Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Die Stadt der vielen Gesichter
  7. Arabische Clans in Deutschland
    1. Tatort Bremen
    2. Essen
  8. Frühe Warnung: Clans auf dem Vormarsch
    1. Drei Jahrzehnte ungebremster Clankriminalität
    2. Geschäftsfeld Drogenhandel
    3. Geschäftsfeld Prostitution
    4. Ein schwarzer Tag für die Berliner Polizei
    5. Aus der Sicht der Polizisten
  9. Der Fall Nidal R.
    1. Hinrichtung am helllichten Tag
    2. Wer war Nidal R.?
    3. Hintergründe der Tat
  10. Der Raubzug im Grand Hyatt
    1. Überfall am helllichten Tag
    2. Rekonstruktion der Tatvorbereitungen
    3. Morddrohungen gegen Zeugen
  11. Der Einbruch ins Bode-Museum
    1. Die gestohlene Goldmünze
    2. Erste Ermittlungserfolge
    3. Am Ende der Ressourcen
    4. »Unerhörte« Forderungen
  12. Der Überfall auf das KaDeWe
    1. Adventsshopping im Nobelkaufhaus
    2. Erstaunliche Wendung
    3. Großrazzia
  13. Clan-Geschäfte im Schatten des internationalen Terrorismus
    1. Terrorismus und Clan-Kriminalität
    2. Der Fall Anis Amri
  14. Parallelgesellschaft und behördliches Vorgehen
    1. Zusammenhalt und Kodex
    2. Auf manchem Auge blind
    3. Einschüchterungstaktik und erschwerte Ermittlungen
    4. Fehlende Integration
    5. Stolpersteine bei den Ermittlungen
    6. Personalmangel und aufwendige Ermittlungen
  15. Der Fall Mahmoud A.
    1. Die Ermittlungsgruppe »Ident« und das Problem der Staatenlosigkeit
  16. Ehrlichkeit: Nachwuchs für die Clans
    1. Vom Opfer zum Täter
    2. Läuterung und neuer Lebenssinn
    3. Authentischer Austausch mit Jugendlichen
  17. Mephisto – eine Abrechnung
    1. Der vermeintliche Freund
    2. Aufstieg und Fall
    3. Freunde und Feinde
    4. Endlich ein harter Cut
    5. Ein Sensationsfund
  18. Die neue Konkurrenz der Clans
    1. Tschetschenische Banden
    2. Nigerianische Banden
    3. Zeit zum Handeln
    4. Ein ernüchterndes Fazit
    5. Das Phänomen Clan-Kriminalität aus Sicht der Strafverfolger. Ein Nachwort vom Berliner Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra
    6. Glossar

Über dieses Buch

Tödliche Schüsse vor einer Neuköllner Bar. Massenschlägerei mit Axt und Schlagstöcken in Kreuzberg. Schutzgelderpressungen: Arabische Großfamilien beherrschen die Straßen unserer Hauptstadt. Und die kaputt gesparte Berliner Polizei hat keine Mittel, um die Banden zu stoppen. Michael Behrendt untersucht die Wurzeln der Clans, enthüllt, wie sie die Polizei unterwandern - und warum sie zu einer Bedrohung für das ganze Land werden können, wenn die Politik nicht gegensteuert.

Über die Autorin

Michael Behrendt ist Chefreporter der WELT. Er schreibt seit 30 Jahren u.a. für BILD, BERLINER MORGENPOST, B.Z. Für die Enthüllungen über die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche wurde er mit dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse ausgezeichnet. Als Kriegsreporter berichtete er u.a. aus Bosnien, Afghanistan, Ruanda und Libanon. Er lebt in Berlin.

Michael Behrendt

DIE
ARABISCHE

GEFAHR

Wie kriminelle Familienclans
unsere Sicherheit bedrohen

Die Stadt der vielen Gesichter

Berlin zieht Menschen aus aller Welt an. Die Stadt, die friedlich eine bewaffnete Mauer einriss. Die Stadt, in der viele Nationen zusammenleben – ein Inbegriff für Multikulti. Die Stadt, in der man auch nachts noch ein Edelrestaurant findet, das geöffnet hat, oder zur Currywurst am Stand ein Glas Champagner genießen kann. Da gibt es den Kurfürstendamm, die Prachtstraße, Symbol des reichen Lebens in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland: Rolex neben Gucci, ausgelassenes Barleben neben schicken Luxushotels.

