John-Grier-Heim,
1. März
Liebe Judy,
hör auf, mir Telegramme zu schicken!
Ich weiß natürlich, dass Du alles wissen willst, was hier passiert, und ich würde Dir ja auch Tagesberichte senden, aber ich finde wahrhaftig keine freie Minute. Wenn die Nacht anbricht, bin ich so müde, dass ich ohne Janes strenge Überwachung in meinen Kleidern ins Bett gehen würde.
In einiger Zeit, wenn alles hier etwas regelmäßiger läuft und ich sicher sein kann, dass meine Mitarbeiterinnen alle ihre Aufgaben vollständig erledigen, werde ich die verlässlichste Brieffreundin werden, die Du je gehabt hast.
Fünf Tage ist es her, dass ich Dir geschrieben habe, richtig? In diesen fünf Tagen ist einiges passiert. Dr. MacRae und ich haben einen Schlachtplan ausgearbeitet und kehren in dieser trägen Institution das Unterste zuoberst. Ich mag ihn immer weniger, aber wir haben eine Art Waffenstillstand geschlossen. Und ARBEITEN kann der Mann wirklich. Ich habe immer geglaubt, selbst genug Energie zu haben, aber wenn hier im Heim eine Verbesserung eingeführt werden soll, dann kann ich ihm nur hinterherhecheln. Er ist so stur und hartnäckig und dickköpfig, wie nur ein Schotte sein kann, aber von Kleinkindern versteht er was. Das ist ganz wörtlich gemeint: Er versteht, wie sie körperlich funktionieren; persönliche Gefühle hat er für sie ebenso wenig wie für Frösche, die er womöglich seziert.
Erinnerst Du Dich, wie Jervis eines Abends eine geschlagene Stunde lang über die hehren humanitären Ideale unseres Herrn Doktor doziert hat? Zum Totlachen! Der Mann betrachtet das Waisenhaus als sein privates Labor, wo er seine wissenschaftlichen Experimente durchführen kann, ohne dass ihm liebende Eltern dazwischenfunken. Es würde mich nicht überraschen, wenn ich ihn eines Tages dabei erwische, wie er den Kindern Scharlacherreger in den Haferbrei mischt, um ein neu entwickeltes Gegenmittel zu testen.
Von der Belegschaft des Hauses scheinen mir nur zwei wirklich etwas zu taugen: die Grundschullehrerin und der Mann, der den Heizkessel betreut. Du solltest mal sehen, wie die Kleinen Miss Matthews entgegenlaufen und um Liebkosungen betteln, und wie ausgesucht höflich sie sich den anderen Lehrern gegenüber benehmen. Kinder erkennen einen Charakter besonders rasch. Es wäre mir sehr peinlich, wenn sie mir gegenüber allzu höflich wären.
Sobald ich mich ein bisschen besser zurechtfinde und genau weiß, was wir brauchen, werde ich umfassende Entlassungen vornehmen. Am liebsten würde ich bei Miss Snaith anfangen; aber ich habe entdeckt, dass sie die Nichte eines unserer großzügigsten Stifter ist und daher mehr oder weniger unkündbar. Sie ist eine formlose, kinnlose, blassäugige Kreatur, die durch die Nase redet und durch den Mund atmet. Nie kann sie entschlossen etwas sagen und dann schweigen; ihre Sätze versanden alle in unverständlichem Gemurmel. Jedes Mal, wenn ich die Frau sehe, packt mich der unwiderstehliche Drang, sie an den Schultern zu packen und ihr ein bisschen Entschiedenheit ins Hirn zu schütteln. Und diese Miss Snaith hat die alleinige Aufsicht über siebzehn kleine Würmchen zwischen zwei und fünf Jahren gehabt! Aber wenn ich sie schon nicht entlassen kann, so habe ich sie doch immerhin auf einen untergeordneten Posten verschoben, ohne dass sie es gemerkt hat.
Der Arzt hat ein reizendes Mädchen für mich gefunden, die ein paar Kilometer von hier wohnt und jeden Tag kommt, um den Kindergarten zu leiten. Sie hat große, sanfte, braune Augen wie eine Kuh und wirkt sehr mütterlich (dabei ist sie erst neunzehn), und die Kleinen lieben sie.
Die Leitung der Kinderkrippe habe ich einer fröhlichen, zufriedenen Frau mittleren Alters übertragen, die selbst schon fünf Kinder großgezogen hat und ein Händchen für Babys hat. Die hat unser Herr Doktor auch gefunden. Du siehst, er ist also doch ganz nützlich. Streng genommen untersteht sie Miss Snaith, aber sie reißt schon sehr zufriedenstellend die Führung an sich. Jetzt kann ich nachts ruhig schlafen, ohne fürchten zu müssen, dass meine Kleinen aus Ahnungslosigkeit umgebracht werden.
Du siehst also, die Reformen kommen in Gang; und wenn ich auch mit aller mir zu Gebote stehenden Klugheit nachgebe, wenn es um die grundlegenden wissenschaftlichen Umwälzungen unseres Herrn Doktor geht, so lassen sie mich doch gelegentlich kalt. Mir geht immer und immer wieder die Frage im Kopf herum: Wie kann ich genug Liebe und Wärme und Sonnenschein in das trübselige Leben dieser kleinen Menschen bringen? Und ich bin nicht überzeugt, dass die Wissenschaft des Herrn Doktor das schaffen kann.
