Tarek Leitner — WO LEBEN WIR DENN?
Glückliche Orte. Und warum wir sie erschaffen sollten.
EINMAL UM DIE GANZE WELT – Ein Dramolett
BILDER UNSERER WELT – Eine Verwüstung
WIR LEBEN IM RAUME – Eine Überraschung
I. UNSERE VERFASSTHEIT
Die Erde in unserer Hand
Leben ohne Raumerfahrung
Die Aufhebung aller Grenzen
Der Antrieb durch Wirtschaft, Religion und Fortschrittsglauben
II. WIR VERZETTELN UNS
Klares Denken für klare Formen
Gebäude als laute Zwischenrufe
Verzetteln in der Landschaft – die Verhüttelung
III. WIR VERSCHWENDEN
Restflächen und Bodenvorrat
Wie viel Erde braucht der Mensch?
Ein Feld zurück
IV. WIR VERSCHWINDEN
Räume ohne Wesen
Der smarte Raum – Leben im Jetzt
Hausbesetzer – die Retter vor dem Verschwinden
V. WIR VERBLÖDEN
Partizipation als Beschäftigungstherapie
Umdeutung der Begriffe und Zeichen
BLICK IN DIE ENTFERNUNG – Eine Anregung
ANMERKUNGEN
Ein Paar im Auto. Aus dem Radio: leise Karel Gotts titelgebendes Lied. Abfahrtsrampe der Autobahn. Hinter den nassen Scheiben ziehen verzerrt einige Leuchtreklamen vorbei. Zu erkennen sind schemenhaft die Logos von Möbelix, Deichmann, Grillhähnchen, IKEA, Aldi, XXXLutz, Shell, Fressnapf, Preispirat, Lidl, Kik, Norma, DM, Leiner, Burger King, Metro, OBI, Takko-Fashion, Rewe, Best Western, Bellaflora, Bipa, Hornbach, Matratzen Concord, Dunkin Donut, BP, Media Markt, Pagro Diskont, Libro, Bamboo, Cineplexx, Kika, Jello, H&M, Primark, C&A, Rewe, Möma, Conrad, Plus, Pizza Hut, S. Oliver, Esso, Erotikmarkt, Edeka, Hotel, Sonnenstudio, Mc Donalds, T€di, Berliner Döner, Tschibo, Saturn, Netto, V-Markt, Penny, Motel, Reifen.com und einem Würstelexpress.
Sie bremst am Kreisverkehr unvermittelt stark ab. Dadurch erwacht er am Beifahrersitz. Erregt.
–Ja, wo leben wir denn?
–Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.
–Neinnein, ich meine: Was ist denn hier geschehen?
–Du meinst den neuen Baumarkt, der hier eröffnet hat?
–Aber ist denn diese Firma nicht gerade pleitegegangen?
–Das war eine andere.
–Dann wird dieser Markt hier, der mir noch viel größer zu sein scheint, sicher gute Chancen haben.
–Ja, er ist an einem Kraftort gebaut, heißt es. Wer sein Herz öffnet, öffnet auch seine Geldtasche.
–Aah – kann sich das denn rechnen?
–Nein, aber sie mussten den Platz besetzen, sonst wäre ein anderer gekommen. Außerdem macht er es den Menschen sicher und bequem.
–Sicher?
–Sie haben aus dem Wellblechbau immer ihr Auto im Blick.
–Das ist notwendig? Im Einkaufs-Paradies …
–Es waren alle dafür. Die machen auch was mit Charity. Und man spart zwei Minuten Fahrt.
–Auf meine Kosten.
–Man parkt gratis. Außerdem haben sie hinter dem Parkplatz einen Vogelkundelehrpfad eingerichtet. Für die Kinder …
–Das wird den Tourismus aber antreiben.
–Es ziehen doch alle weg. Da muss man groß denken.
–Na dann …
–Wir könnten uns doch auch etwas im Grünen bauen, dann haben wir es weiter in die Stadt …
–Das fehlt mir gerade noch. Ich habe die Welt noch nie so hässlich gesehen, dass es mich schmerzt. Das liegt an dem Buch, das ich neulich gelesen habe. Auf der Umschlagklappe sind gar keine Nebenwirkungen vermerkt. (Pause) Den verklag ich …
Noch nie haben wir uns derart intensiv gegen das Verschwinden aufgelehnt, und versuchen jedes Ereignis, jedes Antlitz, unsere ganze Lebensumgebung festzuhalten, beobachten die schönsten Momente, die herrlichsten Häuser, die Tanzaufführung unserer Kinder nicht mit den Augen, sondern live am Bildschirm des Smartphone. Es ist aber nur die digitale Welt, die wir zunehmend als unsere Lebenswelt verstehen, in der nichts mehr verschwindet. Wir vergessen daher darauf zu achten, was in unserer realen Lebenswelt verschwindet.
