Hertha Koenig · Der Zuckerkönig
Der Zuckerkönig
Eine Familiengeschichte
Mit einem Vorwort
von Stefanie Viereck
PENDRAGON
Inhalt
Vorwort von Stefanie Viereck
Auftakt
Der Fährenschreiber von Libau
Die Tochter des Fährenschreibers
Der Nachtwächter
Die Frau des Baumeisters
Herrenloser Besitz
Der Zuckerkönig
Über Leopold Koenig
Spurensuche – eine Annäherung
Spurensuche. Wo fängt sie an? Wie nähern wir uns einem Menschen, dessen Leben wir erkunden wollen? Der Rohstoff für jede Fiktion findet sich im eigenen Leben, so dass sich die Frage bei Schriftstellern zu erübrigen scheint. Wir brauchen doch nur zu lesen. In der einen oder anderen Weise gibt jeder Schreibende sich preis, sonst bliebe sein Wort ohne Gewicht. Und zweifellos gewährt das Werk auch einigen Aufschluss über das Wesen des Verfassers – nur kommen wir ihm deshalb noch lange nicht auf die Spur, sondern begeben uns nur allzu leicht auf irreführende Fährten.
Der Schreibende lässt uns in sein Innerstes blicken, um sich im nächsten Moment wieder zu verbergen. Das Ich taucht in verschiedensten Zusammenhängen auf, verfremdet, verhüllt, in der dritten Person, mit entgegengesetzten Vorzeichen versehen oder auf verschiedene Protagonisten verteilt. Je mehr wir lesen, desto komplizierter wird die Suche. Mannigfaltige Wirklichkeiten entstehen und die Kontur des Verfassers verflüchtigt sich, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein. Was wir erkennen, ist eine Art Grundmotiv, eine wiederkehrende Melodie, Ton und Themen lassen sich benennen und erlauben Rückschlüsse auf das wahre Wesen, sein Denken, sein Werden, seinen Weg, seine Ängste, Träume und Sehnsüchte. Eine objektive Wahrheit entsteht deshalb noch lange nicht. Die gibt es nicht als Lebensgeschichte, jeder Versuch bleibt eine Annäherung.
Das gilt, so widersinnig es klingen mag, letztlich auch für die Lebenserinnerungen – Erinnerungen an Menschen und Dinge, an das Kind, das man selbst einmal gewesen ist, an Orte und Landschaften, Farben und Gerüche, an den Wandel der Zeiten und das Weltgeschehen. Zum einen ist die eigene Wahrnehmung immer subjektiv, zum anderen birgt die Chance, das eigene Leben im Nachhinein zu manipulieren, große Verlockung.
Das muss nicht aus Eitelkeit oder Geltungsbedürfnis geschehen. Schreibend ist man dem Schicksal nicht länger ausgeliefert, das Gefühl von Ohnmacht kehrt sich ins Gegenteil, erlaubt für Augenblicke die Illusion, das eigene Leben vollständig beherrschen und lenken zu können, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. So nimmt bei aller Faktentreue jeder autobiographische Text partiell fiktive Züge an. Und oft verrät die Art und Weise des Erzählens, die Klangfarbe – Wahrhaftigkeit in der Sprache oder anekdotenhaftes Geplauder – mehr über das Wesen des Erzählenden, als das, was er tatsächlich berichtet.
Bleibt das Bild, Gemälde oder Fotografie, die spontane Begegnung oder auch Konfrontation mit dem Porträt, das mit der Vorstellung von der schreibenden Person übereinstimmen mag – oder eben auch nicht. Leidenschaftliche Leser wissen, wie sehr ein Foto des Autors auf der Rückenklappe des Schutzumschlags irritieren kann, und, falls es sich um einen besonders geschätzten Text handelt, möchte man es manchmal lieber nicht gesehen haben.
Meist ist es allerdings umgekehrt. Eingehend betrachtet man die Züge des Autors, begierig darauf, mehr und Intimeres von dem Menschen zu erfahren, dessen erfundene Figuren Intimstes preisgeben, begierig darauf, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Wer war oder ist dieser Mensch, was sagt sein Ausdruck, die Augen, der Mund, ähnelt er dem Bild, das man sich während des Lesens von einem Protagonisten gemacht hat, dem man selbst sich womöglich verwandt fühlt? Spurensuche ist immer auch die Suche nach Selbsterkenntnis und Nähe.
