Elias Hirschl
1994 in Wien geboren, Poetry Slammer, Schriftsteller und Musiker. Slamtexte und Kurzgeschichten erschienen beim Augustin, &Radieschen, DUM, Dichtungsring, den Lichtungen und diversen Slam-Anthologien. Österreichischer Meister im Poetry Slam 2014 sowie U20-Meister 2012. 2011 und 2012 Finalist beim FM4-Protestsongcontest mit Band hirschl (2012 erschien das Debut-Album Alles ist okay).
A serious and good philosophical work
could be written consisting entirely of jokes.
Wittgenstein
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
DANKSAGUNG
SIMON GRUBER SASS AN SEINEM SCHREIBTISCH und schrieb. Jedenfalls wäre es das gewesen, was er behauptet hätte zu tun, wohingegen es für einen außenstehenden Beobachter eher so aussah, als wäre er lediglich untätig herumgesessen und hätte an die Decke gestarrt, was in den letzten Tagen auch tatsächlich Simons Haupttätigkeit gewesen war. Mit den kurzen Episoden des Schreibens zwischen den langen Perioden des Nichtstuns verfolgte er den Plan, ein Buch zu verfassen, welches sich signifikant von allen anderen Büchern abheben sollte, ohne dabei so zu wirken, als wäre es Absicht. Er versuchte also, eines dieser Bücher zu schreiben, die ganz genau so waren wie alle anderen Bücher, die versuchen, nicht so zu sein wie alle anderen Bücher.
Momentan jedoch kam er aufgrund seiner selbstverschuldeten Faulheit nur äußerst langsam voran und trank deshalb literweise Kaffee, damit sein Körper zumindest das Gefühl hatte, produktiv zu sein. In den letzten drei Stunden hatte er seine Geschichte um gerade einmal drei Sätze erweitert, die jeweils nur eine durchschnittliche Wortanzahl von 3,25 aufwiesen, und hatte sich dabei schon derart stark konzentrieren müssen, dass er die Bitte seiner Frau überhört hatte, er solle sich um die Wäsche kümmern und in fünf Minuten die Herdplatte mit dem Topf Kartoffeln abdrehen, denn sie gehe jetzt mit einer Freundin ins Kino und komme sicher nicht vor Mitternacht wieder nach Hause.
Aus Angst davor, dass der Kaffee früher oder später seine Produktivität vorgaukelnde Wirkung verlieren und Simon sich selbst plötzlich beim Nichtstun ertappen könnte, verließ er nach weiteren zwei Stunden des inaktiven Herumsitzens schließlich in der dritten Person Singular sein Schreibzimmer, passierte den schmalen Flur mit dem Bad zu seiner Linken und dem Schlafzimmer zu seiner Rechten, ging, ohne Kenntnis von dem Topf zerkochter Kartoffeln zu nehmen, durch die Küche, schlüpfte in zwei weiße Hausschuhe und machte sich auf den Weg zum Postkasten, um nach seinen Briefen zu sehen; wie er es immer tat, wenn er sich vor Arbeit drücken wollte, denn es war 1983.
Er entsperrte sein Postfach und fand tatsächlich einen Brief darin vor. Zu seinem Bedauern jedoch bedruckt mit dem Bild eines Adlers.
Simon GRUBER straße 18/37
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Soweit in diesem Formular personenbezogene Ausdrücke verwendet werden, umfassen sie Frauen und Männer gleichermaßen.
STRAFSACHE:
GEGEN:
Beschuldigter:
Simon GRUBER
Geboren 11.06.
WEGEN: § 1037 (1 u. 2) StGB
In der Strafsache gegen Simon GRUBER ergeht die Mitteilung, dass das Geschworenengericht im Falle der Verfolgung des Genannten wegen § 1037 (1 u. 2) StGB (wiederholte unsachgemäße und tautologische Verwendung multipler Erzählebenen) gemäß § 2021 Abs. 4 StPO zu einem Entschluss kam.
Die Staatsanwaltschaft erlässt auf Beschluss der Geschworenen eine einstweilige Verfügung gegen den Beschuldigten, durch deren Inkrafttreten der Genannte dazu verpflichtet wird, von literarischen Metaebenen 100 Meter Abstand (entspricht etwa 20 000 Zeilenabständen) zu halten. Des Weiteren wird der Genannte dazu verurteilt, 40 Stunden Sozialdienst zur Schließung der logischen Lücken seiner Erzählung abzuleisten, um somit weiteren Unannehmlichkeiten vorzubeugen.
