Auður Ava Ólafsdóttir

Weiß ich, wann es Liebe ist?

Roman

Aus dem Isländischen von

Angelika Gundlach

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

Afleggjarinn

bei Salka – Reykjavík – 2008

© Auður Ava Ólafsdóttir 2007

 

Umschlagfoto: Regina Göllner

 

Der Verlag dankt Bókmenntasjóður/Icelandic Literature Fund

für die Förderung der Übersetzung.

 

 

 

 

Suhrkamp eBook Berlin 2011

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels

eISBN 978-3-518-74790-2

 

www.suhrkamp.de

Gewidmet

meiner Mutter

 

 

»Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde, und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise.«

(1. Mose, 1,29)

Eins

Jetzt, wo ich dabei bin, das Land zu verlassen, und es schwer zu sagen ist, wann ich zurückkomme, will mein siebenundsiebzigjähriger Vater, daß uns die letzte Abendmahlzeit in Erinnerung bleibt, und etwas nach Mamas handgeschriebenen Rezepten zubereiten, etwas, das Mama möglicherweise zu einem solchen Anlaß auch zubereitet hätte.

– Ich hatte die Idee, sagt er, panierten, gebratenen Schellfisch zu machen und danach Kakaosuppe mit Schlagsahne. Ich hole Jósef in dem siebzehn Jahre alten Saab im Heim ab, während Papa versucht, das mit der Kakaosuppe hinzukriegen, Jósef steht schon lange auf dem Trottoir parat und freut sich offensichtlich, mich zu sehen. Er ist sonntäglich gekleidet, weil ich abreisen werde, er trägt das Hemd, das Mama ihm zuletzt gekauft hat, blauviolett mit Schmetterlingsmuster.

Während Papa die Zwiebeln brät und die Fischstücke in der Panade bereitliegen, gehe ich ins Treibhaus hinaus, um die Rosenschößlinge zu holen, die ich mitnehmen will. Papa ist mir auf den Fersen, die Schere in der Hand, um Schnittlauch zu holen, den er auf den Schellfisch streuen will. Jósef folgt ihm still, er kommt jedoch nicht ins Glashaus, nachdem er die Glasscherben auf dem Boden gesehen hat, weil durch den Februarsturm so viele Scheiben zerschlagen worden sind, statt dessen steht er draußen an der Schneewehe und verfolgt, was wir tun. Er und Papa haben dieselbe Art Weste an, nußbraun mit gelben Rhomben.

– Deine Mutter hat den Schellfisch gewöhnlich mit Schnittlauch serviert, sagt Papa, und ich nehme ihm die Schere aus der Hand und strecke mich zu dem immergrünen Büschel in der Ecke des Treibhauses, schneide die Spitzen des Schnittlauchs ab und reiche sie ihm. Ich bin Alleinerbe von Mamas Treibhaus, woran mich Papa regelmäßig erinnert, nicht daß man von Anbau in großem Stil reden könnte, hier geht es nicht um dreihundertfünfzig Tomatenpflanzen und fünfzig Gurkenpflanzen, die von Mutter zu Sohn vererbt werden, eigentlich geht es nur um die Rosen, die von allein wachsen, ohne daß sie besonders gepflegt werden müßten, und vielleicht zehn Tomatenpflanzen, die noch da sind. Papa will sie gießen, während ich weg bin.

– Ich war nie sehr für Gemüse, Lobbi, es war das Hobby deiner Mutter. Ich selbst könnte höchstens eine Tomate in der Woche essen. Was meinst du, wie viele Tomaten trägt so ein Stock?

– Dann versuch, sie zu verschenken.

– Ich kann nicht dauernd bei den Nachbarn mit Tomaten anklopfen.

– Was ist mit Bogga?

Ich sage das, obwohl ich vermute, daß Mamas Freundin über die Jahrzehnte denselben Geschmack angenommen hat wie Papa.

– Du willst doch nicht, daß ich Bogga jede Woche mit drei Kilo Tomaten besuche? Sie würde vorschlagen, daß ich zum Abendessen bleibe. Ich ahne, was er als nächstes sagen wird.

– Ich hätte das Mädchen und das Kind eingeladen, fährt er fort, aber ich wußte genau, daß du es nicht willst.

– Ja, ich will es nicht, wir sind kein Paar und sind es nie gewesen, das Mädchen, wie du sie nennst, und ich, obwohl wir ein Kind miteinander haben. Es war ein Unfall.

Ich habe längst vor meiner eigenen Tür gekehrt, und Papa sollte allmählich wissen, daß das Kind die Frucht eines gedankenlosen Augenblicks ist, die Beziehung zwischen seiner Mutter und mir beschränkt sich auf ein Viertel einer Nacht, vielleicht auch nur ein Fünftel.

– Deine Mutter hätte keine Einwände gehabt, Mutter und Tochter zum letzten Abendessen einzuladen. Jedesmal, wenn Papa es nötig hat, seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, ruft er Mama zur Unterstützung aus dem Grab herauf.

Mir ist ziemlich seltsam zumute, jetzt, wo ich mich, wenn ich das sagen darf, direkt am Schauplatz der Befruchtung befinde, mit meinem bejahrten Vater neben mir und meinem geistig behinderten Zwillingsbruder direkt draußen vor der Scheibe.