Eine Dichterin wie Hertha Koenig, groß geworden in einem anderen Jahrhundert, verankert in familiären Traditionen und geprägt vom Standesbewusstsein einer feudalistischen Gesellschaftsordnung, war stets in besonderer Weise darauf bedacht, die Grenzen der Diskretion zu wahren, Werk und Wesen streng voneinander getrennt zu halten. Umso bemerkenswerter, dass sie in ihrer Lyrik ein leidenschaftliches Liebesverlangen offenbart, dessen Gegenüber leicht zu erraten ist, aber davon später. Und fast eine Ironie, dass ihre Lebenserinnerungen unter dem Titel Hinter den Kulissen eines Lebens erschienen sind.
Doch die Diskretion bleibt gewahrt. Nur Hertha Koenig selbst kommt zu Wort. Der Blick hinter die Kulissen gelingt aufgrund der Zusammenstellung – eine Auswahl von Texten und Briefen aus dem Nachlass, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind und wechselnde Befindlichkeiten spiegeln. Mal erzählt die Dichterin leicht, beschwingt und beinahe burlesk, dann wieder mit großem Ernst und zarter Empfindsamkeit, mal zeigt sie sich in der ersten Person, als ich, dann wieder zieht sie sich an den Rand des Geschehens zurück. Es ist, als könnten wir durch verschiedene Fenster in ein und denselben Raum sehen, jedes Mal aus einer leicht veränderten Perspektive, und aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet nimmt eine Figur Gestalt an, von der wir in Fiktion und Lyrik allenfalls Ausschnitte gesehen haben.
Eine Figur, verwundbar und kraftvoll, die einen Sinn für Komik besitzt, einen feinen Humor gepaart mit Schwermut. Die ihre Enttäuschungen ahnen lässt, ihre Einsamkeit, die sie weder beklagt noch beschönigt, nicht einmal ausdrücklich in Worte fasst. Aber wir können die Schatten wahrnehmen, die sie von Anfang an begleitet haben, die Dunkelheiten ihres Gemüts. Ihre Kindheit eine glückliche zu nennen, „wäre diesem Begriffe nicht entsprechend“, schreibt Hertha Koenig. Zu dunkel sei sie gewesen und zu still. Und dann der überraschend gefügige Satz: „Aber man bekommt ja die Kindheit, die man braucht; …“
Diese Kindheit im ausgehenden 19. Jahrhundert auf dem entlegenen westfälischen Gut Böckel ist durchdrungen „vom Erdgeruch des niederen Landes und vom Wesen der langsamen Bäche“. Ein dunkler melancholischer Unterton bestimmt den Klang der Schilderung selbst kleiner heiterer Begebenheiten, die sich im Übrigen recht bescheiden ausnehmen. Von dem „köstlichen, königlichen Reichtum“ aus dem „Schatzhaus der Erinnerungen“, wie der ihr später freundschaftlich verbundene Rilke in seinen Briefe(n) an einen jungen Dichter über den Stoff der Kindheit schreibt, macht sie nur sparsamen Gebrauch.
Die Stimme, mit der Hertha Koenig von ihrer Kindheit erzählt, bleibt verhalten, und wenn man ihr zuhört, könnte man meinen, die melancholische Schwermut der Landschaft sei ihr von Geburt an zu eigen gewesen. Aber vermutlich war es vor allem der Tod der Schwester, der auf ihrer frühen Kindheit lastete. Die Schwester starb, zwei Jahre alt, wenige Monate vor Hertha Koenigs Geburt.
Die tote Schwester stellt sie ins Licht, sich selbst in den Schatten. Ein „strahlendes, heiter beglückendes Kind“ sei diese Schwester gewesen, sie selbst hingegen ein wahres Herbstkind, „dunkel und ernst“. Vier Jahr später wird der kleine Bruder geboren und, blond und vergnügt wie er ist, gleich zu der Schwester ins Helle gerückt. Der ältere Bruder, der mit achtzehn starb, findet nur flüchtig Erwähnung – vielleicht, weil die Wunde nicht heilen wollte, denn in der Kindheit soll er ihr besonders nah gewesen sein.
