellertreppe hinunterfiele. Ist das zu fassen? Dieses Haus ist voller Zeug, voller Klickerkram, voller preisloser Kostbarkeiten – und Riekchen kriegt das Weinlaub-Porzellan! Als Anerkennung! Ich bin überzeugt, dass sie das Muster nicht mal leiden kann.«

3. KAPITEL

Pillen und Portwein

Im Wohnzimmer stand eine bauchige, englische Kommode aus poliertem Nussbaum, deren zylindrischer Leib im Wesentlichen Arzneimittel barg. Auch die Wandschränke im Korridor waren gefüllt mit Tabletten und Tinkturen, Seren, Salben und Säften. Die meisten dieser Präparate, die noch aus der Praxis von Gustavs Großvater stammten, waren inzwischen längst verboten. In Gustavs Familie, die größtenteils eine Arztfamilie war, hatte man sich lange einen ungezwungenen Umgang mit Medikamenten bewahrt. Das heißt: Man konsumierte sie häufig. Ständig. Gustavs Großvater zum Beispiel brauchte Gewaltkuren, als sein Organismus mit dem Alter immer unvollkommener arbeitete. Unter anderem schlürfte er ein stark eisenhaltiges Serum, flaschenweise. Seine sich verschlimmernde Zuckerkrankheit hingegen therapierte er mit lauwarmer Coca-Cola (aus der er mit einem hölzernen Quirl die Kohlensäure rührte) und Gummibärchen. Gustavs Großmutter für ihren Teil hatte, solange ihr Enkel sich erinnern konnte, jeden Tag mindestens fünf Aspirin geschluckt und außerdem noch etwelche weitere Pillen, deren Sinn und Herkunft Gustav nie entschlüsselte. Ein paar davon waren sicherlich gegen die Epilepsie, an der sie nach der Entfernung eines Hirntumors zu leiden hatte. Gustav fragte nicht danach. Derlei Fragen waren untersagt und verstießen gegen das Hausgesetz. Er bemühte sich nur, eine möglichst unbeteiligte Miene aufzusetzen und im Konversationston schnell irgendwas Harmloses zu sagen, wenn seine Großmutter beim Mittagessen eine Pillendose aus poliertem Silber zückte, in die ihr Monogramm graviert war.

Aber das war ein paar Jahre her. Die Medikamente waren längst abgelaufen. Bei ungünstiger Witterung entströmte der englischen Kommode und den durchlöcherten Plättchen aus feuervergoldeter Bronze, die man zur Belüftung in die Buchenschranktüren gesetzt hatte, der stechende, klinische Geruch verrottender Arznei und durchzog das Wohnzimmer wie eine betäubende Böe. Das war schon immer so gewesen – oder jedenfalls so lange, wie Gustav sich erinnern konnte. Und es war niemandem aufgefallen. Die Familie hatte diese Luft tagtäglich inhaliert. Nur als Gustav jetzt zurückgekehrt war, nachdem er das Haus ein paar Jahre lang kaum noch betreten hatte, zurückgekehrt aus der Schweiz, dem Land der klaren Seen und der reinen Luft, da bemerkte er den Geruch. Das Aroma alter Arznei verband sich mit der morbiden Mischung von Staub, vergilbtem Papier und ausgetrocknetem Holz (und, seltsamerweise, einer Prise Essig) zu einem Brodem, der ihm den Atem verschlug.

»Ich muss mal raus«, sagte er und begann, sich an der gläsernen Flügeltür zu schaffen zu machen, die vom Wohnzimmer auf die Terrasse führte, »ich brauche ein bisschen frische Luft. Es riecht hier wie in einer aufgegebenen Klinik.«

»Meine Eltern konnten ja kranke Kinder nie vertragen«, schrie Lilli, die ebenfalls einer Arztfamilie entstammte. Lilli musste schreien, weil Gustav dabei war, die mit Klebeband ebenso unprofessionell wie gründlich befestigten Verdunklungspappen von der Terrassentüre abzureißen, was erhebliches Geräusch verursachte.