Papa glaubt nicht an Zufälle, zumindest nicht, wenn es um die wichtigsten Begebenheiten des Lebens, Geburt und Tod, geht, Leben entsteht und erlischt nicht einfach so aus Zufall, sagt er. Er hat kein Verständnis dafür, daß eine Befruchtung auf dem Zufall einer einzigen Begegnung beruht, daß es einem Mann ohne weiteres passieren kann, mit einer Frau zu schlafen, und er hat auch kein Verständnis dafür, daß der Tod durch Nässe oder losen Kies in einer Kurve verursacht sein soll, wenn man ihn auch durch Zahlen und statistische Berechnungen erklären kann. Papa denkt anders darüber, die Welt hängt durch Zahlen zusammen, sie sind der innerste Kern des Schöpfungswerkes, und aus Daten kann man eine tiefsinnige Wahrheit und Schönheit herauslesen. Was ich einen Zufall oder eine Gelegenheit nenne, je nach dem, ist für Papa Teil eines komplizierten Systems. Zu viele Zufälle haben keinen Bestand, vielleicht einer, aber nicht drei, nicht wiederholtes Aneinanderreihen von Zufällen, sagt er: Mamas Geburtstag, der Geburtstag seiner Enkelin und Mamas Todestag, alles an ein und demselben Datum, am siebten August. Ich selbst verstehe Papas Berechnung nicht, meine Erfahrung ist, daß gerade dann, wenn man annimmt, daß etwas ganz Bestimmtes passiert, etwas ganz anderes passiert. Ich habe nichts gegen den Zeitvertreib eines Elektrikers im Ruhestand, solange seine Berechnungen nichts mit meiner Nachlässigkeit beim Gebrauch von Verhütungsmitteln zu tun haben.

– Du läufst doch nicht vor etwas weg, lieber Lobbi?

– Nein. Ich habe mich gestern von Mutter und Tochter verabschiedet, füge ich hinzu. Er kommt an dieser Stelle nicht weiter, deshalb wechselt er das Gesprächsthema.

– Du hast wohl keine Ahnung, wo deine Mutter das Rezept für Kakaosuppe versteckt hat, ich habe Schlagsahne gekauft.

– Nein, aber wir können vielleicht versuchen, es zusammen rauszufinden.

Zwei

Als ich aus dem Treibhaus komme, sitzt Jósef am Tisch, die Hände im Schoß, aufrecht, mit rotem Schlips zu dem blauvioletten Hemd. Mein Bruder legt viel Wert auf Kleidung und Farben und trägt häufig einen Schlips wie Papa. Papa hat zwei Kochplatten voll aufgedreht, unter dem Kartoffeltopf und unter der Bratpfanne, er scheint das Kochen nicht ganz im Griff zu haben, vielleicht ist er nervös, weil ich abreise. Ich husche an ihm vorbei und gieße Öl in die Pfanne.

– Deine Mutter hat immer Margarine verwendet, sagt er.

Keiner von uns ist besonders geschickt im Kochen, meine Rolle in der Küche beschränkte sich darauf, die Deckel von den Rotkohlgläsern zu schrauben und mit dem Dosenöffner die Dosen mit den grünen Bohnen zu öffnen. Zwar ließ Mama mich abwaschen und stellte Jósef zum Abtrocknen an. Er beschäftigte sich unendlich lange mit jedem Teller, schließlich nahm ich ihm das Geschirrtuch weg und erledigte den Rest.

– Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst du in nächster Zeit keinen Schellfisch bekommen, lieber Lobbi, sagt Papa. Ich will ihn nicht verletzen, indem ich sage, daß es mir nach vier Monaten Erfahrung mit Fischschleim auf See ziemlich egal ist, wenn ich nie wieder einen Fischschwanz esse.

Weil Papa seinen Jungen etwas Gutes tun will, überrascht er uns mit Currysauce.

– Ich habe sie nach einem Rezept von Bogga gemacht, sagt er.

Die Sauce sieht eigentümlich grün aus, im Grunde wie zitterndes Gras nach einem Regenschauer im Frühling. Ich frage ihn nach der Farbe.

– Ich habe Curry und grüne Speisefarbe verwendet, erklärt er. Ich sehe, daß er das Glas Rhabarbermarmelade herausgenommen und neben meinen Teller gestellt hat.

– Das ist das letzte Glas, das von deiner Mutter übrig ist, sagt er, und ich betrachte seine Schultern, während er im Saucentopf rührt, in der braunen Weste mit Rhombenmuster.

– Du willst doch nicht die Rhabarbermarmelade zum Fisch essen?

– Nein, mir fiel nur ein, daß du das Glas vielleicht auf die Reise mitnehmen willst.

Mein Bruder Jósef ist still, und Papa redet auch nicht viel bei Tisch, insgesamt sagen wir nicht viel, Vater und wir. Ich helfe meinem Zwillingsbruder und zerschneide die zwei Kartoffeln für ihn. Die grüne Sauce beachtet er nicht, vorsichtig kratzt er die Haut des Fisches ab und schiebt sie auf dem Teller zur Seite. Ich betrachte meinen braunäugigen Bruder, der einem bekannten Filmschauspieler ähnelt, es ist unmöglich, dahinterzukommen, was in seinem Kopf vorgeht. Zum Ausgleich nehme ich mir reichlich von Papas Sauce. Da spüre ich zum ersten Mal die Hexerei im Magen.

Nach dem Essen, während ich abwasche, macht Jósef Popcorn, das tut er immer, wenn er auf Wochenendbesuch kommt. Er nimmt immer denselben dickbödigen Topf aus dem Schrank, mißt genau drei Eßlöffel Öl ab und streut vorsichtig Mais aus der Tüte, bis gelbe Körner den Boden bedecken. Danach legt er den Deckel auf den Topf und stellt die Platte vier Minuten auf die höchste Stufe. Wenn das Fett heiß ist, dreht er die Hitze herunter. Er nimmt die Glasschale und das Salzfaß und weicht nicht von dem Topf, bis alles fertig ist. Danach sehen wir drei zusammen die Wochenschau, mein Bruder hält auf dem Sofa meine Hand, die Glasschale mit dem Popcorn steht auf dem Tisch. Es sind noch keine zwei Stunden vergangen, seit mein Zwillingsbruder zu seinem üblichen Wochenendbesuch eingetroffen ist, schon reicht er mir die Platte mit Liedern, jetzt ist es Zeit zu tanzen.

