Ziesemer, Bernd

Eine kurze Geschichte der ökonomischen Unvernunft

Die deutsche Wirtschaftspolitik und das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen

 

 

 

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Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40293-2

|5|FÜR CARL

|9|Vorwort

Als Gerhard Schröder 1998 als Bundeskanzler antrat, wollte er »nicht alles anders machen« als sein Vorgänger Helmut Kohl, »aber vieles besser«. Am Ende seiner Regierungszeit stand Deutschland jedoch vor einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen – mit der höchsten Arbeitslosenzahl seit dem Kriegsende.

Als Angela Merkel 2005 die Regierungsverantwortung übernahm, wollte sie »vieles anders machen« als Schröder, damit »alles besser wird«. Aber schon bei ihren ersten Reformen produzierte die Große Koalition ein ähnliches gesetzgeberisches Chaos wie ihre rotgrüne Vorgängerin. Man denke nur an die Gesundheitsreform.

Wie kommt es, dass aus vernünftigen Reformversprechen immer wieder schlechte Gesetze werden? Wieso entsteht so häufig aus den schönsten politischen Absichten bürokratischer Murks? Warum produzieren Gesetze in der Praxis das genaue Gegenteil der ursprünglichen Erwartungen? Das sind die Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Längst kann man sie nicht mehr mit dem bloßen Hinweis auf falsche Einzelentscheidungen oder handwerkliche Fehler in der Politik beantworten. Irgendetwas läuft ganz offenkundig systematisch falsch in der deutschen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Die Hauptthese dieses Buches lautet: Deutschland steckt nach vielen halben Reformen und grundsätzlichen Fehlsteuerungen so tief in der Komplexitätsfalle, dass weitere Teilreformen mehr Schaden als Nutzen anrichten. Angela Merkels »Politik der kleinen Schritte« funktioniert deshalb nicht. Immer häufiger schlägt bei weiteren halben Reformen das »Gesetz der unbeabsichtigten |10|Folgen« zu: Die deutsche Politik kann die Auswirkungen ihrer eigenen Entscheidungen immer schwieriger prognostizieren.

Das erste Kapitel dieses Buches zeigt an einem exemplarischen Einzelfall, den Hartz-IV-Reformen, wie sich eine politische Absicht im Laufe ihrer Verwirklichung in ihr genaues Gegenteil verkehrte. Das zweite Kapitel beschreibt anhand vieler Beispiele (etwa aus dem Steuerrecht) und einiger theoretischer Exkurse, wie das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen inzwischen unsere gesamte Wirtschaftspolitik prägt. Das dritte Kapitel liefert einen kurzen historischen Abriss, wie sich der Machbarkeitswahn in der deutschen Wirtschaftspolitik durchsetzte und das ganze Land Schritt für Schritt in eine Reformdauerbaustelle verwandelte. Das vierte Kapitel untersucht einige wesentliche Gründe für die Staatsgläubigkeit in Deutschland, die immer wieder überkomplexe bürokratische Lösungen produziert, statt auf die einfache Selbstregulation des Marktes zu vertrauen. Das fünfte Kapitel analysiert die Folgen eines Sozialstaatsmodells, das mittlerweile autonome wirtschaftliche Entscheidungen unmöglich macht und jede Sachlösung dem Diktat eines allmächtigen Gerechtigkeitsgebots unterwirft. Das sechste Kapitel wirft einen Blick auf das (Nicht-)Verhältnis zwischen politischen Entscheidern und ökonomischen Experten in Deutschland und den unglaublichen Siegeszug der wirtschaftswissenschaftlichen Ignoranz in der Alltagspolitik. Das siebte Kapitel befasst sich selbstkritisch mit dem Versagen der Medien, genau diesen Siegeszug aufzuhalten. Und das achte Kapitel schließlich plädiert für eine Rückbesinnung auf klassische Ordnungspolitik, für die Reduzierung der Komplexität in der Wirtschaftspolitik, mit dem Ziel, Deutschland überhaupt wieder reformfähig zu machen.

Was auf den ersten Blick wie die Kette einzelner Fehlentwicklungen in der deutschen Wirtschaftspolitik seit 1949 erscheint, verdichtet sich bei näherem Hinsehen zu einer einzigen Geschichte der ökonomischen Unvernunft. Sie möchte ich in diesem Buch erzählen. Als Chefredakteur des Handelsblatts beobachte ich seit Jahren immer neue Fehlentscheidungen, die unser Land weiter in die Komplexitätsfalle |11|treiben und damit die Entfesselung unserer Wachstumskräfte verhindern. Durch zahlreiche Kommentare und Essays habe ich in den letzten Jahren gemeinsam mit vielen anderen Publizisten in Deutschland versucht, eine grundsätzliche Debatte über die Fehlentwicklungen in unserem Land in Gang zu setzen. Die Themen, mit denen ich mich in diesen Meinungsbeiträgen für das Handelsblatt, das Wall Street Journal Europe und andere Zeitungen beschäftigt habe, kehren hier in neuer und fundierter Form wieder. Die Wirtschaft selbst zeigte und zeigt sich höchst interessiert an dieser Debatte. Aber auf die Politik springt der Funke nicht über. Warum die Politiker inzwischen gar nicht mehr über ihren Schatten springen können, auch das thematisiert dieses Buch.

Die deutsche Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren erheblich restrukturiert. Die großen exportorientierten Dax-30-Konzerne arbeiten in der Regel »lean and mean«, sie haben also ihre Organisationsstrukturen verschlankt und ihre Geschäftsmodelle einem härteren Wettbewerb angepasst. Die gegenwärtige Übernahmewelle zeigt, dass die deutsche Industrie global erheblich an Kraft gewonnen hat. Allein in den letzten fünf Jahren haben sich einige deutsche Unternehmen durch organisches Wachstum und Zukäufe in neue Weltmarktführer in ihren Branchen verwandelt, man denke zum Beispiel an den Industriegase-Hersteller Linde. Viele Mittelständler segeln im Windschatten der großen Konzerne ebenfalls immer erfolgreicher durch die ganze Welt. Eigentlich sind in der Wirtschaft selbst also alle Voraussetzungen für einen selbsttragenden und langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung vorhanden. Die Politik aber fesselt das Land. Und die angeblichen Reformen, die unsere Regierungen unaufhörlich produzieren, tragen nicht zur Lösung der Probleme bei, im Gegenteil: Sie sind ein Teil unseres Problems.

Düsseldorf, im Herbst 2006