Staatsanwaltschaft
Geschäftsabteilung 412
Mag. Teresa Heidinger
(STAATSANWÄLTIN)
H.d.g.d.l.
Genau wie alle vorangegangenen Briefe, die ihm in letzter Zeit aus unerfindlichen Gründen in rauen Mengen zugeschickt wurden, warf Simon auch diesen ungeöffnet in den Papierkorb und machte sich wieder auf den Weg zurück in seine Wohnung.
Währenddessen lag der Stoß Papier, an dem er gearbeitet hatte, weiterhin auf seinem Schreibtisch und fühlte sich vernachlässigt. Die wenigen nicht durchgestrichenen Sätze, die vereinzelt auf den Seiten herumlagen, waren in einer beleidigend hässlichen Handschrift geschrieben worden und handelten hauptsächlich von Johann Stieber. Dieser war eine von Simon Gruber erfundene Romanfigur und außerdem ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht und knotigen Händen, welcher meistens nur auf seinem Gartenstuhl saß, rauchte und Geschichten schrieb, in denen er Begriffe des Agrarwesens als Metaphern auf die Beschreibungen seiner Figuren anwandte, und so z. B. seine Protagonistin (Hilde Weinzettl) als Fräulein jungen Alters mit dennoch bereits von der harten Arbeit als Bäuerin zerfurchtem Gesicht bezeichnete, wobei »zerfurcht« eben jene Metapher war, die der alte Stieber aus dem Jargon des Agrarwesens entlehnt hatte. Wo hingegen er Adolf Neuhaus, einen der wenigen Elektriker des Ortes, der sich hin und wieder zu dem alten Mann auf die Veranda setzte und Bier mit ihm trank, als »netten, lebendigen jungen Mann« beschrieb, was mit Adolfs Beruf in absolut keinem un- oder beabsichtigten Zusammenhang stand. Die Tochter des alten Mannes (sie hörte auf einen schönen Vornamen, beginnend mit dem Buchstaben S), war bereits mit 17 aus dem kleinen Dorf ausgezogen, hieß Sabine und schlug sich nun teilweise mit mäßig anfallenden Aufträgen als Schauspielerin, hauptsächlich aber mit dem Liebhaben mehr oder weniger reicher Männer durch. Dass sie mit 15 eine kurze, aber heftige Affäre mit eben erwähntem Elektriker hatte, stand außer Frage und seit Kurzem, dank des Pfarrers1, für alle sichtbar auch an dem »Brett der Schande«, hängend an dem Haupttor der Ortskirche, in Form aufgeklebter Kunststoffbuchstaben, gehalten in einem gut leserlichen Weiß.
Als Johann Stieber (jener alte Mann mit tatsächlich von Heugabeln und Ackergeräten zerfurchtem Gesicht) schließlich nach guten 300 Seiten Arbeit als Romanprotagonist an einem ortsansässigen Herzinfarkt starb, war Simon Grubers letztes Buch zu Ende. Er reichte es ein, es wurde abgelehnt, er veröffentlichte es im Selbstdruck, es hatte keinen Erfolg, verkam zunächst zum Ladenhüter, dann zum Ramsch, dann zum Gratisexemplar zum Verschenken bzw. professionell maschinellem Einstampfen. Simon Gruber schlitterte geradewegs in eine handfeste Depression2, genauso wie Sabine Stieber, deren Vater gestorben war. Just an diesem Tag war sie an den Dreharbeiten zu einem Kinofilm beteiligt gewesen3, in welchem sie in Minute 37 ganze 43 Sekunden in 200 Meter Entferung in Nahaufnahme sehr unscharf nicht auch nur im Geringsten zu erkennen war.
Die einzige Person, die dem Tod des alten Mannes beigewohnt hatte, war der junge Elektriker gewesen, der gerade mit dem prämortalen Herrn Stieber in eine Unterhaltung über seine Protagonistin, das mäßig in Spitze und Tüll gehüllte Fräulein Weinzettl, verstrickt gewesen war, als dieser (Herr Stieber) plötzlich aus reiner Herzenslust anfing zu sterben. Adolf Neuhaus und das Fräulein Weinzettl gerieten beide in Panik, riefen den Pfarrer, gerieten mit ihm zusammen in Panik, riefen den einzigen Dorfbewohner mit Telefonanschluss an und baten ihn herzukommen, weil er einen vollständigen Erste-Hilfe-Koffer besaß, dessen Pflaster noch nicht alle zum Reparieren von Sonnenbrillen aufgebraucht worden waren.