Drei

Sonst nehme ich nicht viel mit, und Papa wundert sich darüber, daß ich so wenig Gepäck habe. Ich wickle nasse Zeitungen um die Schößlinge und packe sie in die vordere Tasche des Rucksacks. Wir fahren mit dem Saab, den Papa schon hat, seit ich denken kann. Jósef sitzt schweigend auf dem Rücksitz. Papa hat immer die Baskenmütze auf, wenn er längere Strecken fährt, aus der Stadt hinaus. Er bleibt weit unter der gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit, seit dem Unfall fährt er nicht schneller als vierzig Kilometer. Er fährt so langsam durch die unebenen Lavafelder, daß ich die Vögel betrachten kann, die sich in dem bleiernen Morgengrauen in regelmäßigen Abständen auf den blauvioletten Lavaspitzen aufreihen, soweit das Auge reicht, Note für Note wie ein wehmütiges Musikstück, das immer lauter wird. Papa ist kein geübter Fahrer, meistens ist Mama gefahren. Es ist eine lange Schlange Autos hinter uns und ständig versucht jemand, uns zu überholen. Das bringt meinen Vater aber nicht aus der Ruhe. Ich habe auch keine Angst, meinen Flug zu verpassen, denn Papa kommt immer rechtzeitig an.

– Soll ich fahren, Papa?

– Nein, aber vielen Dank, lieber Lobbi. Genieß jetzt einfach das Land, von dem du dich verabschieden wirst, aller Wahrscheinlichkeit nach wirst du in der nächsten Zeit nicht durch Lavafelder fahren.

Wir schweigen beide eine Weile, während ich das Land genieße, von dem ich mich verabschieden werde.  Als wir an der Abzweigung vorbeigekommen sind, die hinaus zum Leuchtturm führt, will Papa aber ein bißchen über meine Zukunftspläne reden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Es gefällt ihm nicht, daß ich mich für Gärtnerei interessiere.

– Du mußt entschuldigen, lieber Lobbi, daß dich dein alter Vater einfach nach deinen Zukunftsplänen fragt. Ich tue es nicht aus Neugier und meine es auch nicht böse.

– Ist schon in Ordnung.

– Hast du für dich entschieden, was du studieren willst?

– Ich habe mich entschieden, Gärtner zu werden.

– Ein Mann mit deinen Fähigkeiten muß studieren.

– Fang nicht damit an, Papa.

– Ich finde, du gehst schlecht um mit deinen guten Gaben, lieber Lobbi.

Es ist schwierig, Papa zu erklären, daß der Garten und die Rosen im Treibhaus Mamas und mein gemeinsames Hobby waren.

– Mama hätte mich verstanden.

– Ja, deine Mutter fand im großen und ganzen alles gut, was du gemacht hast, sagt er. Sie hätte trotzdem nichts dagegen gehabt, daß du an die Universität gehst.

Als wir in das neue Viertel zogen, gab es kaum Bewuchs, kahle Erdflächen und Felsböden, windgepeitschte Kiesbänke hier und da. Überall waren Neubauten oder Grundstükke für Häuser, auf denen gelbe Pfützen standen. Die Büsche kamen viel später. Das Viertel war zum Meer hin offen, oft blies ein starker Wind, und in den Gärten gab es keinen Windschutz, die Leute hatten es aufgegeben, Stiefmütterchen in Beete zu pflanzen. Mama war die erste, die im Viertel versuchte, Bäume zu pflanzen, und das galt in den ersten Jahren als exzentrisch. Während andere sich damit begnügten, einen Rasen anzulegen und bestenfalls eine Hecke zwischen den Gärten zu pflanzen, um an drei Tagen eines Sommers im Wind ein Sonnenbad zu nehmen, pflanzte sie Goldregen,  Ahorn, Esche und blühende Büsche in den Windschatten am Haus. Sie gab nicht auf, obwohl sie die Pflanzen in den nackten Felsboden stecken mußte.

Im zweiten Sommer baute Papa südlich vom Haus das Treibhaus. Wir brachten die Pflanzen zuerst im Treibhaus unter und setzten sie dann in der ersten oder zweiten Woche im Juni, wenn es keinen Nachtfrost mehr gab, in den Garten. Zunächst wollten wir sie nur den Hochsommer über draußen lassen und sie danach wieder ins Treibhaus nehmen, aber dann kam wohl ein guter Herbst, und wir verlängerten den Aufenthalt im Freien um einen weiteren Monat. Und eines Winters ließen wir unsere Pflanzen unter einer zwei Meter hohen Schneewehe kuscheln.  Am Ende gedieh bei Mama alles im Garten, alles wuchs unter ihren Händen. Nach und nach verwandelte sich der Grund in einen Märchengarten, der Verwunderung und Aufmerksamkeit erregte. Seit Mamas Tod haben die Nachbarsfrauen manchmal mich um Rat gefragt.

– Es braucht nur ein wenig Sorgfalt und vor allem Zeit, so lautete Mamas Anbauphilosophie in aller Kürze.

– Du und deine Mutter, ihr hattet eure eigene Welt, zu der Jósef und ich nicht gehörten, vielleicht haben wir sie nicht verstanden. Papa hat in letzter Zeit angefangen, von Jósef und sich als Einheit zu sprechen, Jósef und ich, sagt er.

Mama ging manchmal in hellen Sommernächten hinaus, um im Garten ordentlich zuzupacken oder sich im Treibhaus zu beschäftigen, es war, als brauchte sie nicht so viel Schlaf wie andere Menschen, besonders nicht im Sommer. Wenn ich nachts nach Hause kam, nachdem ich mit den Freunden unterwegs gewesen war, stand Mama mit einem roten Plastikeimer und rosa Gartenhandschuhen draußen auf dem Beet, während Papa schlief. Wie zu erwarten, war niemand sonst auf den Beinen, und es war unglaublich still. Mama begrüßte mich und guckte mich an, als wisse sie etwas über mich, von dem ich selbst keine Ahnung hatte. Dann setzte ich mich eine Viertelstunde oder länger zu ihr ins Gras und jätete nur so zum Schein ein bißchen Unkraut, um ihr Gesellschaft zu leisten. Vielleicht hatte ich eine halbe Flasche Bier in der Hand, die ich in das Stiefmütterchenbeet steckte, um mich dann hinzulegen, einen Ellenbogen unter dem Kopf, und zuzusehen, wie die Wattewolken vorbeischwebten. Wenn ich mit Mama allein sein wollte, ging ich zu ihr ins Treibhaus hinaus, oder in den Garten, dann konnten wir miteinander reden. Manchmal wirkte sie zerstreut, dann fragte ich sie, woran sie gerade dachte, und sie antwortete, ja, ja, mir gefällt, was du sagst. Und sie lächelte zustimmend und ermunternd.

