Du und ich - wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.
(Mahatma Gandhi)
Der Schäferhund hob den Kopf und spitzte die Ohren. Max Wiesinger hielt dem Tier ein dünnes T-Shirt unter die Nase, damit es Witterung aufnehmen konnte.
»Such!«
Sofort setzte sich der Hund in Bewegung, die Schnauze dicht über dem Boden. Wiesinger folgte ihm rasch und hielt dabei die Leine locker, um dem Tier maximale Bewegungsfreiheit zu lassen. Seit gestern war ein Mädchen verschwunden. Wiesinger wusste, dass in so einem Fall jede Minute zählte.
»Such!« rief er mit drängender Stimme. Wenn sie sich hier im Wald aufhielt, würde sein Amigo ihren Geruch wittern, ihren Spuren folgen.
Er kannte die Vermisste. Jeden Morgen sah er sie zum Bahnhof radeln. Ein hübsches Mädel. Nur zwei Jahre älter als seine Betty. Wenn irgendjemand … Er schüttelte sich, wusste, dass er diese Gedanken verdrängen musste.
Der Hund blieb stehen, wandte den Kopf. Er kannte seinen Führer, hatte sein Zögern bemerkt. »Lauf, Amigo!«, rief er ihm beruhigend zu, worauf das Tier weiter durch das Unterholz drängte. Fünf Jahre arbeitete er nun schon mit dem Hund. Er war der Beste in der gesamten Hundestaffel und in der Lage, jede Art von Drogen, Brandbeschleuniger, Sprengstoff und Spuren verlässlich und schnell aufzuspüren.
Das würde ihm auch dieses Mal gelingen. Er musste positiv denken. Sie würden sie finden. Lebend. Sie mussten einfach.
Sie überholten einen Trupp von Kollegen, die schweigend in einer langen Reihe durch den Wald gingen, mit Stöcken in den Büschen und im Unterholz nach verdächtigen Gegenständen stocherten.
»Such das Mädchen, such!«, feuerte er seinen Hund an.
Über ihm dröhnte laut der Hubschrauber, der von oben das gesamte Waldgebiet um den See absuchte. Bald würden die ersten Schaulustigen und die Presse hier auftauchen. Und sie alle würden Fragen stellen: Was passiert war, ob es ein Verbrechen gegeben habe, ob das Mädchen überhaupt noch lebte. Als nächstes kamen dann die Gerüchte, wahllos in die Welt gesetzt von verängstigten Eltern, Mitschülern und allen anderen Bewohnern der Stadt.
Die Eltern hatten am heutigen Morgen das Bett ihrer Tochter unberührt vorgefunden. Ihr Handy war abgeschaltet und in der Schule, in der sie während der Ferien an einem Projekt arbeitete, war sie nicht aufgetaucht. Keiner ihrer Freunde hatte sie gesehen und auch die Suche in den umliegenden Krankenhäusern war ergebnislos geblieben.
Daraufhin war die Mutter zur Polizei gegangen. Sie war ganz grau im Gesicht gewesen, ihre Augen rotgeweint. Immer wieder stammelte sie, dass ihrer Tochter etwas Furchtbares zugestoßen sein müsse. Dann hatte sie sich in seinen Arm gekrallt. »Bitte. Finden Sie sie. Wir kennen uns doch. Bitte!«
Wiesinger holte tief Luft, beschleunigte seinen Gang und hob schützend den Arm, damit ihm die spitzen Zweige nicht ins Gesicht schlugen. »Such!«, stachelte er seinen Hund noch einmal an. Wäre der Vater des Mädchens nicht irgendein hohes Tier, hätten sie sicher nicht gleich mit diesem riesigen Aufgebot nach der Vermissten gesucht, sondern erst einmal einen Tag abgewartet.
Sie war Schülerin an der Nobelschule am See und kannte sich hier in der Gegend aus. Vielleicht gab es doch eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden.
Amigo zog plötzlich stärker an der Leine, so dass Wiesinger in einen leichten Trab verfallen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Die Sicht im Wald verschlechterte sich zunehmend. Ein kurzer Blick nach oben sagte ihm, dass das angekündigte Unwetter früher als erwartet kam. Eine dicke, schwarze Wolkenfront hatte sich bereits über den Wald geschoben. Der Hubschrauber flog dröhnend direkt über ihn hinweg und hatte bereits den Suchscheinwerfer eingeschaltet.
Amigo bellte einmal kurz auf, dann legte er sich mit ganzer Kraft in sein Geschirr. Das Tier hatte eine Spur. Der Wald begann sich zu lichten, wieder überholten sie einige Kollegen, die den Abschnitt zwischen Uferböschung und Waldrand durchkämmten. Es hatte sich merklich abgekühlt und der See schlug Wellen von dem aufkommenden Wind.
Amigo japste, zerrte noch stärker. Wiesinger ließ den Hund von der Leine. Das Tier rannte los, hielt auf einen Steg zu, während der Scheinwerfer des Hubschraubers seine Linien über das Wasser zog. Im nächsten Moment erkannte Wiesinger, worauf das Tier zusteuerte: Ein Rucksack. Kariert. Sofort schob sich das Bild des Mädchens auf dem Fahrrad vor sein geistiges Auge, die Haare, die sich über der karierten Tasche hoben und senkten. Wiesinger wurde flau im Magen.
Bellend tänzelte Amigo auf dem Steg, wedelte mit dem Schwanz, stupste immer wieder gegen den Rucksack.