In den Erinnerungen findet sich nichts davon. Die Nächsten bleiben seltsam fern und unverbunden. Als sei das dunkle Kind dem Land näher anverwandt gewesen als den leiblichen Verwandten. Man muss es nicht Todessehnsucht nennen, das wäre ein zu großes Wort, aber von der sonderbar anheimelnden Düsternis des Landes geht doch ein unüberhörbares Locken aus, ein verführerischer Sog in eine unbestimmte Weite, ein Ton, der auch später in der Lyrik anklingt. Wann immer Hertha Koenig sich der Natur zuwendet, gleichnishaft die Stimmung einer Landschaft beschwört, einer Jahreszeit, einer Witterung, gewinnt ihre Sprache eine eigene Kraft.
Sie selbst hätte wohl, allemal als alte Frau, jede Art von kindlich unbewusstem Todessehnen weit von sich gewiesen. Eher scheint es, als sei sie freudig erstaunt, wenn neben dem stillen Herbstkind auf einmal ein keckes und schlagfertiges Kind in der Erinnerung auftaucht. Auch das ist also sie gewesen. Kaum zu glauben, und doch – wie schön.
Unbeschwerte Lustigkeit war in der Familie allerdings nicht eben an der Tagesordnung, der vorherrschende Ton allem Anschein nach eher höflich und verhalten. Wenn die Mutter, von der andere später zu Hertha Koenig sagen, „welch liebreizende Mutter sie gewesen sei“, sich am Spiel der Kinder beteiligt, empfindet die Tochter das oft als beklemmend. Der Ernst, die Erwartung, die Regeln. Eben herrschte noch Leichtigkeit, jetzt wird es dumpf und man spielt weiter „mit einem engen Gefühl um die Brust.“
Und der Vater? Von ihm erfahren wir am allerwenigsten. Es scheint kaum eine Beziehung gegeben zu haben – was Hertha Koenig andererseits Raum für die Vorstellung lässt, eine solche wäre immerhin möglich gewesen: „Der Vater hätte einen vielleicht verstanden …“ Dass es nicht dazu kam, führt sie auf ein Ereignis von ähnlich anheimelnder Düsternis zurück, wie das unbestimmte Locken des Landes. Einmal, als sie in der Nacht wach lag, habe sie durch die offene Tür des Elternschlafzimmers ganz deutlich die Stimme des Vaters gehört: „Und nachts die Sterne.“ Das habe so seltsam geklungen, so weit fort, „als hätte er die kleinen blanken Sterne da oben angefasst“. Von da an sei der Vater ihr unheimlich gewesen.
Der ferne Himmel, „der meistens viel zu hoch über uns stand“, war schließlich der Ort, von dem die Menschen niemals zurückkehrten, die helle Schwester nicht und auch nicht Herr Horstmann, der Polsterer, der einzige Mensch aus der frühen Kindheit, von dem Hertha Koenig ganz ohne Scheu und Zurückhaltung schreibt: „Ich liebte ihn; ich wurde nie müde, in sein stilles, liebes Gesicht zu schauen.“
Von der Mutter wollte sie wissen, ob es im Himmel auch Puppen gebe, um gleich darauf zu verkünden, sie werde später mit der Mama zusammen in den Himmel gehen, aber vorher wollten sie noch sehen, wie es in der Hölle sei. „Dieses vorwitzige Begehren nach dem Ganzen“, so heißt es weiter, „habe ich bis ins späte Alter büßen müssen.“ Wieder klingt das freudige Erstaunen an – das andere Kind, vorwitzig und keck, ach ja, auch das. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das einen hellhörig macht, wenn man Hertha Koenig ein wenig zu kennen meint. Aus dem kurzen Überschwang wächst ein kühner Bogen – Himmel und Hölle, Begehren und Buße bis ins hohe Alter? Als hätte sie, egal um welchen Preis, das Leben ausgekostet bis zum Letzten.
Eher wohl hat sie im Begehren nach dem Ganzen keine Halbheiten gelten lassen und sich jede Ausschweifung ohne hehre Weihen versagt. Nach allem, was wir von ihr wissen, hat es in ihrem Leben keine gelebte Leidenschaft gegeben. Die dreijährige Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren Literaturwissenschaftler Roman Woerner war allem Anschein nach eine ebenso nüchterne wie ernüchternde Angelegenheit. In freundlicher Umschreibung des Scheiterns bekundet Hertha Koenig, sie habe Freundschaft und Ehe verwechselt.