Viele Unbeteiligte und Touristen, die die deutsche Hauptstadt besuchen, wissen nicht, dass in Berlin gewissermaßen ein Krieg tobt. Ein Krieg der Sicherheitsbehörden gegen kriminelle arabische Clan-Strukturen. Oder besser gesagt, sie wussten es wahrscheinlich bisher nicht. Denn seit geraumer Zeit findet sich dieses Problemthema nicht nur – wie schon seit Jahren – auf den Schreibtischen der Ermittlungsbeamten, sondern auch auf den Agenden der Politiker.

In Berlin und auch in Städten wie Essen und Bremen haben sich über die Jahre und Jahrzehnte regelrechte Parallelgesellschaften gebildet. Es gibt die Bürger, die nach den deutschen Gesetzen leben. Und es gibt die Angehörigen der kriminellen Araber-Clans. Die haben ihre eigenen Gesetze, und nach diesen leben sie. Nicht der deutsche Staat bestimmt, was richtig oder falsch ist, sondern das gibt die Familie vor. Die Anweisungen von Ordnungsämtern und der Polizei fallen nicht ins Gewicht.

Als in den frühen Achtzigerjahren der Krieg zwischen Israel und dem Libanon tobte, kamen viele Familien nach Deutschland und vor allem nach Berlin, die heute als »arabische Clans« bezeichnet werden. Die Gesellschaft – da sind sich heute Politik und Polizei längst einig – wollte diese Flüchtlinge nicht, weder auf dem Arbeitsmarkt noch in den Schulen oder im alltäglichen Leben. So hart und angreifbar das auch klingen mag: Was hätten diese Menschen tun sollen, außer kriminell zu werden? Ein Polizist sagte mir dazu mal, dass er wahrscheinlich auch zum Verbrecher geworden wäre, wenn er in einem Land lebte, das ihn nicht wollte und ihm keine Perspektiven böte. Und so begannen einige dieser Menschen mit zwielichtigen Geschäften, drängten auf den Drogenmarkt, erpressten Schutzgelder und gingen dabei teils mit äußerster Brutalität vor. Sie verschafften sich Respekt bei den einheimischen, »lokalen« Kriminellen.

Obwohl es warnende Stimmen aus der Polizei gab, wurde das Phänomen nicht ernst genommen. Ja, man sprach darüber hinter vorgehaltener Hand, aber nicht öffentlich. Denn Deutschland hat mit dem Dritten Reich nun einmal eine Vergangenheit, derentwegen es schwerfällt, einer bestimmten Bevölkerungsgruppe verstärkt kriminelle Machenschaften vorzuwerfen. Schnell hätte man als Neonazi gegolten, wenn man gesagt hätte, dass es ein großes Problem mit arabischstämmigen Menschen gibt. Durch diese »verordnete« Untätigkeit erstarkten die Clans zu dem, was sie jetzt sind: eine Gefahr für die innere Sicherheit und auch die Werte dieses Landes. Natürlich werden nicht alle Mitglieder eines Clans straffällig. Manche führen ein ganz normales, rechtschaffenes Leben. Das ändert aber nichts an der Bedrohung, die von der übrigen Familie ausgeht.

Gerade Berlin als Hauptstadt Deutschlands scheint schlecht gewappnet, um diesen Kampf jetzt noch gewinnen zu können. Viele der einschlägig bekannten Kriminellen besitzen mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Polizei ist derart zusammengespart, dass sie gerade noch so ihre alltäglichen Aufgaben bewältigen kann. Ähnlich sieht es bei der Justiz aus, bei der ebenfalls nicht selten wegen Personalmangels Vorgänge bis zur Verjährung auf den Schreibtischen liegen und nicht bearbeitet werden. Es müssten Gesetze geändert werden. Deutschland braucht die Beweislastumkehr. Das bedeutet, dass nicht der Staat einem Verdächtigen nachweisen muss, dass sein Geld aus kriminellen Machenschaften stammt, sondern dass er die legale Herkunft belegen muss. Italien beispielsweise greift härter durch: Beschlagnahmtes Geld fließt zum Teil in die Kassen der dortigen Sicherheitsbehörden.