Das Einfamilienhaus im Grünen scheint das Versprechen von Stadt und Land einzulösen, und bringt doch nur von beidem die Nachteile – oder besser: produziert sie erst. Denn die Zeit für das angenehme Leben, das man sich im Liegestuhl im kleinen Vorgartengrün ausmalt, wird von Stunden des Pendelns aufgefressen, und das ist vielfach der Gegenpol zu dem, was wir uns unter schöner Zeit vorstellen. Sie bräuchte auch eine schöne Umgebung, die auf dem Weg ins Grüne aber nicht mehr zu finden ist.
Nicht nur aus Unachtsamkeit im Straßenverkehr, verwirrt durch die überbordende Beschilderung auf Überkopfwegweisern, die sich zu den Firmenlogotürmen gesellen, sondern wahrscheinlich auch angezogen durch die masochistische Lust an der Hässlichkeit, kam ich vom richtigen Weg ab. Eine kleine Unaufmerksamkeit auf den tentakelartigen Auf- und Abfahrtsrampen, und schon zieht die bunte Blechhalle, die man bereits im Visier gehabt hat, an einem vorbei.
Ein wirklicher Rückzug aus Teilen der Landschaft steht unserer Menschheitsbiographie entgegen. Seit dem Appell des Untertan-Machens gilt die Maxime des Unternehmens, nicht des Unterlassens. Jegliches Unterlassen vermittelt die Urangst des Untergehens, des Absterbens und des Aussterbens. Gerade bei den Landbewohnern nimmt diese Angst zu. Sie sehen die fortschreitende Urbanisierung, die Ausdünnung der Verwaltungs-Infrastruktur, also den Abzug von kleinen Gerichten, Postämtern und Polizeistationen, und kompensieren das mit gebauter Infrastruktur, wie Straßen, Einkaufszentren und Freizeitparks, die Menschen wieder anziehen sollen.
In Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer interpretieren wir zwar die Abgründe der menschlichen Seele hinein, übersehen aber das beschriebene Ideal der Achtsamkeit, mit der einer der Hauptprotagonisten, der Freiherr von Risach, mit seiner Lebensumgebung umgeht. Zugegeben, sechzig Seiten vom Gartentürl bis zum rosenumrankten Haustor, das sind ein bisserl viel Eindrücke für einen Menschen der Gegenwart, auch wenn wir vermeintlich so viel gleichzeitig aufnehmen können. Für die Arten der Raumerfahrung aber sind sie ein Manifest der Achtsamkeit.
Natur, oder vielmehr ihr Schutz, verkommt zur Ersatzreligion, die wie jede andere nicht allzu ernst genommen wird. Wir drängen sie in Reservate zurück, wo sie gleichsam unter einem Glassturz geschützt wird. Sie ist nicht mehr einfach der Raum, in dem sich unser menschliches Handeln abspielt, sie ist – was ihren Schutz betrifft – religiös, und was ihren Nutzen betrifft, beinhart zu berechnen.
Als mir auf einem Flohmarkt, noch als Schüler, eine alte Zeitung in die Hände fiel, machte ich eine bemerkenswerte Entdeckung. Ich fand darin groß abgebildet die zeitgenössische Ansicht eines um 1900 errichteten Cottage-Viertels, eines Villenviertels am Stadtrand. Obwohl schon seit Jahren mein täglicher Schulweg durchführte, war mir nicht gleich bewusst, wo diese Landschaft war. Aber so klar hatte ich ihn bis dahin nie gesehen. Auf der Zeichnung waren Häuser zu sehen, die alle ein kleines Kunstwerk darstellten, frei auf einem Rasen stehend. Und dazwischen: Nichts !
Hierher kommt niemand, um einfach nur da zu sein. Die durch und durch kommerzialisierte Fun- und Shoppingwelt verbindet vormals durch Land getrennte Orte zu einem hybriden urban-ruralen Konglomerat. Zwischen Hochregallagern und Ackerfurchen tauchen hier vereinzelt Einfamilienhäuser auf, die eine ins Unendliche diffundierende Streusiedlung bilden. Es ist ein Siedlungsrauschen, gleich dem Rauschen im Netz, in dem man eine Sache, einen Gedanken nicht mehr festmachen kann, einen Diskurs weder führen noch mitverfolgen kann.
