Inhaltsverzeichnis
Prolog
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott.
Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.
Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.
Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.
Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.
Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.
Johannesevangelium 1,1-5.9-14
Dein Gott soll mein Gott sein – ein Vorwort
Zunächst erschien es uns etwas vermessen zu sein, über Gott zu reden. Auch jetzt bleibt der Eindruck, dass es zumindest ein schwieriges Unterfangen ist, sich auf ein Gespräch über Gott einzulassen. Doch je mehr wir uns darauf einließen, desto mehr spürten wir, dass es letztlich gar nicht oder nur sehr begrenzt möglich ist, über Gott zu reden. Wir haben es dennoch getan. Zumindest haben wir es versucht. Wir sind der Frage nachgegangen, ob Gott existiert. Wir haben – zumindest ansatzweise – auch versucht, uns auf die Stimmen einzulassen, die nicht an Gott glauben, die Schwierigkeiten haben, Gott in ihrer Welt und in ihrem Alltag als anwesend und wirkend zu erleben und zu erfahren.
Uns geht es nicht darum, die Existenz Gottes zu beweisen. Das können wir nicht.Was wir können, ist, über unsere Erfahrung mit Gott zu sprechen. Da aber können wir uns, wollen wir wirklich aus unserer Erfahrung sprechen, nicht zurückhalten. Da müssen wir andere auch an unseren innersten Gefühlen und Gedanken teilhaben lassen. Da müssen wir uns ganz weit aufmachen und anderen einen tiefen Blick in unser Innerstes gewähren. Das aber hat ganz wesentlich mit Gott zu tun. Mein Innerstes zur Sprache zu bringen, ist vielleicht sogar die Voraussetzung dafür, um wirklich über Gott zu reden. Mein Innerstes zum Ausdruck zu bringen. Mich zu getrauen, die innersten Regungen meines Herzens und meiner Seele – ja – preiszugeben.
So ist dieses Buch zu einem sehr persönlichen, intimen Buch geworden. Wir wussten das am Anfang nicht. Es hat sich so entwickelt. Das ist aber der wohl authentischste Beitrag, den wir beide leisten können, wenn es um Gott geht.
Wir erheben nicht den Anspruch, auch nur ansatzweise mehr von Gott zu wissen als andere. Wir beanspruchen für uns auch nicht, im Besitz der Wahrheit zu sein, wenn es um Gott geht. Wir sind auf Fragen eingegangen, die Menschen im Zusammenhang mit Gott beschäftigen.Wir haben Männer und Frauen im Blick, die kirchennah sind, und Menschen, die der Kirche fernstehen: Suchende, Zweifelnde ebenso wie jene, die fest davon überzeugt sind, dass es Gott gibt, und für die ein Leben ohne Gott undenkbar ist, und jene, für die Gott ein Stein des Anstoßes oder auch nur von geringem Interesse ist.
Vielleicht regt unser Gespräch dazu an, mit anderen ins Gespräch über Gott zu kommen oder aber selbst das Gespräch mit Gott aufzunehmen. Mancher mag sich in unseren Gedanken und Erfahrungen wiederfinden. Ein anderer wird sich in dem, was wir hier sagen, kaum entdecken. Das ist in Ordnung so. Wie es auch in Ordnung ist, nachdem man sich lange Gedanken über Gott gemacht und sich intensiv über ihn ausgetauscht hat, vielleicht auch darüber ins Gespräch mit ihm getreten ist, innezuhalten und zu schweigen. Damit Gott eine Chance hat, in unserem Leben und in unserem Alltag Einkehr zu halten, in Erscheinung zu treten und wahrgenommen zu werden.Wirklichkeit für uns und in unserem Leben zu werden.
Winfried Nonhoff vom Kösel-Verlag danken wir für seine Einladung und Ermutigung, uns auf ein Gespräch über Gott einzulassen, Melanie Bradtka für die gute Zusammenarbeit beim Lektorat des Textes.
Anselm Grün und Wunibald Müller
TEIL I
Wenn an Gott glauben bedeutet,
von ihm in der dritten Person reden zu können,
glaube ich nicht an Gott.
Wenn an ihn glauben bedeutet,
zu ihm reden zu können,
glaube ich an Gott.
Martin Buber
ÜBER GOTT REDEN
Leise über Gott reden
WUNIBALD MÜLLER: Da haben wir uns ja, von Winfried Nonhoff, dem Leiter des Kösel-Verlags, angeregt, auf ein Thema eingelassen, das ganz schön heikel ist: miteinander über Gott zu reden, der Frage nachzugehen, wer Gott ist, was uns Gott bedeutet, wie wir Gott erfahren.Vor allem auf die Frage einzugehen, wer Gott ist, und über Gott zu reden, bereitet mir etwas Bauchschmerzen. Können wir das überhaupt? Ist das nicht anmaßend? Als ich meinem Freund Alexander Susewind davon berichtete, sagte er gleich, er könne und würde das nicht tun. Fast meinte ich ihn sagen zu hören, man dürfe das nicht tun.
