Inhalt

  1. Weitere Titel der Autorin
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. 1
  7. 2
  8. 3
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  22. 17
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  24. 19
  25. 20
  26. 21
  27. 22

Debra Webb

In tiefster
Dunkelheit

Aus dem amerikanischen Englisch
von Stefanie Zeller

Über dieses Buch

Special Agent Jess Harris arbeitet als Profilerin für das FBI – und ist mit Abstand die Beste ihres Fachs. Doch in einem wichtigen Fall unterläuft ihr ein gravierender Fehler. Durch ihre Schuld kommt ein gefährlicher Serienkiller, der seine weiblichen Opfer gnadenlos foltert, vergewaltigt und schließlich ermordet, wieder auf freien Fuß. Jess’ Job steht auf dem Spiel, und da kommt es ihr gerade recht, dass sie von Polizeichef Dan Burnett zu Hilfe gerufen wird. In der Heimatstadt der FBI-Agentin, Birmingham in Alabama, sind vier Mädchen unter eigenartigen Umständen verschwunden, und Jess soll ihre Fähigkeiten als Profilerin einsetzen, um die Vermissten zu finden. Noch fehlt jede Spur, aber Jess schafft es, bisher unentdeckte Hinweise auszugraben, die zu einem Durchbruch in dem Fall führen könnten. Da wird die FBI-Agentin von ihrer Vergangenheit eingeholt: Der Serienmörder, der ihretwegen freigelassen wurde, hat nun Jess im Visier und bedroht sie und alle, die ihr nahestehen …

Das Angesicht des »Bösen« ist immer

das des totalen Verlangens.

William S. Burroughs II

Naked Lunch, Nagel Kimche Verlag, 2009,

Übersetzung Michael Kellner

1

Birmingham, Alabama,

Mittwoch, 14. Juli, 13:03 Uhr

Special Agent Jess Harris’ Karriere war durchs Klo gerauscht, zusammen mit dem hastig heruntergeschlungenen Frühstück, das sie auf einer Rasthoftoilette auf der anderen Seite von Nashville wieder von sich gegeben hatte.

Gott, so war das alles nicht geplant gewesen.

Jess bekam keine Luft. Sie sagte sich, dass sie aus dem Wagen aussteigen oder ein Fenster herunterlassen musste, doch ihr Körper wollte keinem einzigen einfachen Befehl gehorchen.

Die glühend heißen fünfunddreißig Grad, die den Asphalt und Beton der Stadt aufheizten, herrschten knapp zwei Sekunden, nachdem sie geparkt und den Motor ausgestellt hatte, auch im Inneren des Wagens. Was allerdings für das bisschen an Vernunft, das ihr noch geblieben war, wenig Bedeutung zu haben schien, denn zehn Minuten später umklammerten ihre Finger immer noch das Steuer, als hätten die letzten Stunden ihrer zweitägigen Fahrt die Totenstarre ausgelöst.

Sie war zu Hause. Zwei Wochen längst überfälligen Urlaubs standen zu ihrer freien Verfügung. Ihre Post wurde im Postamt in Stafford, Virginia, gelagert, wo absolut niemand sie vermissen würde.

Trotzdem zögerte sie, den nächsten Schritt zu tun. Doch einfach wieder wegzufahren kam nicht infrage, auch wenn sie genau das jetzt am liebsten getan hätte.

Ihr Wort war alles, was ihr noch geblieben war. Eigentlich hätte sie ob der Ungeheuerlichkeit ihrer Lage in hysterisches Gelächter ausbrechen sollen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, vor Fassungslosigkeit und Entsetzen gleichermaßen.

Wenn du das in den Sand setzt, bleibt dir nichts mehr.

Sie atmete einmal tief durch, löste die Finger vom Lenkrad, nahm ihre Tasche und stieg aus. Eine Hupe dröhnte, und sie drückte sich an den staubigen Kotflügel ihres zehn Jahre alten Audi. Pkws und Lastwagen zischten vorbei, die es noch über die Kreuzung Eighteenth Street und First Avenue schaffen wollten, bevor die Ampel umsprang. Abgase lagen in der feuchten Luft und mischten sich mit der Hitze und dem Lärm der Stadt.

Fast hätte sie das Zentrum von Birmingham nicht wiedererkannt. Restaurierte Läden aus einer längst vergangenen Ära standen neben neueren, glänzenden Gebäuden, deren Nüchternheit durch geschickt platzierte Bäume und Büsche gemildert wurde. Ein eleganter Park mit einem imposanten Brunnen lud die Kauflustigen zum Flanieren und Picknicker zum Entspannen ein. Man hatte sich große Mühe gegeben, die heruntergekommenen Straßen, einst das Zentrum der berüchtigten Bürgerrechtsbewegung, in eine möglichst elegante Ausgabe einer stolzen Südstaatenstadt zu verwandeln.