Nur in der Lyrik bekennt sie sich freimütig zu ihrem Liebesverlangen. In den Blumengedichten, die zu ihren schönsten zählen, wagt sie viel und so gelingt ihr ein wahrer Ton. Sie lässt die Blumen sprechen, das Ich ist die Rose, der Mohn – „Ich hab mich dir geöffnet ohne Scheu, / brennend für dich als ein Jubel, / …“. Levkojen sind es, die den Rausch erleben, die Gladiole ahnt um die Vergeblichkeit – „Meine Liebe überdauert / ungestillt am vollen Mittag.“ Und vom „mutigen Blau“ des Rittersporns schließlich fordert die Dichterin, sich dem Licht zu stellen.
Das Spiel mit dem Blumen-Ich bleibt durchsichtig. Schon damals wird nicht nur der baltische Dichter Otto von Taube selbst gewusst haben, dass die Gedichte, 1919 im renommierten Insel Verlag von Anton und Katharina Kippenberg erschienen, an ihn gerichtet sind. Und Hertha Koenig will, dass er es weiß. In einem ihrer Briefe heißt es: „Rilke sagte neulich, er habe mit Anderen über meinen Blumen gesessen und sie bestaunt … Natürlich sind sie herrlich, es ist doch meine Liebe zu Dir darin …“
Der blaue Mut des Rittersporns. Ein freimütiges Bekenntnis. Und doch hadert sie später mit sich, fragt in den Briefen, ob sie zu zaghaft gewesen sei, offenbart ihre wechselnden Empfindungen, ihre Zweifel. Obgleich Otto von Taube ihre Liebe zu keinem Zeitpunkt erwidert, gelangt sie schließlich zu der gegenteiligen Überzeugung. „Merkwürdig“, so schreibt sie ihm, „ich bin plötzlich gewiß, daß Du mich geliebt hast; …“
Was bleibt, ist Wehmut. Was bleibt, sind Zweifel. Ein Gefühl von Vergeblichkeit. Themen, die auch in der Prosa immer wieder anklingen. Sie zweifelt an sich, an ihrer Bestimmung, sieht sich im Zwiespalt zwischen Tradition und Emanzipation. Welchen Werten ist sie verpflichtet, wo wagt sie den Aufbruch und wie weit darf sie gehen. Ihr Talent hilft ihr dabei wenig, denn sie glaubt nicht daran, auch nicht nach den ersten Erfolgen, dem Lob der Literaturkritik, dem Beifall der Zeitgenossen.
Rilkes Lob wird ihr dennoch geschmeichelt haben. Und sicher ist es ehrlich gemeint, andernfalls hätte er sich kaum bei den Kippenbergs für Hertha Koenig stark gemacht. Aber was die beiden verbindet, bleibt immer auch geprägt von der Tatsache, dass Hertha Koenig ihn finanziell unterstützt. Sie ist reich, die Erbin des russischen Zuckerkönigs, sie erwirbt auf Rilkes Fürbitte hin Picassos Gaukler und überlässt ihm bald darauf für einen längeren Aufenthalt ihre weitläufige Münchner Wohnung, wo Rilke den Schreibtisch vor die Gaukler rückt, die später Einzug halten in die fünfte Duineser Elegie: „Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig Flüchtigern noch als wir selbst …?“ Auch in den folgenden Jahren gewährt sie ihm großzügig ihre Gunst. Sie ist – vor allem? – Rilkes Mäzenin.
Und nicht nur Rilke, mit dem sie immerhin eine Art geistiger Wahlverwandtschaft verbindet, hat Hertha Koenig unterstützt. Zu dem Kreis der von ihr Geförderten gehören auch Oskar Maria Graf und der Mythenforscher Alfred Schuler, Mitglied der kosmischen Runde um den Dichter Stephan George, skurril und schillernd, eine eher ungewohnte Erscheinung in Hertha Koenigs Umfeld. In ihren Erinnerungen stellt sie ihn als „sonderlichen Privatgelehrten“ vor, mokiert sich über seine Verschrobenheiten und ist doch fasziniert von seinem Geist und angezogen von seinem manchmal kindlichen Gemüt.
Fremd in der Runde erscheint auch Oskar Maria Graf, der bajuwarische Rebell, hemdsärmlig und heimatverbunden – später in seinem New Yorker Exil soll er die meiste Zeit in kurzen Lederhosen herumgelaufen sein – eine eher grobschlächtige Gestalt mit einer zarten gepeinigten Seele. Sie mochten einander, gewiss, aber waren sie Freunde? Hätte die Verbindung gehalten ohne das finanzielle Band? Diese Frage wird Hertha Koenig sich auch selbst gestellt haben. Mäzenatentum macht einsam, ist zumindest nicht eben dazu angetan, ausgewogene Freundschaften gedeihen zu lassen.
