Das Echo vergangener Gewitter hing in der Luft, jener eigenartige, für den Norden so typische Wechsel von atemloser Stille und unberechenbarer Tobsucht der Elemente. In einem Augenblick tanzten Windböen über die Gräser der Ebene, im nächsten versank die Landschaft in andachtsvoller Stille.
Zum ersten Mal erlebte Aura, dass ihr die Magie der Moorwiesen den Atem verschlug. Während die Kutsche dem weiß-gelben Wall der Dünen entgegenschaukelte, stob im Osten ein Vogelschwarm auf, eine düstere Woge, die sich am Himmel verlor, als entzöge die Natur dem Land einen Schatten, den eine vorbeieilende Wolke in der leeren Weite verloren hatte.
Der Horizont schien sich zu verschieben, weiter und weiter fortzurücken, wie eine Luftspiegelung. Aura wusste, dass es nur ihre Ungeduld war, die die Entfernung dehnte. Das Gefühl, wieder nach Hause zu kommen, war herrlich und verstörend zugleich; verstörend wegen der Ungewissheit, was sie dort erwartete.
Vom Kutscher hatten sie und Sylvette erfahren, dass es in den vergangenen Wochen zu allerlei Seltsamkeiten im Schloss gekommen war. Erst habe die Herrin die gesamte Dienerschaft entlassen; dann sei ein sonderbarer alter Mann aufgetaucht, der den Arzt zum Strand rief, wo ein anderer alter Mann verletzt an Bord eines Ruderbootes lag; bald darauf habe sich herumgesprochen, dass Charlotte Institoris von schwerer Krankheit gezeichnet sei, erblindet und ans Bett gefesselt; und zugleich seien mit Ausnahme Jakobs alle Diener wieder eingestellt worden, von einem Mann, der offenbar das Vertrauen der Schlossherrin besaß und in ihrem Namen handelte. Aura wollte sich den Mann beschreiben lassen, doch der Kutscher wusste wenig über sein Äußeres, hatte ihn selbst nie gesehen.
Ob er etwas über das Befinden der Kinder gehört habe, fragte sie besorgt, worauf der Kutscher zu ihrer Erleichterung erklärte, er habe in der Schänke reden hören, dass der Dorflehrer seine täglichen Überfahrten zum Schloss wieder angetreten habe; demnach müsse mit den Kindern wohl alles in Ordnung sein. Überhaupt seien die beiden ja für einige Zeit fort gewesen und erst vor neun oder zehn Tagen zurückgekehrt. Sein Schwager habe die Fuhre zum Schloss erledigt, erzählte der Kutscher redselig, und dabei hätten die Kleinen einen fröhlichen, sogar ausgelassenen Eindruck gemacht. Der Mann, der die Geschäfte auf der Insel übernommen habe, sei bei ihnen gewesen.
Aura und Sylvette warfen einander einen Blick zu. Wer immer der geheimnisvolle Fremde war, mit Gian und Tess schien er es gut zu meinen.
Und Morgantus?
Endlich rückte der Sandwall jenseits des Graslandes näher, und als sie ihn passierten, breitete sich vor ihnen das sanft gewellte Dünenmeer aus. Ein letzter Sandhügel versperrte ihnen die Sicht auf das Schloss.
»Liebe Güte!«, rief Sylvette plötzlich aus. »Kutscher, halten Sie an!«
»Was ist los?« Aura suchte im Gesicht ihrer Schwester nach einer Antwort, bis Sylvette den Arm ausstreckte und rief: »Sieh doch, da oben!« Und im selben Augenblick sprang sie bereits vom ausrollenden Wagen und landete stolpernd im Sand.
Hinter dem Dünenkamm waren zwei dunkle Punkte erschienen. Jetzt wuchsen sie empor, zwei kleine Körper kamen zum Vorschein, stürmten über die Kuppe und den Hang herab. Tess trug ein weißes Kleidchen, Gian seine durchgescheuerte Lieblingshose – er zog sie jeden Tag an, wenn niemand darauf achtgab.
Sylvette eilte Tess entgegen, kämpfte gegen weiche Sandverwerfungen an, rief jubelnd den Namen ihrer Tochter. Und Tess strahlte vor Glück, als Sylvette sie in die Arme nahm.
Auch Aura war vom Wagen gesprungen, stimmte in Gians Gelächter ein und drückte ihn an sich, so fest sie nur konnte, während der Kutscher dasaß, Kautabak kaute und das unverhoffte Wiedersehen mit gutmütigem Lächeln beobachtete.
Aura hob Gian in die Luft, drehte sich mit ihm um die eigene Achse, presste sein Gesicht an ihre Schulter und fühlte seine warmen Tränen an ihrem Hals. Die Anstrengung der Reise fiel von ihr ab. Ganz gleich, was sie im Schloss erwarten mochte – in diesem Moment war sie überzeugt, es würde sich auf die eine oder andere Weise zum Guten wenden.
Gian löste sich schließlich von ihr, und da fiel ihr Blick zum ersten Mal auf eine Silhouette, die sich oberhalb der Düne vom Himmel abhob. Die Gestalt bemerkte, dass Aura sie entdeckt hatte, und setzte sich in Bewegung. Mit weiten Schritten stapfte der Mann den Hang herab.
Als er ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte, erkannte sie ihn. Es war gut, dass Gian in diesem Augenblick ihre Hand hielt; es war gut, dass da etwas war, das ihr sagte: Dies ist die Wirklichkeit! Hier, du kannst meine Finger fühlen, meine Hand! Egal, was du auch denkst, es ist kein Traum!
Später machten sich Aura und Sylvette auf einen Weg, den sie allein gehen mussten. Ohne Gillian und ohne die Kinder. Nur sie beide, Schwestern, Töchter, allein auf einem langen Flur im Schein fahler Gaslampen.