– Für einen, der zum Studieren so begabt ist wie du, gibt es doch keine Zukunft in der Gärtnerei.

– Ich glaube nicht, daß ich zum Studieren besonders begabt bin.

– Auch wenn du einen alten Vater hast, lieber Lobbi, ist er noch lange nicht senil. Zufällig habe ich all deine Prüfungszeugnisse aufbewahrt. Zwölf Jahre und der Beste in der Klasse. Sechzehn Jahre und der Beste des Jahrgangs, Abitur und Klassenprimus.

– Ich kann nicht glauben, daß du darauf immer noch Wert legst. Die waren doch längst in einer Kiste im Schuppen. Schmeiß den Kram weg, Papa.

– Zu spät, lieber Lobbi, Thröstur vom Fotogeschäft ist dabei, es für mich einzurahmen.

– Das ist nicht dein Ernst?

– Du denkst also nicht über ein Universitätsstudium nach?

– Nein, vorläufig nicht.

– Was ist mit Botanik?

– Nein.

– Biologie?

– Nein.

 Aber Pflanzenbiologie oder Pflanzengenetik, mit Schwerpunkt Pflanzenbiotechnologie?

Papa hat sich Informationen beschafft. Er hält mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und weicht mit dem Blick nicht von der Straße.

– Nein, es interessiert mich nicht, Wissenschaftler oder Hochschullehrer zu werden.

Ich fühle mich besser in feuchter Erde, es ist etwas anderes, lebendige Pflanzen berühren zu können, den Duft von Gras nach einem Regen riecht man nicht in einem Labor. Es ist schwer, Mamas und meine Welt für Papa in Worte zu fassen. Mein Interesse gilt dem, was aus der fruchtbaren Erde wächst.

– Ich will trotzdem, daß du weißt, daß ich einen kleinen Fonds für dich angelegt habe, von dem du profitieren kannst, wenn du dich weiterbilden und an die Universität gehen willst. Das hat nichts mit dem Erbe deiner Mutter zu tun. Jósef ist da, wo er ist, zufrieden, fügt er hinzu. Ich will natürlich dafür sorgen, daß es ihm an nichts fehlt.

– Danke.

Ich diskutiere das Thema Gartenbau nicht mehr mit Papa. Ich kann auch meinem Vater nicht sagen, daß ich nicht immer weiß, was ich will, daß es manchmal schwer ist, so etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben ein für allemal zu entscheiden.

– Leute kommen nicht weit mit ihren Träumen, lieber Lobbi, würde Papa sagen.

– Man muß seinen Träumen folgen, hätte Mama gesagt. Und danach hätte sie aus ihrem Küchenfenster gesehen, als würde sie weit über ihre Grundbesitztümer blicken, als wären es nicht nur ein paar Meter zum Treibhaus und ein paar mehr zum Lattenzaun, als wäre der Garten ein einziges blühendes Beet und als sähe man vor lauter farbenprächtigen Stauden, Bäumen und anderem Bewuchs nicht bis zum Lattenzaun, und als erwarte sie Gäste von ganz weit her. Dann würde sie Backpflaumen in die Schale schütten, sie unter den Wasserhahn stellen und Wasser darüberfließen lassen.

– Es ist selbstverständlich besser, als auf einem Kutter seekrank zu werden, monatelang, sagt Papa schließlich.

Vier

Wir fahren schweigend weiter durch die Lavafelder. Ich spüre immer noch die Abschiedsmahlzeit im Magen, und ich habe ein Gefühl, als wäre die Hexerei, die ihren Ursprung wahrscheinlich in der grünen Sauce hatte, dabei, sich in einen anhaltenden Schmerz zu verwandeln, hier im Auto, mitten im Lavafeld, nicht weit von der Stelle, wo Mama mit dem Auto umgekippt ist. Ich erkenne die Kurve, wo das Auto von der Straße abgekommen ist, da ist eine kleine Senke mit Gras, mir ist, als sähe ich die Stelle, wo Mama aus dem Wrack geschnitten wurde, sehr deutlich.

– Deine Mutter hätte nicht vor mir fortgehen sollen, die Ärmste, sechzehn Jahre jünger, sagt Papa, als wir an der Stelle vorbeifahren.

– Nein, sie hätte nicht vor dir fortgehen sollen.

Mama hatte immer solche Ideen wie beispielsweise an ihrem Geburtstag Beeren zu sammeln, sehr früh am Morgen an irgendeiner geheimnisvollen Lieblingsstelle, um dorthinzukommen, mußte sie durch die Lava fahren. Danach hatte sie uns, ihre Jungens, wie sie Papa, mich und Jósef nannte, zu Waffeln mit Schlagsahne und den frischgepflückten Blaubeeren einladen wollen. Ich sehe jetzt, daß es für sie oft schwer gewesen sein mußte, lauter Männer im Haus zu haben, keine Tochter zu haben.