Was zur Hölle tat sie hier?

Zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie härter an ihrem Akzent gearbeitet als Professor Henry Higgins’ Blumenmädchen, um jede Spur von Südstaatengenuschel aus ihrer Sprechweise zu tilgen. Ein Psychologiediplom vom Boston College schmückte ihren Lebenslauf, dazu siebzehn Jahre unermüdlicher Schufterei, um sich eine Karriere aufzubauen, für die man sie bewunderte.

Und wozu das alles? Um dann mit eingezogenem Schwanz hierher zurückgerannt zu kommen, den stolzen Kopf so tief gesenkt, dass sie die hässliche Wahrheit riechen konnte.

Nichts hatte sich geändert.

All die sprudelnden Brunnen und hübsch dekorierten Schaufenster konnten die Tatsache nicht verbergen, dass dies immer noch Birmingham war – der Ort, den sie zum letzten Mal im Rückspiegel gesehen hatte, als sie achtzehn war –, und auch das rote Vierhundert-Dollar-Kostüm, das sie trug, samt der dazu passenden High Heels, konnte nicht kaschieren, dass sie schmählich in Ungnade gefallen war.

Er hatte angerufen, und sie hatte versprochen, sie würde kommen und sich seinen Fall ansehen. Es war das erste Mal, dass er sie um etwas bat, seit sie sich nach dem College getrennt hatten. Dass er sie überhaupt um Hilfe bat, erstaunte sie und tat ihrem gebeutelten Selbstvertrauen gut. Niemand in ihrer Heimatstadt wusste von ihrem Karriere-Debakel oder gar dem Katastrophengebiet, das ihr Privatleben darstellte. Und wenn es nach ihr ging, würde das auch so bleiben. Die Eine-Million-Dollar-Frage allerdings lautete: Wie sollte es danach weitergehen?

Der Luftstrom eines vorbeifahrenden Autos schlug ihr den Rock um die Beine, was sie daran erinnerte, dass dieser Parkplatz am Straßenrand nicht der geeignete Ort für eine Bestandsaufnahme ihres Lebens war.

Also setzte sie ein Pokerface auf, straffte entschlossen die Schultern und marschierte zum Haupteingang des Birmingham Police Departments. Dort blieb sie noch einmal stehen, zögerte kurz, dann riss sie die Tür auf und präsentierte dem Security-Posten ein Lächeln. »Guten Morgen.«

»Ihnen auch einen guten Morgen, Ma’am«, erwiderte der Wachmann – Elroy Carter laut des Namensschildes, das an seinem Hemd steckte. »Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen? Ihre Tasche können Sie hier ablegen.« Er zeigte auf den Tisch neben sich.

Jess reichte ihm ihren Ausweis und stellte ihre Tasche wie angewiesen ab, damit er sie durchsuchen konnte. Da sie schon seit Jahren keine Ohrringe mehr trug und der schlichte Goldring, der aus irgendeinem ihr selbst schleierhaften Grund noch immer an ihrem Finger steckte, keinen Alarm auslöste außer dem in ihrem Kopf, passierte sie anstandslos den Metalldetektor und wartete auf der anderen Seite auf ihre Tasche.

»Genießen Sie Ihren Aufenthalt in der magischen Stadt, Agent Harris.« Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht des großen Mannes.

Wahrscheinlich ein Expolizist im Ruhestand und unverkennbar Südstaatler durch und durch. Er war sichtlich stolz auf seine Arbeit, die jetzige wie die frühere, und seine Brieftasche steckte vermutlich voller Fotos seiner Enkel. Nur eines war ihm nicht sofort anzusehen: ob er Auburn- oder Alabama-Fan war. Im September allerdings würde das so offenkundig sein wie das tiefe Braun seiner Augen. Denn hier in Alabama machte die Footballsaison selbst aus engsten Freunden erbitterte Gegner.

»Danke, Mr Carter.«

Bitte, Danke und Willkommen – das gehörte im Süden zu den Traditionen, an denen nicht gerüttelt wurde. An einem Fremden vorbeizugehen, ohne ihn zumindest anzulächeln, kam, was Etikette anging, gleich hinter Blasphemie. Sich über die Angelegenheiten eines Nachbarn oder Kollegen auf dem Laufenden zu halten galt auch nicht als Neugier oder gar Einmischung. Ganz und gar nicht. Es wurde sogar erwartet. Denn es geschah selbstverständlich aus reiner Sorge.