Im Kampf gegen diese Kriminalitätsform hat Bundesinnenminister Horst Seehofer angekündigt, die Polizei im großen Stil aufzustocken. Es soll endlich ein bundesweites Lagebild über die Clan-Machenschaften geben. Die Länder sollen besser zusammenarbeiten und Informationen austauschen. Doch das sind alles Dinge, die bereits vor zwanzig Jahren hätten passieren müssen! Mit der aktuellen Flüchtlingswelle drängt sich das gleiche Problem auf wie damals während des Libanonkriegs: Wieder kommen Menschen in dieses Land, die schlechte Sprachkenntnisse und teils eine mangelnde Schulbildung haben. Sie können für die Clans zur strategischen Waffe werden, denn ob ihrer finanziellen Situation sind sie leichter zu verführen. Sie haben zudem zum Teil unklare Identitäten und sind bisher nicht im Raster der Polizei. Auch wenn die Clans niemanden in ihren inneren Kreis hineinlassen – willige »Soldaten« für das Geschäft auf der Straße können sie immer gebrauchen. Es gibt bereits Beobachtungen, wonach die Clans versuchen, vor den Flüchtlingsheimen Nachwuchs zu rekrutieren. Doch wie sollte man das verhindern? Es ist schließlich nicht verboten, mit einem Landsmann zu sprechen.

In der Hauptstadt Deutschlands, in der es so viele verschiedene Lebensformen und Kulturen gibt, von der Hausbesetzerszene bis zu den Nobelrestaurants, haben sich die Clans über die Jahre und Jahrzehnte ihre Freiräume erkämpft. Sie treten nicht nur im Bereich des Kurfürstendamms auf, sondern auch in den Bezirken Neukölln und Schöneberg. Und sie sorgen auf ihre Art für Angst und Schrecken bei denjenigen, die mit ihnen zu tun haben – sei es als Nachbar, als Barbetreiber, als Polizist oder Ordnungshüter im Allgemeinen. Jeder Betroffene weiß um die Geschäfte dieser berüchtigten Großfamilien: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Prostitution. Aber so etwas bekommt der Tourist in der Regel nicht mit. Nur wer in Berlin lebt und seinen Kiez kennt, sieht, wie dieser sich mehr und mehr verändert.

In Berlin kann man ohne Weiteres mit Ehepartner oder Freunden in einem Restaurant sitzen, das unter anderem auch von Personen frequentiert wird, die der Russenmafia zugeordnet werden, und friedlich sein Abendessen zu sich nehmen. Sind die Mafia-Angehörigen zu laut und werden darauf angesprochen, muss man nicht mit einer Tracht Prügel rechnen, sondern wird eher eingeladen oder bekommt eine Flasche Krimsekt auf den Tisch, verbunden mit der Entschuldigung, dass ein Geburtstag gefeiert werde und man um Verzeihung für die Ruhestörung bitte. Sie versuchen, jegliches überflüssige Benehmen zu vermeiden, das einen Funkwageneinsatz auslösen könnte. Denn Funkwageneinsatz bedeutet Feststellung der Personalien, Einblicke in den Polizeicomputer, weiterführende Ermittlungen – alles, was die Geschäfte stört.

Wer es hingegen wagen sollte, einem Mitglied einer arabischen Großfamilie die angemessene Lautstärke seiner Stimme oder sein Verhalten in der Öffentlichkeit vorzuschreiben, kann mit annähernd hundertprozentiger Sicherheit damit rechnen, beleidigt, bedroht oder gar verprügelt zu werden.

Würde der Durchschnittsbürger in Berlin gefragt, ob er Angst vor der Mafia habe oder sich von dieser in seinem alltäglichen Leben beeinträchtigt fühle, würde er das wohl verneinen. Mit dem Begriff »Mafia« bringt man in der Regel sizilianische Kriminelle in Verbindung, die japanischen Yakuza und nach dem Zerfall der UdSSR die sogenannte Russenmafia. Und in der Tat beeinträchtigen diese Strukturen nicht das alltägliche Straßenbild in der Hauptstadt. Denn im Gegensatz zu den arabischen Clans achten sie vor allem auf eines: keine Aufmerksamkeit erregen. Denn Aufmerksamkeit bedeutet Aufsehen, bedeutet Behörden, bedeutet Polizei, bedeutet Berichterstattung in den Medien – all das, was professionelle Verbrecher eigentlich nicht gebrauchen können. Zweifellos gab es auch in diesen Umfeldern brutale Morde, die bekannt geworden sind. Diese wurden jedoch absichtlich öffentlichkeitswirksam ausgeführt, um eindeutige Signale an Konkurrenten oder Leute zu senden, die sich mit den Falschen angelegt hatten.