Vor einigen Jahren fragte ich Bruder David Steindl-Rast – es war kurz nachdem Joseph Ratzinger zum Papst gewählt worden war -, was er denn dem Papst raten würde. Er meinte daraufhin, er habe sich des Öfteren mit dem Dalai Lama getroffen und es habe ihm sehr imponiert, wenn der Dalai Lama immer wieder auf Fragen antwortete: »Ich weiß es nicht.« So würde er dem Papst raten, ab und zu einfach zu sagen: »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
Das gilt auch für uns, wenigstens für mich. Ich weiß nicht, wer Gott ist. Wenn ich mich aber dennoch auf ein Gespräch über Gott einlasse, dann auch, weil ich mir auch für mich etwas davon verspreche, mit dir über Gott zu reden und mir die Zeit dafür zu nehmen – letztlich auch Zeit für Gott. Ich möchte dabei erfahren, was du über Gott weißt, was er dir bedeutet und wie du ihn erfährst. Dann bleiben wir nicht bei einem Sprechen über Gott stehen, sondern – und das verspreche ich mir von unserem Gespräch – tauschen uns über unsere Erfahrungen mit Gott aus. Dabei will ich beherzigen, was mir der Würzburger Weihbischof Ulrich Boom mit auf den Weg gab: »Man soll schon über Gott reden, aber leise.«
ANSELM GRÜN: Das ist eine weise Empfehlung. Denn manche Menschen reden tatsächlich so laut über Gott, als ob sie ihn genau kennen würden, als ob sie ihn in die Tasche stecken könnten. Da werde ich immer skeptisch. Man kann über Gott wirklich nur sehr leise reden. Auf der anderen Seite müssen wir von Gott reden. Denn er ist die eigentliche Wirklichkeit unseres Lebens. Wenn wir ihn verschweigen, schweigen wir einen wichtigen Bereich unseres Lebens tot.
Bei einer Diskussion mit Theologen über die biblischen Heilungsgeschichten fragte mich ein Theologe: »Wie definieren Sie Gott?« Ich war etwas irritiert. Denn Gott kann ich nicht definieren. Natürlich kann ich die philosophischen und theologischen Beschreibungen Gottes heranziehen. Aber ich weiß, dass es nur Versuche sind, sich dem unbegreiflichen Gott zu nähern.
Wenn wir in diesem Bewusstsein von Gott sprechen, dass unsere Begriffe und Worte nur den Zipfel Gottes berühren, dann bin ich gerne bereit, über Gott zu sprechen und jetzt in den Dialog mit dir einzutreten. Wenn wir meinen, wir wüssten genau, wer Gott ist, dann müsste ich aufhören.
Wir können von Gott mehr sagen, was er nicht ist, als was er ist
WUNIBALD MÜLLER: Damit befinden wir uns schon mitten im Gespräch über Gott, und ich gebe dir recht: Wir können und sollen nicht schweigen über Gott. Du hast als Mönch einen Lebensstil gewählt, der ganz stark geprägt ist von dem Bewusstsein, dass es Gott gibt und Gott in unsere Wirklichkeit hineinwirkt. Dein Tagesablauf ist umrankt von festgelegten Gebetszeiten, bis dahin, dass im Grunde genommen alles, was du tust, zur größeren Ehre Gottes beitragen soll.
Auch für mich ist der tiefe Glaube an die Existenz Gottes, seine Anwesenheit und sein Wirken in meinem Leben und in unserer Welt der tragende Grund meines Lebens. Als Christ bedeutet das für mich, mein Leben, meinen Alltag in Verbindung mit Gott zu bringen. Ich frage mich immer wieder, was Gott mit mir vorhat, was sein Wille ist. Ich will der werden und sein, der zu werden und zu sein er mich bestimmt hat.
Dabei weiß ich, wie schwer es manchmal sein kann, herauszufinden, was Gott von mir will. Wie es überhaupt sehr schwer ist, herauszufinden, was Gott in bestimmten Situationen von uns will. Ich habe daher auch Probleme damit, wenn ich Menschen begegne, die mit einer Selbstverständlichkeit zu wissen glauben, was der Wille Gottes ist, und das nicht nur für sich, sondern oft vor allem auch für andere. Das trifft auch auf manche Kirchen, Kirchenführer oder Obere zu, die den Eindruck erwecken, den Heiligen Geist persönlich zu besitzen.
ANSELM GRÜN: Manche meinen, sie wüssten genau, was Gott denkt. Sie glauben, sie würden Gottes Absichten und Gedanken kennen. Auch da kann ich nur sagen: Ich kenne Gottes Gedanken nicht. Ich kann nicht in Gottes Denken hineinschauen. Ich kann mich nicht über Gott stellen und überlegen, was er denkt und warum er so denkt. Ich kann nur die Welt betrachten und überlegen, wie Gott die Welt geschaffen hat. Ich kann auf mein Herz und seine Sehnsucht hören und den Ahnungen des Herzens trauen, die mir etwas von Gott sagen. Aber ich halte es mit der apophatischen Theologie der Mystiker, die besagt, dass wir von Gott mehr sagen können, was er nicht ist, als was er ist.