»Das kann ihnen natürlich niemand vorwerfen, am allerwenigsten ich«, schrie Lilli weiter, »als Kind bekam ich bei jeder Gelegenheit diesen Hustensaft, der ganz vorzüglich schmeckte und hervorragend wirkte, und neulich fühlte ich mich unwohl und wollte eine Flasche davon kaufen, nur um in der Apotheke belehrt zu werden, dass es sich um ein klassifiziertes, verschreibungspflichtiges Mittel handelt, das keinesfalls frei abgegeben werden dürfe. Darauf wiederum haben mich meine Eltern nicht vorbereitet.«

Nach einer kleinen Pause schrie Lilli hinterher: »Ich hätte jetzt gern was zu trinken.«

Gustav hörte sofort auf, die Türe zu entkleiden.

»Fein«, sagte er und warf ein etwa suppentellergroßes Stück Pappe auf den Boden, womit der Türgriff freigelegt war, »trinken wir erst was.«

»Sofern Frau Busenrost noch irgendwas übrig gelassen hat«, sagte Lilli.

In der Nähe des Esstisches befand sich ein mit überreichen Marketerien verzierter Spieltisch, auf dem einige Flaschen standen.

»Leer – leer – leer – riecht seltsam – eingetrocknet – leer«, stellte Lilli fest, indem sie eine Flasche nach der anderen anhob.

»Gretel will dieses Möbel«, bemerkte Gustav und zog mit dem Zeigefinger eine Linie in die feine Staubschicht auf dem Spieltisch.

»Das hier sieht aus wie Portwein«, stellte Lilli befriedigt fest und hielt eine halbvolle Kristallkaraffe mit einem hühnereigroßen Stopfen in die Luft, »jedenfalls, wenn man es wohlwollend betrachtet.«

Gustav nahm zwei Steuben-Gläser aus einem Biedermeierschrank, der eigentlich ein Bücherschrank war, aber in dieser Funktion von Gustavs Familie nie benötigt wurde. Nicht, dass man keine Bücher hatte, oh, nein, es gab gut gefüllte, deckenhohe Bücherregale links und rechts vom Durchgang zum Musikzimmer und im Zimmer von Gustavs Großmutter – aber in diesem Schrank stand Kristall von Steuben. Und das Weinlaub von Meißen, das man ungefragt Riekchen zuerkannt hatte. Und außerdem fanden sich hier ein paar steinharte Ingwerstäbchen und einige Tafeln bitterer Schokolade aus dem Hause Erich Hamann. Der Schrank wurde gekrönt von einer durchbrochenen Porzellanschale aus der Königlichen Manufaktur. Die Schale stützten drei fette vergoldete Putten, welche ihrerseits auf einem kreisrunden Sockel standen. Zu Weihnachten war diese Schale mit Rausch-Konfekt gefüllt worden. Das letzte Mal war dies etwa 1973 geschehen.

»Dieses Ding dürfen wir auf gar keinen Fall vergessen«, sagte Gustav, mit dem Daumen auf die Schale weisend.

»Darauf trinke ich!«, erwiderte Lilli.

Gustav und Lilli hoben die Gläser mit dem süßen, klebrigen Portwein, und sie tranken auf die alten Zeiten, wiewohl sie beide noch nicht dreißig Jahre alt waren und sie im Übrigen sehr Verschiedenes dabei dachten, weil der eine nur mit sich selbst, die andere nur mit anderen beschäftigt war. Gustav kannte Lilli noch aus dem Gymnasium, wo sie sich im Lateinunterricht die zerschnitzte Schulbank geteilt hatten. Sie hatten zusammen schon einige Triumphe und Niederlagen erlebt, manch Schwanken und Wanken auf der sumpfigen Plattform des Lebens, und außerdem hatte Lilli mal in den späten achtziger Jahren eine ganze Tankstelle in Britz lahmgelegt, aber das ist eine andere Geschichte. Das Wesentliche an Elisabeth war: Einerseits musste sie sich manchmal an der Fußgängerampel selbst Mut zusprechen, um überhaupt weiterlaufen zu können. Andererseits konnte sie mit bloßen Händen ein Mercedes-Rücklicht reparieren.