Die Clans halten sich hingegen für unantastbar. Das suggerieren sie durch ihren Habitus, vor allem durch das Belächeln der deutschen Staatsmacht. Gerade in letzter Zeit haben sie mit ihren Taten den Rechtsstaat regelrecht verhöhnt. Ihre Coups werden spektakulärer: Da war der Überfall auf das Edelkaufhaus KaDeWe am 20. Dezember 2014, und einige Jahre später, am 26. März 2017, wurde aus dem Bode-Museum eine riesige Goldmünze gestohlen. Die Botschaft ist klar und deutlich: »Wir können tun und lassen, was wir wollen.« Und die Botschaft kommt an: bei Geschäftsleuten, bei Polizisten, bei Staatsanwälten.

Doch nicht nur bei spektakulären Raubzügen inszenieren sich die Clan-Mitglieder als über dem Gesetz stehend, sondern auch im täglichen Leben. Während Otto Normalverbraucher fürs Falschparken kompromisslos und ganz selbstverständlich ein Knöllchen aufgebrummt bekommt, bleibt das Fehlverhalten der Fahrer von aufgemotzten AMGs und Lamborghinis ungeahndet, selbst wenn sie in der zweiten Reihe den Weg blockieren, weil viele Ordnungshüter Angst vor den Clan-Mitgliedern haben.

All das bleibt in der Berliner Bevölkerung nicht unbemerkt, und viele verlieren das Vertrauen in den Rechtsstaat, fühlen sich weniger sicher. Es stellt sich die Frage, wer denn nun der Chef in der deutschen Hauptstadt ist.

Arabische Clans in Deutschland

Das von Bundesinnenmister Horst Seehofer geforderte, landesweit übergreifende Lagebild sollte bei Fertigstellung dafür sorgen können, endlich die genauen Strukturen der »Medusa-Clans« zu beleuchten. Sie agieren im Ruhrgebiet, in Bremen und in Berlin. Die Vorgehensweise ist eigentlich bei allen identisch: Es wird gemacht, womit Geld verdient werden kann, also Drogen, Prostitution, Waffenhandel, Schutzgelderpressung, organisierter Diebstahl und so weiter. Gerade in Berlin machten die Hauptstadt-Clans mit spektakulären Coups auf sich aufmerksam.

Da ist beispielsweise der Clan der Abou-Chakers, wegen der Buchstaben im Familiennamen auch »ABC-Clan« genannt. Laut Schätzungen hat er 150 Mitglieder. Das ist nicht sonderlich viel, aber diese Familie gilt als gefährlich und effektiv. Sie hat sich über die Grenzen der Hauptstadt hinaus einen Namen gemacht, weil ihr Anführer, Arafat Abou-Chaker, lange Zeit ein intensives freundschaftliches und geschäftliches Verhältnis mit dem deutschlandweit bekannten Rapper Bushido pflegte. Mitte der Siebzigerjahre kam die Familie Abou-Chaker nach Berlin, zuvor hatte sie in palästinensischen Flüchtlingslagern gelebt. Die deutsche Staatsanwaltschaft rechnet die Familie der Organisierten Kriminalität zu. Das Spektrum reicht – im Grunde wie bei all diesen berüchtigten Großfamilien – von Schutzgelderpressung über Waffenhandel bis hin zu Raubüberfällen. Mittlerweile ist es für die Ermittlungsbehörden schwer, noch einen Überblick über die Machenschaften der Familie zu bekommen, denn viel des illegal erwirtschafteten Geldes wurde in legale Geschäfte wie Lokale und Immobilien gesteckt.

Nachdem sich der Gangster-Rapper Bushido vom ABC-Clan gelöst hatte, soll er sich kurzzeitig mit der Familie Remmo angefreundet haben. Dieser Clan ist vor allem auf Diebstahl spezialisiert und hat mit spektakulären Coups von sich reden gemacht. Einer davon ist der Raub der überdimensionalen Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum.