»Braver Junge.« Er gab Amigo seine Belohnung und tätschelte ihm den Kopf, bevor er seinen Funkspruch absetzte: »Wir haben was. Einen karierten Rucksack, definitiv von der Gesuchten. Ihre Kleidung liegt darunter. Schickt ihr die Spurensicherung?« Er ließ den Blick resigniert über die dunkle Wasseroberfläche gleiten, sah Blitze über den Himmel zucken. »Und sagt auch gleich den Tauchern Bescheid. Sie ist irgendwo da draußen.«
Mit diversen Booten hatten Polizei, Wasserwacht und Feuerwehr den gesamten Abschnitt des Sees rund um den Steg abgesucht, in dem sie das verschwundene Mädchen vermuteten. Max Wiesinger hatte seinen Amigo wieder zurück in das Quartier der Hundestaffel gebracht, nachdem sie beide versucht hatten, die Spur des Mädchens auf dem Wasser weiterzuverfolgen. Aber weder Amigo noch die drei Taucher, die bis zum Einbruch der Dunkelheit mit ihrer fünfzig Kilogramm schweren Ausrüstung den Boden des Sees nach dem Mädchen abgetastet hatten, noch die anderen Einsatzkräfte hatten etwas finden können.
Wiesinger war noch einmal zurückgekommen, obwohl bereits eine neue Gewitterfront aufzog und die Taucher bereits aufgegeben hatten. Der Algenbewuchs im See war zu dicht und bei den Lichtverhältnissen war keinerlei Sichtung mehr möglich.
So lange es ging, hatten sie den Grund abgetastet, aber der Wellengang auf dem See war mittlerweile so stark geworden, dass sie die drei Boote abziehen mussten genau wie den Hubschrauber, der mit der Wärmebildkamera immer wieder über das Seestück flog, an dem die Vermisste vermutlich zuletzt gewesen war.
»Immer noch nichts?«, fragte Wiesinger den Einsatzleiter.
Der schüttelte den Kopf. »Negativ.«
»Ich möchte bloß wissen, was passiert ist. Was hat sie mitten in der Nacht hier zu suchen gehabt? Sie war auf der Waldseeschule – da weiß man doch genau Bescheid, wie gefährlich so ein See ist.«
Ein Kollege von der Wasserwacht lachte.
»Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt!«
»Du redest, als wärst du nie jung gewesen. Der See ist doch der perfekte Treffpunkt für ein Liebespaar: Laue Nächte, Sternenhimmel, ein gemeinsames Bad im eiskalten See, dann kuscheln, sich gegenseitig warm halten … Das ganze Programm. Und hier findet sie so schnell niemand von den Eltern oder den Lehrern, der Wald ist weitläufig und man hat seine Ruhe.«
Wiesinger schaute über den See. Konnte sein. Oder auch nicht. Für ihn eher nicht – denn ein männlicher Begleiter hätte sie nicht einfach zurückgelassen. Oder vielleicht gerade dann? Wenn er hier draußen etwas von ihr gewollt hatte, sie aber nicht von ihm und er einfach gegangen war? Oder sie gestritten hatten? Er dachte über die ordentlich gefalteten Klamotten nach. Es sah nicht nach einer wilden Romanze aus, bei der man sich übermütig die Klamotten vom Leib riss, um schnell in die Arme des anderen zu kommen, Haut an Haut zu sein. Ihm graute davor, dass es sich bei näherer Betrachtung auch um einen Suizid handeln könnte. Sie hatte immer so lebendig gewirkt, so positiv.
»Sie könnte auch einfach nur Abkühlung gesucht haben. Es war immerhin verdammt heiß gestern, und auch in der Nacht sind die Temperaturen nicht abgesunken. Vielleicht ist sie nach einer durchtanzten Clubnacht hierher gekommen, dann verschwitzt ins Wasser und zack, hatte sie Probleme mit dem Kreislauf und im schlimmsten Fall ist ihr Herz stehengeblieben. Dann wäre sie untergegangen wie ein Stein. Und niemand hätte etwas bemerkt. Wenn Alkohol im Spiel war, genauso.«
Wiesinger nickte. Leider war auch das eine Möglichkeit.
Er versuchte sich zu erinnern: Die Sachen, die sie gefunden hatten, waren dafür im Grunde zu normal: Ein Shirt, Jeansshorts, Leinenturnschuhe, Rucksack. Für ihn war es eher unwahrscheinlich, dass sie davor Tanzen war.
Mit einem Mal kam ein heftiger Wind auf. Der Sturm war da. Die Bäume bogen sich bereits in den Böen. Sie mussten abbrechen, sonst wurde es zu gefährlich für die Kollegen.
»Dieses Wetter macht es nicht gerade leichter. Wir müssen uns beeilen.«
Noch fünf Minuten. Gib ihnen noch fünf Minuten, dachte Wiesinger. Die Männer in den Wäldern, die die Hänge durchkämmten, konnten sicher noch länger laufen. Doch er wusste selbst, dass sie heute Abend keinen Hinweis mehr entdecken würden. Es war längst zu dunkel geworden.
Der Einsatzleiter griff nach seinem Handy. Gespannt beobachtete Wiesinger dessen Gesicht. Der Mann zeigte kaum eine Reaktion, hörte nur zu, nickte von Zeit zu Zeit, fragte nach dem genauen Ort, nach Hinweisen. Dann drückte er das Gespräch weg.
»Eine brauchbare Information? Herrgott nochmal, so was brauchen wir jetzt«, fragte Wiesinger hoffnungsvoll.
»Eher nicht. Sie haben ihr Fahrrad gefunden. Am Bahnhof an der Südspitze des Sees.«
»Das ist der in der Nähe der Schule, oder?«
Der Einsatzleiter nickte.
»Das macht keinen Sinn. Das ist mehr als fünf Kilometer von hier entfernt,« sinnierte Wiesinger.
Sein Kollege zuckte die Schultern.
»Wir wissen nicht, wann sie es dort abgestellt hat«, fuhr der Kollege fort. »Eine Schulfreundin hat es entdeckt, als sie von der Schule nach Hause wollte. Unser Vorteil: Es hat eine Blumenranke am Lenker. Das fällt auf. Vielleicht kriegen wir darüber einen Hinweis, wo sie zuvor gewesen ist.
»Wir haben hier was. Direkt am Ufer«, klang es krächzend aus dem Funkgerät.