Die Landschaft ist das größte denkbare Kunstwerk, das Menschen zuwege bringen können, und die größte denkbare Katastrophe, wenn sie damit scheitern. – KARL SCHLÖGEL1
Erfolgreich sein, eine Leistung erbringen – wer steckt sich, seinen Kindern oder Mitarbeiterinnen nicht solche Ziele? Man nennt das vielfach Vorwärtskommen. Vorwärtskommen wiederum nennt man vielfach Meter machen, vielleicht am Königsweg, vielleicht nur auf der Ochsentour. Schon diese kleine alltagssprachliche Betrachtung zeigt, wie sehr sich unser Handeln auf Zeit und Raum bezieht, an einem Ort angesiedelt ist, und sich vor allem in diesen hinein erstreckt; Meter für Meter, Hektar für Hektar.
So selbstverständlich ist es nicht, dass unser Handeln verortet ist. Denn zunehmend meinen wir, die Zukunft liegt im virtuellen Raum. Wer nicht an den Highways des Internets sitzt, an den hochfrequentieren Plätzen der sozialen Netze, der bringt seine Produkte oder Informationen nicht unter die Leute. Das mag stimmen. Warum aber, wenn wir uns neuerdings ganz woanders herumtreiben, verändert sich dann unsere Landschaft, unsere Lebensumgebung in einem solchen Ausmaß zu ihrem Schlechteren, teils ins Unerträgliche?
Trotz Geburtenrückgangs und Wirtschaftsflaute hat der Landschaftsverbrauch in der Bundesrepublik eine Rekordmarke erreicht: Jedes Jahr wird die Fläche von der Größe des Bodensees zubetoniert, zerschnitten, zersiedelt. Allerorten entstellen Schwarzbauten Wälder, Ufer und Höhenzüge. Landschaften, die einst als Inbegriff der Idylle galten, verlieren ihr Gesicht – Deutschland wird hässlich. Die Landschaftsplanung versagt, die Politik der Bonner Rechtskoalition hat den Landfraß noch beschleunigt2.
Solchermaßen ist die Veränderung unserer Lebensumgebung unglaublicherweise schon im Jahr 1983 beschrieben worden. Und schon wenig später lässt Thomas Bernhard die Figur des Professor Robert in Heldenplatz vor diesen Entwicklungen resignieren: Da müsste man ja ununterbrochen/ Tag und Nacht protestieren/ denn überall wird alles vernichtet/ überall wird die Natur vernichtet/ die Natur und die Architektur alles/ Bald wird alles vernichtet sein/ die ganze Welt wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein3.
Seither sind mehr als 30 Jahre vergangen, die Gesellschaft hat sich stark verändert – und ihr Abbild in der Welt zeigt eine noch größere Achtlosigkeit. Unsere Sehnsuchtsorte werden zunehmend zu Leidenslandschaften. Und das, obwohl wir in den zahlreichen Medien, die wir konsumieren, mit einer noch nie dagewesenen – meist schönen – Bilderwelt konfrontiert werden. Bilder, die aber nur mit einem immer weiter ausgezogenen Teleobjektiv aufgenommen werden können. Nur die gleichsam immer höhere Brennweite, die Fokussierung auf einen kleinen Punkt, ermöglicht es, die entstellte Landschaft rundherum auszublenden. Auf diese Weise entstehen in den medial vermittelten Bilderwelten unsere Sehnsuchtslandschaften. Die gibt es aber nicht mehr. Sie sind nur noch unsere Fluchtorte in einer als unvollkommen empfundenen und entstellten Realität. Trotzdem wird mit diesen Welten alles Mögliche beworben. Manchmal nur das Joghurt, das uns Landlust machen soll, oft ganze Regionen, die vorgeben, eine heile Welt zu sein. Wenn wir dann tatsächlich in diese kommen, sehen wir eine ganz andere Welt, weil wir nicht den Tunnelblick des Teleobjektivs haben, sondern einen größeren Ausschnitt wahrnehmen.
Daran kann man erkranken. Man leidet dann unter dem Paris-Syndrom, und bekommt Herzrasen und Angst, schwitzt und es wird einem schwindlig. Es ist eine zeitgenössische Weiterentwicklung des Stendhal-Syndroms. Das ist das angenehmere. Dem müssen wir uns zuvor widmen. Stendhal, französischer Schriftsteller des frühen 19. Jahrhunderts, war bei einem Besuch von Florenz so sehr im Rausch der Gefühle, dass er vor Erschöpfung zusammenzubrechen drohte. In seiner Reise in Italien, schreibt er: Ich befand mich bei dem Gedanken in Florenz zu sein (…) in einer Art Ekstase. (…) ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.4 Zwischen den beeindruckenden Bauten, die eine offenbar auch im sprichwörtlichen Sinne umwerfende Umgebung ausmachen, kann es einem auch heute noch so ergehen. Jedenfalls, wenn man die Stadtteile aufsucht, die Stendhal 1817 bis zur Erschöpfung entzückt haben.