WUNIBALD MÜLLER: Das werden wir bei allem, was wir zu Gott sagen, immer wieder bedenken müssen. Wir bewegen uns auf der via negativa, einem Weg, bei dem das, was wir von Gott sagen, weit entfernt ist von dem, wer Gott wirklich ist. Was uns aber nicht abhalten sollte, zu versuchen, Gott auch mithilfe von Vergleichen, Bildern und Symbolen zu beschreiben. Dabei muss ich freilich gestehen, dass ich, je älter ich werde, immer weniger daran interessiert bin, Gott zu beschreiben oder zu erklären. Das hat vor allem damit zu tun, dass ich Gott, je mehr mich die Erfahrungen des Lebens in meine Tiefe geführt haben, als gegenwärtig in meinem Leben erfahren darf, ich mich in meinem Alltag – einmal mehr, einmal weniger bewusst – als mit Gott verwoben erlebe. Mein Beten ist dann Ausdruck und Bewusstmachung dieser Verwobenheit und Verbundenheit mit Gott.
Ich erlebe das als wohltuend und als eine große Bereicherung. Diese Erfahrung trägt mich, gibt mir Halt und Orientierung. Ein Gefühl von Sicherheit und Zuversicht erwächst mir daraus. Ich erlebe und erfahre mich dabei als Teil eines Größeren. Ich erfahre Gott nicht nur in mir, sondern erfahre mich als aufgehoben in Gott. Aus dieser Erfahrung heraus versuche ich meinen Alltag zu leben und zu gestalten.
ANSELM GRÜN: Auch für mich ist die zentrale Frage nicht, wie ich Gott beschreiben, sondern wie ich ihn erfahren kann. Ich möchte nicht nur glauben, sondern auch erfahren, was ich glaube. Dabei halte ich es allerdings mit meinem Namenspatron, dem heiligen Anselm von Canterbury, der sein theologisches Programm mit fides quaerens intellectum, »der Glaube, der nach Einsicht sucht«, beschrieben hat. Man könnte es auch so übersetzen: »die Glaubenserfahrung, die nach Einsicht sucht, die sich selbst verstehen will«.
Daher versuche ich dennoch, über die Erfahrung und Nicht-Erfahrung Gottes zu reden, aber so zu reden, dass ich mich nicht über andere Menschen stelle, als ob ich Gott mehr erfahren hätte als sie, sondern in aller Bescheidenheit. Wir sind immer Suchende und Fragende auf dem Weg zu Gott. Aber wir dürfen Gott auch immer wieder erfahren. Von meiner Erfahrung her versuche ich, die Erfahrungen der anderen Menschen zu verstehen und denen, die meinen, sie hätten Gott noch nie erfahren, aufzuzeigen, dass sie unbewusst oft genug Gott erfahren haben.
Finde ich Gott, so finde ich mich selbst
WUNIBALD MÜLLER: Einen Vorbehalt muss ich noch loswerden. Ich habe Probleme, über Gott zu sprechen. Ich fühle mich hier Martin Buber verwandt, für den Gott nie zu einem Objekt, zu einem Gegenstand eines Gespräches werden konnte. Der protestantische Theologe Paul Tillich (1965, S. 52) berichtet, dass bei den Gesprächen, die er mit Martin Buber geführt hatte, etwas geschehen sei, was letztlich wichtiger war als der Dialog selbst: die Begegnung mit einem Menschen, »dessen ganzes Sein geprägt war von der Erfahrung der göttlichen Präsenz. Er war, wie man es sagen könnte, ›Gott besessen‹. Gott würde in Martin Bubers Anwesenheit niemals zu einem ›Objekt‹ werden.«
Hier werden die Möglichkeiten, zugleich aber auch die Grenzen unseres Gespräches deutlich. Ich weiß nicht, wer Gott ist. Aber ich bin mir Gottes sicher. Ich setze Gott voraus. Dass ich bin, setzt für mich Gott voraus. Ich kann daher nicht objektiv, abstrakt über Gott sprechen. Er ist für mich kein Gegenstand des Zweifels, sondern, wie das für Martin Buber gilt, Voraussetzung – und sei es für den Zweifel an ihm. Darin aber liegt auch die Chance für einen Dialog mit den Leserinnen und Lesern, die an Gott zweifeln oder ihn verneinen.
ANSELM GRÜN: Für mich hängt die Frage nach Gott immer auch mit der Frage nach mir selbst zusammen. Der Jesuit Anthony de Mello sagte einmal: Mystik heißt nicht nur, zu fragen: »Wer ist Gott?«, sondern auch zu fragen: »Wer bin ich selbst?« Wenn ich mir immer wieder die Frage »Wer bin ich?« stelle, dann führt mich diese Frage letztlich auch zu Gott, dem Grund meines Lebens.
