Beate M. Weingardt

Du bist gut genug!

Sechs Regeln der Gelassenheit

1.   Du sollst nicht versuchen, es jedem recht zu machen.

2.   Du sollst dir genügend Zeit für deine Freunde, deine Familie, für dich selbst nehmen.

3.   Du sollst regelmäßig abschalten und nichts tun.

4.   Du sollst ab und zu langweilig, unelegant, ungepflegt und unattraktiv aussehen dürfen.

5.   Du sollst aufhören, dich selbst zum ärgsten Feind zu haben.

6.   Du musst nicht mit allem alleine fertig werden.

Beate M. Weingardt

Du bist gut genug!

Wie Sie Ihre inneren Antreiber erkennen

und gelassener werden

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5. Auflage 2010

© 2005 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

Umschlag: Dietmar Reichert, Dormagen

Gesamtherstellung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

ISBN 978-3-417-21946-3 (E-Book)

ISBN 978-3-417-24917-0 (lieferbare Buchausgabe)

Bestell-Nr. 224.917

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

Inhalt

Vorwort

Einführung

1. Menschsein heißt Bedürfnisse haben

2. Lebensqualität ist Beziehungsqualität

3. Liebe ist mehr als ein Gefühl

4. Innere Antreiber – wie entstehen sie überhaupt?

5. Die Dynamik unserer inneren Antreiber - warum sie so mächtig sind

6. Neun häufige innere Antreiber

6.1. »Sei perfekt und mach keine Fehler, denn Fehlermachen ist schlimm!«

6.2. »Du bist so viel wert, wie du leistest«

6.3. »Ich muss mindestens so gut sein wie …«

6.4. »Ich will von niemandem abhängig sein«

6.5. »Vermeide Konflikte und Auseinandersetzungen!«

6.6. »Sei immer tapfer und stark!«

6.7. »Wenn du scheiterst, bist du selbst schuld!«

6.8. »Mach es möglichst allen recht!«

6.9. »Erlaube dir keine Zweifel oder Glaubenskrisen!«

7. Glaube und innere Antreiber - getrieben oder getragen?

8. Der dreifache Weg

8.1. Unser Umgang mit Gott

8.2. Unser Umgang mit uns selbst

8.3. Unser Umgang mit dem Nächsten

9. Verwandlung durch Beziehung

10. »Du meine Güte, das schaffe ich nie …!« - Anregungen für die Praxis

Literaturverzeichnis

Man sollte die Welt so nehmen, wie sie ist, aber nicht so lassen.

IGNAZIO SILONE

Vorwort

Der Ausgangspunkt dieses Buches sind zwei sehr persönliche Erfahrungen, die ich im Lauf meines Lebens und meines Christseins immer wieder gemacht habe:

−  Die meisten Menschen (auch viele Christen und Christinnen), die ich kannte oder näher kennen lernte, waren erstaunlich inkonsequent, das heißt, sie handelten vielfach nicht entsprechend ihren Worten, ihren Einstellungen und ihrem Glauben. Diese Inkonsequenz war unabhängig von Alter oder Bildungsstand bzw. Intelligenz.

−  Ich selbst war oft ebenso inkonsequent und verhielt mich anders, als ich es von meinen Werten und meiner christlichen Überzeugung her tun sollte.

Nun könnte ich es mir und Ihnen leicht machen, indem wir uns damit entschuldigen, dass wir alle Menschen sind – nicht besser und nicht schlechter als der Durchschnitt der Menschheit. Ich will es Ihnen und mir aber nicht leicht machen, denn wozu sollte eine solche Beruhigungspille gut sein?

Stattdessen habe ich den Versuch unternommen, den Ursachen für diese seltsame Gespaltenheit, die ich an mir und anderen oft wahrnehme, auf den Grund zu gehen. Mein Ziel war es, mich und meine Mitmenschen besser zu verstehen. Ich bin durch die Beschäftigung mit diesem Thema diesem Ziel um einiges näher gekommen: Heute ist mir vieles nicht mehr fremd, was ich an mir und anderen beobachte. Und ich bilde mir ein, dass ich sogar einen Weg gefunden habe, der mich und Sie, und sei es nur in Millimeterschritten, herausführt aus dieser Inkonsequenz. Aber vielleicht sollten wir uns in einigen Jahren wieder sehen. Dann könnte ich Ihnen sagen, ob ich tatsächlich von der Stelle gekommen bin – und Sie könnten mir berichten, ob dieses Buch auch in Ihrem Leben etwas ausgelöst, bewegt oder verändert hat.

Ich widme dieses Buch all den Männern und Frauen, mit denen ich mich so offen und ungeschminkt austauschen kann, dass es eine wahre Freude ist. Solche Gespräche bereichern, machen mich glücklich, aber sie beunruhigen auch und stimmen mich manchmal traurig, kurz: Sie bringen mich weiter – und was kann es Schöneres geben?