Das Paris-Syndrom ist die Fortentwicklung dieses Zustandes, hervorgerufen durch die Fortentwicklung unserer Lebensumgebung. Bemerkenswerterweise wird es häufig bei japanischen Touristen konstatiert. Sie haben durch die medial vermittelten Bilderwelten einen falschen Eindruck von Paris. Die Stadt stellt sich bei ihrem Besuch vollkommen anders dar als erwartet. Es ist die Differenz zwischen Erwartungshaltung in Bezug auf einen Raum und dessen tatsächlicher Realität, die dann das Syndrom auslöst. Die japanischen Besucher versuchen sich daher in Fluchtorte zu retten, und schaffen sich in ungeheurem Ausmaß ihre eigenen Bilderwelten, die ihren Erwartungshaltungen entsprechen, und konsumieren die echte Umgebung nur noch via Display von Kamera, Photoapparat oder Smartphone; als säßen sie zu Hause in Japan vor einem ihrer Bildschirme. Eine Schutzreaktion auf den Schock.
Die für dieses Syndrom namensgebende Stadt ist natürlich austauschbar. Florenz, um noch einmal auf die positiven Auslöser des Schwindelanfalls von Stendhal zurückzukommen, wurde einst von Bernardo Bellotto, einem venezianischen Maler des 18. Jahrhunderts, besser bekannt unter Canaletto, gemalt. Es ist nicht überliefert, in welchen Rausch er dabei verfallen ist, aber er hat uns einen Keim hinterlassen, der in Sachen Paris-Syndrom zur Ansteckungsgefahr werden kann: den Canaletto-Blick. Wirft man einen solchen in die Landschaft, zeigt sich, wie Gebäude in Bezug zueinander stehen. Auch wenn der Canaletto-Blick vielfach als Kampfbegriff gegen neue Bauten, die eine landschaftliche Anmutung verändern, gebraucht wird, er braucht das nicht zu sein. Denn es geht nicht um neu oder alt, sondern um Sichtachsen, um Anmutungen, die unser Empfinden für eine räumliche Wahrnehmung ausmachen – also um Rücksicht auf Blicke.
Rücksicht kommt von Respekt, also vom Zurückschauen, was hinter einem geschieht, was man verstellt. Es geht also immer um die Art, wie sich Neues in die bestehende Lebensumgebung einfügt – nicht nur architektonisch, sondern vor allem aus welchem Motiv und für welche Funktion.
Das Paris-Syndrom ist also wohl in viel höherem Ausmaß in ganz anderen Regionen als der französischen Hauptstadt vorzufinden. Und wenn wir beim Besuch solcher Orte auch nicht gleich im klinischen Sinne erkranken, dann befällt doch viel mehr Menschen als die japanischen Touristen ein gravierendes Unwohlsein.
Es fragt sich daher angesichts des landschaftlichen Potentials für Unwohlsein, Krankheiten und irreführende werbliche Glücksversprechen, wie lange Tourismusregionen eigentlich noch mit Idealansichten werben dürfen, als wären sie von Canaletto gemalt, der neben Florenz vor allem Dresden und andere europäische Städte nur aus dem schmeichelhaftesten Blickwinkel portraitierte? Wohl nicht mehr lange, wenn wir uns die aktuellen Werbebeschränkungen vergegenwärtigen. Das Hamburgische Spielhallengesetz hat gerade verboten, niedliche Goldfische, nette Rauchfangkehrer und vierblättrigen Klee abzubilden. Solche Bilderwelten des Glücks könnten uns in die Irre (und in die Spielhalle) führen, meinen die Urheber. Und schon längst, wie auch die Nichtraucher wissen, dürfen uns Tabakkonzerne keine Raucher bei Abenteuern in schönster Natur zeigen. Nicht, weil es diese Abenteuer in schönster Natur nicht mehr gäbe (und wir uns diese womöglich zurückrauchen wollen), sondern weil die schwarze und kaputte Raucherlunge mehr Authentizität mit dem Produkt bringt.
Würden Regionen, nicht nur Tourismusregionen, sondern fast alle, die etwas zu verkaufen haben, oder in die man geschäftlich reisen könnte, solchen Abbildungsvorschriften unterliegen, und – bei sonstiger Strafe – auch nur noch solch drastische, aber der Wirklichkeit entsprechende Bilder zeigen dürfen, dann wäre es wohl vorbei mit den imaginären Sehnsuchtsorten. Der Mythos, den eine kommerzialisierte Landschafts-Marke transportiert, ist von den Werbeagenturen nicht geschaffen worden, um uns die Wahrheit über eine Landschaft zu erzählen, sondern um diese zu ersetzen. Andernfalls wäre das Hochregallager am Kreisverkehr der verordnete Inbegriff der Authentizität.
