Als Ravensburger E-Book erschienen 2018

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2018 Ravensburger Verlag GmbH

Originaltitel: Spirit Animals – Fall of the Beasts. Broken Ground
Copyright © 2015 Scholastic Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York,
NY 10012, USA.
SCHOLASTIC, SPIRIT ANIMALS and associated logos are trademarks and/or registered trademarks of Scholastic Inc.

Übersetzung: Friedrich Pflüger
Umschlag: Keirsten Geise unter Verwendung einer Illustration von Angelo Rinaldi
Vorsatzkarte und Vignetten: Wahed Khakdan

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47903-0

www.ravensburger.de

SCHATTEN IN DER NACHT

Wolken türmten sich am Himmel und verdeckten Mond und Sterne.

Es gab in dieser Nacht keinen Grund, nach oben zu blicken.

Andernfalls hätte jemand in Stetriol vielleicht die Schatten bemerkt, die über die Dächer huschten oder wie Wasserspeier auf den Giebeln saßen. Jemand hätte vielleicht den jungen Mann gesehen, der wie eine Wetterfahne auf einem Dachfirst stand, das Gesicht hinter einer blassen Hörnermaske verborgen, während sein dunkler Umhang im Wind flatterte. Aber alle Augen waren nach unten gerichtet, auf Bücher und Kochstellen, Mahlzeiten, Herdfeuer und Getränke, und niemand nahm Notiz.

Die Gestalt richtete sich auf und lief geschmeidig über den First des Schindeldachs, wodurch sich der Umhang hinter ihm bauschte. In der farblosen Nacht sah dieser Umhang schwarz aus, aber wenn die Gestalt stehen blieb und von den Straßen und Höfen der Schein der Lampen heraufflackerte, dann leuchtete das Gewebe rot.

Das unter ihm ausgebreitete Stetriol war belebt wie lange nicht. Die Stadt pulsierte geradezu, und dieser Puls schlug im Gleichklang mit seinem Herzen, seinen Schritten.

Ungeachtet der Straßen, die tief unter ihm lagen, bewegte er sich mit tierischer Anmut über die Dächer von Läden und Häusern bis zu dem einen, das er gesucht hatte. Dort lehnte er sich an den Kamin, ging dann in die Hocke, wobei kurz Licht auf die Hörner seiner Maske fiel, bevor sie mit dem Rest von ihm im Schatten verschwanden.

Unten im Hof, am Rand eines Brunnens, saß ein Mädchen; sein langes weißblondes Haar türmte sich wie eine gewundene Krone auf seinem Kopf. Nachdenklich ließ es die Beine ins flache Wasser baumeln, auf dem sich ein großer Schwan treiben ließ. Seine Federn schimmerten so weiß wie Sonnenlicht, das auf frisch gefallenem Schnee glitzert. Beim Anblick des Tiers wurden die Augen des jungen Mannes – keine menschlichen Augen, sondern quer geschlitzt wie bei einem Widder – hinter der Hörnermaske ganz groß. Wie verzaubert beugte er sich in einem kaum möglichen Winkel nach vorn, während der Schwan anmutig über die Wasserfläche glitt.

Die Gerüchte waren also wahr.

Ninani war nach Stetriol gekommen.

Das Haar des Mädchens und die Federn des Schwans bildeten Inseln aus blassem, hellem Licht im gedämpften Grün, Blau und Schattengrau des Hofes. Das Mädchen hatte ein Buch aufgeschlagen und las dem Schwan vor; seine Stimme klang weich und sanft, aber im leisen Gurgeln des Wassers um seine Beine waren seine Worte oben auf dem Dach nicht zu verstehen.

Der Mann nahm eine blitzartige Bewegung wahr: Über der gegenüberliegenden Hofmauer erschien eine andere Gestalt in einem Umhang. Vor dem Schieferdach zeichnete sich die Schnauze einer Kojotenmaske ab. Die hundeähnliche Gestalt verlagerte ihr Gewicht. Am Boden war sie kaum aufzuhalten, aber hier in der Höhe fühlte sie sich offensichtlich nicht wohl.

Geheul, begrüßte der Erste den Neuankömmling mit dem Handzeichen für dessen Namen.

Treu, signalisierte der Mann mit der Kojotenmaske zurück.

Eine dritte Gestalt im Umhang sprang rechts von Geheul aus dem Dunkeln. In die Maske, die ihr Gesicht verdeckte, war ein katzenhaftes Lächeln geschnitzt, und ihre Bewegungen waren so geschmeidig, dass Geheul ihr Kommen gar nicht bemerkt hatte.

Schatten.

Sie deutete ein beiläufiges Hallo an, ging in die Hocke und hielt sich mit funkelnden Fingernägeln, scharf und gekrümmt wie die Krallen einer Katze, am Dach fest.

Die drei ragten wie steinerne Statuen über dem Hof auf und umringten das lesende Mädchen und sein Seelentier – beide ahnungslos. Geheul änderte zum zweiten Mal seine Körperhaltung.

Was nun?, signalisierte Schatten mit träge durch die Luft tanzenden Fingern.

Der junge Mann mit der gehörnten Maske – den sie Treu nannten – kniff die Augen zusammen und gab seinen Befehl: Sendet eine Nachricht an König.