Sylvette klopfte sachte an die Tür, doch niemand bat sie herein. Da legte Aura entschlossen die Hand auf die Klinke und öffnete. Ein strenger Geruch drang ihnen entgegen, der Odem von Alter und Schmerz. Aura kämpfte ihre Übelkeit nieder.
Eine weiße Binde bedeckte Charlottes Augen. Ihr einstmals schwarzes, volles Haar war grau und spärlich geworden. Sie lag in ihrem Bett, eine Erhebung unter der weißen Decke, ein zerklüfteter Hügel in einer unberührten Schneelandschaft.
»Mutter«, flüsterte Aura sanft, setzte sich auf die rechte Bettkante und ergriff zaghaft Charlottes Hand. Mit einem Mal wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Die spontane Nähe, auf die sie vertraut hatte, wollte sich nicht einstellen. »Ich bin zurück«, sagte sie nur, kurz und einfallslos, und rang mit ihren Schuldgefühlen.
Charlottes Lippen bebten. »Hast du Sylvette mitgebracht?« Ein halblautes Krächzen, wie das Knirschen von Sand in einem Zahnradgetriebe.
»Ja, Mutter, ich bin hier«, sagte Sylvette. »Ich bin bei dir.« Sie nahm auf der anderen Seite des Bettes Platz, streichelte vorsichtig über die dünnen Haarsträhnen und küsste eine trockene, eingefallene Wange.
Charlotte schwieg, nur ihre Mundwinkel zuckten. Da begriff Aura, dass ihre Mutter weinte. Sie konnten es nur nicht sehen, weil die Augenbinde ihre Tränen auffing.
Aura blieb still und überließ ihrer Schwester das Reden. Sylvette machte das sehr gut, erzählte nette, harmlose Dinge, sprach gütig und einfühlsam, und Aura beneidete sie einen Moment lang um diese Gabe; sie selbst war nicht fähig dazu, war es auch früher nie gewesen. Sylvette aber legte eine Liebe in ihre Stimme, die den Groll zwischen Aura und Charlotte aufwog. Aura fühlte, dass es unnötig war, noch länger zu bleiben. Was ihre Mutter jetzt brauchte, konnte allein Sylvette ihr geben.
Sie erhob sich, nickte ihrer Schwester aufmunternd zu und erkannte an ihrem Lächeln, dass sie verstand, was in Aura vorging. Sylvettes Blicke folgten ihr auf dem Weg zur Tür, während ihr Rosenblütenmund weiter auf Charlotte einsprach, zärtlich, freundlich, sanft.
Aura verließ das Zimmer ohne einen Laut, zog leise die Tür hinter sich zu. Sie nahm keinen Abschied von ihrer Mutter. Eine Tragödie, vielleicht, wenn auch nur schmerzlich in ihrer Banalität.
Sie fand Gillian auf dem Dachboden. Draußen war es dunkel geworden. Sterne flimmerten in der Finsternis, mal heller, mal dunkler. Er stand unter der Glasschräge, blickte über die Zypressen hinaus in die Nacht.
Die Relieftür war weit geöffnet. Aura hatte den Schlüssel ins Meer geworfen. Die Geschichte des Schlosses war jetzt eins mit seinen Bewohnern, die Bewohner Teil seiner Geschichte. Das Gemäuer, der Dachgarten, die Alchimie und Aura – alles eins. Glieder eines Ganzen, die sich bedingten, einander endlich akzeptierten.
So also, dachte sie, sterben Geheimnisse.
Sie nahm Gillian bei der Hand, begegnete seinen weisen, schönen Augen. Dann führte sie ihn ins Unterholz. Die Palmwedel und Zweige zitterten leise.
Auf Nestors Grab saß ein Pelikan. Er stakste würdevoll zur Seite, als Aura in die Knie ging und mit den Händen das Unkraut teilte. »Schau«, flüsterte sie Gillian zu, »ich will dir etwas zeigen.«
Und während er sich neben sie hockte und sah, was sie meinte, blickte Aura an ihm vorbei in den Nachthimmel. Ihr Gesicht spiegelte sich klein und verloren im Glas des Daches, schwebte hell inmitten der Unendlichkeit.
»All die Sterne«, sagte sie leise und dachte dabei:
Ich glaube, sie reden gerade über uns.
Die Vorstellung, das Blut von Jungfrauen beinhalte den Schlüssel zum ewigen Leben, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Als Motiv begegnet sie uns in Märchen und Sagen, in alchimistischen Überlieferungen und »wissenschaftlichen« Untersuchungen des Mittelalters.
Der Erste, der Alchimie und den Stein der Weisen nachweislich mit Inzest in Verbindung brachte, war Michael Majer, der Leibarzt des deutschen Kaisers Rudolf II. Seine Abhandlungen, etwa die Atalanta Fugiens, wurden im 17. Jahrhundert in Buchform veröffentlicht. Es heißt, spätere Alchimisten-Generationen hätten seine (gewiss rein esoterisch zu verstehenden) Theorien lange Zeit für bare Münze genommen.
Die Beschreibung der Pflanze namens Als-Greis-wird-der-Mensch-wieder-jung findet sich in einem Abschnitt des Gilgamesch-Epos. Die bekannteste Überlieferung dieser Sage aus dem 3. Jahrtausend vor Christus wurde auf zwölf Schrifttafeln festgehalten, die zur Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal gehörten.
Die Legenden, aber auch die Tatsachenberichte rund um den Orden der Tempelritter füllen zahllose Bücher. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass sich in der Tat eine Zeit lang die Vermutung hielt, die restlichen Mitglieder des Ordens hätten sich in ein geheimes Hauptquartier im Kaukasus zurückgezogen. Die Vorliebe der Templer für achteckige Architekturgrundrisse ist durch ihre Bauten in Europa und im Orient vielfach dokumentiert. Die meisten Vorwürfe aber, die den Ordensbrüdern im Mittelalter gemacht wurden, sind aus heutiger Sicht unhaltbar. Allzu schnell wurde die in Klöstern nicht unübliche Homosexualität mit satanischen Riten in Verbindung gebracht, allzu häufig Aussagen, die unter der Folter erzwungen waren, im Sinne der Hexenjäger interpretiert.