Etwa 500 Angehörige werden der Großfamilie zugerechnet. Den Behörden sind sie immer wieder wegen Körperverletzung, Schutzgelderpressung, Raub, Drogenhandel, Diebstahl und Hehlerei aufgefallen. Ursprünglich stammen sie aus dem Südosten der heutigen Türkei unweit der Grenze zu Syrien. Später siedelten sie in den Libanon über, galten dort aber nur als staatenlos und zählten zur untersten Gesellschaftsschicht. In den Achtzigerjahren, während des Libanesischen Bürgerkriegs, fanden sie schließlich ihren Weg nach Deutschland. 1992 geriet der Name Remmo in die Schlagzeilen, als zwei Clan-Mitglieder im Berliner Stadtteil Schöneberg einen Gastronomen aus dem ehemaligen Jugoslawien erschossen.

Probleme mit den Clans haben auch andere deutsche Städte. Die Hansestadt Bremen wird von der Familie Miri dominiert. Laut Schätzungen gehören 2.500 Personen zu diesem Clan, gegen ungefähr die Hälfte von ihnen hat die Polizei bereits ermittelt. In erster Linie handeln die Clan-Angehörigen mit Waffen und Drogen. Zudem sollen sie im Schutzgeldgeschäft aktiv sein. Sie schlossen sich einst mit dem berüchtigten Rockerclub Mongols zusammen, der seit jeher mit den Hells Angels verfeindet ist. Dies sorgte für Sorgenfalten bei den Ermittlern, denn die Verbindung zwischen brutalen Rockergangs und anderen gut vernetzten Tätern der Organisierten Kriminalität stellte eine neue Herausforderung dar.

Die personell größte Familie stellt der Clan von Mahmoud Al-Zein dar; 15.000 Mitglieder soll die Familie bundesweit haben. Für den Familiennamen gibt es verschiedene Schreibweisen, was die tägliche Arbeit beispielsweise bei Personenkontrollen für die Beamten erschwert. Mahmoud Al-Zein galt einst als der mächtigste Unterwelt-Chef Berlins und wurde daher auch der »Präsident« genannt. Die verschiedenen Schreibweisen für diese Familie lauten: Al-Zein, Al-Zayn oder auch El-Zein. Sie stammt aus Südanatolien und zählt zu den Mhallami, einer arabischsprachigen Volksgruppe in der Türkei und im Libanon. Einige Mitglieder dieser Familie gelten als Intensivtäter. Die ihnen zur Last gelegten Taten ziehen sich quer durch das Strafgesetzbuch: Neben Gewalt- und Betrugsdelikten sagt man ihnen Medikamenten- und Drogenhandel nach, hinzu kommen der sogenannte »Leistungsmissbrauch«, Ladendiebstahl und anderes.

Tatort Bremen

30 Familien mit etwa 2.500 Mitgliedern stellen in der Hansestadt den Clan der Miri. Die überführten Kriminellen unter ihnen fielen durch Schutzgelderpressung und den Handel mit Waffen, Drogen und Medikamenten auf, und auch im Rotlichtmilieu sind sie aktiv.

Die klassische Vorgehensweise bei der Schutzgelderpressung: Jemand eröffnet ein Restaurant oder Lokal. Eines Tages erscheinen dort mehrere Personen, provozieren Streit oder gar eine Schlägerei mit anderen Gästen und versuchen, Sachschaden anzurichten. Tags darauf betreten Verwandte der Krawallmacher die Örtlichkeit und bieten an, derartige Zwischenfälle künftig zu verhindern – natürlich gegen Bezahlung. Wer brav zahlt, hat zwar finanzielle Einbußen, aber dafür seine Ruhe. Wer die Zahlung verweigert, muss hingegen ständig in Angst leben, Opfer einer körperlichen Attacke zu werden und am Ende vor den Trümmern seiner Existenz zu stehen. Unendliche Sicherheit garantiert aber auch die wöchentliche Barzahlung nicht, die Täter erhöhen die zu entrichtende Schutzgeldsumme nach eigenem Ermessen. »Die Kriminellen achten aber schon darauf, dass die Erpressten nicht an den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten kommen. Denn ein insolventes Lokal bringt kein Geld mehr ein. So clever sind die Herrschaften dann schon«, erzählt ein Polizist.