Eine unserer dringendsten GEISTIGEN Aufgaben ist die Neuordnung unserer Unterlagen. Die Bücher sind empörend unordentlich geführt worden. Mrs Lippett hatte ein großes schwarzes Haushaltsbuch, in das sie wahllos alle Fakten gestreut hat, die ihr zufällig zu Herkunft, Verhalten und Gesundheit der Kinder über den Weg liefen. Manchmal jedoch hat sie sich wochenlang zu keinem Eintrag herabgelassen. Wenn eine Adoptionsfamilie etwas über die Herkunft eines Kindes wissen will, können wir in der Hälfte der Fälle nicht einmal sagen, wo wir das Kind herhaben!
»Wo bist du denn hergekommen, liebes Kind?«
»Der blaue Himmel hat sich aufgetan, und hier bin ich.«
So lautet die exakte Beschreibung ihrer Ankunft.
Wir brauchen jemanden im Außendienst, eine Frau, die über Land fährt und alle Herkunftsdaten sammelt, die sie über unsere kleinen Küken finden kann. Das dürfte leichtfallen, denn die meisten haben Verwandtschaft. Was hältst Du davon, Janet Ware den Job zu geben? Du weißt doch noch, was für ein Fuchs sie in Wirtschaftskunde war? Von Tabellen und Diagrammen und Untersuchungen konnte sie nie genug kriegen.
Ich muss Dir außerdem mitteilen, dass unsere Waisen sich einer äußerst gründlichen körperlichen Untersuchung unterziehen müssen, und die schockierende Wahrheit ist, dass von den bisher untersuchten achtundzwanzig kleinen Würmern nur fünf allen Anforderungen genügt haben. Und die fünf sind noch nicht sehr lange hier.
Erinnerst Du Dich an den hässlichen grünen Empfangsraum im ersten Stock? Ich habe so viel Grün wie möglich daraus entfernt und ihn als Arztlabor hergerichtet. Es enthält Waagen und Medizin und, das ist das professionellste Detail, einen Zahnarztstuhl sowie eine dieser wundervollen Bohrmaschinen. (Habe ich aus zweiter Hand von Dr. Brice im Dorf gekauft, der seine Patienten mit Emaille und Nickellegierung versorgt.) Der Bohrer wird allgemein als Höllenmaschine betrachtet, und ich als wahre Teufelin, weil ich ihn installiert habe. Doch jedes kleine Opfer, das mit Füllungen entlassen wird, darf eine Woche lang jeden Tag in mein Büro kommen und sich zwei Stückchen Schokolade abholen. Unsere Kinder sind zwar nicht besonders tapfer, aber sie sind Kämpfer, stellen wir fest. Der junge Thomas Kehoe hat dem Zahnarzt beinahe den Daumen abgebissen, nachdem er einen Tisch voller Instrumente umgetreten hatte. Man braucht sowohl Körperkraft als auch Talent, im John-Grier-Heim Zähne zu versorgen.
~
Wurde gerade unterbrochen, weil ich einer wohltätigen Dame unsere Einrichtung zeigen musste. Sie hat fünfzig irrelevante Fragen gestellt, eine Stunde meiner Zeit gestohlen, schließlich eine Träne weggewischt und mir einen Dollar für »meine armen kleinen Mündel« dagelassen.
Bisher sind meine armen kleinen Mündel von den Reformen gar nicht begeistert. Sie mögen die plötzlich hereinströmende frische Luft nicht, die Wasserflut ebenso wenig. Ich habe nämlich noch zwei Mal Baden in der Woche eingeführt, und sobald wir genug Wannen besorgt und ein paar zusätzliche Wasserhähne installiert haben, werden es SIEBEN Bäder sein.
Eine Änderung, die ich angestoßen habe, ist immerhin sehr beliebt. Unser täglicher Speiseplan ist ausgeweitet worden, was von der Köchin als Quell unnötigen Ärgers und vom Rest der Belegschaft als unmoralische Kostenerhöhung beklagt wird. SPARSAMKEIT in Großbuchstaben war so viele Jahre das leitende Prinzip dieser Institution, dass sie zu einer Art Religion geronnen ist. Ich versichere meinen furchtsamen Mitarbeitern zwanzig Mal am Tag, dass sich unsere finanzielle Ausstattung dank der Großzügigkeit unseres Stiftungsvorsitzenden exakt verdoppelt hat und dass mir außerdem von Mrs Pendleton enorme Summen für notwendige Ausgaben wie Eiscreme zur Verfügung gestellt wurden. Aber sie können das Gefühl einfach nicht unterdrücken, dass es sündhafte Verschwendung ist, diese Kinder satt zu machen.
Der Herr Doktor und ich haben die Speisepläne der Vergangenheit gründlich studiert, und wir staunen über den Geist, der sie ersonnen haben mag. Hier ist eines ihrer häufig wiederkehrenden Abendmenüs:
GEKOCHTE KARTOFFELN
GEKOCHTER REIS
PUDDING
Geradezu ein Wunder, dass die Kinder nicht bloß hundertundelf kleine Stärkeklöße geworden sind.
Wenn man sich in dieser Einrichtung umschaut, möchte man am liebsten den Dichter Robert Browning falsch zitieren:
»Vielleicht gibts den Himmel; die Hölle bestimmt;
dazwischen das John-Grier-Heim – wie man’s nimmt!«
S. McB.