Dank gebührt meinem Mann Ernst-Werner Briese und meiner Tochter Anuschka Cathérine Weingardt, die das Manuskript kritisch gelesen und kommentiert haben, sowie meiner Freundin Sabine Teuchert, die mich mit lebhaftem Interesse und weiterführenden Fragen motiviert hat, dieses Buch zu schreiben.

Anmerkung

Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich mich in meinem Text, wo es um Personen geht, auf die männlichen Formen beschränke, auch wenn ich weiß, dass Frauen die fleißigeren Bücherleserinnen sind. Es ist eine Vereinfachung, die lediglich der Lesbarkeit dienen soll.

Einführung

Mensch sein – was bedeutet das?

Wir sind Menschen, wir sind lebendige Geschöpfe – das bedeutet: Wir haben vom ersten Tag unseres Lebens an Bedürfnisse. Ein Neugeborenes muss nicht erst lernen zu schreien, wenn es Hunger hat oder Schmerzen empfindet, wenn es sich alleine fühlt oder aus irgendeinem Grund in seinem Wohlbefinden gestört ist. Es schreit und signalisiert damit seiner Umwelt, dass etwas mit seinem körperlichen oder seelischen Gleichgewicht nicht stimmt. Wir Erwachsenen sind auf dieses Schreien, so durchdringend es auch sein mag, angewiesen, damit wir auf das Baby in angemessener Weise eingehen und für sein Wohlbefinden sorgen können. Lange Zeit dachte man, dass Säuglinge zunächst einmal vor allem auf ihre körperlichen Bedürfnisse fixiert sind. Durch ein Experiment des Stauferkaisers Friedrich II. wurde jedoch im 13. Jahrhundert deutlich, was alle guten Mütter längst geahnt hatten: Kinder brauchen mehr als Nahrung, Schlaf und ausreichend Wärme.

Friedrich II. war sehr wissensdurstig und wollte herausbekommen, welche Sprache Kinder zu sprechen beginnen, wenn sie keine menschliche Sprache hören. Würden sie Hebräisch sprechen die Sprache des Alten Testaments? Oder Griechisch – die Sprache des Neuen Testaments? Oder gar Latein, was zur Zeit Friedrichs II. so etwas wie die Weltsprache war, vergleichbar mit unserem heutigen Englisch. Da es zur damaligen Zeit mehr als genügend Waisenkinder gab, hatte der Kaiser ausreichend Versuchspersonen zur Verfügung. Seine Anweisung war sehr einfach und lautete: »Die Kinder sollen körperlich versorgt werden, aber sie dürfen von ihren Ammen und Betreuerinnen keinen, aber auch gar keinen menschlichen Laut hören!« Wie die Überlieferung berichtet, brachte das Experiment nicht die von Friedrich erhoffte Antwort. Der Grund war grausam: Alle Kinder starben, bevor sie das sprachfähige Alter erreicht hatten. Vermutlich hat dieser Ausgang den Kaiser überrascht – möglicherweise weniger die Betreuerinnen der armen Kinder.

Sie hatten sicher den langsamen Abschied der Kinder beobachtet – und vielleicht auch mitgelitten. Die Kinder hatten sich von einer Welt verabschiedet, die ihnen alles gegeben hatte, was sie zum körperlichen Überleben brauchten – nur keine Liebe, keine Zuwendung, keine Wärme und Geborgenheit. Modern gesprochen könnte man sagen: Sie waren an ihrer seelischen Einsamkeit zugrunde gegangen.

Wir wissen heute, dass ein Kind vom ersten Tag seiner Geburt ein Geschöpf mit Körper, Geist und Seele ist, und das bedeutet: dass es nicht nur körperliche Versorgung braucht, sondern auch geistige Anregung. Vor allem aber sucht es Verbundenheit. Wir sind als Menschen – nicht nur als Kinder! – auf Bindung angelegt: Wir brauchen ein Du, ein Gegenüber, das uns nahe ist, dem wir vertrauen können, bei dem wir uns geborgen fühlen. Erst durch die Begegnung mit diesem Du können wir so etwas wie ein Ich entwickeln, ein Bewusstsein unserer selbst und unseres Wertes.

Das alles wusste Kaiser Friedrich II. nicht, genauso wenig wie er wusste, dass erst durch das Vorsprechen eines anderen Menschen ein Kind lernt, die in ihm angelegte Sprachbegabung zu entfalten. Friedrich wusste auch nicht, dass der Vorsprechende darüber entscheidet, in welcher Sprache, in welchem Dialekt und mit welchem Akzent ein Kind einmal am leichtesten und natürlichsten sprechen wird. Erst recht wusste er nicht, dass unsere Bezugspersonen vom ersten Tag beeinflussen, wie sich unsere Persönlichkeit entwickelt. All das ist uns heute bekannt. Unser Menschsein umfasst von Geburt an zwei Ebenen: neben der körperlichen auch die geistige und emotionale Ebene. Zunächst werden die geistig-emotionalen Bedürfnisse ganz und gar von der Mutter oder dem Vater bzw. der sonst nächststehenden Bezugsperson abgedeckt. Doch mit zunehmendem Alter erwacht in jedem Kind das Interesse an seiner weiteren Umwelt, vor allem an anderen Kindern. Und in dem Maß, in dem Kinder lernen, auf ein anderes Kind einzugehen oder zuzugehen, in dem Maß also, in dem das »Du« für sie an Bedeutung gewinnt, tritt noch eine dritte Ebene in ihr Leben – ich nenne sie die Ebene der Spiritualität. Kinder können diese Ebene noch nicht benennen, aber es ist ganz deutlich, dass sie eine angeborene Bereitschaft haben, an eine Art »höhere Macht« zu glauben, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das Leben ihrer Eltern quasi übersteigt. Sie beginnen Fragen zu stellen, die sich auf das beziehen, was über das sicht- und greifbare Leben hinausgeht.

