Der neue Sonnenwinkel
– 42 –

Wer hat Angst vor dem großen Glück?

Angela trifft eine mutige Entscheidung

Michaela Dornberg

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-943-4

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Im Sonnenwinkel kannte man die Ehefrau des berühmten Professors Auerbach, in Hohenborn war das eher nicht der Fall.

Umso erstaunter war Inge, dass jemand mitten auf dem Marktplatz ihren Namen rief.

Doch sie kannte die Stimme, und deswegen drehte sie sich um, lächelte freundlich den Mann an, der eilig auf sie zugelaufen kam.

»Frau Auerbach, das ist ja eine schöne Überraschung«, sagte der Mann, und ihm war anzusehen, wie sehr er sich freute, Inge zu sehen. Es war Kriminalhauptkommissar Henry Fangmann.

Sie freute sich ebenfalls.

»Sind Sie auf den Spuren eines neuen Falles?«, erkundigte Inge sich, nachdem sie sich gegrüßt hatten.

Er lachte.

»Nein, zum Glück nicht. Ich habe frei und kann dem Kuchen in diesem Wiener Kaffeehaus einfach nicht widerstehen«, sagte er.

Das war ein Zufall!

»Ich auch nicht, und was glauben Sie, wohin ich gerade gehen will?«

Das gefiel Henry.

»Dann schlage ich vor, dass wir dieser Vorliebe gemeinsam frönen und uns auch ein wenig unterhalten.«

Sie mochten sich, und das hatte nichts mit der Anziehungskraft von Mann und Frau zu tun. Sie mochten sich menschlich, und der Kommissar bewunderte Inge für ihre Couragiertheit, die sie gezeigt hatte, als eine Einbrecherbande den Sonnenwinkel unsicher machen wollte, mehr noch, als man ihr sogar nach dem Leben trachtete.

Und auch jetzt im Fall des toten Mädchens vom Sternsee hatte sie richtig gehandelt.

»Herr Fangmann, Sie freuen sich gewiss, auch einmal tagsüber frei zu haben.«

Er lachte. »Ich habe mir einfach mal zwei, drei Stunden frei genommen. Wenn ich all die Überstunden zusammenrechne, die ich noch abbummeln kann, dann sind da Wochen drin. Ich könnte verreisen, ohne einen einzigen Urlaubstag in Anspruch nehmen zu müssen.

Aber so rechne ich nicht. In meinem Beruf hat man keine geregelten Arbeitszeiten, und meistens geschieht etwas außerhalb dieser Zeiten. Doch damit möchte ich Sie nicht langweilen, mein Beruf macht mir Spaß, richtiger, ich bin mit Leidenschaft dabei, und da zählt man keine Stunden. Doch jetzt genug davon.

Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, Frau Auerbach. Ich finde, in Gesellschaft schmecken Kaffee und Kuchen noch einmal so gut.«

Das konnte Inge nur bestätigen.

Das Café war wieder sehr gut besetzt, doch sie hatten Glück und fanden direkt einen freien Tisch. Die aufmerksame Bedienung war direkt zur Stelle, und da sie beide wussten, was sie wollten, standen auch nur kurze Zeit später Kaffee und natürlich die Sachertorte vor ihnen, die natürlich auch der Favorit des Kommissars war, was ihn nur noch sympathischer machte.

Sie unterhielten sich ganz allgemein, es gab viele Themen, die sie beide interessierten. Inge überlegte, ob sie es wagen sollte oder ob sie ihn dadurch in Verlegenheit brachte. Ihre Neugier siegte schließlich.

»Und gibt es schon neue Erkenntnisse zum Tod des Mädchens vom See?«

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, überlegte, doch dann entschloss er sich, offen mit Inge zu reden, weil er wusste, dass diese sympathische Frau nicht zu den Menschen gehörte, die mit brisanten Neuigkeiten sofort hausieren gingen. Das hatte die Vergangenheit gezeigt.

»Es war ein tragischer Unfall«, sagte er, »ein Verbrecher ist definitiv auszuschließen, das sagen die Untersuchungen der Gerichtsmedizin. Außerdem haben wir mittlerweile eine Zeugenaussage, die das bestätigte.«

Inge blickte den Kommissar irritiert an. Eine Zeugenaussage? Sie sprach es aus.

Wieder zögerte der Kommissar kurz.