»Wo seid ihr? Ist es die Gesuchte?«
»Ungefähr einen Kilometer weiter südlich vom Steg. Wir wollten gerade abbrechen, da haben wir mit dem Stock einen Gegenstand ertastet. Einer der Taucher sollte runter gehen.«
Wiesinger stellten sich die Nackenhaare auf. Ohne darüber nachzudenken, rannte er in die angegebene Richtung. Er kannte das Mädchen, wollte dabei sein, wenn die Taucher sie an Land holten. Das würde nichts an ihrem Schicksal ändern, aber es war ihm ein Bedürfnis. Es war das Letzte, was er noch für sie tun konnte. Er beeilte sich, lief in gleichmäßigem Tempo, aber so schnell wie möglich.
Er konnte die Kollegen im Licht eines Blitzes erkennen, dem unmittelbar ein tiefes Grollen folgte. Das Gewitter war nun direkt über ihnen. Wenigstens regnete es nicht. Der nächste Blitz zuckte über den Himmel und Wiesinger erkannte die Kollegen ganz in der Nähe. Der Wind heulte zwischen den Bäumen. Er hörte das Kommando:
»Ziehen!«
Die Einsatzkräfte zogen nach Leibeskräften an den Seilen. Wieder ein Blitz. Donner krachte über dem Wald. Etwas hob sich aus dem Wasser, Wiesinger verlangsamte seine Schritte, denn er war jetzt nah genug, um im Scheinwerferlicht den Körper zu erkennen, den sie aus dem Wasser zogen. Er atmete keuchend. Der Kopf eines toten Rehs ragte jetzt aus dem Wasser. Verdammt!
Von dem Mädchen fehlte weiterhin jede Spur.
Franzi war frustriert. Niemand interessierte sich für sie. Sie spielte im Grunde keine Rolle in der Clique. Alle waren mit sich beschäftigt. In Lynns Kopf drehte sich alles um Jonah. Der vergangene Abend hatte mehr als deutlich gemacht, dass Lynn nicht wirklich ihre Freundin war. Und Saskia entwickelte sich in dieselbe Richtung. Auch sie hatte nur noch Augen für Jonah und es war klar, was früher oder später passieren würde: Franzi würde sich zwischen den beiden Mädchen entscheiden müssen.
Dabei ging es ihr selbst auch nicht gut. Überhaupt nicht. Aber für ihre Sorgen war niemand empfänglich. Lynn sogar noch weniger als vor ihrer Zeit in Asien. Sie überhörte nicht nur geflissentlich jeden Kommentar, sie fragte nicht einmal, wie es Franzi ging, wie sie klar kam.
Andererseits kam Franzi so nie in die Verlegenheit, Lynn anlügen zu müssen. So wie gestern, als sie sich so unwohl in ihrer Haut gefühlt hatte. Unter dem Blick aus Lynns blauen Augen war sie immer kleiner und kleiner geworden. Aber war Lynn immer schon so gewesen? So kalt? Oder schien es ihr nur so, weil sie sie neuerdings mit Saskia verglich, die so warmherzig, lebendig und echt war?
Ihre Mutter würde sagen, dass sie zu empfindlich war. Dabei stimmte das gar nicht. Oft genug hielt sie die Klappe, auch wenn sie tief verletzt war. Sie konnte eine Menge einstecken. Viel mehr als die anderen. Aber irgendwann reichte es einfach. Und dieser Punkt war eindeutig erreicht.
Sie drehte sich nur noch im Kreis. Jungs wollten nichts von ihr, beachteten sie nicht einmal. Obwohl ihr Jungs noch nie etwas bedeutet hatten, es ihr im Grunde egal sein konnte, bestärkte diese Tatsache dennoch das Gefühl, dass niemand sie wirklich sah. Als wäre sie unsichtbar, nur ein Schatten der beiden anderen Mädchen, von der lebenslustigen Saskia genauso wie von der edlen Lynn. Das hatte sie nie groß gestört. Aber jetzt … jetzt schien ihr, als würde sie schon ihr Leben lang im Hintergrund stehen, der langweiligste Teil der Clique. Sie war einfach da, ohne Rolle, ohne Stimme. Genau wie zu Hause, wo ihre Eltern im Streit nicht einmal interessierte, ob sie noch im Zimmer war oder nicht. So als wäre sie nur ein Möbelstück, Teil des Inventars. Franzi fragte sich, ob es überhaupt jemand bemerken würde, wenn sie einfach weg wäre. Verschwunden.
Dunkel und ruhig lag der See vor ihr. Über ihr zogen graue Wolken auf. Sie versuchte etwas zu sehen, aber da war nur Schwärze. Unergründlich. Tief. Kalt. Das Wasser zog sie magisch an.
Bevor sie wusste, was sie tat, ließ sie sich langsam vom Steg gleiten, tauchte in das eiskalte Wasser und schwamm in kräftigen Zügen auf die Mitte des Sees zu, um warm zu werden. Dort drehte sie sich einmal im Kreis, japste nach Luft. Niemand war zu sehen. Still lag der Nebel noch über den Wäldern. Die Bootshäuser am anderen Ufer waren still und dunkel. Kein Mensch war auf den Beinen. Bald schon würden sie kommen, mit ihren Picknickkörben, Decken, Luftmatratzen und Booten. Doch jetzt war sie alleine. Roch die moosige Luft, die kühl über dem See lag. Sie ging in Rückenlage, ließ sich treiben. Völlig still, ohne jede Bewegung, lag mit ausgebreiteten Armen auf der eiskalten Wasseroberfläche und beobachtete einen Falken, der über ihr seine Kreise zog. Kurz entschlossen drückte sie ihre Nase zu und hielt den Atem an. Dann schloss sie die Augen und ließ sich langsam unter die Oberfläche gleiten wie eine Nixe. Sie versuchte schwerelos zu sinken, ließ Luft ab, ging langsam unter. Behutsam schloss sie die Augen, nahm innerlich Abschied und fühlte eine unfassbare Stille über sich sinken. Da berührte sie etwas am Bein. Sie zuckte erschrocken zurück, strampelte heftig mit Armen und Beinen, versuchte mit kräftigen Stößen zurück an die Oberfläche zu gelangen, war nicht schnell genug, ihr Herz pumpte schneller, Panik überfiel sie, sie musste schneller sein, schneller. Da sah sie endlich die Oberfläche, ein Stoß noch. Als sie hustend wieder Luft bekam, wurde sie von Hagelkörnern getroffen. In den wenigen Sekunden, die sie unter Wasser gewesen war, musste ein Sturm aufgezogen sein. Wie so oft in diesem Jahr. Aber sie konnte noch nicht aus dem Wasser, musste erst ruhiger werden, damit sie genug Luft hatte, um zurückzuschwimmen. Ihr Herz raste. Die Hagelkörner trafen sie hart auf ihrer nackten Haut. Wie kleine Pfeile. Sie schaute weinend nach oben, in den grauen Himmel …
Mit gerunzelter Stirn saß der Direktor der Waldseeschule in Wiesingers Büro und überflog dessen abschließenden Bericht.