Ich bin zutiefst überzeugt, dass ich nicht zu meinem wahren Selbst finde, wenn ich nicht Gott als den Grund und Ursprung des Selbst mitbedenke. Diese Überzeugung hatte auch C.G. Jung. Er meint, das Selbst schließe immer auch das Gottesbild mit ein. Das Selbst findet nur der, der auch das Bild Gottes in sich zulässt.
WUNIBALD MÜLLER: Das erinnert mich an Thomas Merton (1951, S. 28), der meinte, dass ich mich erst dann wirklich erkennen kann, auch hinsichtlich meiner tiefsten Berufung und Bestimmung, wenn ich Gott erkannt habe: »Finde ich ihn, so finde ich mich selbst, und finde ich mein wahres Ich, so werde ich ihn finden.« Das aber heißt doch auch, dass ich mich letztlich nie ganz erkennen werde, genauso wie ich Gott nie ganz erkennen werde.
Zugleich würde das aber auch bedeuten, dass die Menschen, die nicht an Gott interessiert sind, geschweige denn daran, Gott zu erkennen, Wesentliches von sich selbst nicht kennen. Doch ist das nicht zu weit gegriffen? Klingt das möglicherweise nicht auch arrogant? Oder bleibt es eine Herausforderung, der sich die Menschen, die an Gott nicht interessiert sind, stellen können oder auch nicht?
ANSELM GRÜN: Ich würde Thomas Mertons Aussage unterstreichen. Aber ich bin vorsichtig, was die Einteilung in Menschen, die an Gott interessiert sind, und solchen, die nicht an ihm interessiert sind, betrifft. Wir können das Interesse eines Menschen an Gott nicht unbedingt an seinem Glaubensbekenntnis ablesen.
Für mich ist ein wesentliches Kriterium, ob jemand an Gott interessiert ist, dass er einen Sinn für das Geheimnis hat, das größer ist als er selbst, dass er ständig auf der Suche nach der Wahrheit ist. Auch wenn er seine Suche nach der Wahrheit nicht mit unseren Worten von Gott ausdrückt, ist er doch auf dem Weg zu Gott, ist er letztlich an Gott interessiert. Wer sich jedoch nur um Geld und Erfolg und Sex kümmert, der geht wahrhaft an seinem Wesen vorbei. Der materialistische Atheismus verleugnet auch die Würde des Menschen.
Gott als Wirkwort der Beziehung
WUNIBALD MÜLLER: Ich finde es ganz wichtig, die Suche eines Menschen nach Gott oder sein Interesse an Gott nicht von unserem Verständnis oder Sprechen von Gott her zu sehen oder gar zu beurteilen. Manche Menschen, die da viel zurückhaltender sind und behutsamer mit Begriffen wie Gott umgehen, befassen sich intensiver und ernsthafter mit Gott als jene, die laut, demonstrativ und mitunter auch rechthaberisch von Gott reden.
Da stellt sich auch die Frage, was das Wort Gott den Menschen heute noch bedeutet und ob nicht andere Worte für sie eher das beschreiben und beinhalten, was mit Gott gemeint sein kann. Der evangelische Theologe Paul Tillich hat versucht, für den Namen Gott andere Worte zu finden. So übersetzte er Gott mit ultimate reality oder unconditional concern, also mit »dem, was uns letztlich angeht«. Er stieß dabei auf großen Widerstand bei Martin Buber, der meinte, es gebe einige Worte, die von so ursprünglicher Art seien, dass sie nicht durch ein anderes Wort ersetzt werden könnten. Dazu zählen seiner Ansicht nach Worte wie Gott. Paul Tillich gab ihm recht und gebrauchte in seinen Predigten nicht länger Umschreibungen für Gott.
Das gefällt mir, und für mich stimmt das so. Ich weiß dabei sehr wohl, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Die nicht von Gott sprechen. Die sich sogar erregen, wenn andere das tun. Hier muss und will ich mir treu bleiben. Ich glaube aber auch so viel Toleranz und Weite zu besitzen, dass ich es anderen gerne zugestehe, wenn sie andere Worte haben, andere Begriffe und Bilder bevorzugen, um das auszudrücken, was sie unter Gott verstehen. Ich erwarte aber auch, dass man mir das zugesteht. Ich erinnere mich an einen Vortrag für Beraterinnen und Berater, die am Ende meiner Ausführungen regelrecht über mich herfielen, wie ich mich nur unterstehen konnte, so selbstverständlich von Gott zu sprechen. Ich versuchte sie zu verstehen und merkte dabei, dass bei manchen die religiöse Erziehung sehr stark geprägt war von einem Gottesbild, das in Gott zuallererst den strafenden und Leben verhindernden Gott sah. Allein die Erwähnung des Wortes Gott oder Zitate, zum Beispiel aus dem Alten Testament, legten alte, noch nicht geheilte Verletzungen frei.