Was für Kinder so selbstverständlich ist, gilt allerdings auch für uns Erwachsene: Wir Menschen brauchen den Mitmenschen, sonst können wir nicht wirklich leben, nicht wachsen und unser Menschsein entfalten.

Brauchen wir Erwachsenen auch Gott? Anscheinend nicht, denn unzählige Mitmenschen scheinen auch ohne direkten Kontakt zu Gott gut zu leben. Es steht mir nicht zu, über die Lebensqualität und die Religiosität dieser Menschen ein Urteil zu fällen. Dennoch gehe ich in diesem Buch von der Annahme aus, dass die Bibel Recht hat, wenn sie sagt: »Gott schuf den Menschen zu seinem Gegenüber, zum Gegenüber Gottes schuf er ihn, und er schuf sie als Mann und Frau« (1. Mose 1,27). Damit sind die drei Dimensionen unseres Menschseins umrissen: Wir sind nicht nur als Menschen, sondern auch als geschlechtliche Wesen erschaffen. Wir sind nicht nur als Menschen, sondern auch als Mitmenschen und auf den Mitmenschen Angewiesene erschaffen. Und: Wir sind auf Gott hin angelegt.

Alle drei Bestimmungen bedeuten, dass wir einen Spielraum haben, den wir gestalten dürfen:

  Wie gehe ich mit mir selbst um?

  Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um, den nahen und den ferner stehenden?

  Wie gehe ich mit Gott um?

Doch zunächst möchte ich festhalten: Menschsein heißt, in Beziehungen zu leben und Bedürfnisse zu haben. Ja, was uns als Menschen zutiefst charakterisiert, ist unsere Bedürftigkeit. Dass diese Bedürftigkeit neben dem Geschenk des Geistes das Merkmal ist, das uns als Menschen auszeichnet, wird in dem hebräischen Wort für »Seele/lebendiges Wesen« deutlich. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes »näfäsch« ist »Kehle«. Wie kommt der Hebräer auf diese Verbindung von Leben/Seele und Kehle? Ganz einfach: In der Kehle finden die drei elementaren Lebensvorgänge des Menschen statt:

  atmen: ohne Luft kein Leben;

  schlucken: ohne Wasser und Nahrung kein Leben;

  sprechen und Gefühle äußern: Ohne Sprache, aber auch ohne Laute (seufzen, kichern, lachen, schluchzen, stöhnen, schreien etc.) ist keine Kommunikation, keine Beziehung zum Mitmenschen und damit keine Lebensqualität möglich.

Atmung, Ernährung, Kommunikation: Diese drei machen den Menschen zu einem vitalen Geschöpf, das Glied einer Gemeinschaft ist.

1. Menschsein heißt Bedürfnisse haben

Wir sind einander nah durch die Natur, aber sehr entfernt durch die Bildung.

KONFUZIUS

Die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow

Welche Bedürfnisse haben wir als Menschen? Sind sie bei allen gleich? Vordergründig gesehen natürlich nicht – da sind wir Menschen ungeheuer verschieden. Deshalb ist es ja auch oft so schwer, einander zu verstehen und miteinander auszukommen. Aber letztlich verhält es sich wie bei den Pflanzen: So unterschiedlich sie aussehen, so verschieden die Wachstumsbedingungen oder die Früchte sein mögen – sie alle brauchen Wurzeln, Wasser, Licht und Luft, um zu gedeihen. Ähnlich ist es bei uns Menschen: Je mehr es ums »Grundsätzliche« geht, desto ähnlicher sind die Bedürfnisse.

Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow veröffentlichte vor einigen Jahrzehnten ein Modell der »menschlichen Grundbedürfnisse«, das ich Ihnen im Folgenden kurz vorstellen möchte. Die Besonderheit dieses Modells liegt in der stufenförmigen Aufeinanderfolge der von ihm aufgelisteten Bedürfnisse. Stellen Sie sich also eine Pyramide vor. Welche Bedürfnisse würden Sie an der Basis ansiedeln? Maslow verankert hier den

•  Wunsch nach Befriedigung grundlegender körperlicher Bedürfnisse: Nahrung, Wärme, Schlaf, Schmerzfreiheit.