Das Théâtre du Grand Guignol befand sich tatsächlich von 1898 bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts am Ende der Rue Chaptal in Paris. Seine extravagant-blutigen Aufführungen waren damals Tagesgespräch, gerieten aber schon bald nach Schließung des Theaters in Vergessenheit. Heutzutage erinnert man sich nur noch in Fachkreisen teils schmunzelnd, teils naserümpfend an die Exzesse des Max Maurey und seiner Truppe.
Swanetien ist bis heute eine nahezu unbekannte, in Teilen sogar unerforschte Landschaft geblieben. Seit der Antike liegt diese gebirgige Region Georgiens im Brennpunkt mannigfaltiger Kriegswirren. Gottfried Merzbacher (1843-1926) war der erste Forscher, der seine Erfahrungen im Kaukasus niederschrieb und dabei das kleine, scheinbar so unbedeutende Swanetien erwähnte. In den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts machte sich ein deutsches Fernsehteam auf, Merzbachers Spuren zu folgen. Die Journalisten stießen auf eine Kultur, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hatte.
Während meiner Recherchen stützte ich mich vor allem auf Sekundärtexte der folgenden Autoren: Helmut Gebelein, Allison Coudert, Alexander Roob, Gérard de Séde, Alain Demurger, Berndt Anwander, Karin Kersten & Caroline Neubaur, René Berton, Bogislav von Archenholz und Tina Radke-Gerlach. Ihre Arbeiten – über die Alchimie im Allgemeinen, den Orden der Tempelritter, das unterirdische Wien, das Grand Guignol, die Geschichte der Ostsee und das vergessene Swanetien – waren unschätzbare Grundlagen für meine eigenen Nachforschungen.
Zuletzt der Pelikan: Er ist seit jeher ein Symbol für den Stein der Weisen. Lange Zeit glaubten die Menschen, Pelikane ernährten ihre Jungen mit dem eigenen Blut, was dem Bild der Alchimie von einem Elixier entspricht, das seine Kraft allein aus sich selbst entwickelt. Tatsächlich würgen Pelikane die Nahrung für ihre Nachkommen aus ihren Futtersäcken herauf, was zu der falschen Annahme führte, die Tiere pickten sich die eigene Brust auf. In vielerlei Hinsicht weist dies auf das grundsätzliche Problem aller Alchimisten hin: Das Profane mag magisch erscheinen, doch wer es seziert, zerstört als Erstes die Äußerlichkeiten und damit den Anschein aller Magie.
Kai Meyer, März 1997/
Januar 2011
Woher nehmen Sie Ihre Ideen? Diese Frage wird Autoren immer wieder gestellt. Dabei ist die Antwort auf die Herkunft von Ideen knifflig. Manche entstehen aus dem Nichts, andere wachsen langsam – und immer wieder verändern sie sich vom ersten Gedanken bis zum fertigen Roman. Dieser komplexe Prozess lässt sich anhand von Kai Meyers Aufzeichnungen nachvollziehen, die während seiner Arbeit an Die Alchimistin entstanden. Vierzehn Jahre lang lag das Material in seinem Archiv und wurde jetzt erstmals gesichtet. Aus den Unterlagen ergeben sich drei Stufen der Romanentstehung; ein Vergleich dieser Arbeitsschritte von der ersten Notiz bis zum gedruckten Buch zeigt, wie Ideen entstehen, sich entwickeln und schließlich ihre endgültige Form erhalten.
Die erste schriftliche Quelle ist ein sechzehn Blatt umfassender Teil eines linierten A5-Heftes. Von Seite zu Seite dieser handschriftlichen Ideensammlung verdichtet sich die Handlung: von grundlegenden Gedanken über die Alchimie und deren historischen Vertretern über erste Handlungsstränge bis zu Inhalten wichtiger Dialoge. Dazwischen kurze Hinweise, die wie plötzliche Einfälle auf die Seiten gepurzelt sind: über das Grand Guignol, Swanetien mit der Verbindung zum Mythos um das Goldene Vlies, die Wiener Katakomben. Auf der allerersten Seite finden sich Notizen über Paracelsus und den Alchimisten Alexander Seton, die es nie in den Roman geschafft haben.
Als zweiter Schritt der Romanentwicklung dient das offizielle Exposé, das auf Februar 1996 datiert ist. Es beinhaltet den groben Handlungsablauf, Szene für Szene, und skizziert die Figuren und Themen. Es entstand, bevor es an das eigentliche Verfassen des Romans ging und diente beim Schreiben als Grundgerüst. Auf sechsundzwanzig eng beschriebenen A4-Seiten entfaltet sich ein Überblick über Auras Geschichte, wobei etliche Randbemerkungen und Umstellungen der Kapitel die stete Arbeit daran erkennen lassen.
Teil des Exposés ist zudem eine Skizze Meyers vom Inselanwesen der Institoris’ und einige einzelne Blätter, auf denen wichtige Hintergründe zur verwickelten Handlung vermerkt und ein neu verfasstes Finale skizziert sind.