Andererseits ist ihr ein Miteinander oft gerade mit den Menschen leichter gelungen, von denen sie durch Stand und Herkunft geschieden war. Das mag für Oskar Maria Graf ebenso gegolten haben, wie damals für den Polsterer Horstmann. Im Rahmen der gesellschaftlichen Konvention sind der Nähe gewissermaßen natürliche Grenzen gesetzt, die Bandbreite der Gefühle ist vorgegeben, das emotionale Risiko bleibt überschaubar.
Mit klarem Blick und lebhafter Anteilnahme schildert Hertha Koenig in ihren Erinnerungen die Menschen, die dem Land ihrer Kindheit angehören, als wären sie daraus hervorgegangen, verwurzelt im Handwerk, in der Viehwirtschaft, Menschen von einem eigenen Schlag, gemächlich, bedächtig, voller Herzenswärme. Munter und unbeschwert geht es zu in der großen Gutsküche, wo das Leben spielt, damals und später, als sie Ende der zwanziger Jahre endgültig nach Böckel zurückkehrt und nach dem Tod des Vaters die Verwaltung der großen Landwirtschaft übernimmt.
Die Gutsfrau, die in den Texten auftaucht, bleibt allerdings am Rand des Geschehens, etwa so, als sähe sie selbst nur zum Fenster hinein in die bollernde Wärme und das rotgesichtige Treiben, als hörte sie nur gedämpft durch Türen das Lachen, den Lärm und die gutmütigen derben Scherze. Sie gehört dazu, und sie tut es auch nicht, sie nimmt die Mahlzeiten allein im Esszimmer ein, und wenn sie die Küche betritt, wird es still. Als Mensch bleibt Hertha Koenig auch dort so einsam, wie sie es ein Leben lang gewesen ist.
Der Schreibenden hingegen bietet dieses Bollwerk einer gelegentlich fast archaisch anmutenden Welt eine gesicherte Basis, um das Geschehen draußen zu betrachten, das wechselvolle Zeitgeschehen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht Hertha Koenig selbst bezieht in ihren Erinnerungen Position, sondern sie lässt uns aus der Perspektive der Gutsküche an den Umwälzungen und Erschütterungen der Gesellschaft teilhaben. Wie in einem vom Dampf der Töpfe beschlagenen Spiegel tauchen die Ereignisse auf, deren Auswirkungen in diesem entlegenen Winkel des Landes nicht selten eher burleske als tragische Züge annehmen.
Humorvoll und ohne Schäfer, Melker, Kutscher oder Küchenmädchen zu verraten, von oben herab der Belustigung preiszugeben, schildert Hertha Koenig, was Weltgeschehen und Wandel in der Gutsküche bewirken, welche Äußerungen sie hervorrufen, welche gelegentlich bizarren Auswüchse. Sei es die gemächlich beschauliche Art, wie Schäfer Milius den Ersten Weltkrieg begrüßt, der habe kommen müssen, damit die Menschen zu Gott zurückfänden – und endlich wieder den Wert eines Schafes zu schätzen wüssten; sei es das aufmüpfige Gebaren der Hausmädchen, die nach der Revolution das Essen an Sonntagen in rotseidenen Kleidern servieren. Im Dritten Reich wird die Gutsküche der Erinnerung gar zum Hort der Menschlichkeit mit heilsamer Wirkung auf die im Herbst 1944 dort einquartierten Offiziere, die als SS-Leute kamen und als „richtige Menschen“ gingen, wie es heißt – ein Hort, der noch im Rückblick Zuflucht gewährt vor unliebsamen Zweifeln an der eigenen Haltung.
Dass Hertha Koenig die bodenständige, bedächtige und auf ihre Weise doch sehr lebendige Art dieser Menschen so authentisch zu treffen vermag, ist eine ihrer Stärken – allerdings eine, die sie selbst wohl nur bedingt geschätzt hat. Zu fern ist ihre Begabung für das Burleske dem subtilen Feingeist eines Rainer Maria Rilke, zu gewöhnlich das Sujet für den hohen Ton des Pathos und der Poesie. Ihr Anspruch an sich selbst ist ein gänzlich anderer, allemal in jüngeren Jahren.