In spätestens vierundzwanzig Stunden, vermutete Jess, würden Spekulationen über ihren Karriereverlauf das beherrschende Thema des Bürotratschs sein. Dann würde es nicht mehr lange dauern, und man warf ihr mitleidige Blicke zu, lächelte sie aufmunternd an und tat so, als wäre alles bestens.

Bestens. Bestens. Bestens.

So gern sie es auch vermieden hätte, ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen – dass es ihr erspart blieb, war ungefähr so wahrscheinlich wie zweimal am selben Tag von Satellitentrümmern getroffen zu werden. Sobald die Nachricht bei der Associated Press eintraf, würde sich die gesamte Presse darauf stürzen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Ihr Leben war eine Katastrophe. Sie bezweifelte, dass irgendetwas je wieder bestens sein würde. Doch das war im Moment irrelevant. Sie war als Beraterin in einem Fall hier – einem Fall, der nicht darauf warten würde, dass sie die Scherben ihres Lebens aufsammelte oder ihre Wunden leckte.

Jess schob ihre Sorgen beiseite, wappnete sich und ging zu der Reihe von Aufzügen, die sie in den vierten Stock bringen würden. Zu ihm.

Keins der Gesichter, die sie sah, kam ihr bekannt vor. Weder der Wachmann, der sie abfertigte, noch einer seiner Kollegen, die die Eingangshalle überwachten, noch die Frau, die mit ihr zusammen im Aufzug nach oben zur Dienststelle des Birmingham Police Departments fuhr.

Sobald die Türen zuglitten, musterte die Frau verstohlen Jess’ Füße in den zehn Zentimeter hohen Mary Janes, inspizierte den Abstand zwischen dem Saum ihres Bleistiftrocks und ihren Knien sowie die Lederumhängetasche, die sie sich selbst zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Als der Augenkontakt unausweichlich wurde, setzte sie ein schwaches Lächeln auf, eine oberflächliche Nettigkeit, die überspielen sollte, dass sie gerade die Konkurrenz abgecheckt hatte. Wenn sie wüsste.

Der Aufzug hielt mit einem Ruck. Die Frau ging als Erste hinaus und schlenderte den langen Flur nach rechts hinunter. Jess’ Ziel lag geradeaus vor ihr. Das Büro des Polizeichefs. An der Tür überprüfte sie noch einmal ihr Erscheinungsbild in der Glasscheibe, zog die Jacke mit dem Gürtel gerade und zupfte sich ein blondes Haar vom Revers. Sie sah aus … wie immer. Oder nicht? Sie ließ die Hand sinken.

Sah sie wie eine Versagerin aus? Wie die Frau, die gerade einem abscheulichen Killer eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte verschafft hatte und der der Ehemann abhandengekommen war?

Tief durchatmen. Sie streckte die Hand nach der Tür mit der Aufschrift Daniel T. Burnett aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Guten Tag, Agent Harris.« Die junge Frau – Tara Morgan stand auf dem Namensschild auf ihrem Schreibtisch – lächelte. »Willkommen in Birmingham.«

Da Jess sich nicht vorgestellt hatte, musste der Chief wohl seine Angestellten auf ihren Besuch vorbereitet haben. »Danke. Ich möchte gerne zu Chief Burnett.«

»Ja, Ma’am. Wenn Sie bitte Platz nehmen würden, ich lasse den Chief wissen, dass Sie jetzt da sind.«

Endlich. Doch das sagte Tara höflicherweise nicht. Jess kam zu spät, zwölf Minuten, die sie gebraucht hatte, um den nötigen Mut aufzubringen, sich den letzten Turbulenzen des emotionalen Hurrikans zu stellen, der über ihr Leben hinweggefegt war. Die Sekretärin bot ihr Wasser oder Limonade an. Jess lehnte ab. Es war unwahrscheinlich, dass sie irgendetwas an dem dicken Kloß in ihrem Hals vorbeibekommen würde. Und vollkommen unmöglich, es unten zu behalten.

Jess nutzte die Wartezeit, um die Veränderungen zu betrachten, die der neue Chief von Birmingham seit seinem Amtsantritt vorgenommen hatte. Der Marmorboden, der Teppich und die Wände in klassischem Beige – der ruhige Empfangsraum wirkte kaum wie das Vorzimmer eines Polizeichefs, eher wie das Wartezimmer eines renommierten Chirurgen. Auch wenn sie seit dem Karrieretag in der Highschool nicht mehr hier gewesen war, die Möbel und die Deko muteten viel zu neu an, um mehr als ein paar Jahre auf dem Buckel zu haben.