»Was ich Ihnen jetzt erzähle, bitte ich Sie, ganz vertraulich zu behandeln, Frau Auerbach«, sagte er mit ernster Stimme. »Das muss unter uns bleiben.«

Inge versicherte ihm, dass sie selbstverständlich mit niemandem darüber sprechen werde, dass sie sich an seinen Wunsch halten werde. »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Fangmann.«

Inge war auf einmal aufgeregt, weil sie spürte, dass es nicht einfach nur ein tragischer Unfall war, sondern dass mehr dahintersteckte.

»Das Mädchen war mit jemandem verabredet. Wie sich herausgestellt hat, hatte sie jemanden zum See bestellt, und es war …« Er machte eine kurze Pause. »Es war ein Lehrer ihrer Schule.«

Nun verstand Inge überhaupt nichts mehr. Sie bekam ganz feuchte Hände. Rautgundis hatte sich mit einem Lehrer am See verabredet? Aber wozu? Hatte Pamela nicht gesagt, dass sie den See nicht mochte? Wenn es so war, verabredete man sich nicht an einem Ort, der einem zuwider war.

Inge hätte jetzt gern etwas dazu gesagt, doch es kam kein einziges Wart über ihre Lippen. Sie überließ es dem Kommissar, jetzt alles zu erklären. Sollte er Fragen stellen, dann würde sie antworten, obwohl sie kaum etwas über das Mädchen wusste, nur, dass Pamela diese Rautgundis nicht leiden konnte. Das allerdings war in der Sache mehr als bedeutungslos.

Inge vergaß ihren Kaffee und Kuchen, gebannt hing sie an seinen Lippen. Und dann erfuhr sie eine ganz ungeheuerliche Geschichte.

Rautgundis hatte sich in einen jungen Lehrer ihrer Schule verliebt. Und da sie es gewohnt war, alles zu bekommen, was sie haben wollte, verfolgte sie diesen Mann. Dabei legte sie eine unglaubliche Raffinesse an den Tag. Sie stürzte scheinbar, als er in der Nähe war. Natürlich fühlte er sich verpflichtet, hinzuzueilen, sie aufzuheben. Was er allerdings nicht wusste, war, dass nicht nur dieser Sturz geplant war, sondern dass sie gegen Bezahlung auch jemanden abgestellt hatte, der mit ihrem Handy ein Foto machte, als sie den überraschten Mann küsste.

Das war wirklich nicht zu fassen.

»Und dann?«, erkundigte Inge sich leise.

»Jetzt hatte sie etwas in der Hand, um diesen Mann zu kompromittieren, zumal dieses Kussfoto sehr echt aussah. Sie wollte ihn um jeden Preis für sich, obwohl sie wusste, dass er verheiratet war, Vater eines kleinen Sohnes war. Sie bestellte ihn zum See, stellte ihn vor die Alternative, seine Familie zu verlassen, sonst würde sie das Foto ins Netz stellen.«

Das klang gruselig. Was für eine Durchtriebenheit gehörte dazu, so etwas von jemandem zu verlangen!

Inge war nicht in der Lage, etwas dazu zu sagen, musste sie auch nicht, denn er fuhr nach einer Weile fort. »Er versuchte alles, sie zur Vernunft zu bringen. Er wollte nichts von ihr, auch wenn er nicht verheiratet wäre, hätte er sich da auf nichts eingelassen. Sie hatte geglaubt, ihm Angst machen zu können, und weil das nicht klappte, rastete sie aus. Sie stürzte sich auf ihn, dabei rutschte sie aus, fiel mit dem Hinterkopf auf einen Stein. Sie war sofort tot.«

»Und dieser Mann …, er …« Inge war so erschüttert, dass sie nicht in der Lage war, einen vernünftigen Satz auszusprechen.

»Er hat sich davon überzeugt, dass sie tot war, und dann hat er leider einen fatalen Fehler gemacht. In seiner Panik hat er die Unfallstelle verlassen und auch nicht die Polizei informiert. Das wird man ihm jetzt anlasten, aus einem Tötungsdelikt ist er raus.«

»Er kann einem leidtun«, bemerkte Inge leise. Ihr Schwiegersohn Fabian war ebenfalls im Schuldienst. Er war ein fantastisch aussehender Mann, ihm konnte so etwas ebenfalls passieren. Durchgeknallte Schülerinnen und Schüler gab es immer wieder.

Das bestätigte der Kommissar.

»Er hat jetzt nicht nur ein Verfahren am Hals, sondern er ist auch seinen Job los, denn für das Gymnasium ist er jetzt untragbar. Tragisch ist, dass er mit seiner Familie gerade erst vor einem Jahr nach Hohenborn gezogen ist, und sie haben vor einem Monat eine Eigentumswohnung gekauft. Dieses Mädchen hat sein Leben zerstört.«

Inge war erschüttert.