Diese Manipulationsgefahr begegnet uns vielfach auch in den Hymnen von Staaten und Ländern. So deren Texte nicht von der heldenhaften Vergangenheit handeln, wird zumeist ein Hohelied auf die Schönheit der Landschaft angestimmt, in der die Sängerinnen und Sänger leben. Die Österreicherinnen waren, was die Modernisierung ihrer Hymne betrifft, in Sachen Gendern schon erfolgreich und haben erreicht, dass nicht mehr nur die historischen Leistungen der Söhne dieses Landes besungen werden. Am Schmäh, begnadet für das Schöne zu sein, wie es in einer Textzeile heißt, und den Kindern von klein auf in der Schule gelehrt wird, infizieren sie sich (Männer und Frauen gleichermaßen) aber weiterhin.
Hymnen vermitteln ein trügerisches Landschaftsbild, wie es auch durch Maler früherer Tage transportiert wurde. Der österreichische Architekt Friedrich Achleitner erinnert daran: Man kann behaupten, dass der heutige Städtetourismus zum großen Teil entlang von Wahrnehmungsklischees abläuft, die von den Vedutenmalern des 18. und 19. Jahrhunderts … erfolgreich verbreitet wurden5. Heute sind es die unendlichen Bilderfluten von Landschaften und Lebensumgebungen, mit denen wir so gut wie überall konfrontiert werden, und an denen wir uns nicht zuletzt im Netz berauschen können. Wem also die Bilderfluten entgegenspringen, der konsumiert die mitgelieferten Emotionen. Wer Emotionen konsumiert, macht das Gegenteil von Emotionen ausdrücken. Wer vor diesen Ansichten keine Emotionen ausdrückt, hat kein Gefühl für das von der Umgebung vermittelte Bild. Und wenn es selbst diese Bilder nicht mehr gäbe, wüssten wir nicht mehr, worauf sich die Sehnsucht zu richten hätte. Wir hätten keine Idealvorstellung mehr von unserer Lebensumgebung.
Wo es nicht biedermeierliche Kammermaler sind, die uns ideale Landschaften abbilden, sondern zeitgenössische Photographen, zweifeln wir daher an deren Existenzmöglichkeit. Eine Zeitung hat folgerichtig einen Bericht über eine solche Ausstellung mit imaginierten und ästhetisierten Photographien mit Zu schön, um wahr zu sein6 betitelt. Wir können es nicht glauben, dass es solche Landschaften tatsächlich gibt. Denn was wir wirklich sehen, ist zerschnitten, zersiedelt und zerstört. Warum wir uns das gefallen lassen, dem bin ich in meinem Buch Mut zur Schönheit7 nachgegangen. Die Antwort ist: Im Namen der Wirtschaftlichkeit lassen wir uns alles einreden, und akzeptieren, was uns im ersten Moment abschreckt. Ein Renditeversprechen, gleich für wen, lässt uns schwach werden. Daran hat sich nichts geändert. Aber mehr denn je bildet sich auch der Charakter unserer Gesellschaft in unserer Lebensumgebung ab; und unsere gesellschaftliche Verfasstheit, die sich in der digitalen Welt in einem rasanten Ausmaß ändert.
Das Null-Eins-Denken aus unserer digitalen Welt setzt sich in unserer realen Lebensumgebung fort. Es ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir ein Gebäude in die Landschaft stellen können, um zu wirtschaften, so wie wir ein Programm öffnen, um damit am Computer zu arbeiten. Wir klicken die Landschaft gleichsam an, um ein Arbeitsfeld zu eröffnen. Ein reales Feld wird dabei zugleich vernichtet.