Auf dem Tisch lag ein ordentlicher Stapel aus Polizeizeitschriften und politischen Magazinen. Der Bezug der beiden Polstersessel erinnerte an einen europäischen Wandteppich und verriet deutlich den gehobenen Geschmack seiner Mutter. Offenbar genügte es ihr nicht, auf die Inneneinrichtung der palastartigen Residenzen ausgesuchter Mitglieder von Birminghams Elite Einfluss zu nehmen, was sie durch Soireen vollbrachte, auf denen das gesamte Who-is-Who der Stadt zu Gast war. Katherine setzte den Goldstandard für alle, die auf ihre vornehmen Nachbarn schielten.

Ob die braven Bürger von Birmingham wohl mit dieser Verschwendung ihrer Steuergelder einverstanden waren? So wie sie Katherine Burnett kannte, hatte die Frau die Renovierung womöglich aus eigener Tasche bezahlt und sich dann auf der ersten Seite des Lifestyle-Teils der Birmingham News damit gebrüstet.

Nur ein weiteres Indiz dafür, dass sich hier nichts verändert hatte. Jess stellte ihre Umhängetasche auf einen Sessel und streckte die von der Reise verkrampften Muskeln. Acht strapaziöse Stunden auf der Straße am Dienstag und vier heute Morgen forderten ihren Tribut: Sie war erschöpft. Bequemer wäre es gewesen, den Flieger zu nehmen, aber sie wollte über ein eigenes Auto verfügen, solange sie hier war. Das machte es einfacher, notfalls schnell die Flucht zu ergreifen.

Aber eigentlich hatte sie vor allem Zeit gebraucht, um nachzudenken.

»Du hast es geschafft.«

Ob es der Klang seiner Stimme war oder die Tatsache, dass er trotz der aktuellen Umstände besser aussah als an Weihnachten vor zehn Jahren: Auf einmal fühlte sie sich sehr verletzlich und unzweifelhaft alt. Sein dunkles Haar war immer noch dicht und ohne jede Spur von Grau. Der elegante marineblaue Anzug brachte das Blau seiner Augen zum Leuchten. Aber es war sein Gesicht, schmaler als früher, aber nicht weniger attraktiv, das ihrer angeknacksten Psyche am härtesten zusetzte.

Auf einmal spürte sie das Gewicht der letzten zweiundsiebzig Stunden so heftig, dass ihr die Knie weich wurden. Der Boden unter ihren Füßen neigte sich, und sie verspürte den flüchtigen, aber heftigen Drang, sich in seine starken Arme zu flüchten oder einfach in Tränen auszubrechen. Aber sie war nicht mehr dieses kleine Mädchen. Und sie … sie waren beinahe Fremde füreinander.

Sie brachte ein steifes Nicken zustande. »Ja, da bin ich.«

Komisch, wie sie es beide vermieden, den anderen beim Namen zu nennen. Gar nicht komisch hingegen war die Tatsache, dass fünf Sekunden in seiner Gegenwart genügten, damit ihr Südstaatenakzent wieder durchkam.

Sie räusperte sich. »Ich kann mich gleich an die Arbeit machen. Als Erstes würde ich gern Einsicht in die Akten erhalten.«

»Natürlich.« Er bot ihr die Hand an, zog sie dann wieder zurück und vollführte eine linkische Geste, als wäre ihm zu spät eingefallen, dass Körperkontakt keine gute Idee war. »Sollen wir in mein Büro gehen?«

»Gern.« Sie schlang die Tasche über die Schulter und ging auf ihn zu, jeder Schritt eine harte Prüfung für ihre Selbstbeherrschung. Dinge, die nicht gesagt worden waren und doch hätten gesagt werden sollen, rangen in ihr mit ihren zahlreichen anderen Sorgen. Jetzt war nicht die Zeit.

»Dass du den weiten Weg auf dich genommen hast, um uns bei diesem Fall zu helfen, bedeutet mir viel.«

Er vermied es noch immer, ihren Namen auszusprechen. Jess überwand Verwirrung oder Enttäuschung – vielleicht auch beides – sowie Erschöpfung und holte zu ihm auf, als er voranging. »Ich kann nichts versprechen, aber ich tue, was ich kann.«

Am Telefon war er nicht ins Detail gegangen – dass er überhaupt angerufen hatte, war Beweis genug, dass die Lage ernst war.

Er machte sie mit seiner persönlichen Sekretärin bekannt, geleitete sie dann weiter in sein Büro und schloss die Tür. Wie schon im Empfangsraum war auch in seinem geräumigen Büro Katherines Einfluss nicht zu übersehen. Jess stellte ihre Tasche auf den Boden neben einen Stuhl an dem kleinen Besprechungstisch und musterte die vier Aktenordner, die in trostloser Formation auf sie warteten. An den Deckel eines jeden war ein Foto eines vermissten Mädchens geheftet.