So schnell konnte es gehen, von einem Tag auf den anderen geriet man in einen Strudel, der einen ins Verderben zog.

»Aber das Fahrrad«, fiel ihr ein, »das lag doch an einer ganz anderen Stelle.«

Er nickte.

»Das hat bei jemandem Begehrlichkeiten erweckt; weil es abgeschlossen war, schleppte der Dieb es beiseite, um das Schloss knacken zu können. Und weil das nicht gelang, schmiss er das Rad wütend in ein Gebüsch, wo es ja von Ihrer Tochter gefunden wurde. Tja, dieser Fall war sehr schnell gelöst, ehe er überhaupt zu einem Fall geworden war. Das Mädchen hat sich in ihrer Besessenheit ums eigene Leben gebracht, und den jungen Lehrer hat es ins Elend gestürzt.«

Was für eine Geschichte!

»Das Leben geht manchmal wirklich sehr seltsame Wege«, bemerkte Inge leise. »Und es macht da überhaupt keinen Unterschied, ob etwas gerecht oder ungerecht ist. Eigentlich sind die Eltern des Mädchens die Schuldigen, denn sie haben es zu einer egoistischen, maßlosen Person gemacht. Was für Vorwürfe müssen die sich jetzt machen.«

Henry Fangmann hätte es Inge jetzt gern erspart, er tat es nicht, sie hatte so viel erfahren, da musste er ihr den Rest auch nicht ersparen.

»Sie sehen das so, meine Liebe, die Eltern nicht. Die haben gegen den Lehrer ein Verfahren wegen Mordes an ihrer Tochter angestrengt.«

Als er Inges entsetztes Gesicht bemerkte, beruhigte er sie sofort.

»Dazu wird es nicht kommen, das Gericht wird es abweisen. Wie heißt es doch so schön, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Statt sich bei dem Lehrer und seiner Familie zu entschuldigen, deren Leben dieses durchtriebene Ding zerstört hat, fallen sie über ihn her, ziehen die unschuldigen Angehörigen mit hinein. Leider gibt es so etwas immer wieder.«

Eigentlich hatte sie es für sich behalten wollen, doch jetzt erzählte sie ihm doch, dass ihre Tochter gegen diese Rautgundis immer Vorbehalte gehabt hatte.

Er machte ihr ein Kompliment.

»Ist das ein Wunder? Das bestätigt doch meine Theorie von eben, die vom Apfel und dem Stamm.«

Inge wurde rot.

»Herr Fangmann, ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen, und ich kann nur darauf hoffen, dass wir uns ein andermal treffen, ohne dass es einen Fall gibt.«

Er blickte sie an.

»Frau Auerbach, das würde mich sehr freuen. Ich halte Sie für eine sehr kluge, patente Frau. Und ich unterhalte mich sehr gern mit Ihnen.«

Das konnte Inge nur bestätigen, und auch wenn es ein wenig schwierig war, wechselten sie das Thema. Insbesondere Inge war es, die schon gern noch ein paar Fragen gestellt hätte, aber sie wollte den Kommissar nicht überfordern. Und eines wusste sie auch schon, Pamela würde sie nur sagen, dass es ein Unfall gewesen war. Ob Gerüchte in der Schule kursieren würden, ob ein übereifriger Journalist es aufgreifen würde, das konnte ihr egal sein. Sie wollte es aus ihrem Leben streichen. Es war traurig, dass ein junger Mensch auf eine so tragische Weise gestorben war, doch wenn man daran dachte, wen und was Rautgundis mit in diesen Strudel gezogen hatte, hielt sich das Mitleid in Grenzen. Mitleid musste man mit dem Lehrer und seiner Familie haben, die waren fortan unschuldig mit einem Makel behaftet.

Und so etwas verfolgte einen immer.

»Und was werden diese armen Leute jetzt tun?«, wollte Inge aus ihren Gedanken heraus wissen.

»Ihre Wohnung mit Verlust verkaufen, wegziehen, und sie können nur darauf hoffen, dass die Vergangenheit sie nicht einholen wird. Und ob er wieder als Lehrer im öffentlichen Dienst arbeiten kann, das ist ja überhaupt noch nicht gewiss. Er hätte sich nicht vom Unfallort entfernen dürfen: Ich bin überzeugt davon, dass das Gericht ihm nur eine geringe Strafe aufbrummen wird, vermutlich eine Geldstrafe, was auch immer, so etwas wird im Polizeilichen Führungszeugnis vermerkt, und das muss man vorlegen, wenn man im öffentlichen Dienst arbeiten möchte. Er wird sein Leben neu ordnen müssen.«

Inge war voller Mitleid.

»Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«, ereiferte sie sich.

Er blickte sie nachsichtig an, weil er mit so etwas täglich zu tun hatte.

»Die bleibt manchmal leider auf der Strecke.«

Die Bedienung kam an ihren Tisch, erkundigte sich diskret nach ihren Wünschen.

Inge und der Kommissar blickten sich an. Die Lust an einem Plausch war ihnen beiden vergangen, und so entschlossen sie sich zu gehen. Und Kommissar Fangman bestand darauf, Inge einzuladen.

»Es muss sein«, sagte er bestimmt, als sie protestieren wollte, »ich habe oft genug in Ihrem Haus Kaffee getrunken und Kuchen gegessen, der nicht minder köstlich war.«

Sie wurde rot vor Verlegenheit, das war ein Kompliment gewesen, der Kommissar war kein Mann, der etwas sagte, was er nicht so meinte. Das hatte sie längst festgestellt.

Draußen verabschiedeten sie sich voneinander, er lief zum Präsidium zurück, wo reichlich Arbeit auf ihn wartete, und Inge überlegte, was sie jetzt tun sollte.

In den Stoffladen gehen würde sie auf keinen Fall, danach war ihr jetzt wirklich nicht zumute. Und in die Buchhandlung? Okay, dorthin würde sie gehen, aber nur, um die Bücher für ihre Mutter abzuholen. Sie hatte jetzt keine Nerven, sich für sich umzusehen.

Diese Rautgundis!

Pamela hatte das richtige Gespür für dieses Mädchen gehabt. Wie durchtrieben musste man sein, sich an einen Mann heranzumachen, zu versuchen, ihn zu verführen, und als das nicht geklappt hatte, ihn zu erpressen.

Es war schlimm, dass sie das mit dem Leben bezahlen musste, doch schlimmer war es für den armen Mann, dessen Frau und das Kind, das hoffentlich niemals erfahren würde, in welchen Sumpf man seinen Vater ungewollt hineingezogen hatte.

Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, doch ganz so einfach war das nicht. Wenn sie ehrlich war, dann wäre sie jetzt am liebsten nach Hause gefahren, aber es ging nicht, ihre Mutter würde ihr die Hölle heiß machen. Und den Grund für das Durcheinander, in dem sie sich befand, konnte sie ja nicht nennen. Kriminalhauptkommissar Fangmann …

Das war wirklich ein sehr netter Mensch, und es ehrte sie, dass er sie ins Vertrauen gezogen hatte. Wäre sie jünger und frei, dann könnte er ihr schon als Mann gefallen. Doch die Frage stellte sich ihr nicht, sie hatte einen Mann, den sie über alles liebte. Und dass Henry Fangmann ihr dennoch gefiel, das war kein Verbrechen. Wo stand denn geschrieben, dass Männer und Frauen nicht miteinander befreundet sein konnten? Das stand nirgendwo. Und dass sie ihn nett fand, dass sie mit ihm im Café war, darüber konnte sie mit allen sprechen, und als Erstes würde sie es mit ihrer Mutter tun, die sie eh fragen würde, wo sie so lange geblieben war. Ihrer Mutter entging nichts.

Also gut, rasch noch deren Bücher abholen, und dann nach Hause, und wenn sie dort angekommen war, wäre es am besten, an dieses tote Mädchen nicht mehr zu denken. Wenn nur alles so einfach wäre …

*

Über Nacht hatte sich das Wetter verändert. Vorbei war es mit Sonnenschein und milden Temperaturen. Es war um einige Grade kälter geworden, die Sonne versteckte sich hinter zerrissenen grauen Wolken, und der Regen hörte überhaupt nicht auf.

Es war kein Wetter, um das Haus zu verlassen.

Roberta war froh, dass Mittwoch war. Nachmittags gab es also keine Sprechstunde, und sie hatte auch keine Bereitschaft, und Hausbesuche lagen zum Glück ebenfalls nicht an.

Sie wusste jetzt schon, was sie tun würde, nämlich es sich auf dem Sofa gemütlich machen und lesen. Sie wollte es zumindest versuchen, denn leider glitten ihre Gedanken immer wieder ab, und dann gab es nur eines – sie kreisten um Lars, um was und wen den sonst.

Die arme Alma war zu bedauern, denn sie war mit ihrem Gospelchor unterwegs, und gemeinsam mit anderen Chören sollte es ein großes Open Air Konzert geben. Man konnte nur hoffen, dass es dieses schreckliche Wetter nicht überall gab.