Solange wir hungern, können wir an (fast) nichts anderes denken als daran, wie wir Nahrung bekommen. Das Gleiche gilt für Durst, der uns noch viel früher quält als der Hunger. Wer todmüde ist, ist für nichts mehr in seiner Umwelt wirklich aufnahmefähig – all sein Sinnen und Trachten ist nur noch darauf gerichtet, schlafen zu können. Auch starke Schmerzen bewirken, dass wir für nichts anderes mehr offen sind: Wer Schmerzen hat, der ist in gewisser Weise Schmerz. Das ganze Menschsein, all unser Denken, Fühlen und Erleben, ist auf diesen einen Punkt reduziert: den Schmerzpunkt.

Anders gesagt: Ohne ein gewisses Maß an Pflege und Rücksicht, die wir unserem Körper zukommen lassen, kann er – und damit auch unser ganzer Mensch – weder existieren noch funktionieren.

Auf der nächsten Stufe der Pyramide folgt der

•  Wunsch nach Sicherheit.

Kinder schlafen oft leichter auf dem Arm der Mutter oder sonst einer Bezugsperson ein, obwohl es im Bettchen sicher genauso warm und bequem wäre. Doch der Arm der Mutter verleiht ihnen das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit: »Er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst ihn sicher, er hält ihn warm« heißt es im Gedicht »Der Erlkönig« von Johann Wolfgang von Goethe. Auch wir Erwachsenen sind Menschen, die eigentlich schnell in Angst zu versetzen sind – selbst wenn wir gelernt haben, nach außen Ruhe zu bewahren. Manchmal ist die Angst sehr hilfreich, weil sie uns in Bewegung setzt und uns vor Gefahren schützt, doch manchmal kann Angst auch geradezu gegenteilig wirken, indem sie uns lähmt.

Ich habe gelesen, dass in der Bibel nichts so häufig zum Menschen gesagt wie: »Fürchte dich nicht!«, und: »Habt keine Angst!« Das zeigt, wie anfällig wir Menschen für die Angst sind – weil wir bedürftige Wesen sind! Man kann im Grunde vor allem und um alles Angst haben – doch die elementarste Angst ist die Angst um sich selbst, sozusagen um Leib und Leben, und die Angst um Menschen, die man liebt.

Viele inzwischen alt gewordene Menschen erinnern sich noch lebhaft an ihre Ängste im Krieg, sei es im Luftschutzkeller, sei es auf der Flucht, sei es angesichts fremder Soldaten oder in sonst einer lebensbedrohlichen Situation. Die Angst, dieses elementare Gefühl der Unsicherheit, des Bedrohtseins oder der Schutzlosigkeit, hat sich in ihrem Gedächtnis unauslöschlich eingegraben, hat sie oft bis in ihre Träume verfolgt und auch zu viel späterem Leiden geführt. Wie viele in der Kriegszeit und zu Kriegsende noch nicht erwachsene Kinder und Jugendliche haben Entsetzliches miterlebt, das ihr Vertrauen ins Leben oder in fremde Menschen zutiefst erschüttert und für immer beeinträchtigt hat!

Ich denke an eine Frau, die zur Beratung zu mir kam und erzählte, wie schwer sie sich damit tue, auf Menschen vertrauensvoll zuzugehen. Sie sei einfach ein »sehr misstrauischer, ängstlicher Mensch«, meinte sie als Erklärung dafür, dass sie so wenig enge Freunde und Freundinnen hatte. Bald schon kamen wir im Gespräch auf ihre Kindheit zu sprechen, die in die Zeit des Kriegsendes und der Nachkriegswirren fiel. Viele Situationen von Angst und Unsicherheit waren ihr noch gegenwärtig – außerdem hatte sie eine Mutter, die ihr eigenes misstrauisch-distanziertes Denken und Fühlen ungeprüft an die Tochter weitergab. (»Verlass dich auf niemanden, nur auf dich selbst!« war einer ihrer mütterlichen Lehrsätze.) Das hat diese Frau geprägt.

Wie aber soll man vertrauensvoll und unbefangen Kontakte knüpfen, solange man sich unsicher fühlt und eher Angst und Abwehr gegenüber anderen Menschen empfindet? Man kann diese frühen Erfahrungen des eigenen Lebens nicht einfach ablegen wie ein zu eng oder unmodern gewordenes Kleid.

Doch auch in Friedenszeiten kann schnell eine Situation entstehen, in der wir uns in unserer Sicherheit bedroht fühlen. Wir wollen uns nicht von Woche zu Woche, von Monat zu Monat Sorgen machen müssen, wie wir über die Runden kommen, ob das Geld noch reicht und wie es zukünftig weitergehen soll. Angesichts der vielen Firmenschließungen und Entlassungswellen fühlen sich auch hierzulande viele Menschen nicht mehr sicher vor Kündigung oder Arbeitsplatzverlust. Dies bedeutet zwar keine so schwere Bedrohung wie die Angst um Leib und Leben, doch innere Anspannung und Unruhe sind dennoch damit verbunden.