Das Problem, mit dem die Stadt und ihre Sicherheitsbehörden in erster Linie zu kämpfen haben, ist das Auftreten der Clan-Mitglieder in der Öffentlichkeit. Polizisten berichten übereinstimmend von Drohgebärden und mangelndem Respekt allen anderen Bürgern gegenüber – die Polizei eingeschlossen. Nicht selten sei es vorgekommen, dass Verdächtige bei Überprüfungen allein durch die Nennung ihres Familiennamens Eindruck schinden und somit Druck auf die Beamten ausüben wollten. »Viele der polizeibekannten Täter sind überaus rabiat und gewaltbereit. Diesen Ruf wollte der Clan auf die Straße transportieren. Zeitweise gelang das auch.« Es sollte sich herumsprechen, dass die Mitglieder keine Angst haben und auch körperliche Auseinandersetzungen nicht scheuen. Selbst in den Schulen prahlten Kinder und Jugendliche damit, zum Clan der Familie Miri zu gehören. Das sorgte für Angst unter den Schulkameraden und für Sorgenfalten bei Lehrern und Eltern.

Besonders im Nachtleben am Wochenende, so berichtet ein anderer Beamter, habe es in und auch vor den Lokalen und Diskotheken »Stress gegeben«. Das Auftreten war immer gleich: in Gruppen, laut, bedrohlich. Man scherte sich nicht darum, ob eine junge Frau mit ihrem Freund unterwegs war, und sprach sie an. Das beleidigte zum einen die Frau selbst und provozierte zudem ihren Begleiter. Begehrte der auf, wurde er geschlagen oder mit dem Messer bedroht oder gar angegriffen. Auch so sollte gezeigt werden, wer der Herr auf den Straßen war.

Die Bremer Polizei entschied sich bereits vor Jahren, eine Null-Toleranz-Linie zu ziehen. Das heißt, bereits kleinste Vergehen wurden geahndet. Zwar herrscht im Norden Deutschlands wie in anderen Bundesländern auch Personalmangel bei der Polizei, doch wenigstens hat die Stadt keine ständigen Zusatzaufgaben zu bewältigen wie etwa Berlin. US-Präsidenten kommen nicht zu Besuch, es gibt keine Mai-Krawalle und keine radikale Hausbesetzerszene. Und so konnten die Bremer es sich leisten, im Vergnügungsviertel der Stadt am Wochenende eine komplette Hundertschaft vor die Diskotheken zu stellen, die bei der kleinsten aufkeimenden Auseinandersetzung zur Stelle war. Das störte die Schläger, verdrängte sie. Die Polizei konnte auf diese Weise zumindest die Straße zurückerobern. Damit ist das Problem der Organisierten Kriminalität an sich natürlich nicht gelöst. Aber die Bevölkerung spürt, dass die Polizei zumindest den Gang zur Diskothek durch ihre Anwesenheit wieder ermöglicht.

Die Bremer Ermittlungsbehörden setzen immer wieder Nadelstiche. Es gibt Razzien in einschlägigen Bars und regelmäßige Personenkontrollen. Das Spezialeinsatzkommando (SEK) ist regelmäßig zur Stelle und vermittelt an die Szene die Botschaft, dass der Staat auch hart durchgreifen kann.

Auch juristisch war Bremen stark und konsequent. Angehörige des Miri-Clans gründeten im August 2010 einen deutschen Ableger der berüchtigten amerikanischen Rocker-Bruderschaft Mongols MC, Todfeinde der Hells Angels. Das ist generell erst einmal nicht verboten. Doch mit einem Motorradclub, wie ihn sich der Durchschnittsbürger vorstellt, hatte diese Vereinigung in Bremen nichts zu tun. Das waren keine Biker mit langen Haaren und einer Harley-Davidson unter dem Hintern. Bis auf ein Mitglied besaß keiner dieser vermeintlichen Rocker ein Motorrad, geschweige denn einen entsprechenden Führerschein. Das sorgte dafür, dass der Präsident des international operierenden Clubs dem Bremer Ableger den Rücken kehrte: Sie seien keine Mongols, sondern lediglich Leute, die durch ihre Taten die Aufmerksamkeit der Polizei auf den Club gelenkt hätten.