»Ich bin froh, dass Sie zu diesem Ergebnis gekommen sind. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie diese beiden Fälle am Image der Waldseeschule gerüttelt haben. Wir sind eine Eliteschule. Da ist kein Platz für Suizide, Drogen oder ähnliche Dinge. Die Eltern zahlen einen hohen Preis dafür, dass ihre Kinder bei uns sicher untergebracht sind. Sie verlassen sich in dieser Hinsicht auf uns.« Der Direktor blickte über seine halbe Lesebrille. »Und ich mich auf Sie. Bitte geben Sie das genau so an die Medien. Die Gerüchte müssen endlich aufhören. Wer weiß, wie viele Sponsoren uns sonst noch abspringen. Sie wissen, was das für die Region heißen würde.«
Er schüttelte ihm fest die Hand und verließ gleich darauf das Büro.
Wiesinger blickte daraufhin noch für einen Moment auf die geschlossene Tür, dann setzte er seine Unterschrift unter den Bericht und schloss die Ermittlungsakte. Zwei Unfälle mit Todesfolge waren die Bilanz der letzten Woche. Ein tragischer Badeunfall, ein Verkehrsunfall. Damit war für den Direktor die Geschichte zu Ende, solange sich beide Fälle ohne Einfluss von Alkohol oder Tabletten und ohne die Schuld der Lehrbeauftragten ereignet haben. Dass zwei sechzehnjährige Mädchen viel zu jung gestorben waren, interessierte ihn nicht. Und genauso wenig den Rest der Welt. Die Presse hatte schon bald neue Schlagzeilen.
Seufzend schloss Wiesinger die Akte und schickte den Ordner ins Archiv. Für ihn fehlte nur noch die Pressemitteilung, dann war seine Aufgabe erledigt. Er konnte die weiteren Ermittlungen einstellen, denn auch für die Polizei war der Fall geklärt.
Nur die Hinterbliebenen, die Familien und Freunde der Opfer, sie alle würden noch Jahre mit den Folgen zu kämpfen haben. Jeder auf seine Art.
Sie mussten lernen, die Lücke zu akzeptieren, die das Schicksal in ihr Leben gerissen hatte. Und vermutlich würden sie noch lange nach demjenigen suchen, der die Schuld an den Geschehnissen trug. Jemanden, den sie verantwortlich machen konnten.
Für sie hatte die quälende Frage nach dem Warum gerade erst begonnen. Danach, ob die Tode der Mädchen nicht vermeidbar gewesen wären. Wenn sich jemand vielleicht mehr gekümmert, mehr Zeit gehabt oder Dinge früher hinterfragt hätte. Manche Menschen verbrachten Jahre, andere ihr Leben damit, nach diesen Antworten zu suchen.
Er sah auf die Uhr. Dachte an das Mädchen auf dem Fahrrad, das noch vor wenigen Wochen vor ihm her gefahren war, an ihre Haare, die sich über dem Ranzen hoben und senkten. Resolut fuhr er den Computer herunter. Er hatte genügend Überstunden angehäuft. Wenn er sich beeilte, konnte er seine Betty von der Schule abholen. Viel zu lange hatten sie sich nicht mehr unterhalten. Es wurde höchste Zeit.
Anna Schneider
Nova liegt reglos auf dem Boden, ihre Augen starren ins Leere. Was ist in dieser Nacht passiert? Die einzigen Zeugen schweigen und Nova kann ihre Geschichte nicht erzählen, weil sie seither bewusstlos ist. Doch Daniel ahnt, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Zusammen mit Novas bester Freundin Jessi macht er sich auf die gefährliche Suche nach der Wahrheit.
Videoblog vom 9. August 2013:
„Ich stehe auf dem Dach des Hochhauses, meine Fußspitzen ragen über den Rand der Fassade und dann gehe ich noch einen Schritt weiter. Ich sehe direkt in den Abgrund – nur ein Seil hält mich – und könnte schreien vor Glück. So fühlt sich Freiheit an. Leben.
Cool Girls can´t die.“
„Gutes Thema. Gute Geschichte. Gut erzählt.“ (Monika Feth)
Anna Schneider wurde 1966 in Bergneustadt geboren und ist seit Kindertagen ein Bücherfan. Schon als Jugendliche schrieb sie Gedichte, die in Anthologien veröffentlicht wurden. Nach Studium und Promotion in Trier sowie verschiedenen beruflichen Stationen als Personalberaterin, Dozentin und Coach, entschloss sie sich 2008, wieder zu schreiben. Gleich mit ihrer ersten Krimi-Kurzgeschichte gewann sie einen Literaturwettbewerb. Das nahm sie als Zeichen und sattelte beruflich um. Heute verbringt sie ihre Zeit am liebsten in ihrem Schreibzimmer, um sich bei einer Tasse Kaffee und Schokolade spannende Geschichten auszudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München und in Nordholland.