Gustav zündete sich eine Zigarette an, nahm den hufeisenförmigen Weinlaub-Aschenbecher und sagte zu Lilli: »Ich gehe mal raus und werfe einen Blick in den Garten.«

Er öffnete die französische Flügeltür zur quadratischen, kühlen, von verstorbenen Lorbeerbäumen flankierten Terrasse, zu der vom Garten aus zwei Stufen emporführten. Gustav setzte sich auf die oberste Stufe und sah sich um. Dann gab es ein bröckelndes Geräusch, und er fiel beinahe von der Terrasse, denn die Stufe war morsch. Also stand er auf und lehnte sich an eine der beiden schlanken Säulen, welche die Terrasse begrenzten und den Balkon der Beletage trugen – nicht ohne besagte Säule vorher einer kleinen Tragfähigkeitsprüfung zu unterziehen, indem er ein paar Mal dagegen klopfte.

Vor ihm lag der Garten, mit seinen Gängen und Hecken und Terrassen, jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelnden, bemoosten Mauern eingeschlossen; in der Mitte der in geflammtem schwarzem Granit gefasste, ebenerdige Springbrunnen mit der toten Fontäne, von der bloß ein emporragendes Metallrohr übrig war. Kein Wasser, keine Seerosen, keine Goldfische. Nicht einmal mehr dieses halblebendige Gekröse wie Algen und Blutegel, vor denen es Gustav als Kind gegraust hatte. Stattdessen war das Fontänenrohr mit einem dichten Kranz wuchernden Unkrauts umgeben, giftgrünes Moos spross in den Fugen der verwitterten Mauern, die das leere Becken umschlossen, dessen Boden mit faulendem Laub bedeckt war. Weiße Lilien neigten sich über den morschen Rand des Springbrunnens, und welkes Laub lag auch in den vier angelaufenen Bronzepokalen, von denen einer in jeder Ecke des Beckenrands platziert war … einer für jede Himmelsrichtung halt, das waren ja bloß noch drei, hinten rechts fehlte einer, den hat bestimmt die Busenrost mitgenommen, dachte Gustav, hinter sich hergeschleift, von hier bis nach Eisenach …

Ein Wind erhob sich und rührte das Laub, und Gustav hörte das Ticken der Pfennigabsätze und die fröhlichen Stimmen unschuldig spielender Kinder, die in bunten Schwimmreifen auf dem ruhigen Wasser trieben … ein Idyll von Sonnenherrlichkeit und Frieden, genau wie auf den Ölbildern, die drinnen im Hause hingen und die der Präsident der Berlinischen Baugesellschaft gemalt hatte, der so viel Freude an den Kindern gehabt hatte, die jetzt Gustavs Tanten waren; das heißt eines von den Kindern war natürlich seine Mutter – und dann gab es auch noch einen Onkel. Einen einzigen Onkel, fünf Tanten und eine Mutter.

Irgendein ordinärer Zehlendorfer Singvogel ließ seinen Ruf hören. Vielleicht eine Amsel. Gustav hatte nicht die geringste Ahnung von Singvögeln. Der Ruf kam aus den hinteren, uneinsichtigen Gefilden des Gartens, aus der Gegend, wo das Gärtnerhaus stand, das auch nicht gerade klein war, jedenfalls groß genug für den Präsidenten der Berlinischen Baugesellschaft, der dort mit seiner Gattin eingezogen war, da ihm das Haupthaus, nachdem sein einziger Sohn nicht aus dem Krieg zurückgekommen war, zu groß und deprimierend erschien. Er verkaufte das Haus an Gustavs Großeltern. Sein Sohn hieß ebenfalls Gustav. Nach ihm war Gustav benannt.