Vielleicht hätte sie sich mit der lebensnahen Komik ihrer auf Beobachtungen basierenden Erzählweise aussöhnen können, wenn auch ein Oskar Maria Graf – im Übrigen nicht weniger feinfühlig als Rilke, nur eben sehr viel näher am Dasein – ihr zum Vorbild gereicht hätte. Aber bei aller Achtung, die sie ihm zollt, verehrt und bewundert wie den zierlichen dunklen und ihr wahlverwandten Rilke hat sie ihn nicht.
Von Rilke wissen wir, dass er 1917 für einige Monate in Böckel zu Gast war und dort eher verloren im Nebel umherspazierte, bedrängt von der Nässe und den schweren Böden. Sein Missbehagen hat Hertha Koenig gedauert und sehnlich hat sie sich gewünscht, er würde es mögen, ihr Land. Das Dunkle, Geheimnisvolle, das war es doch, was sie miteinander verband. Und als Rilke dann endlich einmal froh von einem Spaziergang heimkam, war sie selig.
Was OMG, wie Oskar Maria Graf von vielen genannt wurde, während langer Wochen in Böckel getan hätte, darüber können wir nur mutmaßen. Wahrscheinlich wäre er mit weit ausholenden Schritten bei jedem Wetter durch aufgeweichte Felder und Wiesen gewandert, zerfurcht im Gesicht von Seelenqualen aber für den Moment doch eins mit den Elementen. Ihn, den Erdverbundenen, hätte sie wohl eher belächelt. Ein schlichter, gewiss begabter und gewiss auch liebenswerter, aber eben doch recht sonderbarer Kauz. Das Zarte in ihm hat sie gesehen, aber nicht, was daraus entstand.
So hat sie womöglich auch den Gehalt des Eigenen nicht erkannt, als es entstand, viele Jahre nach den Blumengedichten. Die Texte, in denen sie mit lebhafter Komik und warmer Anteilnahme erzählt, die Lebenserinnerungen und der Roman Die lippische Rose, stammen aus dem Nachlass. Da hat Hertha Koenig, die einst in ihrer Münchner Zeit unter Künstlern und Literaten verkehrte und selbst keine Unbekannte war, sich längst auf ihr Gut zurückgezogen.
Dort lebt sie über lange Jahrzehnte, eine fast vergessene Dichterin, die wie viele ihrer Generation im Nachkriegsdeutschland kaum mehr Gehör findet. Eine Zeitlang kommen noch Gäste, auch namhafte von Heuss bis Heidegger, und danach empfindet sie die Stille in dem großen winterklammen Haus noch schmerzlicher als zuvor.
Gezeigt hat sie es nicht. Im Gegenteil, sie gilt als unnahbar, sei es aus Scheu, sei es aus Hochmut, gewachsen aus dem Gefühl des Unverstandenseins in ihrer Zeit. Es kränkt sie, dass man sie ignoriert. Und mehr noch, es empört sie. Denn schließlich, davon ist sie überzeugt, hat sie ihren Zeitgenossen etwas zu sagen, all jenen, die gewillt sind, bewährte Tugenden leichtfertig über Bord zu werfen. So ergreift sie denn auch das Wort, Anfang der fünfziger Jahre in ihrem eigenwilligen Monolog An Jedermann, zornig, verletzt, bisweilen amüsiert und ein wenig von oben herab kündet sie darin vom Wert des Herkömmlichen. Und man spürt, wie fern ihr die Gegenwart ist, schon damals, und dass sie den Wandel hin zum Neuen hin nicht mehr vollziehen wird.
Erst der Nachlass hat gezeigt, dass sie in all den darauf folgenden Jahren eine emsige Schreiberin geblieben ist, dass sie nicht aufgegeben, sondern immer neue Stoffe in Angriff genommen hat, obgleich nur noch wenige Texte den Weg in die Öffentlichkeit finden. Angesichts ihrer Fremdheit in der Gegenwart ist es nur konsequent, dass sie sich Vergangenem zuwendet, wobei ihre Erzählweise allerdings eine ganz andere ist als früher.
Die Dichterin, die zu Anfang des Jahrhunderts in einem dunkel drängenden Tonfall Blumen und Landschaften in gleichnishaften Bildern beschwor, schafft jetzt den Figuren ihrer Prosa einen realen Boden, ein solides Gerüst geschichtlicher Zusammenhänge. Und immer öfter entlehnt sie die Figuren selbst einer historisch verbürgten Vergangenheit, sei es im Zuckerkönig, in dem sie die Welt ihrer Vorfahren, vor allem die der Petersburger, auferstehen lässt, sei es in der Lippischen Rose, wo sich Handlungsrahmen und Schauplätze, Hauptpersonen und sogar manche der kleinen Nebenrollen mit Ereignissen und Personen aus der westfälischen Geschichte decken.