Dies war der Grund, warum sie den weiten Weg gemacht hatte. Sosehr der Anruf auch ihrem Ego geschmeichelt hatte, ihre eigentliche Motivation war es, dieses Rätsel zu lösen. Sie beugte sich vor, um die hübschen Gesichter zu studieren. In einem Zeitraum von zweieinhalb Wochen waren vier junge Frauen verschwunden, die Letzte vor gerade mal drei Tagen. Keine Gemeinsamkeiten außer ihrem Alter, kein Hinweis auf ein Verbrechen, keinerlei Spuren. Macy York, Callie Fanning, Reanne Parsons und Andrea waren wie vom Erdboden verschluckt.

»Diese beiden wohnten im Jefferson County.« Er tippte auf das erste und das zweite Foto, Macy und Callie, beide blond. »Die hier ist aus Tuscaloosa.« Reanne, die Rothaarige. »Die Letzte ist aus Mountain Brook, meinem Bezirk.« An dem vierten Mädchen, Andrea, eine Brünette, blieb sein Blick ein wenig länger hängen.

Jess ließ sich auf einem Stuhl nieder. Sie öffnete die Akten, eine nach der anderen, und überflog den mageren Inhalt. Befragungen von Familien und Freunden. Fotos und Berichte von den Tatorten. Alle vermissten Mädchen bis auf eine, Reanne, waren College-Studentinnen.

»Keinerlei Kontakt zwischen den Familien? Keine Verdächtigen?« Sie sah auf, aus reiner Gewohnheit, weil sie sein Mienenspiel sehen wollte, wenn er antwortete. Sein Blick lag noch einen Moment länger auf den Ordnern, bevor er sich auf sie richtete. Die Last des Amtes im öffentlichen Dienst hatte Falten um seine Augen und seinen Mund gegraben. Falten, die vor zehn Jahren noch nicht dort gewesen waren. Komisch, wie die gleichen Falten sie nur alt aussehen ließen, ihm aber etwas Distinguiertes gaben.

Er schüttelte den Kopf als Antwort auf ihre Frage.

»Kein Kreditkartengebrauch, keine Anrufe?«, fuhr sie fort. »Keine Abschiedsbriefe? Keine Lösegeldforderungen?«

»Nichts.«

Mit einer Leichtigkeit, die seine Kraft und Fitness verriet, schwang er eine Hüfte auf die Tischkante und sah sie an. Die so vertrauten blauen Augen taxierten sie nun ebenso unverblümt, wie sie noch vor ein paar Sekunden ihn gemustert hatte. »Sheriff Roy Griggs – du erinnerst dich vielleicht an ihn – und Chief Bruce Patterson in Tuscaloosa tun alles, was sie können, aber es gibt einfach nichts, wo sie ansetzen können. Das FBI hält sich zurück, weil alle diese Mädchen volljährig sind, neunzehn oder älter, und da keine Hinweise auf ein Verbrechen vorliegen, gibt es ihrer Meinung nach auch nichts zu ermitteln. Sie legen eine Akte an, schicken die Fotos an die verschiedenen Datenbanken und warten. Mehr können die nicht.«

Laut Gesetz handelte das FBI damit völlig korrekt. Solange es keinen Hinweis auf faulen Zauber oder Gewaltanwendung gab, konnte weder das FBI noch irgendeine andere Ermittlungsbehörde etwas unternehmen. Er wusste das natürlich, doch sein Cop-Instinkt oder auch seine persönlichen Gefühle – was von beidem hatte sie noch nicht herausgefunden – gaben sich damit nicht zufrieden. Im Übrigen erinnerte sie sich durchaus an Griggs. Er war seit drei Jahrzehnten der Sheriff von Jefferson County.

»Aber du glaubst an eine Verbindung, was nahelegt, dass hier nicht nur ein Verbrechen vorliegt, sondern sogar eine Serientat.« Das war keine Frage. So viel hatte er ihr schon am Telefon erklärt, aber sie musste es noch einmal hören und dabei seine Augen, seinen Gesichtsausdruck sehen.

Sein Anruf, seine Stimme hatten Erinnerungen und Gefühle geweckt, die sie lange für tot und begraben gehalten hatte. Seit dem Sommer nach ihrem College-Abschluss hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, bis sie sich dann, vor zehn Jahren, zufällig im Publix in Hoover getroffen hatten. Es verblüffte sie noch immer, dass sie bei all den zahllosen Geschäften rund um Birmingham ausgerechnet im selben Lebensmittelladen gelandet waren, und das auch noch, als sie zum ersten Mal die Feiertage bei ihrer Familie verbrachte. Er war gerade frisch geschieden von seiner zweiten Frau. Jess hatte eine Beförderung zu feiern. Eine gefährliche Mischung, vor allem wenn noch der Rausch der Feiertage dazukam und die nostalgische Erinnerung an ihre explosive Beziehung. Das Dessert, das sie eigentlich noch in letzter Minute vor dem Dinner mit der Familie ihrer Schwester hatte kaufen wollen, hatte es nie bis auf den Tisch geschafft.