Neben dem Gärtnerhaus lag, umschlossen von der verträumten Wildnis monströser Rhododendronsträucher, der reetgedeckte Pavillon für den Nachmittagstee, aus dem Gustavs Großmutter, eine dem Dasein nicht mit ungebrochener Begeisterung gegenüberstehende Frau, bald einen Nachmittags-Gin-Tonic machen sollte, für den sie ohnehin schnell auf die Benutzung des Pavillons verzichten würde. Später verzichtete sie auch auf Tonic. Schließlich auf den Nachmittag.

Ach, die kühlen Pergolen, überwuchert von lispelndem Efeu! Der Fahnenmast. All das Grün und Blau und Rot und Grau, die Bäume, das Wasser, das Leben, der Tod, die ganze Traurigkeit und Fröhlichkeit der abendlich werdenden Welt. Und die Amsel sang, in der Dämmerung, wo die Schaukel schwang … leise schaukelten die bunten Schwimmreifen … bunte Schwimmreifen …

»Moment, hier gab es doch nie eine Schaukel«, dachte Gustav, »so was Albernes wie eine Schaukel hätten meine Großeltern doch niemals zugelassen. Was soll’s. Es ist sowieso alles hinüber. Der morsche Pavillon, der verwitterte Fahnenmast, alles schwach und krank und von selbst auseinandergebrochen, von Fäulnis zerfressen … jawohl. Hier ist es nun, das Ende. So, hier ist es nun. Hinter mir … hinter mir wehwehen in verlassenen Zimmern goldgepresste Tapetenfetzen wie Trauerfahnen von den Wänden herab. Und ich bin alt. Und  … ich muss … ich muss hier schleunigst noch ein paar Sachen einpacken … bevor … Gretel … aufkreuzt!«

Derartige Sentimentalitäten hatte Gustav im Kopf, wahrscheinlich unter Einfluss des süßlichen Portweins, und er dachte sie nicht nur, er sprach sie laut und deutlich vor sich hin, und dies war nicht bloß dem Portwein zuzuschreiben, denn Gustav hatte eine Neigung zu Selbstgesprächen, womit er in seiner Familie völlig alleinzustehen glaubte, da so was als sehr suspekt galt. Auch galt Rührseligkeit überhaupt als verdächtig, weil sie gar nicht in der Familie lag – oder höchstens unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Substanzen zutage trat und eben deshalb als Zeichen von Zuchtlosigkeit verpönt war. Man durfte nicht sentimental sein. Man durfte sarkastisch sein, kurz angebunden und vorschnell, aber nicht weich und gefühlig. Denn das war schwach.

Und trotzdem konnte Gustav nicht verhindern, dass ihm die Erinnerung an seine Tage in diesem Haus übermächtig ins Gedächtnis trat, Tage, die ihm vollkommen sorglos erschienen, obschon er sie in dem Bewusstsein verbracht hatte, nicht einmal einem verbummelten Postkartenmaler auf kurze, klare und Anerkennung weckende Weise sagen zu können, wer und was er eigentlich sei.

»Ich sollte nicht mehr von diesem Portwein trinken«, dachte Gustav und warf einen kritischen Blick auf die rostrote Flüssigkeit, die ölige Spuren in dem Steuben-Glas in seiner Hand hinterließ, bevor er einen weiteren Schluck davon nahm.

Der Frühsommertag stand jetzt im Zenit, ein typischer Berliner Frühsommertag in Zehlendorf, trocken und ein bisschen windig, nicht zu warm und nicht zu kalt, er stand im Zenit und schien sich doch bereits zu neigen, getaucht in die abendliche Verklärung des Verfalls, der Auflösung und des Verlöschens. Ein altes Geschlecht, zu müde und mürbe bereits und zu verfeinert zur Tat und zum Leben, steht am Ende seiner Tage, und seine letzten Äußerungen sind Laute der Kunst, ein paar lächerliche Fingerübungen, Geklimper auf dem Blüthner-Flügel …, dachte Gustav und vertiefte sich mehr in die künstlerische Betrachtung dieses Umstandes. Doch wer wehmütig in Erinnerungen versinkt, der versagt vor seiner ersten Lebenspflicht: den Tag, in den er gestellt ist, mit seinem reinsten und entschlossensten Wollen zu durchdringen. So hatte Gustav es zuhause beigebracht bekommen, und so war es wohl richtig. Außerdem weiß man nie, wie lange ich, der Erzähler dieser Geschichte einer glücklich vertanen Jugend, diesen elegischen Ton noch durchhalten kann, also machen wir lieber Schluss. Es ist ohnedies schon nach zwölf, Tante Gretel kann jeden Moment aufkreuzen, sie hat soeben die ehemalige, nun bitterlich verwaiste Kontrollstelle Dreilinden passiert (mit der großen Uhr an der rot-gelben Tankstelle, die Gustav als Kind so beeindruckt hatte), und von dort ist es nicht mehr weit. Und, siehe, jemand rief ihn beim Namen …

