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Autor

Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh. Er hat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gerne, boxt oder – natürlich – liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte. Will Jordan hat bereits jede Waffe abgefeuert, die in diesem Roman erwähnt wird.

Die Ryan-Drake-Romane bei Blanvalet:

1. Mission: Vendetta

2. Der Absturz

3. Gegenschlag

4. Operation Black List

5. Codewort Tripolis

Das RESCUE-Protokoll ist zeitlich nach Operation Black List angesiedelt.

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WILL JORDAN

Das RESCUE-

Protokoll

Thriller

Deutsch von Wolfgang Thon

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Second Chances« bei Canelo, London.

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1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Will Jordan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -abbildung: © Johannes Frick, Neusäß

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Redaktion: Rainer Michael Rahn

HK · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21727-3
V003

www.blanvalet.de

1

Zentralkrankenhaus, Istanbul – 14. Mai 2009

Sie lebte noch.

Der Himmel wusste, wie das möglich war. Bei dem hässlichen Bauchschuss, erheblichen Blutverlusten, inneren Verletzungen, gebrochenen Rippen und so vielen Platzwunden und Prellungen, dass sie einem Faustkämpfer zur Ehre gereicht hätten, war bei ihrer Einlieferung niemand davon ausgegangen, dass sie überlebte. Den Protokollen zufolge stand es auf dem Operationstisch mehrfach auf Messers Schneide, ob sie durchkommen würde.

Doch sie hatte sich am Leben festgeklammert und ebenso hart darum gekämpft wie das Chirurgenteam, das sechs Stunden unermüdlich daran gearbeitet hatte, ihren Zustand zu stabilisieren und sie wieder zusammenzuflicken, so gut es eben ging.

Und da lag sie nun, keine zwanzig Meter entfernt, im Aufwachraum der Intensivstation. Frustrierend nah und doch unerreichbar. Die Ärzte hatten nur medizinischem Personal den Zutritt erlaubt – aber weder die türkische Polizei, deren Mitarbeiter geradezu Schlange standen, um zu ihr zu gelangen, hatte Zugang zu ihr noch die paar Reporter, die in der Hoffnung auf eine Sensationsmeldung hier herumlungerten, und ganz sicher nicht die Männer vom CIA-Kommando, die den Auftrag hatten, sie einzukassieren.

CIA-Agent Frank Wheeler verlagerte sein Gewicht auf dem harten Plastikstuhl, auf dem er schon seit Stunden ausharrte, und versuchte sowohl den scharfen Geruch des Desinfektionsmittels zu ignorieren als auch die noch unappetitlicheren Düfte, die in der Luft lagen. Erbrochenes, Schweiß, Kot … Gerüche, die die armen Hunde absonderten, die hier täglich eingeliefert wurden. Es war der Geruch des Todes.

Er hasste Krankenhäuser.

Offiziell waren Wheeler und sein Kollege Greg Krasinski als Vertreter des US-Außenministeriums hier, um dafür zu sorgen, dass die Patientin anständig und unter Wahrung all ihrer Rechte als amerikanische Staatsbürgerin behandelt wurde. Außerdem sollte sie die Gelegenheit erhalten, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen, bevor die türkische Polizei sie in die Finger bekam.

Davon entsprach natürlich nichts der Wahrheit. Ihre tatsächliche Aufgabe war es, als Erste an die Patientin heranzukommen, zu ermitteln, was genau mit ihr passiert war, und sie dann still und leise aus dem Krankenhaus zu schaffen, bevor sie die Agency belasten konnte. Den vollständigen Abschlussbericht wollten ihre Vorgesetzten in Langley persönlich entgegennehmen.

Und sie würde eine Menge Fragen beantworten müssen: zum Beispiel, was sie überhaupt ohne offiziellen Auftrag in der Türkei zu suchen hatte und wie es dazu gekommen war, dass sie drei Tage zuvor in eine tödliche Schießerei bei einem Bürokomplex verwickelt wurde. Belastbare Fakten waren Mangelware, doch es kursierten bereits Gerüchte über illegale feindliche Operationen auf türkischem Boden.