Bisher erschienene Jugendromane:
„Blut ist im Schuh“
„Cool Girls can´t die“
„Von Liebe und Lügen“
Weitere Informationen finden Sie auf der Hompage von Anna Schneider (www.schneideranna.com) oder auf der Facebook-Seite: Anna Schneider – Autorin.
Über persönliche Rückmeldungen zu meinen Büchern freue ich mich ganz besonders: kontakt@schneideranna.com
Anna Schneider
Thriller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
© 2017 Anna Schneider, 82131 Gauting
www.schneideranna.com
kontakt@schneideranna.com
Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotive © Ints Vikmanis und Avisnana shutterstock.com
Satz: Corina Bomann, my-digital-garden.de
Lektorat: Susanne Zeyse
Autorenfoto: Susanne Krauss
Herstellung und Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783744845960
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar
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Die Handlung und die handelnden Personen sowie deren Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die kalte, feuchte Luft hält mich eisig umklammert. So eng wie möglich ziehe ich die Decke um meinen Körper, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht wärmen kann. Alles dreht sich in meinem Kopf, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Mein Kopf zerspringt fast. Wäre mir nur nicht so kalt. Eiskalt.
Ich spüre meine Füße nicht mehr! Panisch beginne ich sie zu kneten. Mein Blick fällt auf den Ofen. Mit dem könnte ich die kleine Kammer sehr gut heizen. Doch das kann ich nicht riskieren. Der dunkle Rauch würde mich sofort verraten. Das Feuerholz, das daneben aufgestapelt ist, scheint mich zu verhöhnen.
Resigniert ziehe ich mich wieder auf die Pritsche zurück, während meine Zähne vor Kälte aufeinander schlagen. Verdammt. Vorgestern war es doch noch so schwül und warm! Ich hatte ein Top an, Flipflops. Ich versuche an die Sonne zu denken, an laue durchtanzte, verschwitzte Nächte. An eine andere Zeit. Denn jetzt sehne ich mich nach einer Winterjacke, einem Schlafsack, irgendetwas, das warm macht.
Bewegen. Ich muss warm werden. Doch weit komme ich nicht. Nur ein paar Meter in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Nicht genug.
Ich trete so nahe wie möglich ans Fenster, blicke auf den dunklen See hinaus. Dann reiße ich den Schrank auf, der darunter ist, auf der Suche nach einer zweiten Decke. Nichts. Nur ein paar Bücher und anderer Plunder. Ich humpele zurück zu meiner Pritsche, fasse an mein Unterhemd, aber das ist immer noch nicht getrocknet. Kein Wunder!
Wenn ich wenigstens Strom hätte. Ein Tee, heißer Dampf, warmes Porzellan, wäre genug. Doch der Herd in der winzigen Kochnische funktioniert genauso wenig wie der Wasserkocher. Kein Strom. Immerhin habe ich das Handy und das hat noch Akku. Mein einziger Trost. Aber es musste jetzt aus bleiben, damit es mich nicht verriet. Scheißkälte! Ich hatte mir das alles anders vorgestellt. Doch es ist es zu spät. Es gibt kein Zurück mehr. Jetzt nicht mehr.
Ich lege mich wieder auf die Pritsche, versuche meine Glieder warm zu reiben. Da höre ich es. Ein Geräusch. Ich verharre. Lausche. Da ist es wieder. Nur ein leises Knacken. Von draußen. Ich unterdrücke mein Zittern, beiße mir auf die Finger, um kein Geräusch zu machen. Das Holz knirscht. Mein Herz pocht wild. Draußen bewegt sich jemand um die Hütte herum.
Sie haben mich gefunden. So schnell? Das darf nicht wahr sein!
Ich gleite von der Pritsche, ducke mich darunter. Ich muss unsichtbar sein. Mein Blick fällt auf das Unterhemd. Scheiße! So schnell wie möglich krieche ich zu dem Stuhl, ziehe es zu mir, hechte wieder zu der Pritsche, kauere mich darunter. Bitte. Nicht reinkommen. Wer immer da draußen ist, soll wieder gehen. Sonst war alles umsonst.
Ich überlege abzuhauen, durch die Tür. Wenn ich schnell genug bin, wird er mich nicht sehen. Aber ich kann mich nicht rühren, wegen dieser Scheißkälte, bin wie gelähmt. Das Geräusch ist jetzt direkt über mir. Ich schließe die Augen. Horche genau hin. Ist jemand auf dem Dach? Wozu?
Alle meine Sinne konzentrierten sich auf das, was draußen passiert. Fieberhaft überlege ich, ob die Tür verschlossen ist, kann mich aber nicht erinnern. Hoffentlich ist sie zu! Ich schiebe mich tiefer in meine Nische.
Da. Wieder ein Knacken. Seitlich von meinem Versteck. Dann, mit einem Mal, ist alles wieder völlig still. Nur das Laub in den Bäumen raschelt im Wind, leises Plätschern ist vom See zu hören.
Sekundenlang verharre ich reglos. Stiere zum Fenster. Warte auf einen Schatten, eine Bewegung. Doch alles bleibt ruhig.
Aber ich habe mir das nicht eingebildet. Da war jemand! Vielleicht wartet er auf mich, will mich in Sicherheit wiegen, mich rauslocken. Aber so dumm bin ich nicht. Ich bleibe unter der Pritsche, wage mich nicht hinaus.
Für einen Moment habe ich die Kälte vergessen, konzentriere mich nur auf die Laute in meiner Umgebung. Als ich Minuten später nichts höre, merke ich, dass ich wieder zittere wie Espenlaub. Ich würde mir den Tod holen, wenn ich hier bliebe.
Lautlos schiebe ich mich wieder auf die Liege hinauf, werfe die Decke über mich, stopfe mir die losen Enden unter den Körper und rolle mich zusammen. Puste in meine Hände, die so furchtbar kalt sind.