»Gustav!« schrie Lilli.

»Was? What?«, schrie Gustav zurück. »Wo bist du?«

»Hier oben!«, rief Lilli, »auf dem Balkon. Schau, was ich trage, dieses Persianerjäckchen, das passt mir perfekt.«

Und Gustav sah einen kleinen, schwarzen Persianerarm über die Brüstung winken.

»Lilli!«, rief er entsetzt, »geh sofort zurück ins Haus! Dieser Balkon kann jeden Moment einstürzen – und dann bin ich tot.«

»Okay«, erwiderte Lilli, »wir treffen uns im Ankleidezimmer.«

4. KAPITEL

Man darf nicht dick sein. Und Gustav glaubt allen Ernstes, dass man glücklicher wird mit leblosen Objekten

Gustav stieg die Treppe hinauf, deren Bespannung aus himmelblauem Teppich an den Stufen von Messingstangen gehalten wurde. Mit etwas Geschicklichkeit konnte man diese Stangen aus ihren kleinen goldenen Ösen ziehen und zum Beispiel ein bisschen damit herumfuchteln, was Gustav als Kind gern getan hatte. Deshalb war er dafür verantwortlich, dass zwei der Stangen unauffindbar verschwunden waren. Um die Wahrheit zu sagen, war Gustav auch dafür verantwortlich, dass einige Kristalle aus dem Lüster im Zimmer seiner Großmutter fehlten sowie – wenn wir schon dabei sind – vier der Glastropfen, welche die Deckenlampen im Musikzimmer zierten.

Die Treppe war aus Eichenholz, und nicht alle Stufen knarrten gleich laut; die dritte, die siebzehnte und die zweiundzwanzigste Stufe waren besonders schlimm, wie Gustav aus langer Erfahrung wohl wusste.

Genau gegenüber dem Treppenabsatz in der ersten Etage lag hinter einer Türe mit gelblich getönten Glasscheiben das Schlafzimmer der Großeltern. Seit Gustav sich erinnern konnte, hatten sie in getrennten Betten geschlafen, in identischen Bettgestellen aus poliertem Mahagoni, schmalen Möbeln im Biedermeierstil, mit hohen Kopf- und Fußenden, die Barrieren gleichkamen. Zwischen den Betten befand sich ein rundes Tischchen mit hohlem, tonnenförmigem Leib, in dessen gelbpolierte Palmenholzplatte ein degentragender Adler eingebrannt war und das für die Ablage von Büchern und Papieren benutzt wurde. Auf dem Tischchen standen ein paar Familienfotos, in Silber gerahmt, Schwarzweißaufnahmen, wie sie auch in den Schränken im Wohnzimmer lose in leeren Konfektschachteln aufgehoben wurden, Bilder von vergangenen Gesellschaften im Musikzimmer, Bilder aus Tagen, als es in Zehlendorf noch eine Gesellschaft gab und man in ihr den Ton angab, verblichene, rissige Fotografien, von denen einige schon Blasen warfen, dazwischen, hie und da, ein gepresstes Edelweiß, eine Engelstrompete, eine wasserstoffblonde Locke oder ein verfärbtes Stückchen Sammetband. Durch den Wasserstoff verfärbt, vermutlich. Und an mancher Stelle war noch die Spur einer Träne sichtbar. Und da lag ein Paar ellenbogenlanger Handschuhe aus blassgelber Cuiteseide, wo kamen die denn her?