Man brauchte kein Genie zu sein, um zu begreifen, dass es in jener Nacht heftig zur Sache gegangen war, auch wenn man noch nicht wusste, welche Personen daran beteiligt waren und was so wichtig gewesen sein mochte, dass Menschen dafür getötet wurden. Die Einzige, die am Leben geblieben und in der Lage war, die Sache aufzuklären, lag momentan am Ende des Korridors mit Handschellen an ein Krankenhausbett gefesselt.

Wheeler lockerte seine Krawatte. Die Klimaanlage der Station arbeitete auf Hochtouren, doch die Hitze des späten Nachmittags war unerbittlich und schien bis in den letzten Winkel des Gebäudes vorgedrungen zu sein. Der Smog, der über der Innenstadt von Istanbul hing, roch unangenehm und ätzend, doch Wheeler hätte ihn jederzeit dem Gestank von Desinfektionsmitteln und Krankheit vorgezogen.

Ein technischer Mitarbeiter seines Teams hatte sich bereits Zugriff auf die Sicherheitssysteme des Krankenhauses verschafft, was sie in die Lage versetzte, von Überwachungskameras über Fahrstühle bis hin zu elektronischen Türschlössern alles zu kontrollieren. Von diesem digitalen Horchposten aus konnte er alles beobachten und auf alles Einfluss nehmen, was im Krankenhaus geschah.

Bei Bedarf waren sie in der Lage, das ganze Gebäude lahmzulegen oder jeden Ausgang zu blockieren und damit die Insassen im Inneren festzusetzen. Es war jedoch eher unwahrscheinlich, dass sie so weit gehen mussten. Das durch einen falschen Feueralarm ausgelöste Chaos würde dem Kommandotrupp, der schon auf Abruf bereitstand, ausreichend Schutz bieten, um die Frau in Gewahrsam zu nehmen und sie in ein wartendes Fahrzeug zu bringen. Dann konnten sie diesen elenden Ort endlich verlassen.

Wheeler sah auf die Wanduhr und versuchte den Zeiger per Willenskraft zur nächsten vollen Stunde vorzuschieben, dem Zeitpunkt, an dem die Fachärzte den Zustand der Patientin erneut überprüfen wollten. Es gelang ihm nicht. Die Minuten verstrichen mit nervtötender Langsamkeit, als klammerte sich jede einzelne von ihnen an die Gegenwart und wollte sie nicht loslassen.

Ein leises Stöhnen brachte ihn wieder in die Realität zurück, und er blickte zu seinem Teamkameraden Greg Krasinski hinüber, der nicht weit von ihm entfernt Platz genommen hatte. Der junge Mann, der normalerweise kerngesund und so braun gebrannt war, dass jeder Kalifornier stolz darauf gewesen wäre, sah gerade ziemlich blass und kränklich aus. Er beugte sich vor, presste eine Hand auf seinen Bauch und biss die Zähne fest zusammen.

»Was ist denn mit Ihnen los?«, erkundigte sich Wheeler. »Montezumas Rache?«

»Nichts, mir geht es gut«, ächzte Krasinski. Sein Hemdkragen war schweißnass, und er nahm noch einen Schluck Wasser aus dem Becher, an dem er sich seit ihrer Ankunft festhielt. Er verzog das Gesicht, als es in seinem Magen ankam, in dem offensichtlich Aufruhr herrschte.

»Das glauben Sie doch wohl selbst nicht! Sie sehen aus, als gehörten Sie eigentlich auf dieselbe Station wie sie Er deutete kurz mit dem Kopf in die Richtung, wo sich der Raum mit der Patientin befand. »Die Fachärzte sollen erst in zwanzig Minuten kommen. Gehen Sie nach draußen und schnappen Sie ein bisschen frische Luft oder so was. Es fehlt mir gerade noch, dass Sie jetzt anfangen herumzukotzen oder hier im Flur umkippen.« Knapp, direkt und unmissverständlich wie immer: Wheeler hatte seine Art, sich klar auszudrücken. So, wie es Krasinski ging, hatte der mit Sicherheit auch nichts dagegen einzuwenden, denn er hatte Magenkrämpfe und gab bedenkliche Geräusche von sich. Ein anderes Ziel als die Toilette kam für ihn nicht infrage.