Die dritte Stufe der Bedürfnispyramide ist bei Maslow der

•  Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Wir alle sind auf Gemeinschaft und Bindung an andere Menschen angelegt und nicht auf ein Einzelgängerdasein. Diese Veranlagung zeigt sich überraschend deutlich, wenn man beispielsweise junge Menschen nach ihren Zukunftswünschen und -plänen fragt: Für die große Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen rangiert der Wunsch nach einer befriedigenden Partnerschaft an erster Stelle – und nicht das Streben nach Karriere oder materiellem Reichtum. Zweisamkeit steht nach wie vor höher im Kurs als das Single-Leben – und das aus gutem Grund.

Einsamkeit hat nämlich, wie zahlreiche psychologische und medizinische Untersuchungen nachweisen, gravierende Auswirkungen: Einsame Menschen haben ein erhöhtes Risiko, an einer seelischen oder körperlichen Störung zu erkranken. Auch der Genesungsprozess bei Krankheiten verläuft schleppender, wenn der betroffene Mensch über keinerlei seelischen Rückhalt verfügt.

An nächsthöherer Stelle der Pyramide siedelt Maslow das

•  Grundbedürfnis nach Anerkennung und Liebe an.

Was man von der Gesundheit nur eingeschränkt sagen kann (denn es gibt auch kranke oder behinderte Menschen, die glücklich sind), lässt sich von der Liebe uneingeschränkt behaupten: »Liebe ist nicht alles – aber ohne Liebe ist alles nichts!«

Wir alle kommen nicht als selbstbewusste Menschen auf die Welt. Selbstwertgefühl, Selbstachtung, Selbstvertrauen – das alles können wir nur erwerben, wenn uns andere Menschen mit Liebe, Einfühlung und Achtung begegnen und uns damit zeigen, dass wir liebens-wert sind. Ein afrikanisches Sprichwort bringt unsere Abhängigkeit von Liebe und Wertschätzung prägnant zum Ausdruck: »Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen.«

Und was steht am Ende der Pyramide? Was ist sozusagen die Spitze des Glücks? Maslow nennt es:

•  das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, man könnte auch sagen: nach Selbstentfaltung.

Jeder Mensch kommt mit Gaben und Talenten, mit Neigungen und Interessen auf die Welt, die nur er in dieser einzigartigen Kombination in sich trägt. Wie ein Samenkorn das Bestreben hat zu keimen, damit das in ihm eingeschlossene kostbare Gut sich entfalten kann, so hat auch der Mensch den Wunsch, seine in ihm angelegten Gaben und Fähigkeiten zu entwickeln. Dies können künstlerische oder sportliche Talente sein, zwischenmenschliche Begabungen, die Nei gung zu einem bestimmten Feld des Wissens oder einer praktischen Tätigkeit und vieles andere mehr. Die Entwicklung der eigenen Spiritualität gehört meines Erachtens ebenfalls zur Selbstverwirklichung, denn erst im Gegenübersein zu Gott können wir die Tiefe unseres Wesens zu Blüte und Reifung bringen und den tiefsten Sinn unserer Existenz finden.

Das Besondere an Maslows Modell ist die Annahme, dass der Mensch seine tiefer liegenden Bedürfnisse erst bis zu einem gewissen Grad (der natürlich individuell verschieden ist) befriedigen muss, bevor er sich den höher liegenden Bedürfnissen zuwendet.

Ich möchte diesen Gedanken an einem praktischen Beispiel deutlich machen, und zwar am Beispiel der heute in unserer Gesellschaft nahezu ausschließlich praktizierten Form der Heirat: der so genannten »Liebesheirat«. Eine Liebesheirat bedeutet, dass zwei Menschen sich aneinander binden, weil sie das Wesen, die Persönlichkeit und den Charakter des Partners so sehr schätzen, dass sie mit ihm ihr Leben teilen wollen. Diese Heiratsgründe sind nicht so selbstverständlich, wie viele Menschen denken – im Gegenteil. In zahlreichen Ländern dieser Erde ist es bis zum heutigen Tag üblich, dass die Eltern die Ehe arrangieren, und zwar oft unter ganz pragmatischen oder ökonomischen Gesichtspunkten (Entlastung des Elternhauses, Sicherheit, Versorgung). Auch in Deutschland wurden je nach sozialer Schicht bis Ende des 19. Jahrhunderts viele Ehen von den Eltern eingefädelt oder verhindert. Ja, noch vor ein, zwei Generationen kamen bei uns zahlreiche Heiraten nicht zustande, weil die Liebenden unterschiedlichen Konfessionen angehörten oder weil die soziale Schicht nicht übereinstimmte. Nicht selten heirateten Menschen einander auch nicht primär aus Liebe, sondern aus ganz praktischen Gründen, z. B. weil ein Witwer dringend eine Mutter für seine Kinder brauchte oder weil ein Bauer die Arbeit auf seinem Hof allein nicht bewältigen konnte. Man kann deshalb sagen: Die Heirat aus »reiner Liebe« konnte sich in unserer Gesellschaft erst zu einer Zeit durchsetzen, als soziale und konfessionelle Schranken sich lockerten und die wirtschaftliche Sicherung für die Frau nicht mehr im Vordergrund stand. Dies setzte voraus, dass Frauen sich dank einer beruflichen Ausbildung auch selbst ernähren konnten und nicht mehr auf einen »Versorger« angewiesen waren.