Gustavs Großvater war in seinem Bett gestorben, welches aber anschließend nicht entfernt, sondern stehengelassen und stets mit frischer Bettwäsche bezogen wurde. Gustavs Großmutter schlief daneben in ihrem eigenen Bett, in welchem sie dann schließlich auch das Zeitliche segnete. Die Bettwäsche stammte von Porthault. Oder aus dem Charlottenburger West-Sanatorium oder aus dem Park-Sanatorium in Dahlem. Das waren die Häuser, in denen Gustavs Großvater Privatpatienten untergebracht hatte.

Gustav ging nun allerdings ins Ankleidezimmer. Und da stand Lilli vor geöffneten Schranktüren, drehte sich herum, sah aber nicht Gustav an, sondern betrachtete sich sehr zufrieden in einem deckenhohen Spiegel, dessen Glas blinde Flecken zeigte. Lilli trug ein taubengraues Deux-Pièces von Givenchy, das Gustav an seiner Großmutter nie gesehen hatte.

»Wie sehe ich aus?«, erkundigte sich Lilli triumphierend.

»Nach Happy Hour«, antwortete Gustav.

»Weißt du«, erklärte Lilli, während sie sich, in der Taille gedreht, über die Schulter blickend musterte, »ich versuche ja, nicht mehr so abhängig von Geschenken und materiellen Dingen zu sein – aber ich schaffe es einfach nicht, wenn die materiellen Dinge so wunderschön sind wie dieses Kostüm! Es ist außerdem eine 36! Durch einen glücklichen Zufall habe ich dieselbe Kleidergröße wie deine Großmutter. Ich müsste höchstens die Ärmel ändern lassen. Aber ein paar der Cocktailkleider sind selbst mir fast zu klein. Die Sachen sind so zierlich. Deshalb hat die Busenrost wahrscheinlich nichts davon mitgenommen.«

»Na ja«, sagte Gustav, indem er liebevoll einen kleinen Stapel von ordentlich gefalteten, stocksteif gebügelten Baumwollkitteln tätschelte, den jemand auf einem Sessel abgelegt hatte, als sollten die Kittel demnächst in einem der Schränke untergebracht werden. »Die Busenrost hat offenbar trotzdem genug mitgenommen. Jedenfalls hat mir das Riekchen erzählt.«

Gustavs Großmutter war trotz sieben Schwangerschaften und wiewohl sie nie Sport getrieben hatte – so was gehörte sich nicht für eine Dame – immer schlank gewesen. In dieser Familie neigte man nicht zum Dicksein, obschon man gern aß, preußische Küche, Kabeljau mit Senfbutter oder Königsberger Klopse. Aber man wurde nicht dick, dafür hatte man nicht die Konstitution. Leibesfülle war wie Rührseligkeit: ein Zeichen von Schwäche, daher suspekt, daher verboten. »Jedes Pfund geht durch den Mund!« – das war die Parole, mit der man in Gustavs Familie das Urteil über füllige Personen sprach, da konnten die armen Fülligen zu ihrer Verteidigung jedes Drüsenproblem vorbringen, das ihnen einfiel.

Eine Ausnahme bildete allerdings Gustavs älteste Tante Paula, genannt Pümmel. Paula war kurz, blond und schon sehr bald ziemlich kräftig von Statur. Aber Paula hatte auch wesentliche Teile ihrer Jugend essend im Bett verbracht, glaubte man der Familienfama. »Paula?«, pflegte Riekchen zu sagen, »Paula hat sich ihren Dostojewski gegriffen, einen Kanten Krustenbrot, eine Tafel Hamann-Schokolade und ein Glas Milch und verschwand nach oben auf ihr Zimmer. Während unsere Eltern sich bei ihren ehelichen Auseinandersetzungen im Erdgeschoß durch die Glastüren drückten oder meine Mutter beispielsweise betrunken vor der Kellertreppe lag. Und die Hälfte des Kantens endete dann bei Paula verkrümelt unter dem Bett. Von der Schokolade fand man natürlich gar nichts mehr.«