Der Roman Die Alchimistin besaß in der Planungsphase drei Akte. Der dritte Teil wurde zwar in das Exposé aufgenommen, aber niemals für den Roman ausformuliert. Stattdessen schließt das Buch mit dem zweiten Teil, der Auras Erlebnisse in den Jahren 1914/15 erzählt, und der entscheidenden Konfrontation in Swanetien ab. Die Stränge dieses Finales wurden im Exposé nicht ausformuliert, sondern auf einem einzelnen Blatt handschriftlich skizziert. Kai Meyer meint über den nie verwirklichten dritten Akt: »Die Geschichte war in der ersten Fassung des Exposés um einiges länger. Das Buch bestand aus drei Teilen statt aus zwei, es gab einen weiteren Zeitsprung nach Auras Rückkehr zum Schloss. Der war deutlich größer als der erste und reichte bis zum Nationalsozialismus. Mein Agent Michael Meller hat mir das damals ausgeredet, und das war auch gut so, das jetzige Ende des Buchs ist genau das richtige. Als ich mich nach drei oder vier Jahren an den zweiten Band gesetzt habe, habe ich das, was vom ersten Exposé übrig war, noch einmal durchgesehen und beschlossen, nichts davon zu benutzen. Nicht wegen des politischen Hintergrunds – ich bin nach wie vor der Meinung, dass man auch unpolitische Geschichten erzählen darf, die im Dritten Reich angesiedelt sind –, sondern weil der Sprung dorthin zu groß war und Aura in diesen dreißig, fünfunddreißig Jahren einfach zu viel erlebt hätte, um es in ein paar kurzen Rückblenden zu erzählen. Hinzu kam, dass damals alle paar Jahre in Europa eine neue dramatische Situation entstand, alles schien ständig im Wandel zu sein, und ich fand es spannend, die zweite große Episode in Auras Leben parallel zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs stattfinden zu lassen.«
Von dem geplanten, aber nicht ausgeführten letzten Akt existiert nur noch eine fünfseitige Stichpunktsammlung in den Notizen. Darin findet sich zwischen den Aufzeichnungen zum Okkultismus im Nationalsozialismus und dem Einbinden der bisherigen Charaktere ein Hinweis auf Rudolf Steiners Anthroposophen – ein Thema, das Kai Meyer in seinem 2002 erschienenen Roman Das Zweite Gesicht aufgreift. Auch andere Notizen blieben für den Roman ungenutzt, darunter ein Charakter namens Leander Nadeltanz, der aus dem früheren Buch Der Schattenesser stammt; ein Auftritt in Die Alchimistin war angedacht, wurde dann aber verworfen. Und erst vierzehn Jahre später macht Rosa Alcantara, die Protagonistin der Arkadien-Reihe, Bekanntschaft mit folgendem Begriff:
»Tabula Smaragdina« des Hermes Trismegistos (Lehrsätze der Alchimie).
Auf dem Deckblatt des Exposés heißt der Roman Aura (Arbeitstitel), der Untertitel verspricht Eine historische Familiensaga um Mord, Magie und Alchimie. Dazwischen prangt in Rot der handschriftliche Vermerk: Alternativ: DIE ALCHIMISTIN. Der Roman hat hier den Fixpunkt in seiner Protagonistin gefunden. Aus den Notizen ist erkennbar, dass dies zu Beginn nicht der Fall war, denn zunächst sollte der Held ein anderer sein:
»Beginnt mit jungem Deutschen (evtl. Ich-Erzähler) aus dem Surrealisten-Zirkel um Breton. Macht sich auf Spurensuche nach den alchimistischen Wurzeln seiner Familie: Stößt auf unsterblichen Verwandten → Antagonist«
Die Idee, einen Charakter im Surrealistenkreis um den französischen Theoretiker André Breton anzusiedeln, hat die ersten Seiten des Notizblockes nicht überlebt.
Als erste greifbare Figur entsteht in den Notizen Nestor Nepomuk Institoris, als Antagonist und Unsterblicher, wobei die Verwicklungen der insgesamt drei Antagonisten untereinander bis zum endgültigen Roman immer ausgefeilter werden. So gibt es in den Notizen zunächst nur Nestor und Lysander als unsterbliche Gegenspieler. Erst im Exposé kommt Morgantus hinzu; als Lysanders Meister ist er mit ihm auf der Suche nach dem Gilgameschkraut, das hier noch ewige Jugend – und nicht nur, wie im Roman, ewiges Leben – schenkt.
Nestor wird zunächst in der Geschichte der Alchimie verankert, indem er als Schüler des berühmten historischen Alchimisten Nicolas Flamel (etwa 1330-1413/18) bezeichnet wird. Zudem verfügt er im Frühstadium der Geschichte über eine bemerkenswerte alchimistische Eigenschaft:
»Nestor »belebt« alles, wenn er spricht (z. B. »Seele« der Steine, »Geburt« des Goldes etc.) → üblich für Alchimisten«
Durch das Erscheinen von Morgantus wird Flamel als Nestors Meister jedoch hinfällig.
Die Notizen geben der Entwicklung der Antagonisten zunächst mehr Raum als den Protagonisten, ein wichtiger Entwicklungsansatz ist hier bereits ausformuliert:
»Alle Antagonisten leiden, werden dadurch im Laufe der Handlung selbst zu Opfern u./o. sympathischen Figuren«
»Antagonist in Gegenwart Bösewicht, in Vergangenheit aber Opfer«
Besonders Nestors Entwicklung wird hier vorweggenommen, wie die späteren Rückblenden der Kinder in seine Entwicklung zeigen. Zunächst aber beginnt das Exposé damit, ihn als Feind seiner eigenen Familie einzuführen:
»Norddeutschland im Jahre 1897, im abgelegenen Landschloss der Familie Institoris: »Vater hasst dich! Vater hasst uns alle!«, ruft die kleine Sylvette Institoris (10) aus, als eine Kutsche den Waisenjungen Christopher (17) vor dem Schloss absetzt.«
Nestor wandelt sich vom Despoten zum Opfer seiner Bemühungen und bringt im selben Moment den eigentlichen Feind zum Vorschein: Morgantus, der im Hintergrund die Fäden zieht. Im Exposé ist er mit Lysander verbündet und erscheint zeitweise wie dessen Handlanger, im Roman spielt er als Meister die anderen beiden gegeneinander aus. Die ursprüngliche Einzelfigur ist bis zum Roman in drei Charaktere zerfallen.