Das ist ein Aspekt, der es erforderlich macht, sensibel zu sein und darauf zu achten, was mein Sprechen von Gott und der Gebrauch des Wortes Gott durch mich bei anderen auslöst. Die andere Frage ist, ob das Wort Gott sich überlebt hat oder vielleicht auch überstrapaziert worden ist.
ANSELM GRÜN: Ich kenne die Diskussion, dass das Wort Gott so verbraucht sei, dass man sich eine Zeit lang davon verabschieden sollte. Doch ich halte es hier mit Peter Schellenbaum. Gott, so meint Schellenbaum, sei ein Wirkwort. Gott will etwas in mir bewirken. Er will mein Ich verwandeln auf das Selbst hin, »auf eine umfassendere und zentralere Persönlichkeit hin« (Schellenbaum 1989, S. 28). Das altgermanische Wort für Gott bedeutet »das Angerufene, was man zu sich ruft, das Beschworene« (ebd. S. 29). Man kann es nicht aussprechen, ohne dass damit etwas in einem wachgerufen wird.
Für Schellenbaum ist Gott »das Wirkwort der Beziehung«. Gott bringt etwas in mir in Bewegung. Es bringt mein Ich in Beziehung mit etwas Unausgesprochenem und nur Geahntem. Schellenbaum plädiert daher für das Beibehalten des Wortes Gott. Denn das Sprechen von Gott zwingt mich, die Wirklichkeit auf neue Weise wahrzunehmen und wichtige Bereiche meiner Psyche zu entfalten.
Viele Menschen haben Angst, die Macht solcher Wirkworte wie Gott auszuhalten. Sie versachlichen lieber das Reden von Gott und entfalten eine dogmatische Theologie, anstatt sich von Gott in Bewegung bringen zu lassen. Sie konstruieren sich eine objektive Theologie, um der Infragestellung durch Gott auszuweichen. Dann führt sie ihre Spiritualität allerdings nicht zum Leben, sondern in die Verkrampfung und Beziehungslosigkeit. Sie missbrauchen Gott, um einer tieferen Beziehung zu sich selbst und zu den Menschen aus dem Weg zu gehen.
WUNIBALD MÜLLER: Das erlebe ich manchmal bei Theologen oder finde es auch in offiziellen kirchlichen Papieren: Da wird Gott festgeschrieben, analysiert, amputiert. Von seiner Wirkkraft bleibt da wenig übrig. Bei der ersten Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Deus caritas est, »Gott ist die Liebe«, ging es mir anders. Sehr eindrücklich formuliert Benedikt XVI.: »Wenn ich die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ›fromm‹ sein möchte... dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ›korrekt‹, aber ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber.«
Da wird das Wort Gott zum Wirkwort. Da wird Gott nicht in Theorien eingepackt und für Ideologien missbraucht. Da wird Gott zu einer Kraft und da ist Gott eine Kraft, die uns anfeuert, uns dem Leben zu stellen, uns auszustrecken nach unseren Mitmenschen, uns seiner Dynamik zu überlassen im Prozess unserer Menschwerdung.
GIBT ES GOTT?
Das Reden von Gott vor der Vernunft verantworten
WUNIBALD MÜLLER: In einem Scherzwort heißt es, die Suche nach Gott sei vergleichbar mit der Situation, in der ein Stockblinder in einem stockdunklen Zimmer einen stockdunklen Kater sucht, der gar nicht drinnen ist. In ihrem Roman Der Kranz der Engel geht Gertrud von le Fort auf dieses Scherzwort ein, fügt jedoch hinzu: »Aber der Kater ist eben doch drinnen, weil jedes Diesseits von der Kraft des Jenseits lebt.«
Die Frage, ob Gott überhaupt existiert, ist eine Frage, die sich viele Menschen stellen, die sich viele schon gestellt haben und sicher auch – so hoffe ich – weiterhin stellen werden. Ich kann dazu wenig sagen. Ich merke nur, dass ich, wenn ich lese, was manche Neurowissenschaftler dazu sagen, ein ungutes Gefühl habe. Sie versuchen Aussagen über Gott beziehungsweise seine Nicht-Existenz zu machen, die von einem Verständnis ausgehen, nach dem man Gott chemisch oder physikalisch nachweisen oder seine Nicht-Existenz beweisen könne.
So glaubt der Neuropsychologe Michael Persinger (vgl. Trutwin 2009, S. 129), den Nachweis führen zu können, dass der Gottesglaube nichts anderes sei als das Ergebnis einer pathologischen Überempfindlichkeit des Gehirns. Religiöse und mystische Erfahrungen sind für ihn lediglich Erzeugnisse von Gehirnfunktionen im Schläfenlappenbereich, die im Labor künstlich erzeugt werden können. Diese Experimente erwecken den Eindruck, »als wollten Forscher Mozarts Klavierkonzerte besser verstehen, indem sie die Wirkung seiner Musik aufs Gehirn gründlich analysieren, oder ein literarisches Kunstwerk dadurch erklären, dass sie während der Lektüre die chemischen Prozesse im Kopfe untersuchen« (ebd.).