In vielen Ländern dieser Welt sind Frauen von dieser Chancengleichheit nach wie vor weit entfernt, zumal wenn aus religiösen Gründen Widerstände und Barrieren gegen die Gleichberechtigung aufgebaut werden. Diese weitgehend rechtlosen Frauen können es sich gar nicht leisten, nach der »großen Liebe« Ausschau zu halten. Sie brauchen jemanden, der sie ernährt (körperliche Bedürfnisse) und beschützt (Sicherheit). Durch die Ehe haben sie die Chance auf Kinder sowie auf einen gewissen sozialen Status (Zugehörigkeit; soziale Anerkennung). Wenn sie Glück haben, entsteht zwischen ihnen und ihrem Ehepartner auch eine seelische Verbundenheit und sogar Liebe und Wertschätzung. Wenn sie dieses Glück nicht haben, werden sie behandelt wie ein Besitztum des Mannes – und womöglich auch wieder weggeschickt. An Liebe, Anerkennung oder gar Selbstentfaltung ist für sie dann nicht zu denken.

Dies ist nur ein Beispiel, wie die Sorge um die elementaren Bedürfnisse das Ideal eines glücklichen Lebens, eingebettet in Liebe, Anerkennung und Freiheit zur Selbstverwirklichung, häufig als fernen Traum am Horizont erscheinen ließ.

Ja, ich wage sogar zu sagen, dass die Mehrheit der Menschen zu allen Zeiten in erster Linie um ihr Überleben gekämpft hat. Die Sorge um das tägliche Brot, um Sicherheit und ein Dach über dem Kopf hat die Menschen fast völlig in Beschlag genommen. Sie hatten weder die Zeit noch die Kräfte noch die Mittel, darüber hinaus ihren eigenen Talenten und Neigungen oder gar der »Stimme ihres Herzens« in nennenswerter Weise zu folgen. Und man darf nicht vergessen, dass die meisten Menschen zu allen Zeiten nicht Freie waren, sondern Untertanen, die den Wünschen und der Willkür ihrer Obrigkeit bis zu einem gewissen Grad oft wehrlos ausgeliefert waren.

Was lässt sich daraus folgern? Erst wenn der Mensch nicht mehr Tag für Tag nur um sein Überleben und um seine Sicherheit kämpft, kann er seinen höheren Bedürfnissen »nach echter Gemeinschaft, nach Anerkennung, Liebe und Selbstentfaltung« Raum geben. Allerdings: Ganz unterdrücken lassen sich diese Bedürfnisse auch in ärmsten Verhältnissen und unter schwierigsten Umständen nicht!

Wer die Geschichte aufmerksam studiert, auch die Kultur- und Religionsgeschichte, der wird mit Staunen feststellen: Zu allen Zeiten haben Menschen es auch unter widrigsten Lebensbedingungen und größten Entbehrungen geschafft, Kunst, Spiel, Ritual und Religion in ihrem Leben zu verwirklichen. Sie ließen sich nicht aufs bloße »Existieren und Funktionieren« reduzieren. Auch so genannte primitive Völker und äußerst einfach lebende Stammesgemeinschaften wollten und wollen mehr als nur überleben – sie wollen auch lieben, feiern, anbeten, genießen, singen, tanzen, sich schmükken, Schönes schaffen und bewundern, Ideale verwirklichen und vieles mehr. Ja, selbst in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches, die ausdrücklich auf die Entwürdigung, ja Entmenschlichung der Gefangenen abzielten, gelang es vielen Einzelnen, sich bis zuletzt einen Rest an Würde zu bewahren – zum Beispiel durch das Teilen mit anderen, durch Mitmenschlichkeit, teilweise auch durch tiefe Religiosität.1

Hier noch einmal eine Zusammenstellung der menschlichen Grundbedürfnisse, diesmal von oben nach unten, beginnend mit den körperlichen Bedürfnissen:

1)  Körperliche Bedürfnisse: Nahrung, Wärme, Schlaf (Sexualität, Zärtlichkeit, Schmerzfreiheit2)

2)  Bedürfnis nach Sicherheit – damit oft verbunden: Bedürfnis nach Geld und materiellen Gütern, weil sie Sicherheit versprechen

3)  Bedürfnis nach Zugehörigkeit; Gemeinschaft; Nähe

4)  Bedürfnis nach Anerkennung, Verständnis und Liebe – damit oft verbunden der Wunsch herauszuragen, beispielsweise durch besondere Leistungen, durch Reichtum oder besondere Stellung

5)  Bedürfnis nach Selbstverwirklichung – damit häufig verbunden der Wunsch, in der persönlichen Freiheit nicht eingeschränkt zu werden

Fazit:  Abraham Maslow macht mit seinem Modell deutlich, dass wir Menschen uns in unseren Grundbedürfnissen sehr ähnlich sind. Doch die Art und Weise, wie ernst und wichtig wir diese Bedürfnisse nehmen und wie wir unsere Bedürfnisse zu befriedigen versuchen, sind von Mensch zu Mensch, von Familie zu Familie, von Kultur zu Kultur natürlich sehr verschieden.