Schloss Institoris befindet sich laut Exposé in Norddeutschland und wird mit einer Kutsche angefahren; erst im Roman ist der Standort in die Ostsee verlegt worden. In seiner Skizze verweist Kai Meyer auf das Gemälde Die Toteninsel von Arnold Böcklin als Vorlage. Im Roman begründet Lysander den Bezug:
»Ich ließ es vor beinahe siebzehn Jahren in Florenz anfertigen, von einem Schweizer namens Böcklin (…) Die Gräfin beschrieb Böcklin das Motiv entsprechend meinen Wünschen, und er fertigte daraufhin dieses wunderbare Gemälde an. Ein Meisterstück, ohne Zweifel. Ich ließ ihm meine Bitte ausrichten, es Die Toteninsel zu nennen. (…) Die Toteninsel – der Name sagt eigentlich alles, nicht wahr?« Lysander lachte leise und führte den Pinsel erneut in kühnem Schwung über die Leinwand. »Diese Insel, mein Lieber, ist mehr oder minder das Abbild eines tatsächlichen Ortes, hoch oben im Norden Preußens.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Zwei weitere Schauplätze haben ihre Örtlichkeiten während des Schreibprozesses geändert. So heißt es im Exposé:
»Gillian (30), ein Hermaphrodit, betritt das prunkvolle Palais des geheimnisvollen Lysander.«
Erst handschriftliche Randbemerkungen in der Handlungsskizze verlegen Lysanders Aufenthaltsort in die Kellerlabyrinthe der Hofburg und greifen so einen Notizverweis auf die Wiener Katakomben auf. Auch die Fettfischer nehmen erst zwischen den Anmerkungen im Exposé und dem Roman Form an. Im Handlungsabriss sind es noch Lysanders Handlanger, die Gillian und die drei Stiefgeschwister aus dem Hotel entführen und in das Palais bringen.
Ein weiterer Ortswechsel betrifft Nestors Garten. In den ersten Notizen heißt es:
»Geheimnis nicht in Kellern etc. des Anwesens, sondern im Garten.«
Die Abkehr vom Klischee der dunklen Keller, in denen sich Familiengeheimnisse stapeln, wird in Exposé und Roman verschärft, wenn der Garten auf dem Dach des Hauses platziert wird. So lebt die Familie nicht auf ihren Geheimnissen, sondern unter ihnen. Die symbolische Basis wird zum bedrohlichen Mantel über dem Schloss Institoris und dessen Bewohnern.
Christophers Charakterisierung beginnt bereits früh in den Notizen:
»Junger Waise (♂) wird von reicher Frau ins Haus genommen. Man glaubt erst, er sei Held, er verfällt aber dem »Bösen«.
Für die Charakterisierung Christophers griff Kai Meyer eine Idee auf, die er für seine frühe Geschichte Das Haus des Kuckucks entwickelt hatte. Dazu vermerkte er im Vorwort zu dieser Novelle:
»Leser meines neuen Romans DIE ALCHIMISTIN werden bemerken, dass ich den Aufhänger der Novelle – ein Waisenjunge wird in den Haushalt einer reichen Familie aufgenommen und verbreitet Unheil – darin noch einmal aufgegriffen habe. Sogar der Name dieser Figur, Christopher, ist derselbe geblieben.« (Kai Meyer, Einleitung. In: Giebelschatten. Novellen. Kerpen 1998, S. 10.)
Während der ursprüngliche Christopher in Das Haus des Kuckucks das Übel in Form charakterlicher Schwäche mit ins Haus bringt, wird es in Die Alchimistin vor allem durch den Kontakt zu Nestor heraufbeschworen, wie Meyer in den Notizen vermerkte:
»Christophers erster Auftrag: Er darf Nestors alchimistisches Feuer nicht verlöschen lassen. Muss nicht mehr zum Schulunterricht, ist nur noch bei Nestor. (Konflikt im Haus mit anderen)«
Im Roman braucht es den Schulunterricht nicht, um eine angespannte Situation im Hause Institoris zu konstruieren. So ist auch eine andere Problematik im Roman nicht mehr vonnöten: Der Streit um Auras Zimmer. In den Notizen steht dazu:
»Konflikt: Darf Christopher Auras Zimmer beziehen? Anfangs undenkbar, später stimmt Charlotte zu (von Christopher manipuliert)«
Was hier noch Christophers Machtübernahme im Schloss illustrieren soll, wird im Exposé genutzt, um Nestors Absichten anzudeuten:
»Nestor macht alles nur noch schlimmer, indem er scheinbar gedankenlos erwähnt, Christopher könne doch Auras Zimmer beziehen, wenn sie ins Internat fahre. (…) (Was der Leser noch nicht weiß und erst viel später erfahren wird: Nestor ist keineswegs der harmlose Kauz, als der er sich ausgibt. Tatsächlich versucht er ganz bewusst, Christopher und Aura gegeneinander aufzuhetzen. (…)«
Christophers charakterlicher Verfall schwankt in den einzelnen Stufen der Romanentstehung. Zunächst wird er als Assistent Nestors und Spion Lysanders entworfen, dessen einziges Begehren die Unsterblichkeit ist:
»Christopher assistiert Nestor → zwecklos. Wird dann zum Spion für Lysander, im Austausch gegen Rezept.«
Im Exposé ist er zwar bereits als liebevoller Bruder Sylvettes erkennbar, jedoch bleibt er bei Nestors Ermordung passiv, da er seinen eigenen Vorteil wittert:
»Der Seemann hat ein neues Rad.«, versteht Christopher, während er aus einem Versteck tatenlos zusieht, wie der Fremde Nestor tötet. Christopher hat einen Grund, nicht einzugreifen: Er ahnt, woran Nestor forschte und hofft, selbst hinter das Geheimnis der Unsterblichkeit zu kommen. Die Gier danach vergiftet sein Denken, seinen Charakter.«
Im Roman ist Christophers Wandlung schleichender, er ist unbeabsichtigt tatenloser Zeuge des Mordes an Nestor, weil ihn der Schock und seine Allergie am Einschreiten hindern:
»Christopher stand wie erstarrt an der Tür. Der Geruch des Buchbinderleims lag schwer auf seiner Brust, er keuchte, dann überkam ihn ein entsetzlicher Hustenanfall. Er konnte nicht anders, er musste die Tür schließen. Musste … sie … schließen.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Die Allergie ist eine Eigenart Christophers, die erstmalig in den handschriftlichen Randnotizen des Exposés zu finden ist, genauso wie Daniels verbundene Handgelenke, Charlottes Muschelmarotte und die Übelkeit erregende Wirkung des Gilgameschkrauts bei der Anwesenheit alter Menschen. Sie quetschen sich zwischen Hinweise auf Werke, aus denen Kai Meyer Stimmungen oder Bilder übernahm. So verweist er auf die unheimlichen Landschaften aus Edgar Allan Poes Der Untergang des Hauses Usher und E. T. A. Hoffmanns Das Majorat sowie auf Abbildungen in Alison Couderts Sekundärwerk Der Stein der Weisen, die als Vorlage für die Fenster im Schloss dienten. Ebenso sind Auras Ohrringe und ihre abgekauten Fingernägel als Randnotizen auszumachen. Letztere Eigenart übernahm Meyer auch für Rosa Alcantara in den Arkadien-Romanen als nervösen Spleen; Rosas charakterliche Verwandtschaft mit Aura hat er später in Interviews häufig erwähnt. So überrascht es kaum, dass Aura in Arkadien brennt einen kurzen Gastauftritt absolviert.