Ich nehme mir Zeit, bevor ich mich Mama im Auto, das umgekippt in einer grasbewachsenen Senke im Lavafeld liegt, nähere. Ich lasse mir Zeit, um die Natur zu beobachten, kreise lange um die Stelle, wie ein Fotograf, der auf einem Filmset Bilder von einem Kran aus macht, bevor ich zu Mama komme, der Schauspielerin, die die Hauptrolle innehat und um die sich alles dreht. Es ist der siebte August, ich habe beschlossen, daß der Herbst früh gekommen sein muß. Deshalb sehe ich viel Rotes und flammend Gelbes in der Natur, ich sehe lauter Varianten von Rot am Schauplatz des Unfalls: rostrotes Beerenreisig, den blutroten Himmel, die rotvioletten Blätter an ein paar Bäumchen in der Nähe, das goldene Moos. Mama selbst trug eine weinrote, geknöpfte Strickjacke, und das getrocknete Blut war erst zu sehen, als Papa die Jacke zu Hause in der Badewanne spülte. Indem ich bei den Nebensachen des Bühnenbildes verweile, wie man zuerst den Hintergrund eines Gemäldes genau betrachtet, bevor man zum Motiv selbst kommt, schiebe ich Mamas Todesstunde auf, ziehe die Zeit in die Länge bis zum Unvermeidlichen, der Stunde des Abschieds. Dann komme ich zu der Szene, wo Mama noch im Autowrack ist, oder gerade herausgeschnitten und auf die Erde gelegt worden ist. Ich beschließe, daß es in der grasbewachsenen Senke im Lavafeld eine kleine Ebene gibt, als hätte jemand zwei Hügelchen abgeschnitten und dann Samen in die Wunden gesät, dort legen sie sie unendlich vorsichtig hin. Nach meiner Vorstellung gibt sie entweder noch Lebenszeichen oder ist tot. Papa fährt so langsam, daß ich den Baum sehen kann, er steht noch dort, wo ich ihn in die Erde gesteckt habe, eine Zwergkiefer, ein Versuch von Waldanbau mitten in dem unebenen Lavafeld, ein einzelner Baum in dem sparsam bewachsenen Felsboden, so setzte ich Mama an dieser Stelle ein Denkmal.

– Ist dir kalt? fragt Papa und stellt die Heizung auf die höchste Stufe. Es ist glühend heiß im Auto.

– Nein, mir ist nicht kalt.

Ich habe Schmerzen im Bauch, das sage ich jedoch Papa nicht. Seine Sorge erschlägt einen, Mama war auf andere Weise besorgt, sie hat mich verstanden.

– Jaja, lieber Lobbi, bald sind wir da, die Maschinen sind schon zu sehen.

Während wir uns dem Flughafen nähern, hebt sich ein schwarzer Vorhang von der Bergkette, zuunterst ist der erste Streifen Tageslicht wie ein hellblauer Rauchschleier zu sehen, die waagerechte Februarsonne bringt schmutzige Autoscheiben zum Vorschein.

Vater und Sohn begleiten mich in den Terminal.

Papa reicht mir ein Paket in Geschenkpapier, als wir uns verabschieden.

– Du machst es auf, wenn du gelandet bist, sagt er. Dann denkst du vielleicht an deinen alten Vater, wenn du dich schlafen legst.

Als ich mich von Papa verabschiede, drücke ich ihn fest an mich, aber nicht sehr lange, umarme ihn schnell und klopfe ihm auf den Rücken, wie es Männer tun. Danach mache ich das gleiche mit meinem Bruder Jósef, er stellt sich sofort zu Papa und nimmt seine Hand. Dann zieht Papa einen dicken Umschlag aus der Gesäßtasche und reicht ihn mir.

– Ich war auf der Bank und habe ein paar Scheine für dich geholt, man weiß nie, was im Ausland alles passieren kann.

Ich gucke ein letztes Mal über die Schulter und sehe Papa und meinen Zwillingsbruder zusammen aus dem Flughafengebäude gehen, Papas Brieftasche ragt halb aus der Gesäßtasche. Vater und Sohn haben beide die kurzen grauen Jacken an, die Papa neulich gekauft hat, es ist nicht festzustellen, wer von ihnen besser gekleidet ist. Jósef ist im Aussehen das vollkommene Gegenteil von mir, klein gewachsen, braunäugig und mit dunkler Haut, als wäre er gerade von einem Sonnenstrand zurückgekehrt. Wäre da nicht die Farbzusammenstellung der Kleidung, könnte mein geistig behinderter Zwillingsbruder Pilot sein, so gut gekleidet und soigniert sieht er aus. Ich beschließe, mir das Bild von ihm in dem blauvioletten Hemd mit dem Schmetterlingsmuster einzuprägen. Wenn es richtig Tag wird, werde ich den braunen Schneematsch hinter mir gelassen haben, das Salz von der Erde wird höchstens noch als ein weißer Rand auf den Spitzen der Schuhe sitzen.

Fünf

Als das Flugzeug die Startbahn verläßt und von dem frostbleichen Harsch abhebt, merke ich deutlich, wie der Schmerz im Unterleib zunimmt. Ich lehne mich über meine Nachbarin und gucke zum letzten Mal aus dem Fenster, das weißscheckige Feld liegt wie ein großes Stück durchwachsenes Fleisch da unten. Die Frau hat einen gelben Rollkragenpullover an, sie drückt sich im Sitz zurück und überläßt mir bereitwillig ihr Fenster, aber bald habe ich keine Lust mehr, ihre Brüste mit der Kraterkette zu vergleichen oder mich noch länger an der Aussicht zu erfreuen. Obwohl ich Erleichterung empfinden sollte, verhindert der Schmerz im Bauch, daß ich die Freiheit voll und ganz genießen kann, die sich einstellt, wenn man alles unter sich gelassen hat. Ich spüre es eher, als daß ich es sehe, wie einen klebrigen Klumpen Rogen: die schwarze Lava, das gelbe, verfilzte, welke Gras, die milchweißen Flüsse, die hügeligen Landstriche, die Moore, die verblaßten Lupinenfelder, drumherum endloser Fels. Gibt es etwas Abweisenderes als Fels? Nicht mal eine Rose würde mitten in dem zerklüfteten Fels wachsen. Dies ist zweifellos ein ungeheuer schönes Land, aber obwohl ich einige Dinge dort gernhabe, Orte und Menschen, läßt es sich am besten auf Briefmarken konservieren.