Ich muss durchhalten, rede ich mir gut zu. Es ist ja nicht für lang. Nur ein paar Tage. Mehr nicht. Ich bin zäh, ich schaffe das.
Franzi kauerte in ihrem Zimmer auf dem Bett. Sie war in den Anblick eines Fotos vertieft, auf dem sie mit ihrer besten Freundin Lynn zu sehen war. Es fühlte sich an, als wäre das Foto schon vor einer halben Ewigkeit gemacht worden, obwohl es erst wenige Wochen her war. Fast schon irreal, wie aus einem anderen Film. Franzi seufzte.
Sie erinnerte sich, wie Lynn plötzlich mitten in der Nacht vor Franzis Elternhaus aufgetaucht war. Es war jene Nacht, die alles verändert hatte. Alles. Franzi fuhr mit dem Finger über das Foto, zeichnete Lynns Kontur nach. Auf dem Bild strahlte sie, aber nach dieser Nacht hatte Franzi sie nie mehr so gesehen.
Es war lange vor Tagesanbruch gewesen, als Lynn Steine an ihr Fenster geworfen hatte, bis Franzi schließlich aufgewacht war. Leise war sie nach unten geschlichen, um die Freundin ins Haus zu lassen. Franzi hatte gleich gesehen, dass etwas Unfassbares geschehen sein musste. Lynns Augen waren rotgeweint, ihre Schultern zusammengezogen und sie hatte einfach dagestanden, ohne ein Wort. Ihr ganzer Körper zitterte. Franzi hatte sie sofort ins Haus gezogen und sie wie eine Marionette vor sich her nach oben geschoben – darauf bedacht, nicht ihre Eltern zu wecken.
Oben hatte Lynn auf der Stelle zu weinen begonnen. Sie hatte einfach dagesessen, die Hände vors Gesicht gepresst. Für Franzi war klar gewesen, dass jemand Lynn etwas angetan hatte, sie ausgeraubt oder schlimmer noch, sie begrapscht oder vergewaltigt hatte. Aber ihre Haare waren glatt gekämmt und ihre Kleidung zeigte keine Spuren von Dreck oder irgendwelche Risse. Also machte sich Franzi auf etwas Schlimmes gefasst, musste aber warten, bis Lynn sich beruhigt hatte und reden konnte. Die Zeit schien endlos.
»Wir haben dagelegen, Jonah und ich«, hatte Lynn schließlich zu erzählen begonnen. »Wir spinnen oft so rum, weißt du. Malen uns aus, wo wir nach dem Abi zusammen wohnen werden. Manchmal schauen wir uns sogar im Netz Wohnungen an. Nur so zum Spaß.«
Lynn hatte sich um ein Lächeln bemüht, aber stattdessen gab sie einen furchtbaren Ton von sich, der kaum menschlich klang. Die Gedanken hatten sich in Franzis Kopf überschlagen. Jonah... Das konnte nicht sein. Er würde Lynn nicht verletzten. Franzi hatte versucht, sich gegen das zu wappnen, was sie als nächstes hören würde.
»Jedenfalls hatte ich mich gerade auf ihn geworfen, um ihn durchzukitzeln, damit er mir wieder zuhört und bei der Sache bleibt, wir haben uns gebalgt, er begann mich zu küssen. Du weißt schon … ganz leidenschaftlich. Alles war perfekt. Da klopft es plötzlich und meine Eltern stehen in der Tür. Das haben sie noch nie gemacht, wenn er da war. Sie guckten ernst und Jonah beeilte sich zu gehen. Sie hätten etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Ich habe gedacht, irgendjemand wäre gestorben, ganz ernsthaft. Ich habe gedacht, meinem Bruder … Aber dann …«
Tränen waren in stetigem Fluss immer weiter über Lynns Wange gelaufen. Franzi hatte sich zurückhalten müssen, sie nicht wegzuwischen oder einen blöden Scherz zu machen, um Lynn zum Lachen zu bringen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn ihre Freundin litt. Deswegen hatte der nächste Satz sie völlig unerwartet getroffen, als Lynn sagte: »Wir gehen weg von hier. Mein Vater muss kurzfristig bei einer Stelle einspringen. Ein Todesfall in der Einheit in Asien. Sie brauchen sofort Ersatz – für ein Jahr. Er ist der Einzige, der so schnell übernehmen kann. Der das Fachwissen hat. Sie haben schon zugesagt, mit der Schule ist auch schon alles geklärt. Ich besuche dort eine internationale Schule, bis wir wieder zurück sind.« Lynn hatte ihre Hände geknetet. »Wir ziehen um, sobald die Sommerferien beginnen. Damit ich mich einleben kann, bevor dort die Schule beginnt. Hier.«
Lynn hatte einen Flyer aus der Hosentasche gezogen, ihn Franzi einfach vor die Füße geworfen.
»Das ist meine neue Schule. Erstklassig, sagen sie. Wenn ich es möchte, dann können wir auch bleiben, bis ich den Abschluss habe. Das würde sich gut in meinem Lebenslauf machen. Die Firma meines Vaters kümmert sich um die Vermietung von unserem Haus, den Umzug, unsere Möbel werden irgendwo eingelagert. Für ein Jahr! Und ich kenne die, das werden definitiv zwei, wenn wir einmal dort sind, weil sich diese Scheißprojekte immer verschieben. Und dann wird es heißen, dass ich gleich den Abschluss dort machen kann. Die haben das mal eben so entschieden. Ohne mich überhaupt zu fragen. Und ich kann nichts dagegen tun. Nichts!«
Franzi hatte nicht mehr wirklich mitbekommen, was Lynn danach erzählt hatte. Sie war wie in Trance gewesen, die Stimme hatte sie nur noch wie aus Entfernung wahrgenommen. Franzi kannte Lynn schon seit dem Kindergarten, sie waren seither beste Freundinnen gewesen und immer in derselben Klasse. Ein Leben ohne Lynn war für Franzi schlicht unvorstellbar.
»Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll, Franzi. Wie soll das mit Jonah und mir weitergehen? Ein Jahr getrennt. Die wissen einfach nicht, was das bedeutet. Das ist eine Ewigkeit! Wie soll ich ohne ihn klar kommen? Und überhaupt: Das wird niemals halten. Nie. Nicht auf diese Entfernung. Eigentlich kann ich auch jetzt Schluss machen.«
Lynn begann wieder zu schluchzen. »Ach, Scheiße, ich weiß nicht einmal, wie ich es zwei Tage ohne ihn aushalten soll. Oder zwei Wochen. Dagegen ein oder zwei Jahre? Hallo? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich will das einfach nicht!«
Franzi hatte ganz genau gewusst, was Lynn empfand. Mittlerweile hatte sie es im Kopf ausgerechnet: Das waren 730 Tage oder 17.520 Stunden. Unvorstellbar lang.
Franzi stand auf, sah aus dem Fenster, vor dem der Baum mit der Schaukel stand, auf der sie beide schon als Kinder gespielt hatten. Wer von ihnen als erste so hoch schaukeln würde, dass sie mit den Füßen den Himmel berühren konnte, hatte gewonnen. Lynn hatte es jedes Mal geschafft. Lynn war eine Gewinnerin. Schon immer. Und sie ...
Franzi wischte eine Träne aus dem Augenwinkel und stieß einen leisen Klagelaut aus. Egal wo sie hinsah, in jeder Ecke lauerten Erinnerungen an ihre Freundin, denen sie nicht entfliehen konnte. Kraftlos ließ sie sich auf das Bett fallen, nahm wieder das Foto in die Hand.
Für Lynn fühlte sich das alles sicher ganz anders an. Lynn hatte einfach immer Glück. Egal wie sehr sie wegen der Trennung von Jonah im ersten Moment gelitten hatte. Jetzt schickte sie Fotos von einer völlig anderen Welt. Sie machte am anderen Ende der Welt neue Erfahrungen, erlebte viel, die Zeit würde für sie vergehen wie im Flug. Irgendwann würde sie zurückkommen, einen Studienplatz ergattern und mit Jonah in ihre Traumwohnung ziehen. Jede vermeintliche Katastrophe hatte sich in Lynns Leben am Ende in ein fabelhaftes Abenteuer verwandelt. Franzi spürte wieder, wie sie Lynn im Arm gehalten hatte, ihre schlanke Silhouette, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Wie sie selbst stille Tränen vergossen hatte.
»Ich bin mir sicher, dass er mich ganz schnell vergisst«, hatte Lynn gesagt. »Weil da nichts Warmes mehr ist. Nichts Echtes, verstehst du was ich meine? Sein Bild von mir wird langsam farblos werden. Bis es verblasst und sich schließlich ganz auflöst. Er wird mich ersetzen. Austauschen wie ein Handy, dessen Vertrag abgelaufen ist. Dann bin ich nichts anderes als irgendein Mädchen, das Jonah vor einiger Zeit mal gekannt hat. Seine Ex. Und er wird die Hand einer anderen halten und trotzdem glücklich sein.«
Franzi ließ die Hand mit dem Foto sinken. Lynn hatte Unrecht mit dieser Vision. Distanz konnte der Liebe nichts anhaben. Nicht, wenn sie echt war. Distanz machte alles noch intensiver. Sie wusste es, weil sie es täglich erlebte. Sie kannte das nagende Gefühl, das jeden anderen Gedanken vertrieb. Gerade weil die Liebe unerfüllt blieb. Sehnsucht. Sie war schlimmer als alles andere. Schlimmer als Enttäuschung. Sehnsucht ließ die Liebe immer größer werden, bis sie jeden noch so kleinen Raum in den Gedanken einnahm. Wie ein Parasit, der alles andere verschlingt.
Franzi seufzte.
Morgen würde sie erstmals wieder die Clique treffen. Sie verspürte beinahe so etwas wie Angst vor diesem Wiedersehen. Es kam ihr nicht richtig vor, ohne Lynn. Die war das Herzstück gewesen. Lynn und Jonah.
Sie hatte eine Ausrede gesucht, doch spätestens in der Schule würde sie die anderen ohnehin wiedersehen.
Sie hoffte inständig, dass niemand mitbekam, wie traurig sie wegen Lynn war. Denn dann würden alle merken, wie viel sie in Wahrheit für ihre Freundin empfand.
Franzi strich noch einmal mit dem Zeigefinger über Lynns Silhouette, hauchte sanft einen Kuss auf das Foto und legte es dann wieder auf ihren Schreibtisch. Direkt neben den Flyer von der internationalen Schule, den Lynn damals achtlos liegengelassen hatte.
Nur der war geblieben – genauso wie die Angst vor den Folgen dieser Veränderung, die sich anfühlte wie schwüle Luft, die das Atmen unerträglich machte.
Saskia kettete ihr pinkes Fahrrad an und rannte im Laufschritt durch das Café, das an warmen Tagen ein angesagter Treffpunkt für Jugendliche war. Getränke gab es aus großen Plastikeimern in denen bunte Strohhalme steckten und während man in Liegestühlen lag, konnte man die Füße in weißen Sand stecken.
Sie war zu spät dran und ließ ihren Blick über die vollbesetzte Terrasse schweifen, wo die anderen sicher schon eine Weile zusammen saßen. Seit drei Wochen hatte sie die Clique nicht mehr gesehen und sie winkte, als sie sie entdeckte. Aber die anderen waren alle über ihre Handys gebeugt und bemerkten sie gar nicht.
Saskia schlängelte sich zur Clique durch und freute sich, als sie einen leeren Stuhl zwischen Ruben und Jonah sah. Ein Glück, dass sie ihr den freigehalten hatten, denn sie hätte sonst definitiv keine Sitzgelegenheit mehr gefunden. Eigentlich konnte man prima auf dem Boden sitzen, aber Saskia vermied das, weil sie nichts mehr hasste, als Sand in den Klamotten zu haben. Vor allem, weil sie heute ein Minikleid trug.