Bereits im Mai 2011 setzten die Bremer Behörden durch, dass im Bereich der Innenstadt keine Kutten oder Shirts mit den Insignien des Rockerclubs getragen werden durften. Tage später wurde der Club ganz verboten, weil er nach behördlichen Einschätzungen nur dazu gedient habe, Straftaten zu begehen und durch das Auftreten Angst und Schrecken im Bereich der Organisierten Kriminalität zu verbreiten. Im Anschluss versuchten die Mongols, mit einem Ableger in Berlin Fuß zu fassen. Befürchtungen, es käme dadurch zu einem neuerlichen Rockerkrieg in der Hauptstadt, bewahrheiteten sich nicht. Die Hells Angels waren in Berlin zu mächtig, die Mongols lösten sich auf.

Die Ermittler in Bremen haben dieselben Probleme wie ihre Kollegen in anderen Bundesländern: Es ist fast unmöglich, an Informationen aus dem inneren Kern zu kommen. Die Reihen der Familien sind dicht geschlossen, niemand redet. Das Gesetz, das für die Angehörigen des Clans zählt, ist das der Familie. Als die Behörden vor einigen Jahren rechtzeitig zu einer geplanten Massenschlägerei zwischen den Miris und einer anderen Personengruppe kamen, wurde bei der Personenkontrolle auch ein angehender Polizist angetroffen. Auf die Frage, ob er sich seiner Pflichten als Staatsdiener bewusst sei, gab er zu Protokoll, dass die Regeln seiner Familie über dem deutschen Gesetz stünden. Wenn die Familie rufe, dann würde er kommen. Egal, welchen Beruf er habe.

Niemand gelangt ins Innere der Clans, auch keine fremde Frau. Ehen werden innerhalb der Familien organisiert, und nicht selten heiraten Cousins ihre Cousinen. Einem Beamten zufolge hat das auch negative Folgen. Er berichtet aus seinen persönlichen Erfahrungen, dass er Fälle von schwer missgebildeten Kindern kennt. »Das ist ein absolutes Tabuthema. Ich kenne eine Familie, bei der mehr oder weniger Verwandte geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt haben ...« Doch auch diese Schattenseiten werden von der großen Familie kompensiert: Man hilft einander. Der Clan steht fest zusammen. Deswegen ist der Familienkodex heilig.

Überall dort, wo kriminelle Strukturen aktiv sind, versuchen die Straftäter, an Informationen über ihre Gegner zu kommen, also etwa die Namen der Polizisten und deren Anschriften herauszufinden, um Druck ausüben zu können. »Es reicht schon jemand, der für eine Firma arbeitet, bei der Autos versichert sind«, so ein Beamter. »Dadurch erlangt man Zugriff auf Fahrzeugkennzeichen und die Daten des Versicherungsnehmers.« Der Datenschutz sei sehr leicht zu umgehen. Ähnlich wie die Polizei würden die Großfamilien regelrechte Observationseinheiten abstellen, um ihre Gegner zu überwachen, um eine Schwachstelle zu finden und diese auszunutzen. »Die Gesellschaft muss sich davon lösen, zu denken, dass wir es mit ungebildeten Personen zu tun haben. Man muss kein Abitur samt Studium haben, um clever dem kriminellen Geschäft nachgehen zu können«, so der Polizist weiter.

Essen

Wer an Clan-Kriminalität denkt, ist im Geiste automatisch in Berlin. Wegen der Bekanntheit des ABC-Clans und seines früheren Verbündeten, dem Rapper Bushido. Wegen der spektakulären Taten, die von verschiedenen Familien in der Hauptstadt begangen wurden. Doch auch andere Bundesländer haben mit den kriminellen Großfamilien zu tun. Gerade die Stadt Essen, die in den Nachrichten eher selten erwähnt wird, hat zu kämpfen – eigentlich sogar der ganze Ruhrpott, zwischen Duisburg und Essen. Die Steinkohlezentren verschwinden, die Menschen verlassen die Gegend, und dadurch gibt es dort billigen Wohnraum.