ANSELM GRÜN: Ich erlebe auf Tagungen und entdecke in der Literatur, dass die Gehirnforschung die Menschen immer mehr fasziniert.Aber wenn wir mit seriösen Gehirnforschern sprechen, dann bekennen sie selbst, dass die Gehirnforschung überhaupt nichts über die Existenz Gottes aussagen kann.
Die Aussagen über Gott stehen auf einer anderen Ebene. Die Gehirnforschung kann nur die Resonanz der religiösen Gefühle im Gehirn erforschen. Aber sie kann selbst nicht sagen, was zuerst da ist: das Gefühl, das sich im Gehirn ausdrückt, oder die chemische Reaktion im Gehirn, die ein Gefühl auslöst. Beides hängt eng miteinander zusammen.
Mich fasziniert an der Gehirnforschung, dass die Wissenschaft heute Erfahrungen bestätigt, die Mönche vor 1600 Jahren schon gemacht haben: Unsere Gedanken beeinflussen den Körper. Die Mönche wussten, dass das Jesus-Gebet, das wir mit dem Atem verbinden, nicht nur unser Denken und Fühlen prägt, sondern auch unserem Leib guttut, ja, dass es oft eine heilende Wirkung auf krank machende Lebensmuster haben kann. Darüber wollen wir uns ja später noch ausführlicher unterhalten.
Gott ist nicht der Lückenbüßer, auf den wir immer dann stoßen, wenn wir mit wissenschaftlichen Methoden nicht weiterkommen. Die Sprache von Gott ist auf einer anderen Ebene als die wissenschaftliche Sprache. Daher sehe ich keinen Gegensatz zwischen Gehirnforschung und Theologie. Als Theologe ist es durchaus gut, etwas von der Physik, der Biologie, der Psychologie und eben auch von der Gehirnforschung zu verstehen, damit wir nicht naiv von Gott reden, sondern unser Reden von Gott auch vor der Vernunft verantworten können.
WUNIBALD MÜLLER: Das sehen offensichtlich auch viele Wissenschaftler so, unter denen viele an Gott glauben. Ich stimme dir zu, dass wir unser Reden von Gott vor der Vernunft verantworten können müssen. Mir gefällt, wenn Hans Küng (1992, S. 22) den Glauben des Menschen als »ein begründetes und in diesem Sinn eben vernünftiges Vertrauen« bezeichnet. Ein solches Vertrauen habe zwar keine strengen Beweise, aber gute Gründe. »Wie ja doch auch ein Mensch, der nach manchen Zweifeln auf einen anderen Menschen sich in Liebe einlässt, genau besehen keine strengen Beweise für sein Vertrauen hat, wohl aber – wenn es sich nicht um eine fatale ›blinde Liebe‹ handelt – gute Gründe.«
ANSELM GRÜN: Die frühen Christen wurden ja von manchen Vertretern der römischen Gesellschaft als Atheisten verschrien, weil sie nicht so naiv von Gott sprachen, wie das der römische Staatskult tat. In der Areopagrede, die Lukas dem Paulus in den Mund legt, führt Lukas den Dialog mit der religionskritischen Philosophie der Stoa. Die stoische Philosophie kritisierte den naiven Gottesglauben, wie er in der damaligen Volksfrömmigkeit und in den Göttersagen vertreten wurde.
Lukas greift diese Sicht auf: »Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche er etwas: er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt... Keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art« (Apg 17,24-25.27-28).
Lukas bestätigt das Gottesbild der griechischen Aufklärung. Sein Gottesbild kann dem Urteil der Vernunft standhalten. Und zugleich ist es offen für die Mystik, die, damals wie heute, die Menschen bewegt. Gott ist unbegreiflich, unsichtbar und doch ist er auch in uns.Wir sind von seiner Art. Wer und was Gott ist, erkennen wir also auch, indem wir den Menschen richtig betrachten und beurteilen.
Gott bleibt immer nur erahnbar
WUNIBALD MÜLLER: Ja, Gott ist unbegreiflich, unsichtbar und doch ist er auch in uns. Gott hat, so heißt es bei Kohelet im Alten Testament, die Ewigkeit in uns gelegt. Wenn Gott in uns ist, wird unser Erlebnis- und Erfahrungsbereich um eine neue Dimension erweitert. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein notierte 1916 in einem Heft: »Den Sinn des Lebens, das heißt den Sinn der Welt, können wir Gott nennen.« Das finde ich interessant, wenngleich das auch eine Begrenzung dessen ist, wer Gott ist.Wenn Ludwig Wittgenstein den Sinn des Lebens Gott nennt, wird eine Dimension eröffnet, die die Dimension »Welt«, aber auch die Dimension »Vernunft« sprengt, in der allein wir nicht den Sinn unseres Lebens finden können.
ANSELM GRÜN: Karl Rahner, über den ich promoviert habe und den ich nach wie vor als Theologe sehr schätze, hat zu beschreiben versucht, dass wir bei jedem Denken über das Vorfindbare hinausgehen und letztlich die Transzendenz mitbedenken. Jeder Akt des Denkens übersteigt den konkreten Gegenstand des Denkens und übersteigt ihn auf Gott hin.