Als wir in der Luft sind, greife ich nach dem Rucksack, um zu sehen, wie die Rosenschößlinge in dreiunddreißigtausend Fuß Höhe zurechtkommen. Sie sind in tropfnasse Zeitungen gewickelt, ich drücke sie noch einmal fester um die grünen Stengel, es scheint kein Zufall zu sein, eher bezeichnend für meinen körperlichen Zustand, daß ich die Schößlinge völlig absichtslos in die Seiten mit den Nachrufen gewickelt habe. In dem Augenblick, in dem ich die irdische Welt verlasse, ist es ganz natürlich, daß ich an den Tod denke. Ich bin ein zweiundzwanzigjähriger Mann und muß mich einige Male am Tag in Überlegungen über den Tod vertiefen.  An zweiter Stelle kommt der Körper, der eigene Körper und der anderer, und an dritter Stelle kommen Rosen und andere Pflanzen, die Reihenfolge kann sich allerdings von Tag zu Tag ändern. Ich packe die Pflanzen wieder ein und sinke auf den Sitz neben der Frau.

Neben dem Schmerz, der dabei ist, sich in ein heftiges Stechen zu verwandeln, empfinde ich eine zunehmende Übelkeit, lege die Hände vor den Bauch und krümme mich zusammen. Der Motorlärm erinnert an den Kutter und die Übelkeit daran, wie ich vier Monate lang ständig mit der gärenden Seekrankheit herumgehockt habe. Es bedurfte keines Wellengangs, sobald ich an Bord des Schiffes ging, begann es im Bauch zu gären, und ich verlor jede Orientierung. Wenn das dichte Zittern im Stahlrumpf zunahm und das taktfeste Schaukeln am Kai dazukam, brach mir der kalte Seekrankheitsschweiß aus, und sobald wir die Vertäuungen lösten, hatte ich mich schon einmal erbrochen. Wenn ich wegen der Seekrankheit nicht schlafen konnte, ging ich hinaus und sah in den Nebel, der Horizont ging rauf und runter, während ich versuchte, dem Wellengang zu folgen. Nach neun Fahrten war ich der blasseste Mann auf der Erde geworden, selbst die Augen waren fließend wasserblau.

– Für die Rothaarigen ist es schlimm, sagte der Erfahrenste, die überstehen die Seekrankheit am schlechtesten.

– Und kommen am seltensten zurück, sagte ein anderer.

Sechs

Die Stewardessen laufen auf und ab, Beine in braunen Nylonstrumpfhosen und offene hochhackige Slingpumps, in meiner gekrümmten Haltung habe ich sie genau im Blick. Sie haben mich im Auge und laufen ein paarmal den Gang auf und ab, um nach mir zu schauen, streichen Fusseln von der Rückenlehne, bieten mir ein Kissen und eine Decke an, ordnen und arrangieren.

– Möchtest du ein Kissen, möchtest du eine Decke? fragen sie mit bekümmerter Miene und schieben mir ein Kissen hinter den Kopf und breiten eine Decke über mich. Dann gehen sie wieder nach hinten und beraten sich.

– Ist dir nicht gut? fragt meine Nachbarin am Fenster.

– Ja, ich fühle mich nicht wohl, sage ich.

 Hab keine Angst, sagt sie und lächelt und zupft die Decke über mir zurecht. Ich sehe jetzt, daß sie in Mamas Alter sein könnte. Drei Frauen umsorgen mich in der Maschine, ich bin ein kleiner Junge und fange beinah an zu weinen. Ich richte mich im Sitz auf und überwinde mich und nehme den Aludeckel von meinem Essen.  Als die Stewardeß wieder vorbeikommt, frage ich sie, was im Essen gewesen ist.

– Ich werde nachfragen, sagt sie und verschwindet wieder nach hinten.

Es dauert ein Weilchen, bis sie zurückkommt. Derweil kann ich der Frau neben mir zeigen, daß ich ein wohlerzogener Junge bin, was Mama bestätigen würde, also reiche ich ihr die Hand und stelle mich vor.

– Arnljótur Thórir.

Und ich sorge für noch bessere Stimmung und greife in die Tasche der Lederjacke und ziehe ein Foto von einem barhäuptigen kleinen Kind in grüner Frotteekleidung heraus. Es kann gut sein, daß sie es nicht sehr männlich findet, mit Blumenschößlingen, eingewickelt in durchnäßte Nachrufe, zu reisen und das Flugzeugessen zu erbrechen, aber ich gebe ihr nicht die Gelegenheit, mir aufdringliche Fragen nach persönlichen Verhältnissen zu stellen, sondern fange selbst ein Gespräch an.

– Meine Tochter, sage ich und halte ihr das Bild hin.

Mir scheint, daß die Frau ein bißchen stutzt, dann lächelt sie freundlich und tastet nach der Lesebrille in der Tasche, nimmt das Bild und hält es ins Licht.

– Ein schönes Kind, sagt sie. Wie alt ist sie?

– Fünf Monate, als das Bild aufgenommen wurde. Sechseinhalb Monate heute, füge ich hinzu. Sechs Monate und neunzehn Tage, wollte ich eigentlich noch hinzufügen, aber der Schmerz im Unterleib hält mich davon ab.

– Ein schönes und intelligentes Kind, wiederholt sie, große, klare Augen. Sie hat vielleicht nicht sehr viel Haare für ein Mädchen, ich hätte wirklich geglaubt, es wäre ein Junge.

Die Frau sieht mich lieb an.

– Ich erinnere mich, daß sie gerade aufgewacht war und daß man ihr die Mütze abgezogen hatte, sage ich, dann legen sich die Haare so. Ja, man hatte sie gerade aus dem Kinderwagen genommen, füge ich hinzu.