Früher gab es andere Probleme im Pott. Da waren die Angehörigen der echten Mafia, der italienischen, aktiv, anders als in Berlin. Die Polizei schlug sich auch mit Rocker-Gangs herum, und sie sagte den Neonazis den Kampf an. Die Einbruchszahlen nahmen zu, die Beamten waren beschäftigt, und die arabischen Clans konnten kontinuierlich einsickern in das Gebiet. Sie kauften verwahrloste Mehrfamilienhäuser auf, um sie als Wohnungen zu vermieten. Mittlerweile fallen sie durch die gleichen Taten auf wie die Clans in Berlin: Es gibt Massenschlägereien, und die Polizei nimmt auch Schießereien in die Statistiken auf. Die Clans werden im Drogenhandel wahrgenommen sowie in Verbindung mit Schutzgelderpressung.

Im Februar 2019 sagte der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft: »Über viele Jahre hinweg sind die Clans in Nordrhein-Westfahlen unterschätzt worden – womöglich aus Gründen falsch verstandener Toleranz.« So wird Erich Rettinghaus vom Spiegel zitiert. Die Zurückhaltung der Polizei hätten Kriminelle als Schwäche des Staats interpretiert und immer mehr Grenzen überschritten. Und auch die Politik meldete sich zu Wort: Man habe sich um das Phänomen zu wenig gekümmert, heißt es vom CDU-Innenminister Herbert Reul. Man habe es verpennt.

Essen zählt 3.000 Clan-Angehörige libanesischer Abstammung, das zuständige Landeskriminalamt (LKA) führt 1.200 von ihnen als Tatverdächtige.

Die Zahlen für das gesamte Bundesland wiegen noch schwerer. Laut Landeskriminalamt haben 6.500 Clan-Mitglieder in der Zeit zwischen 2016 und 2018 mehr als 14.000 Straftaten begangen. Anlässlich einer Pressekonferenz sagte ein für dieses Kriminalitätsfeld zuständiger Abteilungsleiter, dass die Dunkelziffer vor dem Hintergrund des Bedrohungspotenzials, der Einschüchterung, der strikten Abschottung und einer gering ausgeprägten Anzeigebereitschaft erheblich höher sein dürfte. Ein Drittel der bekannten Delikte sind laut LKA Gewalttaten wie Körperverletzungen, gefolgt von Betrugs- und Eigentumsdelikten sowie Drogenhandel. Hinzu kommen zwei Tötungsdelikte und 24 versuchte Tötungen.

Wie ein Brandbrief kam ein öffentlicher Hilferuf aus der Essener Geschäftswelt vor mehr als zwei Jahren daher. Die Immobilien- und Standortgemeinschaft City Nord, kurz ISG, mahnte an, dass es längst nicht mehr nur um Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Bedrohungen gehe. Die Clans würden agieren, wie man es eben einer Mafia nachsage. Die ISG beklagte permanente Rechts- und Regelverstöße bis »hin zum organisierten kriminellen Verhalten«. Es gebe »erheblich differente Wert- und Rechtsvorstellungen«. Wörtlich steht in dem Papier: »Wir haben Rechtsverletzungen bis hin zu Schwerstkriminalität erleben müssen, und die Ausschreitungen in den letzten Wochen zeigen nun ein Ausmaß, das vollkommen inakzeptabel ist.« Gemeint waren konkret Massenschlägereien in der Öffentlichkeit.

Das Landeskriminalamt reagierte und rief ein Projekt ins Leben, das nun im Kampf gegen die Clans die Speerspitze darstellen soll: »KEEAS«. Die Abkürzung steht für »Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen«. Eine Truppe, wie es sie in Berlin nicht gibt, die der Hauptstadt aber guttun würde. Essen setzt damit ein klares Zeichen. Denn allein die Inbetriebnahme einer solch spezialisierten Einheit macht deutlich, dass der Staat sich den Clans nun entgegenstellt. Denn nur wenn intensiv gegen Clan-Strukturen in Deutschland vorgegangen wird, nur wenn die Parallelgesellschaften aufgeweicht werden, kann das Phänomen Clans erfolgreich bekämpft werden.

Der Berliner Islamforscher Ralph Ghadban bringt es auf den Punkt: »Unsere Gesellschaft ist gespalten. Wir haben eine islamische Parallelgesellschaft, deren Wertesystem sich nach der Scharia richtet. Kein großer Islamverband hat der Scharia entsagt.« Der Flüchtlingszuzug vergrößert seiner Ansicht nach das Problem zusätzlich. »Die neuen Flüchtlinge werden in die Parallelgesellschaften integriert und nicht in unsere«, sagte er im April 2018 in einem Interview bei Bild Online.