Das klingt für viele vielleicht zu abstrakt.Aber Karl Rahners Ansatz ist für mich heute noch wichtig:Wenn wir richtig denken, denken wir letztlich immer Gott mit. Daher ist es mir wichtig, dass wir nicht einfach über Gott reden, als wüssten wir genau Bescheid, sondern dass wir redlich denken, wie es uns Karl Rahner vorgemacht hat, und in unserem Denken, wenn wir es zu Ende denken, auf das Geheimnis Gottes stoßen.
WUNIBALD MÜLLER: Und das sollten wir Gott auch bleiben und sein lassen: ein Geheimnis. Mir gefällt hier, was Martin Buber (1923, V) über das Geheimnis schreibt: »Ich bin die dunkle Seite des Mondes; ihr wisset um mein Dasein, aber was ihr für die Helle festsetzt, gilt für mich nicht. Ich bin der Rest der Gleichung, der nicht aufgeht; ihr mögt mich mit einem Zeichen belegen, aber auflösen könnt ihr mich nicht.«
Solange jemand Gott erklären, definieren will, wird er immer wieder an Grenzen kommen. Denn Gott ist nicht so wie eine Sache. Gott bleibt immer nur erahnbar.Als ich eine Woche lang in Afrika war, hatte ich manchmal, wenn ich in aller Frühe hinaus ins Freie ging, das Gefühl, dass mir Gott näher war als sonst. Ich spürte die Anwesenheit eines »Numen«, wie C.G. Jung sagen würde. Mit meinem religiösen Hintergrund würde ich es als Gott bezeichnen. Hätte ich nie von Gott gehört, hätte ich vermutlich die gleiche Erfahrung gemacht, diese aber vielleicht anders bezeichnet.
ANSELM GRÜN: Mir ist es einmal so gegangen, als ich in einem Wald spazieren ging.Auf einmal war da ein Rauschen des Windes, das mich gleichsam einhüllte in das Geheimnis. Ich fühlte dieses Rauschen des Windes wie das Wehen des Heiligen Geistes. Es war eine ganz dichte Atmosphäre. Ich konnte sie für mich nur so beschreiben, dass ich mich ganz und gar von Gott umhüllt und umweht fühlte.
Da ist mir aufgegangen, warum Lukas das Kommen des Heiligen Geistes an Pfingsten als einen Sturm beschrieben hat. Wenn ich nicht nur den Wind spüre und nicht nur die Gewalt des Sturmes, sondern auch das, was in ihnen liegt, dann erahne ich Gottes Wirken, dann fühle ich mich von Gott berührt.
»Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Also hören Sie auf, sich Sorgen zu machen...«
WUNIBALD MÜLLER: Für uns stellt der Glaube an Gott, die Erfahrung, dass es Gott gibt und Gott in unser Leben hineinwirkt, eine große Bereicherung für unser Leben dar. Andere sehen das offensichtlich anders. »Es gibt wahrscheinlich keinen Gott.Also hören Sie auf, sich Sorgen zu machen, und erfreuen Sie sich Ihres Lebens.« Mit diesem atheistischen Slogan fuhren Anfang 2009 rund 800 Busse in Großbritannien und in anderen Ländern. In Deutschland ist Ähnliches geplant.
Eine tröstliche Botschaft? So klingt es zunächst. Dabei wird suggeriert, dass das Leben unkomplizierter, unbeschwerter sei, gäbe es Gott nicht. Gott wird hier wohl als eine Macht gesehen, die unser Leben beeinträchtigen will, die uns die Freuden des Lebens miesmachen will. Eine Vorstellung, die ich zum Teil kenne, wenn ich an meine religiöse Erziehung denke, die mir aber inzwischen ganz fremd ist.
Heute steht Gott für mich als eine Kraft, die mir Gutes will, die daran interessiert ist, dass ich aufblühe, dass ich wirklich lebe. Irenäus von Lyon sagt: Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch. Das ist es, was Gott will. Dass ich lebendig bin. Dass ich mein Leben zulasse, das Leben, das er mir geschenkt hat. Dass ich am meisten zu seiner Ehre beitrage, wenn ich mein Leben in seiner möglichen Fülle lebe.
ANSELM GRÜN: Nachdem die Psychologie ihre Skepsis Gott gegenüber aufgegeben hat und – im Gefolge von C. G. Jung und der transpersonalen Psychologie – von der heilenden Wirkung Gottes auf die menschliche Psyche gesprochen hat, entsteht heute ein neuer Atheismus, der sich oft sehr kämpferisch gibt.