Ich nehme das Bild wieder an mich und stecke es in die Tasche. Zum Thema mangelnder Haarwuchs meiner Tochter fällt mir nichts mehr ein, also ist das Gespräch beendet. Im übrigen verdrängt der unheimliche Schmerz schnell alle anderen Gedanken. Ich muß mich wieder erbrechen, und als ich die Augen schließe, sehe ich vor meinem inneren Auge die grasgrüne Sauce auf dem gebratenen Fisch. Die Frau neben mir guckt mich bekümmert an.  Aber ich habe nicht die Kraft, eine weitere Konversation zu beginnen, deshalb tue ich beschäftigt, und recke mich wieder nach dem Rucksack. Ich grabe das Buch mit dem getrockneten Herbarium heraus, und wie durch eine boshafte Laune des Schicksals schlage ich direkt die Seite mit den ältesten Pflanzen auf, den gepreßten Sechsklees, die alle am selben Morgen im Gras zu Hause gepflückt wurden. Papa fand es merkwürdig, daß ich an meinem sechsten Geburtstag drei Sechsklees fand, wie ein Vorzeichen für eine glückliche Geburtstagsfeier später am Tag oder eines Traums, von Bäumen im Garten, die allein für mich zum Klettern da sind.

– Hast du ein Herbarium dabei? fragt meine Nachbarin, sichtlich interessiert. Ich lasse die Frage auf sich beruhen, fische aber vorsichtig noch einen Klee heraus und halte ihn in das Licht der Leselampe über mir, es ist der letzte, der immer noch ganz ist, er ist kurz und brüchig, eine ewige kleine Blume. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, daß ich plötzlich eine Lebensmittelvergiftung habe, und es ist ohne Zweifel bezeichnend dafür, wie mein Leben geworden ist: alles hängt an einem Faden.

Sieben

– Bist du sicher, daß du zurechtkommst, fragt die Stewardeß, als ich versuche, aufrecht von Bord zu gehen. Du bist wahnsinnig blaß.

Als ich aus der Maschine trete, legt die Chefstewardeß eine Hand auf meine Schulter und sagt:

– Wir haben versucht, das mit dem Essen rauszufinden, es gibt zwei, die es probiert haben, aber sie sind sich nicht sicher. Sorry.  Aber es war definitely panierter Fisch mit Schmelzkäsefüllung oder paniertes Hühnchen mit Schmelzkäsefüllung.

Ein Flughafenmitarbeiter schreibt eine Adresse auf einen Zettel, und ich halte das zerknitterte Papier in der feuchten Hand. Ich befinde mich in einer Stadt, in der ich noch nie gewesen bin, mein erster Aufenthaltsort im Ausland, und ich sitze zusammengekrümmt auf dem Rücksitz im Taxi. Der Rucksack steht neben mir, und grüne Triebe ragen aus der herumgewickelten Zeitung in der vorderen Tasche. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob ich allein im Taxi war, ich meine, es ist nicht ausgeschlossen, daß die Frau in dem gelben Rollkragenpullover mich bis zum Ende des Weges begleitet hat.

Der Fahrer beobachtet mich ab und zu im Rückspiegel, neben ihm auf dem Vordersitz sitzt ein großer Schäferhund, dessen nasse Zunge aus dem Maul hängt. Ich sehe nicht, ob der Hund an der Leine ist, aber er schaut mich während der ganzen Fahrt an. Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, hat das Auto vor dem Krankenhaus gehalten, und der Taxifahrer hat sich auf dem Sitz umgedreht und guckt mich an. Er läßt mich die doppelte Taxe bezahlen, weil ich mich im Auto erbrochen habe, aber er wirkt nicht direkt zornig, eher wundert er sich über mein rücksichtsloses Benehmen.

Acht

Zuerst stelle ich vorsichtig den Rucksack ab, damit die Nässe nicht von den Schößlingen tropft, dann lege ich mich der Länge nach auf die plastikbezogene Untersuchungspritsche, zweiundzwanzig Jahre und schon am Ende des Wegs angekommen, die Reise endet, noch bevor sie angefangen hat. Es dauert lange, bis ich meinen Namen auf ein Blatt Papier geschrieben habe, Buchstabe für Buchstabe, eine ganze Ewigkeit. Die Frau, die mir in dem Untersuchungsraum mit dem fluoreszierenden Licht beim Ausziehen hilft, hat braune, glänzende Haare und braune Augen und versucht nach Kräften, mich zu unterstützen, ich bin nackt bis zur Taille und gerade dabei, meine Hose auszuziehen. Ob es Mama ähnlich ergangen ist wie mir, als sie allein draußen im Lavafeld lag und unter den Händen Fremder starb? Es ist jedenfalls klar, daß mein Todestag für viele andere Erdbewohner ein Tag des Glücks wird, bis die Sonne untergeht, werden viele Kinder geboren und jede Menge Hochzeiten gefeiert worden sein.

Nicht daß es eine große Sache wäre zu sterben, die besten Söhne und Töchter der Erde sind vor mir gestorben. Ein bejahrter Vater wird natürlich bedrückt sein, ein geistig behinderter Zwillingsbruder wird sich ein neues System ohne mich einrichten, und ein sprachloses kleines Kind, das noch zu klein war, um auswärts zu übernachten, wird nie seinen Vater kennenlernen. Ich bin jedoch nicht frei von dem Gefühl, etwas versäumt zu haben. Ich hätte gern öfter mit Frauen geschlafen und gern noch die Schößlinge in die Erde gepflanzt.

Als das Mädchen mit den glänzenden Haaren vorsichtig die Hand auf meinen Bauch legt, bemerke ich, daß sie in ihren Haaren eine grüne Spange hat, die wie ein Schmetterling geformt ist, die Frau, die mich in der letzten Viertelstunde meines Lebens pflegt, trägt in ihren Haaren ein Symbol für ein Leben nach dem Tod.

Rosenschößlinge können ohne Wasser nicht leben, deswegen richte ich mich auf dem Ellenbogen auf und zeige auf den Rucksack.

– Pflanzen, sage ich.