Klar ist jedoch: All diese Bedürfnisse bilden die Beweggründe (Motive) dafür, dass der Mensch sich in Bewegung setzt. Seine Motive können ihn zu gutem, aber auch zu bösem Handeln animieren. Das ist so, weil wir Menschen im Normalfall so lange friedlich und freundlich, umgänglich und tolerant sind, wie sich unseren Zielen und Bedürfnissen niemand ernsthaft in den Weg stellt. Wir werden jedoch schnell ungehalten, intolerant, nervös oder aggressiv, wenn wir feststellen oder auch nur befürchten, dass der Befriedigung unserer Bedürfnisse Hindernisse oder Barrieren, Konkurrenten bzw. Rivalen drohen. Wir fürchten dann, dass das, was wir haben und schätzen, uns weggenommen werden könnte. Oder es macht uns zu schaffen, wenn ein anderer etwas bekommt, wonach wir ebenfalls intensiv streben. Oder wir haben Angst, dass unsere Bedürfnisse nicht in ausreichendem Maß befriedigt werden, weil ein anderer das gleiche Ziel anstrebt und auch von unserem »Kuchen« essen möchte.

Anders gesagt: Menschen werden immer dann sozusagen »gefährlich« füreinander, wenn sie befürchten, in irgendeiner Form zu kurz zu kommen. Dann neigen sie zu unsozialem und egoistischem Verhalten. So verständlich diese Angst in vielen Fällen auch sein mag: Sie verursacht viel Leid und hat oft schlimme Folgen für das menschliche Miteinander.

Dies wird in den folgenden Erzählungen der Bibel deutlich. Finden Sie heraus, welches Bedürfnis bzw. welche Angst oder Sorge bei den handelnden Personen im Vordergrund stand und sie in ihrem Verhalten bestimmte. Damit Sie die Geschichte gegebenenfalls genauer nachlesen können, habe ich die Bibelstelle angefügt. Meine Antworten finden Sie am Schluss der Beispiele.

Biblische Beispiele aus dem Alten Testament

  Adam und Eva bekamen im Paradies von Gott folgende Auflage: »Von allen Bäumen dürft ihr essen, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollt ihr nicht essen …« (1. Mose 2,16-17). Als die Schlange sie auf diese Beschränkung hinwies und ihnen prophezeite, dass sie nach dem Essen der verbotenen Frucht nicht sterben würden, sondern »sein werden wie Gott und wissen, was gut und böse ist« (1. Mose 3,5), da übertraten Adam und Eva das göttliche Gebot und aßen von dem Baum.

Welches Bedürfnis oder welche Angst trieb sie an?

 

  Kain und Abel, ihre Söhne, brachten beide Gott ein Opfer, doch aus unbekannten Gründen verschmähte Gott das Opfer des Kain. Diese Zurücksetzung gegenüber dem Bruder versetzte Kain in Zorn, und er brachte seinen Bruder heimtückisch um (1. Mose 4,1-8).

Welches Bedürfnis oder welche Angst trieb ihn an?

 

  Abraham weilte mit seiner Frau Sara zu Gast beim Pharao in Ägypten und fürchtete, dass seine Frau aufgrund ihrer Schönheit das Begehren des Pharaos wecken könnte. Er stiftete Sara deshalb dazu an, sich als seine Schwester auszugeben, so dass der Pharao sie zu sich nehmen konnte, ohne zuvor den Ehemann »ausschalten« zu müssen (1. Mose 12,10-20).

Welches Bedürfnis oder welche Angst trieb Abraham an?

 

  Als Abraham mit seiner Frau den lang ersehnten Sohn Isaak bekam, hatte er schon einen Sohn namens Ismael von Hagar, der Leibmagd Saras. Sara entwickelte bald schon die Befürchtung, dass ihr Sohn durch die Existenz des Halbbruders Ismael Nachteile haben könnte. Sie wies Abraham an, Hagar mit ihrem Kind im wahrsten Sinn des Wortes in die Wüste zu schicken (1. Mose 21,8-11).

Welches Bedürfnis bzw. welche Sorge trieb Sara an?