Als dieser am Ort des Geschehens ankam, war Herrn Stiebers Leiche bereits zur Gänze verwest, sodass nicht einmal der Druckverband des einzigen Dorfbewohners mit Telefonanschluss Wirkung zeigte, obwohl er ihn täglich in der Sorge, es könne eines Tages in irgendeiner Form zu einem Ernstfall kommen, geübt hatte. Er (der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss) zeigte sich ob der Schmach, das Leben des alten Herrn Stieber nicht retten zu können haben, zutiefst gekränkt, und der Pfarrer vermerkte dies sofort auf dem Brett der Schande.4 Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss ging, etwa bis zur Höhe seiner Schulterblätter im Erdboden versunken, nach Hause, wo wir etwas später auf ihn zurückkommen werden.
Da sich die Leiche von Johann Stieber bereits vollständig zersetzt hatten, ersparte man sich das mühsame Obduzieren und Begraben, sodass weder jemand anzweifelte, dass der alte Mann tatsächlich an einem Herzleiden gestorben war, noch jemand sich um die Bestattung kümmern musste. Der Formalität wegen hatte man trotzdem einen Detektiv aus der nächsten Stadt einfliegen lassen, der sich jetzt jedoch nur in Cafés und Bars herumtrieb und aus Langeweile Trinkspiele mit den Dorfbewohnern veranstaltete.5 An einem dieser Abende versuchte er den Elektriker unter den Tisch zu trinken, während das spitztüllene Fräulein Weinzettl danebensaß und beide verhalten anfeuerte. Die traumatische Erfahrung, zusammen dem Tod eines Menschen beigewohnt zuhaben, hatte den Elektriker Adolf Neuhaus und das Fräulein Hilde Weinzettl zusammengeschweißt wie ein wahnsinniger Chirurg, und so wundert es nicht, dass sie nach dieser durchzechten Nacht noch beim Elektriker zuhause landeten, ein paar alte Elektropunkplatten von Bob Dylan durchhörten, sich gegenseitig mit noch mehr Alkohol abfüllten und schließlich gemeinsam unter einer Decke steckten.6
Der Pfarrer, der seit einem grässlichen Unfall beim Bergsteigen ein sehr helles Gehör entwickelt hatte, schrieb sogleich einen weiteren Punkt auf das Brett der Schande und machte die beiden am nächsten Morgen darauf aufmerksam, dass, nachdem sie sich nun letzte Nacht ganz unbedacht gegenseitig zu Mann und Frau gemacht hatten, er sie beide in seiner Rolle als Dorfpfarrer ebenfalls zu Mann und Frau zu machen hatte. Er schrieb also auf einen Zettel, dass eine Hochzeit zwischen dem Elektriker und Hilde Weinzettl (der Protagonistin von Johann Stiebers letzter Geschichte) anberaumt worden war und klebte selbigen sogleich als ersten Punkt an das – ebenfalls existierende – »Brett der Tugend«.
Da es nun per definitionem etwas später ist, kommen wir auf den einzigen Dorfbewohner mit Telefonanschluss zurück: Er hatte sich beschämt und von sich selbst enttäuscht in seinen Telefonanschluss gesetzt und sich frustriert einen starken Telefonanschluss eingeschenkt, den er in einem Zug hinunterstürzte. Anschließend stellte er den Telefonanschluss beiseite, nahm den Telefonanschluss vom Telefonanschluss und schaltete den Telefonanschluss ein. Es lief ein Telefonanschluss über Telefonanschlüsse. Billige Telefonanschlüsse, um genau zu sein, zu denen man noch einen zweiten Telefonanschluss gratis dazubekam, wenn man jetzt und sofort anrief. Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss fragte sich, wie man gleichzeitig jetzt und sofort anrufen könne und schaltete um auf einen anderen Telefonanschluss, auf dem gerade ein Telefonanschluss drauf und dran war, einen Telefonanschluss wegen eines Telefonanschlusses zu verlassen, nichtsahnend davon, dass der Telefonanschluss einen Telefonanschluss gehabt hatte und sich gar nicht an den Telefonanschluss erinnern konnte, geschweige denn an den Telefonanschluss, den er mit dem Telefonanschluss gehabt hatte. Der Telefonanschluss schrie ihn an: »Dann geh doch! Wieso gehst du nicht einfach und lässt mich in Telefonanschluss?!« Der Telefonanschluss konnte aber gar nicht gehen, weil er seit einem tragischen Telefonanschluss im Telefonanschluss saß. Dicke Telefonanschlüsse der Verzweiflung rollten über seine Telefonanschlüsse.
Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss seufzte. Er hatte Telefonanschlüsse noch nie leiden können.
Mit einem Mal läutete es am Telefonanschluss. Ein Detektiv stand vor der Tür, was für den einzigen Dorfbewohner mit Telefonanschluss eine Überraschung war, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ein Detektiv vor seiner Tür stehen könnte.
»Guten Tag«, sagte der Detektiv mit einer Stimme, die den einzigen Dorfbewohner mit Telefonanschluss erschreckt zusammenzucken ließ, weil er ein recht schüchterner Mensch und es nicht gewohnt war, Stimmen zu hören, die einen eindeutig erkennbaren Ursprung hatten. »Dürfte ich wohl kurz Ihr Telefon benutzen?«
Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss stotterte, er habe leider nur Telefonanschlüsse, der nette Herr Detektiv möge sich bitte nach nebenan begeben, dort habe er letztens durch das geöffnete Küchenfenster eine Wählscheibe erspähen können.
Der Detektiv bedankte sich artig und ging. Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss kehrte beunruhigt zu seinem Telefonanschluss zurück und beschloss, seine Memoiren zu schreiben.
»Simon! Was zum Teufel schreibst du da, bitte? Du hast gesagt, du hast keine Zeit, weil du an etwas Wichtigem arbeitest, aber alles, was ich hier lese, ist kompletter Schwachsinn! Telefonanschlüsse? Sag mal, was soll das? Wie wär’s, wenn du mir zur Abwechslung mal ein bisschen hilfst? Du hast dich weder um die Wäsche gekümmert noch den Herd abgedreht! Die Kartoffeln kann ich jetzt alle wegschmeißen, Herrgott noch mal! Ich arbeite hier den ganzen Tag, damit du was zu essen und zum Anziehen hast, und du bringst es nicht einmal fertig, mir auch nur einmal dabei zu helfen, oder mir zuzuhören, oder mir auch nur das kleinste bisschen Aufmerksamkeit entgegenzubringen! Ich bin nicht deine Sklavin, okay! Auch wenn du das gerne hättest! Du kannst mir ruhig wieder einmal zeigen, dass du noch weißt, dass ich überhaupt existiere! Wann bist du nur so geworden? Früher war alles viel schöner! Du hast gesagt, dass du mich liebst und glücklich bist, mich zu haben. Dass du mit mir zusammen alt werden und Kinder großziehen möchtest! Und jetzt schaffst du es nicht einmal mehr, den Herd abzudrehen, wenn ich dich darum bitte? Oder mal das Bad zu putzen? Oder zum Ausgleich auch einmal für mich zu kochen? Simon, was ist nur aus dir geworden? Du hast mich einmal geliebt, weißt du noch? Hallo! Ich bin’s, deine Frau, erkennst du mich überhaupt noch? Ich bin mir manchmal nicht mehr sicher, wo du mit deinem Kopf zu Hause bist. Was ist nur passiert? Was habe ich getan, um so etwas zu verdienen? Ich war doch immer gut zu dir, ich habe dich geliebt! Aber jetzt weiß ich nicht mehr, wo dieser Simon ist, den ich geliebt habe. Ich habe das Gefühl, das Einzige, was dich noch interessiert, sind die Geschichten und Personen, die du dir selbst erfindest. Aber wo ist mein Platz in diesen Geschichten? Wo passe ich da noch hinein? Liebst du mich, Simon? Liebst du mich noch? Hallo? Wenn du mich noch liebst, dann antworte einfach. Du musst nicht einmal Ja sagen, du musst einfach nur irgendetwas antworten, damit ich zumindest merke, dass du mich überhaupt hörst …«7
Die Hochzeit des Elektrikers und des spitztüllenen Fräulein Weinzettl fand just an jenem Tag statt, als ein etwas weltfremder Erfinder beschloss, dem entlegenen Dorf einen Besuch abzustatten, um den Bewohnern seine neueste Errungenschaft zu präsentieren: eine gläserne Birne, welche durch die Benutzung einer furchteinflößend fremdartigen Apparatur den Raum mit bleichem Licht erhellte. Sie wurde natürlich augenblicklich von der gesamten Einwohnerschaft abgelehnt, woraufhin der Erfinder gesenkten Hauptes, seinen klimpernden Trolley über die zerfurchten Äcker hinter sich herschleifend, vom verständnislosen Kopfschütteln der Dorfmenschen freundlich aber bestimmt aus dem Dorf geleitet wurde.