Sie greift nach dem Rucksack und trägt ihn zum Bett, sie versteht mich auch ohne Worte. Ich überlege einen Augenblick, ob wir ein Paar werden könnten, wäre ich nicht gerade dabei, mich von dieser Welt zu verabschieden. Sie mag gut zehn Jahre älter sein, vielleicht zweiunddreißig, aber der Altersunterschied spielt in diesem Moment keine Rolle. Der bedenkliche Schmerz im Unterleib führt jedoch dazu, daß ich mit der Idee einer festen Verbindung zwischen uns nicht weiterkomme.  Als ich erbrochen habe, was von dem panierten Flugzeugessen mit der Käsesauce übrig war, hilft sie mir, die nassen Zeitungen vorsichtig von den Schößlingen abzuwickeln, als entfernte sie einen Verband vom Fuß eines Patienten nach geglückter Operation.

– Hattest du die Pflanzen mit? fragt sie, und als sie näher kommt, sehe ich, daß gelbe Tupfen auf den Schmetterlingsflügeln sind.

– Ja, sage ich fließend in der Sprache der Einheimischen.

Sie nickt.

Dann füge ich, ganz der Lateinprimus, hinzu:

– Rosa candida. Wenn es um Pflanzen und Anbau geht, wächst nicht nur meine Beharrlichkeit, sondern auch mein Wortschatz.

– Ohne Dornen, sage ich dann noch.

– Ohne Dornen, wirklich? fragt sie und faltet meine Jeans zusammen und legt sie ordentlich über den Stuhl, auf meinen blauen Pullover mit Zopfmuster, den letzten Pullover, den mir Mama gestrickt hat. Gleich wird die Frau mit der Schmetterlingsspange im Haar die letzte von sieben Frauen sein, die mich nackt gesehen haben.

– Aber die beiden anderen Pflanzen, sind das auch – sie zögert – rosa candida?

– Ja, als Reserve, falls eine sterben sollte, sage ich und lasse mich auf die Plastikmatratze zurücksinken.

Da sie jetzt Zeuge meiner Leiden gewesen ist, mir geholfen hat, als ich mich erbrechen mußte, und die Schößlinge gewässert hat, fühle ich mich genötigt, ihr etwas Persönliches anzuvertrauen. Deswegen ziehe ich die Fotografie des Kindes heraus und reiche sie ihr.

– Meine Tochter, sage ich.

Sie nimmt das Bild und studiert es genau.

– Süß, sagt sie und lächelt mir zu. Wie alt ist sie? Sie stellt einfache und leicht zugängliche Fragen, für die meine Sprachkenntnisse sehr gut ausreichen.

– Knapp sieben Monate.

– Sehr süß, wiederholt sie, aber vielleicht nicht viele Haare für ein sieben Monate altes Mädchen.

Das hatte ich nicht erwartet. Man vertraut einem anderen Menschen im entscheidenden Moment seines Lebens etwas ziemlich Wichtiges an, und er enttäuscht einen. Ganz plötzlich finde ich es enorm wichtig, daß der letzte Mensch, mit dem ich in diesem Leben noch in Verbindung bin, das mit den Haaren versteht. Daß Fotografien täuschen und daß Haare hellhaariger kleiner Kinder im ersten Jahr vielleicht nicht so sichtbar sind wie die von dunkelhaarigen Kindern, die im allgemeinen mit vielen Haaren geboren werden. Mein Herz ist schwer, und nur mein Leiden und meine mangelnden Sprachkenntnisse hindern mich daran, meine Tochter zu verteidigen.

– Knapp sieben Monate, betone ich, als ob das die Sache mit den Haaren endgültig erklärt. Dann erkenne ich, daß es unbesonnen von mir war, ihr das Bild zu zeigen, und will nicht, daß sie sich noch länger damit beschäftigt.

– Gib es mir, sage ich schnell und strecke die Hand nach dem Bild aus. Ich betrachte Flóra Sól, meine Tochter, die mit zwei Zähnen im unteren Gaumen breit lächelt, und erinnere mich, wie ich sie, kurz nachdem sie gebadet worden war, gesehen habe, mit einer kleinen Locke auf der Stirn, als ich unangemeldet kam, um mich von Mutter und Tochter zu verabschieden.

Ich schließe die Augen, während ich zum Operationssaal gerollt werde, mir ist kalt unter dem Laken. Der Schmerz ist erneut zur einzigen konkreten Wirklichkeit geworden, aber natürlich sind meine Leiden bedeutungslos, verglichen mit der Not und den Konflikten in der Welt, Trockenheit, Orkanen und Kriegen.

Ich versuche, in den Mienen und Gebärden der grüngekleideten Leute um mich herum zu lesen, ob ich Hoffnung auf Leben habe. Jemand sagt etwas zu einem Kollegen, und der lacht hinter der grünen Maske, es ist nicht so, als ob es Ernst wäre, nicht so, als ob jemand kurz vor dem Sterben wäre. Nichts ist so trostlos im entscheidenden Moment wie die ausgelassene Stimmung des Personals und eine lässige Art derer, die zurückbleiben, wenn ich gegangen bin. Man spricht nicht einmal von mir – so viel verstehe ich –, sondern von einem Film, den jemand gesehen hat und den ein anderer heute abend sehen will. Das Mohnfeld, genau, ich kenne den Film, er handelt von einem Mann, der eine üble Zurückweisung erfährt und die Frau beraubt, die ihn abgewiesen hat, und sie rauben zusammen eine Bank aus, der Film bekam neulich auf einem Filmfestival den Spezialpreis der Kinokartenverkäufer.

Plötzlich wird mir in einer schnellen Bewegung über die Haare gestrichen. Über die rote Haarpracht, hätte Mama gesagt.

– Hab keine Angst, es ist der Blinddarm, wird hinter der Maske gesagt.

Gestrichen ist eigentlich nicht das richtige Wort. Eher als ließe jemand die Finger schnell und locker durch die Haare laufen. Ich bin ein Vogel, erhebe mich in die Luft, flattere mit den schweren Flügeln und schwebe über der Bühne, ich verfolge alles, was da unten geschieht, aber ich nehme nicht daran teil, denn ich bin frei von allem. Kurz bevor alles zu verschwimmen beginnt, meine ich, Papa neben mir zu hören:

– Rosen bieten einem jungen Mann heute keine Zukunft, lieber Lobbi.

Neun