Der Atheismus eines Stephen Hawking will beweisen, dass die Religionen schuld an allen Kriegen seien. Ohne Religionen wäre es friedlicher auf der Welt. Das geht etwa in dieselbe Richtung wie die Aufkleber auf den Bussen. Ohne Gott wäre es friedlicher auf der Erde und die Menschen wären glücklicher. Doch das ist eine Schutzbehauptung, die absolut nicht erwiesen ist. Im Gegenteil: Ohne Gott gäbe es keine Atheisten. Denn die Atheisten müssen Gott ja leugnen. Wenn es keinen Gott gäbe, bräuchte es auch keine Atheisten, die ständig um den Gottesgedanken kreisen.
WUNIBALD MÜLLER: Wenn ich das richtig sehe, geht es hier nicht nur um die Frage, ob es Gott gibt oder nicht. Selbst wenn es ihn gibt, entscheiden sich manche bewusst gegen ihn, weil durch ihn oder die Religionen, die sich auf Gott berufen, viel Leid, Ungerechtigkeit, ja Kriege in unsere Welt gekommen seien. Dass Religionen dafür verantwortlich gemacht werden können und müssen, ist offensichtlich. Doch ob das etwas mit Gott zu tun hat, steht für mich noch einmal auf einem anderen Blatt. Hier wird Gott, auch von Religionen beziehungsweise manchen ihrer Vertreter und Repräsentanten, für etwas vereinnahmt, was mit Gott nichts zu tun hat.
An dieser Stelle wird für mich besonders deutlich, wie sehr menschliche Gedankengebäude von Gott so unendlich weit weg sind von dem, was Gott im Tiefsten ausmacht. Nicht selten entarten diese äußeren, abstrakten Überlegungen zu und über Gott zu einer Ideologie. Für den, der Gott aus seiner eigenen Tiefe heraus begegnet ist, hat das wenig, ja nichts mit Gott zu tun.
Wer daher Gott verneint oder ablehnt, weil sein Bild, seine Vorstellung von Gott auf diesen äußeren Überlegungen oder den Verzerrungen von Gott, für die zum Teil auch die Religionen selbst verantwortlich zu machen sind, gründet, den kann ich gut verstehen. Ich wünsche ihm aber, dass er sich dadurch nicht davon abhalten lässt, zumindest offen dafür zu sein, den »wahren« Gott zu finden, der ihm nach meiner Überzeugung nur in der eigenen Tiefe begegnen kann.
Im Traum gibt es keine Atheisten
ANSELM GRÜN: C. G. Jung meinte einmal, im Traum gebe es keine Atheisten. Denn die Weisheit der Seele trage in sich Symbole und Bilder von Gott. Er hat die Erfahrung gemacht, dass keiner seiner Patienten über 35 Jahre wirkliche Heilung erfahren hat, wenn er sich nicht dem Thema Gott und Religion stellte. Jung würde diesen modernen Atheisten antworten: »Ihr denkt nur mit dem Verstand. Aber ihr überspringt die Weisheit der Seele. Wer jedoch die Weisheit der Seele überspringt, der wird rastlos und letztlich neurotisch.«
Die Aggressivität des neuen Atheismus zeigt deutlich, dass man sich hier gegen die Weisheit der Seele wendet und daher so viele rationale Gründe braucht, um das Wissen der Seele zu entwerten und abzuwehren. Ich habe den Eindruck, dass die Atheisten es heute nötig haben, in dieser Welt hoffähig zu werden. Daher treten sie so selbstbewusst auf.
WUNIBALD MÜLLER: Viele Atheisten sind Atheisten, weil sie gar nicht anders können. Sie sind davon überzeugt und müssen es ja um ihrer eigenen Redlichkeit willen sein. Ich bin von meiner persönlichen Lebenserfahrung und von meinem Beruf als Psychotherapeut her nicht so sehr an philosophischen und theologischen Fragestellungen interessiert, ob jetzt Gott existiert oder nicht, sosehr ich das für wichtig und legitim halte.
Für mich ist entscheidender, welche Bedeutung mein Glaube oder aber mein Nicht-Glaube an Gott bei der Bewältigung der existenziellen Fragestellungen und Erfahrungen meines Lebens einnimmt. Ich denke da an die Auseinandersetzung mit persönlichem Leid, existenzieller Angst, existenziellem Alleinsein,Vergänglichkeit und Tod.
Ich pflichte Wittgenstein bei, der in seinem Tractatus logicophilosophicus auf die Frage nach der Existenz Gottes schreibt: »Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt worden sind.« Die Gottesfrage wird hier also heruntergehoben in die Banalität des Alltags, in die Wirklichkeit unseres Lebens. Ich erfahre dann etwas von Gott durch einfache Menschen, kann Gott in ihrem Leben ablesen und entdecken.
Der Weisheit der Seele trauen
ANSELM GRÜN: In der Diskussion mit Jugendlichen höre ich oft das Argument: »Gott gibt es nicht. Das ist alles nur Einbildung, damit die Menschen besser mit ihrem Leid zurechtkommen. Doch wir müssen das Leid einfach bewältigen.« Natürlich ist in dieser Argumentation etwas richtig. Ob Gott Einbildung ist oder nicht, können wir letztlich nicht beweisen.Wir müssen uns für eine Variante entscheiden.