Weil es so einfach geworden ist, und die Möglichkeit besteht, Gebäude welcher Art auch immer, in kürzester Zeit zu errichten, brauchen wir auch in diesen Dingen keine überlegte Entscheidung zu treffen. Sie muss nicht auf Langfristigkeit angelegt sein. Die gegenwärtige Maybe-Gesellschaft8 geht vom Vielleicht aus, von der Möglichkeit, die Gebäude so oder anders zu gebrauchen. In den zahlreichen medialen Kanälen, die wir nutzen, haben wir bereits alle Möglichkeiten gesehen, die es an Entscheidungsoptionen gibt. Wir lassen sie uns im Privaten und im Beruflichen so lange wie möglich offen. Wir wissen, wir könnten heute hier und morgen da sein (müssen), und sollten uns daher die Mobilität zu eigen machen, wie es sie in aller Leichtigkeit aber nur das Kapital hat. Eine Gesellschaft, die Ortsgebundenheit als Hindernis empfindet, die gleichsam die Sesshaftigkeit als zivilisatorische Fehlentwicklung begreift, kann die Qualität eines Ortes, seinen Geist, den genius loci also, nicht mehr wahrnehmen. Und tatsächlich ist er auch nicht zu sehen, sondern nur zu erkennen. Wir dürfen Weltbürger nicht mit Luftwurzlern verwechseln, die die Mobilität, und damit ist nicht das Umherkommen mittels Reisen zum Erkenntnisgewinn gemeint, zur unabdingbaren Voraussetzung für den Erhalt von Beschäftigung stilisiert haben. An die Stelle einer lebendigen Kultur ist ein Enzyklopädismus getreten, eine Ansammlung von Kenntnissen und Information, nach der Art eines Fernsehquiz, die nichts anderes als Abstraktionen erzeugen und keine echte kulturelle Identität schaffen, die mit dauerhaften Werten gleich welcher Art verbunden wäre9. Wer sich aufgrund der Austauschbarkeit des Ortes mit der Aneinanderreihung von Nützlichkeiten zufrieden gibt, dem ist gleichgültig, wie es rundherum aussieht. Dieses Credo der Flexibilität überträgt sich ganz intensiv auf unsere gebaute Umgebung.
Wenn wir verinnerlicht haben, die Welt sei global geworden, vergessen wir vielfach, dass sich das nur auf die Konzerne und deren Waren, auf das Kapital und dessen Folgen bezieht. Wir Menschen können nicht in dieser Geschwindigkeit um die Erde flitzen, und sind in unseren kulturellen Unterschieden nicht standardisiert, nicht einmal annähernd, wie wir das von unserer gebauten Umwelt mittlerweile erwarten. Wir wollen reale soziale Netze haben, die uns in einer Umgebung, wie groß sie auch sein mag, verwurzelt sein lassen. Wir vergessen das ob der virtuellen sozialen Netze gerne, oder es ist uns leicht einzureden, dass es eine Verortung nicht braucht, wenn man im globalen Facebook-Dorf wohnt. Wir werden buchstäblich bodenlos, was tatsächlich die Bedeutungslosigkeit des Bodens für uns zur Folge hat.
Es wäre auch überraschend, wenn sich dieser aktuelle Zustand des Alles-zugleich-haben-wollens-und-das-sofort nicht in der Landschaft abbildete, wie das in der Geschichte jede gesellschaftliche Verfasstheit getan hat, und sich in dem, was geblieben ist, nachvollziehen lässt. Manche Schichten der Entwicklung lassen sich mühsam noch erkennen, die aktuelle ist gerade dabei, alle bisherigen massiv zu überlagern.
Weil die Vielleicht-Gesellschaft alle Möglichkeiten hat, auch wenn sie nicht dahingehend geprüft werden, welche langfristig wünschenswert sind, und diese Möglichkeiten technisch sofort realisierbar sind, werden sie auch sofort umgesetzt. Ein Wunsch muss mit einem Klick, einem Touch, erfüllt werden können. So verändert sich mittlerweile auch unsere gebaute Lebensumgebung so schnell wie der Content im Netz. Die Vielleicht-Gesellschaft ist daher auch eine Präsenz- oder Gegenwartsgesellschaft. Gebäude nähern sich zunehmend den Lebenszyklen unserer Konsumprodukte an. Sie verändern unsere Lebensumgebung so schnell wie es bei einem – auch vom Menschen getriebenen – organischen Wachstum nie der Fall gewesen ist. Die Gebäude prägen aber die Welt, in der wir leben, viel mehr, als die im Müll landenden Konsumgüterartikel. Der kulturelle Wert, den wir vielem neu Gebauten beimessen, ist jedoch zunehmend ähnlich gering wie ihn unsere Konsumgüterartikel haben. Die Gestaltung der Landschaft rund um uns wird nur noch in dem Zeitraum gesehen (und daher für einen solchen konzipiert), wie sich in demselben das eingesetzte Kapital amortisiert. Wir halten das im globalen Standortwettbewerb inzwischen für vermeintlich alternativlos.