Seitdem hatte Jess nichts mehr von ihm gehört. Trotzdem konnte sie ihm kaum vorwerfen, nach spontanem, wildem Sex einfach abgetaucht zu sein – sie selber hatte schließlich auch keinen Versuch unternommen, mit ihm in Kontakt zu treten.

»Es muss eine Verbindung geben.« Sein Blick wanderte wieder über die fröhlichen, sorglosen Gesichter auf den Fotos. »Dieselbe Altersgruppe. Alle attraktiv. Intelligent. Keine Vorstrafen, nirgendwo aktenkundig. Die Zukunft – eine leuchtende Zukunft – lag vor ihnen. Und niemand in ihrem Familienkreis, keiner von ihren Freunden glaubt, sie könnten abgehauen sein.« Er tippte auf das Foto des vierten Mädchens. »Andrea Denton kannte ich persönlich. Es ist unmöglich, dass sie einfach so spurlos verschwunden ist. Unmöglich.«

Zwei Dinge fielen ihr auf, als er seine leidenschaftliche Erklärung abgab: Erstens, er trug keinen Ehering. Zweitens, er kannte Nummer vier nicht einfach nur persönlich. Er kannte sie gut. Wie gut, das war die Frage.

»Jemand hat sie entführt«, sagte er mit Nachdruck. »Sie alle.« Seine Miene wurde für den Bruchteil einer Sekunde weich. »Ich kenne deinen Ruf als Profiler. Wenn jemand uns helfen kann, diese Mädchen zu finden, dann du.«

Jess merkte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem echten Lächeln hoben, und das Stirnrunzeln, das schon seit Tagen auf ihrem Gesicht lag, verschwand. Sie hatte absolut nichts, worüber sie lächeln konnte, und doch löste sein Kompliment diese Reaktion bei ihr aus. »Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, Chief.« Hier mit ihm zusammenzusitzen, während er aufmerksam auf sie heruntersah, fühlte sich viel zu vertraut … zu persönlich an. Sie erhob sich, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Und leider können selbst die Besten nicht auf nichts aufbauen, und mehr scheinst du bisher nicht zu haben.«

»Ich will ja nur, dass du es versuchst, das ist alles. Diese Mädchen«, er zeigte auf die Akten, »haben ein Recht darauf, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht.«

Da würde sie ihm nicht widersprechen. »Du kennst die Statistiken.« Falls sie tatsächlich entführt worden waren, waren die Chancen, sie lebend zu finden, minimal – wenn es hoch kam. Das einzig Positive, das sie bisher sah, war, dass sie keine Leiche hatten. Noch nicht.

»Ja.« Er senkte den Kopf mit einer müden, traurigen Bewegung, die den ernsten Ton in seiner Stimme noch unterstrich.

Irgendwann würde sie erfahren, was er verschwieg. Sicher, niemand gestand gern ein, dass es nichts gab, was man tun konnte, wenn jemand vermisst wurde, zumal wenn es um Kinder oder junge Erwachsene ging. Aber diese Getriebenheit, dieses beharrliche Bestehen darauf, dass es sich um ein Verbrechen handelte, das ging über normales menschliches Mitgefühl und berufliches Pflichtbewusstsein weit hinaus. Sie spürte seine Unruhe und seine Sorge wie Vibrationen, die stetig stärker wurden.

»Und die Kollegen ziehen mit?« In ein Hornissennest zu stechen, weil sie jemandem in sein Revier pfuschte, würde ihre ohnehin komplizierte Lage nur verschlimmern. Darauf konnte sie gut verzichten. Sobald die Neuigkeit die Runde machte, würde sie schon genug Ärger haben.

»Sie ziehen mit. Du hast mein Wort.«

Jess kannte Daniel Burnett schon ihr ganzes Leben. Er glaubte, dass mehr hinter dem scheinbar zufälligen Verschwinden dieser Mädchen steckte, als auf den ersten Blick zu sehen war. Wenn seine Gefühle nicht sein Urteilsvermögen beeinträchtigten, lag er mit seinem Bauchgefühl nur selten daneben. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er gewusst, dass sie sich von ihm trennen würde, noch bevor sie es selbst und zu ihrer eigenen Überraschung erkannt hatte. Genauso wie er gewusst hatte, dass er sie an diesem kalten, stürmischen Abend in diesem verdammten Publix hatte haben können. Auf sein Bauchgefühl würde sie immer wieder setzen.