»Na schön, was soll’s?« Er stand auf und machte sich auf den Weg zur Herrentoilette am anderen Ende des Flurs. Je weiter er kam, desto eiliger hatte er es.

Er stieß eine der Kabinentüren auf, dann krümmte er sich und stützte sich an der Wand ab, während sein Mageninhalt sich aus ihm heraus und in die Toilettenschüssel ergoss. Krasinski konnte vor jedem neuen Schwall nur noch nach Luft schnappen und sich an den Wänden festhalten. Er schloss die Augen und ballte die Fäuste, als Frust in ihm hochstieg. Als ob es nicht ausreichte, tagelang in diesem beschissenen Krankenhaus stationiert zu sein – nein, er musste sich dabei zu allem Überfluss auch noch ein Magenvirus einfangen.

Er spuckte den letzten Rest des widerwärtig schmeckenden Schleims in die Schüssel, dann drückte er die Spülung, richtete sich auf und ging mit wackeligen Knien zu der Reihe mit Handwaschbecken auf der anderen Seite. Einen besonders schönen Anblick bot er wohl nicht, doch nachdem er sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und den Mund ausgespült hatte, war ihm wenigstens nicht mehr ganz so übel.

Er betrachtete sich kurz im Spiegel und sah mit Unbehagen sein blasses Gesicht und die blutunterlaufenen Augen. Es war nicht zu leugnen – er sah aus wie ein Mann, der sich in den letzten paar Minuten die Seele aus dem Leib gekotzt hatte und das Ganze schon bald wiederholen würde.

»Starker Auftritt, du Held«, murmelte Krasinski und wischte sich mit einem Papierhandtuch das Gesicht ab.

In diesem Moment entdeckte er ihn. Eine dunkle Gestalt, die im Spiegel genau hinter ihm stand und ihn fixierte.

»Herrje!«, entfuhr es Krasinski. Er fuhr herum, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Der Mann musste, während er beschäftigt war, aus einer der anderen Kabinen herausgetreten sein, denn Krasinski hatte weder gehört noch gesehen, wie er näher kam.

»Was hat das zu bedeuten, Arschloch?«, fragte er, als der Schreck über das plötzliche Auftauchen des Mannes nachließ und wütende Angriffslust an seine Stelle trat. »Macht es Ihnen Spaß, in Toiletten herumzuhängen und Leute zu Tode zu er…«

Er hielt mitten im Satz inne und sah sich den Fremden genauer an, der jetzt direkt vor ihm stand. Er trug einen blassblauen OP-Arztkittel, und obwohl er dunkles Haar und einen dunklen Teint hatte, handelte es sich bei ihm offensichtlich nicht um einen Türken. Außerdem war er wohl auch kein Arzt. Er hatte den Körperbau eines Mannes, der schwere körperliche Anstrengung gewohnt war, trug einen kurzen, pflegeleichten Haarschnitt, und in seinen grünen Augen lag ein gefährlicher Schimmer, den Krasinski nur zu gut kannte. Er hatte – was Menschen anging – gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen, und die sagten ihm in diesem Moment, dass er sich auf Ärger gefasst machen musste.

»Oh verdammt …«, stöhnte er und griff sofort nach seiner Pistole.

Er kam nicht mehr dazu, sie zu ziehen. Eine Hand schoss vor und legte sich mit beängstigender Kraft auf seinen Mund, damit er nicht schreien konnte. Einen Augenblick später spürte er, wie etwas Spitzes durch die Haut seines Halses drang. Dann hörte er ein leises Zischen und fühlte plötzlich, wie es um die Injektionsstelle herum langsam warm wurde.

Als die Außenwelt allmählich immer undeutlicher wurde und seine Gliedmaßen aufhörten, den Befehlen seines Gehirns Folge zu leisten, spürte er, wie er über den gekachelten Fußboden in eine der Kabinen geschleift wurde. Danach wurde alles dunkel. Er verlor die Besinnung.