Eine weitere Eigenart taucht in den Notizen auf, noch bevor Aura ihren Namen erhält:
»Vater (o. ä.) erzählt Tochter von Piercing-Sitten der Afrikaner. Später, in Stress-Situation, beginnt sie, sich selbst zu piercen, immer mehr und mehr.«
Im Roman sind Auras Piercings kein Ausdruck von Stress, sondern von Trotz:
»Goldene Ringe glitzerten längs der Innenseiten ihrer Schenkel, auf jeder Seite neunzehn. (…) Es tat nicht so weh, wie sie erwartet hatte, aber das scharfe Ziehen genügte, um sie an die achtunddreißig Monate zu erinnern, die ihr bevorstanden. Ihre Monate im Internat. Für jeden einzelnen ein Ring. Ausgerechnet Friedrich hatte sie auf die Idee gebracht, kurz vor seiner Abreise nach Afrika vor knapp einem Jahr. Damals hatte er im Kreis der Familie von Eingeborenen erzählt, die ihre Körper an den intimsten Stellen mit Schmuck behängten.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Während es bei den Hauptdarstellern des Romans meist nur kleine Dinge sind, die sich wandeln, haben die Nebendarsteller Stein und Bein einen beachtlichen Entwicklungsschritt durchgemacht, denn deren erste Idee hat nur marginal etwas mit ihrem späteren Erscheinungsbild gemein:
»(Stumme) Zwillingsmädchen wie bei Jean Rollin (oft leicht bekleidet, treten nur paarweise auf). Später getrennt (als Erwachsene).«
Aus dieser Idee wird wenige Seiten später der Eintrag Dienerpaar: Stein & Bein. Im Exposé werden die beiden zwar erwähnt, aber nicht beschrieben. Im Roman ist erkennbar, wie sehr sie sich von den zuvor angedachten Mädchen unterscheiden:
»Die Flamme erhellte zwei vollkommen gleiche Gesichter, grau und eingefallen, mit nahezu schlohweißem Haar. Es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen, sie sahen schon so aus, seit Gillian sie kannte. Stein und Bein, Lysanders Zwillingsdiener. Mochte der Teufel wissen, wo er die beiden gefunden hatte. Auch ob Lysander ihnen diese Namen gegeben hatte, war ungewiss. Sollten sie jemals andere gehabt haben, so waren sie längst vergessen.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Das Zusammentreffen Gillians mit Stein und Bein im Théâtre du Grand Guignol verläuft im Exposé um einiges dramatischer als im Roman:
»An diesem Abend soll Gillian auf der Bühne in einem Rausch von Theaterblut »hingerichtet« werden. Während der Aufführung bemerkt er plötzlich, dass der Darsteller des Henkers heute ein anderer ist. Stein, einer von Lysanders Dienern, hat sich durch eine List eingeschlichen. Gillian hat keinen Zweifel daran, dass die Hinrichtung an diesem Abend realer sein soll, als vorgesehen. Es gelingt ihm, Stein auf offener Bühne zu überwältigen und erneut zu fliehen.«
Indem Gillian den Zwillingen auf der Bühne hilflos ausgesetzt ist, entspinnt sich im Roman eine subtile, verzögernde Spannung:
»Gillian entdeckte die Zwillinge in einer der vorderen Reihen. Stein – oder Bein – nickte ihm mit einem freundlichen Lächeln zu. Und da endlich drang die Erkenntnis zu Gillian durch, dass sein Versteckspiel beendet war. (…) Endlich, nach fünf oder sechs Minuten, durfte er sich zurückziehen. Er war kaum hinter die Kulissen getreten, als er sich schon das falsche Haarteil vom Kopf zog, an dem verstörten Maurey vorüberstürmte und den Hintereingang aufriss. Draußen, im Gegenlicht einer einsamen Gaslaterne, standen Stein und Bein, die Hände in den Taschen, auf den Lippen falsche Wiedersehensfreude.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Wo Nestor und Christopher bereits in den ersten Notizen zügig an Profil gewinnen, bleibt Gillian lange Zeit unscharf: Zunächst geht es nur um die Hintergründe und Besonderheiten des Hermaphroditen, nicht um die Figur Gillian. Die Notizen zeigen seine Entstehung und Bedeutung, ohne ihm einen Namen zu geben oder ihn als Hauptfigur zu kennzeichnen:
»Antagonist lebt in Wien. Schickt Killer (Hermaphrodit) nach Norden, um Vater der anderen Familie zu ermorden
Hermaphrodit (von Hermaphroditos, Sohn von Hermes und Aphrodite) Hermaphrodit symbolisiert den Stein!