Traditionsgemäß wurde die Hochzeit um Mitternacht abgehalten. Der Pfarrer hatte bereits überall Kerzen platziert und extra sein unbeflecktes Gewand übergeworfen sowie auf einem kleinen Beistelltischchen Kekse und Orangensaft platziert – Kekse, weil der Pfarrer seit einem Streit mit dem Hostienfabrikanten (in dem es hauptsächlich um eine Meinungsverschiedenheit bezüglich der Interpretation eines Musikstückes gegangen war8) auf den Leib Christi verzichten musste, und der Orangensaft, weil der Hostienfabrikant starker Alkoholiker war, und der Pfarrer ihn ärgern wollte, indem er ihm keinen Wein ausschenkte. Aus diesem Grund hatten sämtliche Kirchgeher heimlich ihren eigenen Alkohol und Hostien mitgebracht, die sie in ihren ausgehöhlten Gottesloben versteckten. Da so aber niemand mehr über die Texte zu den Liedern verfügte, summten die meisten nur die Melodien mit, während lediglich der Pfarrer selbst und der einzige abstinente Dorfbewohner (der einen markerschütternden Bariton an den Tag legte) Loblieder darüber sangen, deren Kernaussage es war, wie dankbar sie alle dafür seien, dass der gute Herr Gruber eine Geschichte über sie schrieb, und opferten ihm als Beweis ihrer Dankbarkeit ein Exemplar seines Debütromans »In den Flammen der Liebe« in den Flammen der Liebe. Anschließend vermählte der Pfarrer schnell Herrn und Frau Neuhaus-Weinzettl, rief die Kirchgeher dazu auf, den einzigen Dorfbewohner mit Telefonanschluss ob seiner Unfähigkeit, den alten Herrn Johann Stieber nicht gerettet zu haben, zu schelten und zu verspotten, wie es das Brett der Schande gebot, und schmähte sodann auch noch den extra eingeflogenen Detektiv, der erklärt hatte, nicht an den Hochzeitsfeierlichkeiten teilnehmen zu können, weil er ein wichtiges Telefonat zu führen habe.9
Anschließend setzte der Pfarrer dazu an, die ganze Genesis herunterzuleiern, musste aber mehrmals fluchend unterbrechen, weil er sich an einigen der Kerzen verbrannte, die er zur Beleuchtung an seinen Fingern befestigt hatte.
In weiter Ferne lachte ein Glühbirnenverkäufer.
Hilde Weinzettl war übrigens gar nicht katholisch erzogen worden, sondern eigentlich die Tochter eines atheistischen Mathematikers und einer nihilistischen Chemikerin, die beide in der Großstadt gelebt hatten und dort zusammen wissenschaftlichen Forschungen nachgegangen waren, die in universitären Kreisen großen Anklang fanden und von der Fachpresse hoch gelobt wurden. Dabei verbanden sie auf völlig neuartige Weise Techniken aus der Chemie mit Theorien aus der neunwertigen Logik, von denen man bisher allgemein angenommen hatte, sie seien unter keinen gemeinsamen Hut zu bringen. »Doch wir haben einen sehr großen Hut gefunden«, pflegte Hildes Vater gerne zu sagen – ein Zitat, das Einzug in die Geschichtsbücher finden sollte.
Das Leben der beiden verlief jahrzehntelang glücklich und erfolgreich, ehe sie an den Folgen eines tragischen Unfalls bei dem Versuch, eine einheitliche Methode zur Primfaktorenzerlegung unter Verwendung von Flusssäure zu finden – was selbst von den führenden Experten als hochgradig riskant und völlig sinnlos eingeschätzt wurde –, gestorben waren. Man dürfe ruhig davon ausgehen, dass die beiden unter schrecklichen Qualen verschieden seien, hatte der diensthabende Pathologe zu Hilde gesagt, als sie sich auf der Beerdigung bei ihm nach einem Taschentuch erkundigte.