Obwohl das Werkzeug der Präsenzgesellschaft, das Smartphone, Arbeiten und Freizeit in einem Ausmaß zusammengeführt hat, wie es zuletzt bei den Bauern und Handwerkern der frühen Neuzeit der Fall war, gehen uns die kleinräumig durchmischten multifunktionalen Räume verloren. Das Null-Eins-Denken setzt sich in den Räumen fort. Je spezifischer und reiner die Nutzung eines Raums ist, desto effizienter kann sie organisiert werden. Kommunikation und Begegnung, Spielen und Spazieren, hindern beispielsweise den schnellen Verkehrsfluss auf der Straße. Eine agrarische Fläche wird in ihrer Bewirtschaftung behindert, wenn auch Freizeitaktivitäten in ihrem Umfeld stattfinden. In einer Wohnsiedlung, meint man, können Produktionsbetriebe nicht effizient wirtschaften; da geht es daher auch nicht mehr um die ohnedies vernachlässigbaren Emissionen, sondern um die beeinträchtigte Effizienz, was die Erreichbarkeit mit Lkw betrifft. Wir schaffen also weiterhin entmischte Städte und Lebensräume, obwohl wir Arbeiten und Freizeit im Smartphone-Zeitalter manchmal bis zur Gesundheitsschädlichkeit haben zusammenwachsen lassen.
Auf der nächsthöheren Betrachtungsebene vermischt sich dann aber alles in einer unwirtlichen Hybridgegend. Die nehmen wir nur noch ausnahmsweise wahr, weil wir bei unserer Bewegung durch den uns umgebenden Raum in einer Weise abgelenkt sind wie nie zuvor. Natürlich sind die Menschen auch bis vor 20 Jahren nicht immer nur beobachtend durch die Welt gegangen und gefahren. Aber selbst in Gedanken versunken zu sein (und das vielleicht noch vielmehr) wird angeregt und geleitet durch das, was in einem Moment um uns herum ist. Weil wir aber nun ständig abgelenkt sind, treffen Impulse der Umgebung weniger denn je auf uns ein. Wer sich, mit welchem Fortbewegungsmittel auch immer, alleine durch den Raum bewegt, konnte einst nicht anders, als den Blick auf die Umgebung zu richten, ob bewusst oder in Gedanken verloren. Es war fast alternativlos. Zeitunglesende Autolenker und buchlesende Fußgängerinnen waren die seltene Ausnahme. Heute erreicht uns im geringsten Fall eine Vibration in der Hosentasche, die uns zumindest sofort die Entscheidung abringt, ob wir diese Mitteilung jetzt sofort oder erst später lesen. Geschieht dies während konzentrierter Arbeit im Büro, nehmen wir das mittlerweile immerhin als Störung wahr, und drängen für einen Zeitraum alle Möglichkeiten, uns zu kontaktieren, zurück. In der Bewegung durch den Raum scheint uns allerdings gerade das der richtige Moment zu sein, die Interventionen zuzulassen. Sie reißen uns aus unserer Wahrnehmung für die Welt um uns. So wenig wie auf diese Art die vertiefende Lektüre eines Buches möglich ist, so wenig können wir auf diese Weise die Zeit im Raume um uns lesen.
Aber es wäre leicht möglich. Denn Im Raume lesen wir die Zeit, schreibt der deutsche Philosoph und Historiker Karl Schlögel10. Beim Schreiben der gegenwärtigen Zeit im uns umgebenden Raum tragen wir so dick auf wie noch nie. Viele Signaturen sind nur noch in Spurenelementen vorhanden, nicht immer weil sie so weit zurückliegen. Die Gegenwart ist kein Weiterzeichnen an einem Gemälde namens Landschaft, sie ist gleichsam eine Übermalung des bisher Geschriebenen – und der verbliebenen weißen Stellen. Sie sind längst nicht mehr terra incognita. Die auf alten Karten an diesen Stellen unbekannter Landstriche abgebildeten Ungeheuer und Monster haben wir nicht erlegt, sondern bloß verwandelt. Sie tauchen jetzt plötzlich auch an allen anderen Stellen auf; als unendliche Addition allen Materials, das wir in unsere Lebensumgebung stellen. Alles kann uns überall begegnen – jederzeit:
Im Netz ist alles überall möglich. Jedes bisherige Medium kann sich an jeder möglichen Stelle finden.
In unserer realen Umgebung bildet sich dieser hybride Raum in gebauter Form ab: Jeder Gebäudetyp findet sich überall.
Im Netz gibt es keine klare Gliederung. Es ist ein Grundrauschen an Informationen.
In unserer realen Umgebung entsteht ein Siedlungsrauschen. Wir überziehen die ganze Landschaft mit unserer gebauten Infrastruktur und verlieren beschreibbare Räume.
Im Netz ist Aufmerksamkeit ein Selbstzweck – das Subjekt wird zum eigenen Werbeobjekt.
In unserer realen Umgebung stehen Gebäude nur noch als Hinweis auf sich selbst – sie werben für sich.
Im Netz überwiegt die Anonymität.