Inzest symbolisiert Tod und Wiedergeburt (Stein)«
Im Exposé ist Gillians Charakter zwar schon greifbar, doch noch ein anderer, denn er hat eine Tochter:
»Es stellt sich heraus, dass Lysander Gillians kleine Tochter Mai entführt hat und im Palais gefangenhält.«
Im Roman braucht Lysander kein Faustpfand, er bekommt auch ohne dieses Gillians Zusage, Nestor für ihn zu töten. Dies verdeutlicht Gillians vernünftigen, abwägenden Charakter, der Lysanders Einfluss und Gefährlichkeit richtig einzuschätzen weiß. Damit wird sein Treuebruch, als er den Mord an Aura verweigert, verschärft. Gillian entscheidet sich für sie und gegen seine Sicherheit.
Beim Szenenentwurf von Auras und Gillians erster Begegnung in den Notizen haben beide Figuren noch keine Namen:
»Killer glaubt, Anschlag gelingt.
Später: Tochter auf Bahnfahrt in die Schweiz. Junger Mann in ihrem Abteil. Entdeckt: zweigeschlechtlich. → Killer!«
Die Szene ist hier als Schockmoment für den Leser konstruiert, wohingegen die Romanszene sehr zarte Augenblicke hat, bevor sie in Bedrohung umschlägt:
»Sie war hübsch, mit ihrem langen schwarzen Haar, das der Wind aus den Spangen gezaust hatte. Hübsch in ihrem Kummer. Gegen seinen Willen berührte ihn ihr Anblick. (…) Aura hörte nur halbherzig zu. Lieber beobachtete sie, wie er sprach. Die Art und Weise, wie sich seine geschwungenen Lippen öffneten und schlossen, das flinke Blinzeln seiner Augen. Beides faszinierte sie. (…)
Sie stand auf und machte sich an den Griffen zu schaffen. Dabei wandte sie ihm den Rücken zu. Hinter ihr glitt Gillian auf die Füße. Lautlos, als wäre er ihr Schatten, hob er beide Hände.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Auch wird hier Gillians Identität nicht verheimlicht; die Szene ist im Roman viel offener gestaltet als in den Notizen, weil sie eine andere Aussage bekommen hat. Sie zeigt, dass etwas Unvorhergesehenes geschieht: Der Killer verliebt sich. Es ist der Moment im Roman, in dem Gillian zum Menschen wird:
»Ob er richtig handelte, wusste er nicht. Was er tat, geschah aus einem unbestimmten Bedürfnis heraus, nicht aus Vernunft. Zum ersten Mal seit langem folgte er seinen eigenen Empfindungen, tat das, was allein er für nötig hielt.« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Die handschriftlichen Notizen enden mit der ersten Erwähnung von Gillians Namen und seiner besonderen Bedeutung, während er zuvor nur als Hermaphrodit und Killer bezeichnet wurde:
»Schaffung eines lebenden Wesens (Gillian)
Morgantus hat Gillian mit seiner Tochter gezeugt → schiefgegangen«
Die Notiz Morgantus zeugte als Letztes Gillian findet sich auch auf einem separaten Zettel, auf dem alle wichtigen Erkenntnisse und Hintergründe zusammengefasst und – vermutlich nach der Einarbeitung in das Manuskript – durchgestrichen wurden. Hier sind alle Hintergründe der Antagonisten Lysander, Nestor und Morgantus aufgelistet, um die Übersicht über die Verwandtschaftsverhältnisse nicht zu verlieren. Auf diesen Seiten zeigt sich deutlich der Charakter des Romans als Familiensaga.
Ebenso ausführlich wie die Verbindungen der Figuren untereinander skizzierte Kai Meyer in den Notizen die Satorformel, bevor er sie modifizierte, um Gillians überbrachte Botschaft an Nestor zu verschlüsseln. Im Roman taucht sie in dieser Form auf:
»Ein anagrammatisches Quadrat«, erklärte Aura. »Egal, aus welcher Richtung man es liest, ob von oben oder unten, senkrecht oder waagrecht, immer ergeben sich dieselben Worte. (…) Der Sämann Arepo hält mit Mühen die Räder. (…) Es gibt einen Namen für diesen Satz: die Satorformel. (…) Aber das was die Kinder träumten, und was Gillian zu meinem Vater gesagt hat, war: Der Sämann hat ein neues Rad. So war es doch, oder?« Christopher nickte. »Wer oder was dieser Sämann auch ist – er hat irgendwas hinzugewonnen. Zu seinen früheren Rädern ist ein neues dazugekommen.«
»Gehen wir mal davon aus, Gillians Satz – und der der Kinder – sei als Rätsel zu verstehen, als eine Art Geheimcode. Dann ergäben sich daraus zwei Fragen. Erstens: Wer oder was ist der Sämann? Und zweitens: Was ist sein ›neues Rad‹?« (…)
»Dann glaubst du, dass Lysander der Sämann ist?«
»Möglicherweise. Womit hätte Lysander meinem Vater im Augenblick seines Todes übler zusetzen können, als mit der Botschaft, dass er etwas gefunden hatte, das Vater nie mehr erlangen würde?«
Christopher beugte sich mit einem Ruck vor. »Du meinst den Stein?«
»Das liegt nahe, oder?« (Kai Meyer, Die Alchimistin)
Meyers Notizen zu diesem Rätsel lösen es eindeutiger auf, als dies im Roman geschieht:
»5 x 5 Felder = magisches Quadrat des Mars (♂)
♂ = Zeichen für EISEN
GOLD wiederum besitzt das Zeichen O, genau wie die Sonne.
Der Sonne ist das magische Quadrat von 6, also 6 x 6, zugeordnet.