Inzwischen lebte Paula in Köln, zusammen mit vier Fernsehern. Sie führte eine Arztpraxis in der benachbarten Stadt Leverkusen. In Gustavs Familie war man sich einig, dass man sich von Pümmel selbst in einem Fall akuter Lebensgefahr lieber nicht behandeln lassen würde. »Für die Bayer-Belegschaft in Leverkusen mag sie gerade richtig sein«, erklärte Riekchen, »aber ich würde sie niemals an mich ranlassen. Lieber noch den nächstbesten Kassenarzt!« Zweimal wöchentlich begab sich Paula selbst in Behandlung, zu ihrem Analytiker, einem gewissen Dr. Schleierheber, über dessen Erfolge Pümmel Phantastisches zu berichten wusste, wenn sie nicht gerade mit einer Flasche Rotwein vor ihren vier Fernsehern lag, denn irgendwann war sie von Milch auf Rotwein umgestiegen, woran sich auch nach ihrer Scheidung von einem trunksüchtigen Fernsehredakteur nichts änderte. Doch vorerst genug von Paula, genannt Pümmel. Sie wird schon bald wieder auftreten, und wir werden an ihr einen prominenten Charakterzug von Gustavs Familie ganz hervorragend exemplifiziert sehen, nämlich einen recht starken Drang, Dinge an sich zu raffen, wahllos und habsüchtig. Man mag so was hässlich finden. Auch Gustav kannte sich immerhin gut genug, um zu wissen, dass ein kräftiger Besitztrieb zu den wichtigsten Organen seiner Seele gehörte. Und er konnte, offen gestanden, nichts Hässliches daran erkennen. Wir müssen allerdings hinzufügen, dass unser Held ohnehin außerstande war, irgendetwas Hässliches an sich selbst zu entdecken. Dies hatte er immer anderen überlassen.

Jedenfalls war Gustav in völlig schmerzlosen inneren Kämpfen (und unter dem Einfluss des Werbefernsehens) zu der Überzeugung gelangt, dass man glücklicher werde mit leblosen Objekten. Dass er zu dieser Überzeugung kam, war kein großes Wunder, denn erstens war er stets von Dingen umgeben gewesen. Und zweitens, jedenfalls in prägbarem Alter, meistens von seiner Familie. Diese Einstellung war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass Gustav sich beim Einkaufen lebendiger fühlte als bei vielen anderen Beschäftigungen. Und dieser materielle Antrieb war schließlich verantwortlich dafür, dass Gustav nun hier stand, mit seiner Schulfreundin Lilli, inmitten des Plunders von Jahrzehnten.

»Schau mal, was ich hier habe«, sagte Lilli und entfaltete eine zimtfarbene Nerzstola, »und ich dachte, deine Großmutter sei eine schwierige und bisweilen bösartige Person gewesen! Wie kann so ein schlechter Einfluss in so einer attraktiven Verpackung stecken? Böse Menschen sollten eine Augenklappe haben oder Narben, damit man sie gleich erkennt.«

»Sie war nicht böse«, sagte Gustav, »du hast sie doch gekannt. Auf ihre eigene Weise hatte sie sogar manchmal den einen oder anderen liebevollen, fürsorglichen Gedanken.«

So also standen Gustav und Lilli inmitten der aufgehäuften Zeugnisse eines kräftigen Besitztriebes – und, da wir den auf Aneignung gerichteten Instinkt erwähnen: Gretel war unterwegs, soeben hatte sie die Potsdamer Chaussee verlassen und näherte sich dem Mexikoplatz, über dem die Nebelschwaden des verblichenen Vormittags zu einer wolligen Wand erstarrt waren, in welche die Scheinwerfer von Gretels leicht abgetakeltem dunkelblauen, kleinen Auto einen qualmenden Trichter zu bohren bemüht waren, doch das Licht der Lampen prallte von den brodelnden Nebelschwaden wie von einem Hohlspiegel zurück und warf Gretels rasenden Schatten in enormer Verzerrung an das Gewölbe der S-Bahn-Brücke am Ende der Lindenthaler Allee. Gretel krallte sich ans Lenkrad. Das unter Automobilisten berüchtigte Zehlendorfer Kopfsteinpflaster war so glitschig, dass ihr von den Stößen des Motors zitternder Volkswagen fortwährend rutschte.