Schatten fuhr sich zur Antwort mit dem Finger um den Kopf. Das Zeichen für Hörner war dasselbe wie das für Krone. So hatten sie ihn eigentlich nennen wollen: Krone. Immerhin war er der Stellvertreter von König. Ihm war dabei aber nicht wohl gewesen – er war dem Anführer so unverbrüchlich ergeben, dass er sich stattdessen für Treu entschieden hatte – wie in „königstreu“.

Er quittierte Schattens Hänselei mit einer abfälligen Handbewegung.

Das Mädchen im Hof verstummte und wollte gerade die Seite umblättern, als ihm das Buch aus den Händen glitt. Es griff danach, doch das Buch sprang ihm vom Knie und fiel platschend in den Brunnen.

Der Schwan sträubte das Gefieder und schlug mit den Flügeln.

„Hoppla“, flüsterte das Mädchen und fischte das durchgeweichte Buch aus dem Wasser. Es hielt es an einer Ecke hoch und seufzte, als das Wasser von den Seiten heruntertropfte. „Erzähl bloß Vater nichts.“

Das Mädchen legte das Buch zur Seite; es landete mit einem satten Schmatzen auf dem Brunnenrand.

In diesem Augenblick änderte Geheul zum dritten Mal seinen Stand – und rutschte aus.

Unter seinem Stiefel löste sich eine Schiefertafel und glitt scheppernd vom Dachfirst herab. Geheul konnte sich gerade noch am nächsten Kamin festhalten, doch für die Schindel war es zu spät. Immer schneller schoss sie auf die Dachkante zu. Treu zuckte zusammen, drückte sich an den Kamin und machte sich auf den Lärm gefasst; Schatten jedoch spannte anmutig den Körper, schnellte nach vorn und schnappte die Steinplatte mit einem ihrer klauenartigen Fingernägel gerade noch rechtzeitig, bevor sie in den Hof hinunterstürzte.

Kleine Mörtelbrocken tanzten leise wie Regen übers Dach und weiter über die Kante.

Die Gestalten in ihren Umhängen hielten den Atem an.

Der Schwan unten im Becken verharrte reglos.

Das Mädchen blickte nach oben, aber über den Laternen war alles dunkel. „Was war das?“, fragte es leise. Beide reckten die Hälse nach oben. Das Mädchen spähte angestrengt, als könnte es beinahe den Umriss einer Gestalt, die Silhouette einer Maske, ausmachen.

„Tasha!“, wurde aus dem Haus gerufen. Das Mädchen wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Brunnen und dem Haus dahinter zu.

„Muss wohl ein Vogel gewesen sein“, sagte das Mädchen. „Oder eine Maus. Oder der Wind.“ Es schwang seine Beine aus dem Wasser und zog die Finger durch die glasige Oberfläche.

„Auf, Ninani“, sagte es fröhlich.

Der Schwan hob die Flügel und flatterte kurz, als wollte er sich in die Lüfte erheben, verschwand dann aber mit einem Lichtblitz. Im selben Moment erschien sein Bild, schwarz wie Tinte, auf der hellen Haut des Mädchens – ein Schwan, der sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen hinaufzog. Dann trottete das Mädchen nach drinnen und hinterließ eine Spur von nassen Tapsen auf den Steinfliesen.

Tasha. So hieß sie also.

Sie war kaum fort, als sich Schatten katzengleich auf dem Dach aufrichtete. Ihre üblicherweise grünen Augen waren schwarz und die Pupillen im Halbdunkel nicht zu sehen, als sie Geheul mit ihrem Blick förmlich erdolchte. Sie sah aus, als würde sie ihm die losgetretene Schieferplatte gleich an den Kopf schleudern.

„Idiot“, zischte sie laut.

„Es sind nicht alle fürs Fassadenklettern geboren“, knurrte er zurück.

„Schluss jetzt“, befahl Treu mit leiser, ruhiger Stimme. Geheul und Schatten holten beide Luft, als wollten sie etwas entgegnen, doch Treu hob warnend die Hand.

Da war ein Geräusch, wie von nackten Füßen auf Stein.

Einen Augenblick später kam Tasha wieder in den Hof geeilt und holte das Buch, das sie am Brunnenrand hatte liegen lassen. Auf halbem Weg blieb sie mit dem Fuß an einer Matte hängen und stolperte; sie fing sich aber wieder und hob das durchnässte Buch auf. Sie drückte die Buchdeckel zusammen, um noch mehr Wasser herauszupressen, und wandte sich wieder zum Haus um.

Und blieb stehen.

Zögernd warf sie einen Blick hinauf zu den Dächern und zum Nachthimmel.

„Tasha!“ Wieder wurde sie gerufen.

Das Mädchen drehte sich um und ging zurück nach drinnen.

Als im Hof wieder für einige Augenblicke Stille eingekehrt war, gab Treu mit der Hand lautlos das Zeichen zum Aufbruch. Schatten lehnte die Schiefertafel gegen einen Kamin und verschwand dann gemeinsam mit Geheul in der Dunkelheit. Treu sah den beiden mit seinen scharfen, geschlitzten Goldaugen nach, blickte dann wieder in den Hof, wo die nassen Fußabdrücke allmählich verschwanden.

Tasha.

Jetzt wussten sie, wo sie war.

Und vor allem, wo Ninani war.

Sie würden wiederkommen.

Mit diesem Gedanken machte auch Treu kehrt und folgte den anderen in die Schatten der Nacht.