 

  König David hatte zwar schon einige Frauen, doch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, mit der schönen Bathseba zu schlafen, die er von seinem Dach aus im Nachbarhof baden sah. Ihr Mann kämpfte zu dieser Zeit im Feld für König David. Als sie David bald darauf mitteilen ließ, dass sie von ihm schwanger sei, versuchte David zunächst, den Ehebruch zu vertuschen. Als dies nicht gelang, ließ er Bathsebas Mann an vorderste Front stellen, so dass er im Kampf den Tod fand. Dann heiratete David Bathseba (2. Samuel 11).

  Hier sind es gleich mehrere Bedürfnisse bzw. Ängste in Folge, von denen David in seinem Verhalten getrieben war.

Biblische Beispiele aus dem Neuen Testament

Auch im Neuen Testament herrscht keine heilere Welt, obwohl die Menschheit – und hier speziell das Volk Israel – inzwischen viele Jahrhunderte des Lernens hinter sich hatte, in denen sie sich weiterentwickeln konnte. Doch die Grundbedürfnisse des Menschen ändern sich nicht!

  Zum engsten Kreis der Jünger Jesu gehörte das Brüderpaar Jakobus und Johannes. Ihre Mutter bat eines Tages Jesus, ihren Söhnen sozusagen die besten Plätze in seinem zukünftigen Reich zu reservieren: Sie sollten zur Linken und Rechten Jesu sitzen. Prompt reagierten die anderen Jünger mit Verärgerung (Matthäus 20,20-26).

Was trieb die Mutter, was trieb die anderen Jünger an?

 

  Als Jesus bei den beiden Schwestern Maria und Martha zu Gast war, bereitete Martha (mit großer Sicherheit die ältere der beiden Frauen) pflichtschuldig das Essen vor, während Maria sich zu Jesu Füßen setzte, um ihm zuzuhören. Martha ärgerte sich darüber und bat Jesus, Maria zu ihr in die Küche zu schicken (Lukas 10,38-42).3

Welches Bedürfnis oder welche Sorge trieb Martha – und welches Bedürfnis bewegte Maria zu ihrem Verhalten?

 

  Petrus kündigte Jesus an, ihn unter keinen Umständen zu verlassen. Als wenige Zeit später Jesus verhaftet wurde, folgte Petrus ihm unauffällig in den Hof des Hohenpriesters, wo Jesus verhört werden sollte. Doch als einige der Umstehenden Petrus ansprachen und als Anhänger Jesu erkannten, leugnete Petrus binnen weniger Stunden dreimal, Jesus zu kennen (Lukas 22,54-62).

Welche Angst bzw. welche Bedürfnisse sprechen aus der Ankündigung des Petrus, welche aus seinem späteren Verhalten?

 

Wichtig ist, dass wir uns bei der Lektüre dieser Erzählungen eines vergegenwärtigen: Es gehört zum Wesen unseres Menschseins, dass wir Bedürfnisse haben und von ihnen angetrieben werden. Ebenso gehört es zu unserem Wesen, dass uns die Beweggründe unseres Verhaltens (»was uns antreibt«) häufig nicht bewusst sind, vor allem nicht in der aktuellen Situation. Leider haben wir häufig nicht gelernt, unsere Bedürfnisse zu benennen. Deshalb erkennen wir auch oft die Ursachen bzw. Auslöser für unsere Gefühle nicht.

Wir sind stattdessen so beherrscht von unseren Gefühlen und Wünschen (Neid, Angst, Gier, Ehrgeiz, Wut etc.), dass wir keinerlei oder nur sehr wenig Verhaltensspielraum haben und wie von einem Sturmwind getrieben nur in eine Richtung denken und handeln können.

Besonders deutlich wird das in der oben geschilderten Erzählung über Petrus (Lukas 22). Trotz seiner sicher aufrichtig gemeinten Ankündigung, Jesus nicht zu verlassen, und trotz Jesu ebenso aufrichtiger Antwort, dass Petrus ihn dreimal verleugnen werde, war er in der gefährlichen Situation nach Jesu Verhaftung nicht mehr in der Lage, an Jesu Worte zu denken. Dies geschah erst nach dem dritten Leugnen, als der Hahn krähte. Erst in diesem Moment wurde Petrus klar, was er getan hatte – »und er ging hinaus und weinte bitterlich«. Man fragt sich angesichts dieses Versagens des Petrus unwillkürlich: War er denn von allen guten Geistern verlassen, sich so feige und kopflos zu verhalten?

An dieser Stelle ist es hilfreich, das hebräische Wort für »Geist« zu betrachten. Das Wort »ruach« bedeutet eigentlich »Wind, Atem, Bewegtes und Bewegendes«. Damit wird deutlich: Der Geist ist eine Energie, die uns in Bewegung setzt (vgl. auch das deutsche Wort »be-geistert«). Er ist die Kraft, die uns antreibt, wenn wir unsere Bedürfnisse erfüllen wollen oder uns Sorgen machen. Der Geist unser Geist oder Gottes Geist – ist auch die Energie, die unser Tun und Denken in eine bestimmte Richtung treibt.

das Motiv, den Beweggrund,