Die versunkenen Welten von einst, verfallen und von morbider Schönheit, sind einer realen Kulisse gewichen. Hertha Koenig verbringt viel Zeit in Archiven. Sie arbeitet, sie ist beschäftigt. Sie schreibt. Und sie erfindet. Die Fiktion beginnt dort, wo die Figuren zum Leben erwachen. Und dieses Leben ist prall gefüllt und erdverbunden, nicht ohne den Anklang zarter Töne und doch bar der melancholischen Firnis, die wir von früher kennen.
Womöglich hat Hertha Koenig sich in dieser Art zu erzählen selbst nicht ganz ernst genommen. Sie hat den hehren Anspruch fahren lassen, so war sie frei und konnte aus dem Vollen schöpfen, schlagfertig, erfinderisch, keck. Wie das Kind aus den Erinnerungen, das nicht immer nur Herbstkind war, kommt in manchen der späten Texte eine Person zu Wort, die nicht länger dem raunenden Locken einer düsteren Landschaft huldigt, sondern amüsiert die üppigen Ausschweifungen und das hanebüchene höfische Gebaren in der westfälischen Provinz des frühen achtzehnten Jahrhunderts lebendig werden lässt.
Im eigenen Leben hat sie nicht geprasst. Das eigene Leben blieb still und trotz der materiellen Ausstattung auf seine Weise bescheiden. Sicher, Hertha Koenig hat viele Menschen gekannt, hat mit namhaften Zeitgenossen korrespondiert, ist ihnen begegnet, hat sie eingeladen, hat sie gefördert, ihr geistiger Austausch war vielfältig und rege, aber im Innersten blieb sie für sich. Beherrscht und beherrschend. Böckel war ein großer Betrieb, sie hielt die Zügel fest in der Hand. Und nicht umsonst hat sie wohl der einstigen Mamsell, die in ihrer Kindheit über das Wirtschaftsgebäude herrschte, in den Erinnerungen eine Art Denkmal gesetzt.
Die stattliche Helene, halb Feldherr, halb Furie, führte ein eisernes Regiment, kommandierte die Mädchen, die vor ihr zitterten, und an manchen Tagen traute sich nicht einmal die Mutter in die Küche. In Helenes Stube hingegen war es „still und feierlich“, und dort hat das Kind Hertha Koenig sie besucht: „Bei solchen Sonntagnachmittagbesuchen empfand ich dumpf die verborgene Innigkeit dieser einsamen, stolzen Helene, von der außer mir vielleicht niemand etwas ahnen durfte …“ Als sie das schrieb, war sie eine alte Frau, die im Rückblick in der „verborgenen Innigkeit“ der stolzen Helene wohl auch etwas von sich selbst erkannte.
Und dann später, als sie die meisten ihrer Generation überlebt hat und so auch die lebhafte Korrespondenz zum Erliegen kam, war sie allein mit Maria. Das Fräulein Maria, Maria Schiffmann, Haushälterin und Vertraute, der einzige Mensch der sie beinahe ein Leben lang begleitet hat.
Maria kam als junges Mädchen, treuherzig und eifrig und fromm, aus Bayern nach Böckel, las in den Nächten bei Kerzenschein, während die anderen Dienstmädchen sich vergnügten oder schliefen, übernahm Verantwortung und stieg schon bald in der Hierarchie der Gutsküche auf. Das wird Hertha Koenig gefallen haben. Und Maria blieb, heiratete nicht, zog nicht fort, begleitete sie bis zu ihrem Tod und starb selbst wenige Wochen darauf.
Noch einmal wiederholt sich das Muster. Die Rollenverteilung ist durch Stand und Herkunft festgelegt, und innerhalb des vorgegebenen Rahmens gelingt ein Miteinander. Die Spielregeln waren die herkömmlichen, die Form blieb gewahrt, aber im Alter werden das Fräulein und die Gutsfrau Wege gefunden haben, um manche Distanz zu überwinden.