In unserer realen Umgebung gibt es keine Gebäude, die von identifizierbaren Personen zu verantworten sind. Sie entsprechen nur den Umständen und den Notwendigkeiten der Wirtschaft, nicht einem Erbauer – sie präsentieren sich und repräsentieren niemanden. Sie bleiben anonym.
Im Netz verschwindet durch die Anonymität die Öffentlichkeit.
In unserer realen Umgebung bauen wir den zentralen öffentlichen Ort, den Stadt- oder Dorfplatz, nur noch als Kulisse für die Shoppingmall am Flughafen. Sie steht nur noch für Anonymität, nicht für Öffentlichkeit.
Im Netz ist das Digitale eine Aneinanderreihung. Die Timeline erzählt uns keine Geschichte, sie addiert nur nichtalternde Daten.
In unserer realen Umgebung addieren wir nur noch uns nützende Bauten – wir erzählen damit keine Geschichte eines Ortes.
Im Netz schauen wir durch die Datenbrille und reduzieren die gesamte Lebensumgebung auf (vermeintlich nützliche) Informationen.
In unserer realen Umgebung brauchen wir daher nichts, was nicht zählt. Denn das Sein fällt mit Information vollständig zusammen11.
Im Netz leben wir ein undingliches Leben12 – es benötigt nur ein Fingern auf dem Bildschirm, kein Handeln13.
In unserer realen Umgebung spielt das dingliche Leben daher keine Rolle mehr.
Im Netz berauschen wir uns.
Für unsere reale Umgebung können wir die Folgen nicht abschätzen.
Die digitale Welt, in die wir geflüchtet sind, ist eine unkörperliche. Zwar gibt es dort sehr viele Körper zu finden (und sie sind es auch, die am meisten gesucht werden), aber es ist Sex ohne Körperlichkeit. Und diese mangelnde Körperlichkeit haftet auch allen anderen Inhalten an. Die Identität entsteht nicht mehr über die Körperlichkeit des eigenen Ich, der engsten selbst mitgestalteten Lebensumgebung. Sie resultiert aus dem digitalen Profil, das wir uns auf der Timeline unseres Lebens zurechtgelegt haben.
Ein paar Einträge in dieser Timeline, ein Blogeintrag vielleicht, ein Twitterstream, das alles würde womöglich ausreichen, um ein paar Gedanken, die bis zum Ende dieses Buches folgen, darzulegen. Damit wäre die Analogie zu unserer Lebensumgebung wohl besser dargestellt. Das Buch aber ist eine Form, in der wir Gedanken durch unterbrechungsfreies Nachdenken entwickeln können, wie es eine ideale Landschaft ist, die sich zu unserem Glücklichsein entwickeln soll. Es ist also die Suche nach einer Balance zwischen Speicher und Strom, Innehalten und Fluss, wie wir sie in unserer Lebensumgebung nicht mehr finden14.
Das smarte kabellose Informationszeitalter hat den Ort, an dem wir arbeiten, wohnen, durch den wir uns bewegen, bei Weitem nicht irrelevant werden lassen, wie uns das in der Frühphase der Büro-in-der-Westentaschen-Zeit zur Jahrtausendwende vielfach eingeredet worden ist. Es hat Raum ganz grundsätzlich nicht irrelevant werden lassen. Ich mache mir zuweilen in meinem Smartphone Notizen zu einem Gedanken, der mir in U-Bahn oder Kaffeehaus in den Sinn kommt. Vielfach erschließt sich mir später nicht mehr, worauf ich da hinauswollte. Der notierte Gedanke erscheint dann plump oder nicht mehr nachvollziehbar – und wird gelöscht. Das mag bei den handschriftlichen Notizen am Fuße einer Buchseite, auf einem herausgerissenen Zeitungsrand, auf der Rückseite eines Parkscheins oder auf der Kaffeehausrechnung auch so sein. Ist es aber wesentlich seltener. Der Gedanke ist in einer körperlichen Welt verortet, die mir sofort wieder alle Assoziationen erschließt, die mich einst bei der Niederschrift begleitet haben.
In meiner früheren überschaubaren CD-Sammlung wusste ich an welche Stelle, an welchen Ort ich greifen musste, um eine bestimmte Musik, ein spezielles Stück, hören zu können. In den digitalen Ordnern finde ich jetzt nur die richtige Klangfarbe, die mir in einer Stimmung und Situation passend erscheint. Es ist der unspezifische, allgemeine, wolkige Zugang in die cloud. Die Wolke in ihrer sich ständig verändernden Form, in ihrer Unfassbarkeit von Ausdünnung und Verdichtung ist die Abbildung unserer Lebensumgebung.
ortendeortet