Rätsel muss demnach lauten: »Der Säman Arepo hat ein neues Rad« (Im Sinne von »zusätzliches Rad«, also 6. Rad) GOLD = Stein der Weisen gefunden.«
Dabei war es zunächst keine Todesbotschaft, die Nestor überbracht wird, sondern der Aufhänger eines Handlungsstranges, der im Roman nicht stattfindet, in den Notizen aber angerissen ist:
»Unbekannter begegnet Christopher im Wald. Christopher soll Nestor folgende Botschaft überbringen: »Der Sämann Arepo hat ein neues Rad.« Christopher darf nicht zu Nestor, doch niemand ist im Haus, deshalb geht er in den Dachgarten und überbringt die Botschaft persönlich.
1. Treffen Christopher/Nestor
Christopher versteht »Seemann«, statt »Sämann«. Nestor wird ermordet. Rätselt nach »Seemann Arepo«. Aura fährt zur Küste → umsonst. Christopher sieht Sator-Quadrat in einem der Fenster.
Aura reist nach Ostende, weil sie hofft, dort etwas über »Seemann Arepo« zu erfahren → von dort nach England«
Die Botschaft, die Christopher laut den Notizen mündlich überbringen sollte, ist im Exposé bereits auf Gillian übertragen worden, wobei Randnotizen hinzugefügt wurden:
»Lysander drängt zum Aufbruch und gibt Gillian ein Papier mit auf den Weg, auf dem alle nötigen Informationen zu finden seien. Botschaft!
Bevor Gillian Nestor ermordet, richtet er ihm eine Botschaft von Lysander aus. In Aura-Brief?«
Die handschriftlich hinzugefügte Frage zeigt das Problem mit dieser Art der Botschaftsübermittlung: Der Verständnisfehler von Sämann – Seemann funktioniert nur bei einer mündlichen Weitergabe, weswegen im Roman auf eine schriftliche Fixierung verzichtet wird.
In großen Teilen stimmt die Handlung des Exposés mit der des Romans überein. Änderungen gibt es vor allem in den Actionsequenzen, wohingegen das logische Gerüst erhalten bleibt und nur die eine oder andere Figur hinzukommt, verschwindet oder innerhalb der Romanhandlung anders agiert, als zuvor skizziert. So heißt es im letzten Kapitel des Exposés, dass Marie die Geschwister in Uschguli verraten habe, woraufhin sich Aura auf sie stürzt und sie dabei über eine Klippe stößt. Christopher wirft sich seinerseits zwischen Aura und die swanischen Männer und rettet ihr das Leben. Es verwundert nicht, dass diese Szene im Roman anders umgesetzt wurde, denn das Heldenhafte passt wenig in die angespannte Stiefgeschwisterbeziehung von Aura und Christopher. Der Roman lässt Marie den Verrat als notwendig, aber unmoralisch erscheinen und gibt ihr so die Möglichkeit, Aura aus dem Kastell zu befreien. Die Rettung ist im Exposé nicht nötig, denn im Kastell wird Aura von Lysander und Morgantus erwartet:
»Sie muss zu ihrem fassungslosen Schrecken feststellen, dass sich Sylvette freiwillig bei ihm aufhält — immerhin sei er ihr Vater, behauptet die mittlerweile 18-Jährige.
Lysander erklärt Aura, dass er keinen Groll mehr gegen sie hege und beabsichtige, sie laufenzulassen. Nun, da sie wisse, dass er Sylvette keineswegs gegen ihren Willen festhalte, habe Aura wohl keinen Grund mehr, weiterhin einen Gegner in ihm zu sehen. Lysander stellt ihr ein Pferd zur Verfügung und schickt sie fort. (…) Dann macht sie sich allein auf den beschwerlichen Rückweg nach Poti.«
Damit endet das Exposé. Die Streichung des ursprünglich angedachten dritten Teils machte ein neues Ende notwendig, das Sylvette und Aura die Heimreise ermöglicht. Zudem ist Lysander in der ursprünglichen Konstellation mächtiger als Morgantus – ein Umstand, den Kai Meyer korrigierte, indem er Lysander im Buch als Opfer und Vater stilisiert und Morgantus an einem anderen Ort seinem Geschöpf Gillian gegenübertreten lässt; so kann auch der Hermaphrodit seine Rache vollziehen und ein vorläufiges Ende seiner Suche erreichen.
Aus dem Vergleich der einzelnen Stadien ist erkennbar, wie viele unterschiedliche Ideen Kai Meyer entwickelt, zusammengeführt und immer wieder neu geordnet hat, um einen Roman zu schreiben, zu dem auch er selbst eine ganz besondere Beziehung hat: »Ich weiß nicht, warum gerade Die Alchimistin eines meiner erfolgreichsten Bücher ist. Ganz sicher ist es aber eines von denen, die ich selbst am meisten mag. Zum einen mag ich die Struktur als Familiensaga, beide Bücher sind dramaturgisch anders gebaut als viele meiner anderen Romane. Dazu kommt noch, dass ich mit beiden Händen aus dem Kulissenfundus der klassischen Gothic Novel geschöpft habe – die alten Schlösser und Friedhöfe, die Katakomben von Wien, die Klosterruine im Kaukasus. Gerade in den Neunzigerjahren, als der erste Band erschien, hat man diese Elemente in der aktuellen Literatur nicht mehr allzu häufig gefunden, vieles davon tauchte erst zehn Jahre später wieder in all den erfolgreichen Vampirromanen auf. Letztlich aber kann man noch so tolle Schauplätze entwerfen und die komplexesten Plots entwickeln – ohne überzeugende Figuren bleibt das alles nur hübsche Oberfläche. Es sind immer die Figuren, die eine Geschichte zum Leben erwecken und sich dem Leser einprägen. Aura selbst dürfte also die wichtigste Rolle beim Erfolg der Romane spielen. Bei ihr hatte ich immer das Gefühl, dass sie auch nach meiner Arbeit an den Büchern weiterlebt, dass sie – im übertragenen Sinne – noch immer irgendwo da draußen durch die Weltgeschichte geistert, so melancholisch wie eh und je und auf der Suche nach etwas, das so leicht nicht zu finden ist.«