Nur hatte sie nie darauf zählen können, dass er sich für sie entschied statt für seine persönlichen oder beruflichen Ziele. So alt ihrer beider Geschichte auch war, das Loch, das sie in ihrem Herzen hinterlassen hatte, war nie ganz verheilt. Doch obwohl sie diese bittere Wahrheit kannte, hielt sie unwillkürlich die Luft an, als sie darauf wartete, was als Nächstes kam.

»Ich brauche deine Hilfe, Jess.«

Jess. Die weichen, tiefen Nuancen seiner Stimme strichen über ihre Haut, und unversehens war alles wieder wie vor zehn Jahren.

Nur würde sie dieses Mal dafür sorgen, dass sie nicht zusammen im Bett landeten.

2

Andrea Denton kniff die Augen zusammen und versuchte gegen die Wirkung der Droge anzukämpfen. Was für eine weiße Tablette das war, die zu schlucken man sie gezwungen hatte, wusste sie nicht, wohl aber, dass sie schlecht für sie war. Die anderen Mädchen wirkten wie Zombies. So würde Andrea auch werden, wenn sie sich nicht mehr anstrengte. Das durfte sie nicht zulassen.

Also stolperte und torkelte sie in der Dunkelheit auf und ab wie eine Betrunkene.

Die anderen beiden Mädchen kauerten in der Ecke und wagten sich nicht zu rühren.

Andrea drehte sich der Magen um, doch sie kämpfte gegen den Würgereiz an. Eine Handvoll Erde nach der anderen hatte sie von dem nackten, festgetrampelten Boden gekratzt und sie sich in den Mund gesteckt. Wie viele wusste sie nicht mehr. Vielleicht war es dumm, und wahrscheinlich hatte sie Rattenkacke und was nicht sonst noch alles geschluckt, aber immer wenn ihre Freunde dermaßen breit waren, aßen sie alles, was ihnen unter die Augen kam, und tanzten und liefen und hüpften herum, um den Alkohol oder die Drogen, die sie zum Feiern eingeworfen hatten, wieder abzubauen.

Alles war besser, als nichts zu tun.

Sie schleppte sich weiter. Ein- oder zweimal stieß sie gegen die metallenen Etagenbetten, die an der Wand aufgereiht standen. Die Federn quietschten schrill, wenn sie gezwungen wurden, sich hinzulegen. Das und der Haferbrei waren ihre einzige Möglichkeit, die Zeit zu messen. Ins Bett mussten sie wohl abends. Und Haferbrei gab es morgens. Ihr Kopf schmerzte, wenn sie versuchte sich zu erinnern, wie lange sie schon hier war. Drei Plastikschalen mit klumpigem, ungesüßtem Haferbrei.

Auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit hatte sie sich einmal durch den ganzen Raum getastet. Als eine Ratte über ihre Hände lief, hatte sie fast einen Herzanfall bekommen. Sie schauderte. Aber sie hatte weitergesucht. Es gab eine Tür, doch die war aus Stahl und hatte auf dieser Seite weder eine Klinke noch ein Schloss. Ein Kasten mit Wasserflaschen, von denen sie so viele, wie sie konnte, heruntergestürzt hatte, stand in einer Ecke, in der anderen ein stinkender Topf mit einem Deckel als Toilette.

Nach dem ersten Tag hatte sie ihn benutzen müssen und sich von dem Gestank übergeben, der ihr entgegenschlug, als sie den Deckel hob. Nun war sie fest entschlossen, sich erst wieder darauf zu setzen, wenn sie absolut nicht mehr einhalten konnte. Die Wände waren aus Erde und Backstein, außer der, wo die Tür war, die fühlte sich anders an. Wie Holz oder so. Sie fand, es roch nach Keller. So wie der im Haus ihres Großonkels. Er hatte Andrea immer gesagt, es würde dort spuken, damit sie sich nicht heimlich hinunterschlich. Irgendwann hatte sie dann aber doch seine schmutzigen Magazine und seinen Vorrat an Gras entdeckt. Zwielichtiger alter Taugenichts.

Als diese bösen Leute sie hierher gebracht hatten, hatte sie nichts sehen können, weil ein Sack über ihrem Kopf gewesen war. Vielleicht waren sie in einer Höhle, doch das glaubte sie nicht. In einer Höhle wäre der Boden aus Stein. Wahrscheinlich jedenfalls. Dieser Raum hier roch wie ein Keller.