Doch Gretel focht das nicht an, sie brauste heran mit dem Getöse einer überkandidelten Zeichentrickfigur, deshalb war Eile geboten, und wir machen auch gleich weiter mit der Handlung, wir wollten ja im Grunde nur einflechten, dass in Gustavs Familie niemand dick war, außer Paula (die manchmal den Hosenbund nicht schloss, besonders nach dem Essen). Fest steht außerdem, dass Gustavs Mutter geradezu eine Aversion gegen dicke Kinder hegte – doch andererseits hegte Gustavs Mutter zahlreiche Aversionen, zum Beispiel gegen Milch, die in Papiertüten auf den Tisch kam, oder gegen Kinder, die sich in die Angelegenheiten Erwachsener einmischten, oder grundsätzlich gegen Kinder, die älter waren als zwölf (besonders, wenn es sich um Mädchen handelte).

»Findest du, dass dieser Pullover meiner Figur schmeichelt?«, erkundigte sich Lilli, die mittlerweile in einem dunkelgrünen englischen Cashmere-V-Neck vor dem fleckigen Spiegel im Ankleidezimmer stand.

»Wenn der Pullover jauchzen könnte, ich bin sicher, er würde es tun«, antwortete Gustav, »übrigens sind im Schlafzimmer auch noch zwei Schränke. Und im Bügelzimmer etwa vier.«

»Im Bügelzimmer«, wiederholte Lilli, »wo ist das?«

»Auf der anderen Seite der Treppe«, antwortete Gustav, »dort, wo es in die zweite Etage geht.« Und seufzend fügte er hinzu: »Ich war da früher oft, als ich … als ich klein war.«

»Wie bitte?«, machte Lilli, »das ist wohl ein Scherz.«

»Nein«, sagte Gustav, »ich habe Hildchen beim Bügeln zugeschaut und dazu Orangenlimonade getrunken, während Hildchen sich über die seelischen Grausamkeiten beklagte, die ihr von meiner Großmutter zugefügt wurden.«

Gustav und Lilli waren ins benachbarte Schlafzimmer getreten, den größten Raum der Beletage. In diesem Zimmer hatte Gustavs Großmutter ihre letzten Monate verbracht. Was wohl ausreichte, um ihr diese letzten Monate unangenehm zu machen, weil sie das Schlafzimmer üblicherweise tagsüber niemals betreten hatte. Gustav hatte seine Großmutter nur zweimal in ihrem Schlafzimmer angetroffen, nämlich bei seinen letzten Besuchen bei ihr. Das war nicht lange her. Und zu dem üblichen Gefühl von Audienz, das ihn immer befiel, wenn er mit seiner Großmutter sprach, gesellte sich damals ein Unbehagen, das von der Vermutung herrührte, ihren Privatbereich zu verletzen, ihren Sektor des Hauses (den Gustav allerdings oft genug heimlich, in ihrer Abwesenheit, völlig ungeniert betreten hatte). In Gustavs Familie hatte man ein stark entwickeltes Gefühl für Privatbereiche, und so war er erzogen, man kam dem anderen nicht zu nahe, und darüber hinaus war alles, was mit Schlaf und Ruhe zu tun hatte, zum Beispiel die Mittagsruhe oder ein Schlafzimmer, etwas Sakrosanktes. Daran rührt man nur mit Unbehagen. Und mit ebendiesem Unbehagen betrat Gustav nun das verlassene Schlaf- und Todeszimmer seiner Großeltern.