»Störe ich?«, fragte sie munter und stellte sich direkt vor den Tisch.
»Hey, Saskia, ich dachte schon, du kommst nicht mehr!«, rief Jonah, sprang auf und umarmte sie zur Begrüßung.
Er war erst am Tag zuvor aus dem Surfurlaub mit seinen Eltern gekommen und tiefbraun geworden, seine dunklen Haare waren von der Sonne und dem Salzwasser ausgeblichen. Er trug ein türkises Poloshirt zu seinen Jeansshorts, wodurch seine grünblauen Augen plötzlich einen Ton hatten, der an das Meer denken ließ. Jonah war ein echter Hingucker, aber auch ein netter Kerl und echter Kumpel, deshalb ließ Saskia sich mit Freuden in den Stuhl neben ihn fallen. Auch Franzi und Ruben waren aufgestanden. Ruben schlug ihr auf die Schulter und sie und Franzi begrüßten sich mit den üblichen Wangenküsschen.
Franzi war die Jüngste in ihrer Clique. Sie trug schwarze Leggings und ein weißes T-Shirt und schien in den letzten Wochen mehrere Kilo abgenommen zu haben. Es stand ihr total gut, dennoch wirkte sie unglücklich, als sie sich wieder setzte. Andererseits – wann wirkte Franzi mal nicht unglücklich?
»Sorry, das ist der Platz von Em«, erklärte ihr Ruben, der seine blond gefärbten Dreadlocks zu einem dicken Zopf gebunden hatte. Er wurde rot, spielte verlegen mit dem Piercing an seiner Oberlippe und wies mit der Hand auf einen bunten Beutel, der gleich daneben stand.
»Oh, na klar. Konnte ich ja nicht wissen.«
Saskia war über diese Zurechtweisung so verdattert, dass ihr kein passender Kommentar einfiel. Also schob sie sich aus dem Liegestuhl hoch und stand irritiert vor dem Tisch. Wer war denn Em? Hatte sie irgendwas verpasst?
Saskia war zwar schon seit letzter Woche wieder zu Hause, aber im Gegensatz zu den anderen war sie nicht in den Ferien gewesen, sondern hatte jobben müssen. Ihre Eltern legten Wert darauf, dass sie sich selbst Geld dazuverdiente, damit sie den Wert von Arbeit kennenlernte und nicht allzu leichtfertig mit dem umging, was sie besaß. Deshalb hatte sie erst zwei Wochen lang als Ferienbetreuerin am Chiemsee gearbeitet und danach noch ein paar Tage auf einer großen Messe als Hostess. Gerade der letzte Job war aufregend gewesen, sie hatte es unheimlich genossen, dass wildfremde Menschen sie unbedingt neben einem der Nobelautos fotografieren wollten. Das grüne Kostüm, das sie getragen hatte, passte gut zu ihren langen roten Locken und sie hatte sich absolut wohlgefühlt. Doch mit den Tagen war dann das Stehen anstrengender geworden und es war ihr immer schwerer gefallen, dauernd zu lächeln und in die Blitzlichter zu schauen. Obendrein musste sie nebenher Latein pauken, wo ihr nach den Ferien eine Nachprüfung bevorstand und so hatte sie kaum Zeit zum Ausspannen gefunden. Doch das lag jetzt alles hinter ihr. Mit ihrem selbst verdienten Geld wollte sie sich den Rest der Ferien etwas gönnen und heute feiern. Nur brauchte sie dafür erst einmal einen Sitzplatz.
»Du kannst dich auch hier hin setzen, wenn nichts anderes frei ist, Rotschopf!«, rief Jonah und klopfte einladend auf seine muskulösen Schenkel.
»Danke, nein!«, erwiderte Saskia. »Da würde ich bei diesen Temperaturen schon nach fünf Minuten festkleben. Voll ekelhaft die Vorstellung! Da ziehe ich doch Sand im Slip vor. Das ist wenigstens noch irgendwie … anregend«, witzelte sie, um ihre Enttäuschung zu überspielen, dass die anderen nicht an einen Platz für sie gedacht hatten und ließ sich einfach neben Franzis Liegestuhl auf den Boden plumpsen.
»Du siehst toll aus heute!«, raunte Saskia ihr zu, um sie aufzuheitern, doch Franzis Miene blieb unverändert. Bevor sie sich bei Franzi erkundigen konnte, wer diese »Em« war, verkündete Ruben lautstark: »Da ist ja mein Mädchen wieder!«
Neugierig schaute Saskia hoch. Das also war die ominöse Em. Das Mädchen trug einen bodenlangen bunten Rock, ein ausgewaschenes rotes Shirt und hatte über ihrem langen geflochtenen Zopf ein Dreieckstuch in demselben Rot gebunden. Neben der kreisrunden Sonnenbrille, die sie ganz vorne auf der Nasenspitze trug, fiel Saskia gleich das auffällige Oberarmtattoo auf – und die nackten Füße. Em war offenbar etwas älter als der Rest der Clique und wirkte sehr selbstbewusst.
»Hallo, wir kennen uns noch nicht«, sagte Saskia und rappelte sich aus dem Sand hoch. »Ich bin Saskia.«
Mit diesen Worten streckte sie ihre Hand aus, die das Mädchen allerdings ignorierte und sich erst einmal zu Ruben hinunterbeugte, um ihm einen Kuss zu geben. Saskia zog ihre Hand rasch zurück und tat so, als wäre sie nur aufgestanden, um einen kräftigen Zug aus dem gelben Eimer zu nehmen, in dem Erdbeerbowle war, wie sich herausstellte.
Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst – warum versuchte sie eigentlich, die peinliche Situation zu überspielen? Hatte sie das wirklich nötig?