Am Ende waren sie einander unentbehrlich, denn am Ende haben sie alles geteilt – die Abgeschiedenheit, das Gleichmaß der Tage, der Wochen, der Jahreszeiten, die Winterstürme, die klamme Kälte, die langen Stunden der Dunkelheit. Und dann wieder die warmen Winde, die sommerliche Sanftmut des Landes, die zögerlich steifen Schritte hinaus ins Licht. Wie oft noch. Und wie lange schon. In der steten Wiederholung verlieren die Bilder an Schärfe. Die Konturen verschwimmen. Irgendwo dort verliert sich die Spur.
Stefanie Viereck
Auftakt
Im Herbst des Kriegsjahres 1940 fand sich der Brief eines Herrn Eduard Strasdowski unter meiner Gutspost, mit der Bitte, sein gestriges Reiseerlebnis mitteilen zu dürfen.
„… Als Flüchtling in ein Altersheim nahe Osnabrück verschlagen, saß ich im Vorortzug. Mein Gegenüber redete mich an und erkundigte sich mit hartnäckiger Ausdauer nach meinem Woher: ein kleiner Herr mit dünner Stimme, den das Übertönen des Zuggeräusches Anstrengung kostete.
‚Sie stammen?‘
‚Aus dem Baltikum.‘
‚Ihr Beruf?‘
‚Landwirt.‘
‚Wo haben Sie gearbeitet?‘
‚In der russischen Ukraine.‘
‚Welche Gegend?‘
‚Gouvernement Charkow.‘
‚Wie hieß Ihr Herr?‘
‚Koenig.‘
Da horchte jemand aus der anderen Ecke auf Ein korpulenter Mann erhob sich, um näher an uns heranzurücken, und sagte: ‚Hier sind auch Koenigs.‘ Mein Gegenüber lachte auf und meinte, in Hamburg stehe dieser Name an jedem sechsten Haus.
Ich erklärte: ‚Die Meinen waren von deutscher Abstammung, hatten jedoch zwei Generationen in Russland gelebt.‘ – ‚Ja, ja‘, accordierte der andere, ‚das hier sind auch solche Koenigs.‘ Da der Zug in die Station einfuhr, bat ich schnell um den Wohnort. Ein Gut nahe der Stadt B…“
Ich musste dem Schreiber auf seine Fragen antworten, dass von der vorigen Generation der Koenigs niemand mehr lebe. Es würde mir jedoch eine Freude sein, ihn bei mir zu begrüßen. Und eines Nachmittags stand ich der Hünengestalt meines unbekannten Gastes gegenüber. Er war damals hoch in den Siebzigern, aber beweglich, wie von einem inneren Feuer jugendlich wachgehalten. Bald wurde er durch seine angenehme Art der Unterhaltung der Mittelpunkt unseres kleinen Kreises: Einige Flüchtlinge und Verwandte hatten sich zusammengefunden, die gleich ihm aus der Heimat vertrieben worden waren. Nur beiläufig erwähnte er das schöne Haus in Libau, das sein Vater, der Baumeister, ihm und seiner Frau errichtet hatte, aus dem sie dann mit nichts als einem Rucksack gen Westen fliehen mussten. Seine Gedanken waren dort nicht hängen geblieben. Sie hatten immer ein weites Feld vor sich, das, von Vergangenheit und Zukunft nicht abhängig, ihm unverlierbar gehörte.
Die Herbstabende wurden länger. Wir warteten ungeduldig auf den Augenblick nach dem Abendessen, da man sich zusammensetzte und seiner wohlklingenden Stimme zuhörte. Er hatte schon manches Erlebnis aus Südrussland erwähnt. Nun bat ich: „Erzählen Sie uns mehr von der Zeit bei meinem Großvater.“ – „Ja, vom Zuckerkönig“, stimmten die anderen bei. Er legte sinnend die Hand ans Kinn. Ein kleines verneinendes Kopfschütteln: „Warten wir noch damit. Ich möchte vorher die Bände über sein Lebenswerk durchlesen, die ich hier in der Bibliothek fand. Dann wird mir alles von früher ins Gedächtnis kommen, und ich kann Ihnen genauer berichten.“
Da er unsere Enttäuschung bemerkte, sagte er:
„Ich werde Ihnen inzwischen aus dem Leben meiner eigenen Vorfahren mitteilen, wenn Sie daran Gefallen finden. Manche Einzelheit wird mir zwar entfallen sein. Man war noch ein Kind, als die Verwandten im Elternhaus von diesen Dingen erzählten; man hörte nur mit halbem Ohre zu. Weil sie aber immer wieder darauf zurückkamen, ist doch einiges haften geblieben …“