Doch auch der starke muffig-feuchte Geruch konnte den Gestank von menschlichen Exkrementen nicht überdecken, wo die anderen sich in die Hose gepinkelt hatten oder Schlimmeres. Wahrscheinlich, dachte Andrea, waren sie zu bedröhnt gewesen oder hatten zu viel Angst gehabt, um es bis zum Topf zu schaffen. So etwas passierte auch manchmal, wenn Menschen starben. Sie erschauerte. Wollte nicht ans Sterben denken.

Wo war sie bloß? Warum hatten diese Irren sie und die anderen entführt? Ging es um Geld? Das Zittern fing wieder an, erst in ihren Beinen, dann in ihren Armen.

Vielleicht planten sie etwas wirklich Schlimmes. Wie im Film, wenn sie ihre Opfer folterten oder sie in Stücke schnitten.

Sie musste hier raus.

Geh weiter. Geh einfach weiter. Dir fällt schon noch was ein. Ihre Mutter musste außer sich sein. Ihr Vater vielleicht auch. Und Dan. Tränen brannten in ihren Augen, als Andrea die Arme um ihren Oberkörper schlang. Er hatte sie vor so etwas immer gewarnt. Und sie hatte auf ihn gehört. Sie war clever. Immer vorsichtig. Sie trank nie zu viel, so wie einige ihrer Freunde.

Aber sie hatte nicht damit rechnen können, dass das Böse, vor dem Dan sie gewarnt hatte, in Gestalt einer freundlichen, Coupons sammelnden Dame kam. Andrea hatte sie schon oft im Walmart um die Ecke gesehen. Immer mit einem dieser übertrieben großen Ordner voller Plastikhüllen, in denen die ganzen Coupons steckten. Sie hatte Andrea erzählt, dass sie die Coupons aus den Zeitungen ausschnitt, die andere weggeworfen hatten. Und Andrea war so dumm gewesen, ihr vorzuschlagen, in Wohngegenden wie ihrer die Papiercontainer zu durchsuchen.

Von da an hatte Andrea der Frau alle Coupons gebracht, mit denen die Mittwochs- und die Sonntagszeitung vollgestopft waren, die dann im Papierabfall landeten. Sie hatten sich sogar noch gemeinsam amüsiert über diese verrückte Coupon-Parade. Ein bitterer Geschmack stieg ihr in den Mund. Niemals hätte sie einer Fremden vertrauen dürfen, auch nicht einer, die so mütterlich aussah.

Ein dumpfer Knall über ihrem Kopf ließ sie erstarren. Ihr Herz hämmerte. Kamen sie etwa zurück?

Andrea konnte nicht atmen … konnte nicht denken. Die Stille dröhnte in ihren Ohren, als sie angestrengter horchte als je in ihrem Leben. Ihr Herz schlug schneller und schneller, bis ihre Brust schmerzte.

Bitte, lass sie nicht zurückkommen!

Das letzte Mal hatten sie ein Mädchen mitgenommen. Andrea versuchte sich an den Namen zu erinnern. Mason oder Macy.

Sie war lange weggeblieben, stundenlang, so war es ihr vorgekommen.

Obwohl Andrea die Hand vor Augen nicht sah, hob sie den Blick zur Decke. Sie hatte weder Schreie noch Weinen von dort oben gehört. Vielleicht taten sie dem anderen Mädchen ja gar nichts. Vielleicht war dies hier nur ein Irrtum … ein Scherz. Der verrückte Streich einer Studentinnenverbindung. Wenn diese idiotischen Zicken dahintersteckten, konnten sie aber was erleben.

Ein weiterer Schlag über ihr ließ sie zusammenzucken. Die dicht aneinandergedrängten Mädchen in der Ecke begannen zu stöhnen und zu schluchzen. Mit jedem bebenden Atemzug, der ihre Lungen füllte, wurde ihr Jammern lauter und lauter.

»Seid still!«, flüsterte Andrea. »Sonst hören sie euch!«

Doch die anderen hörten nicht auf. Sie presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte sie nicht hören. Sie wollte nicht hier sein. Einem Mädchen, das so intelligent und vorsichtig wie sie war, sollte so etwas nicht zustoßen.

Eine Tür knallte.

Das Stöhnen und Schluchzen brach ab, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Schwere Schritte hallten in der Dunkelheit.

Sie kamen!

Adrenalin raste durch Andreas Adern und lichtete den Nebel in ihrem Kopf. Doch die Starre blieb.

Lauf! Sie konnte nirgends hinlaufen.

Versteck dich! Sie konnte sich nirgends verstecken.

Wehr dich! Sie war zu schwach, um sich zu wehren.

Warmes Pipi rann an ihren Schenkeln hinab.