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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-358-6
»Achim, du!«, sagte Annette Hartmann gedehnt. »Mit dir hatte ich jetzt wirklich nicht gerechnet.« Sie machte keine Anstalten, ihn in ihre großzügige Wohnung zu bitten. Sehr elegant sah sie aus. Die langen blonden Haare hatte sie hochgesteckt, das schmal geschnittene tief ausgeschnittene Kleid stand ihr ausgezeichnet.
»Störe ich? Du erwartest offenbar Besuch.« Achim Randstett, dunkel, schmal und sehr blass, sprach mit beherrschter Stimme. Auch seinem Gesicht war keine Gefühlsregung anzusehen.
»Ehrlich gesagt. Ein… Freund kommt noch vorbei.« Sie sah ihn herausfordernd an, aber er erwiderte ihren Blick ruhig und scheinbar ganz gelassen. »Gibt es etwas Bestimmtes?« fragte sie. Ihrem Tonfall war anzuhören, daß sie nicht damit rechnete. Achim und sie waren schon lange miteinander befreundet, er hatte sie in den vergangenen Jahren oft besucht, ohne einen besonderen Grund zu haben. So würde es, nahm sie an, auch heute sein.
Doch seine Antwort auf ihre Routinefrage fiel unerwartet aus. »Ja, allerdings, Annette. Ich wollte dir etwas mitteilen.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete sie.
Noch immer völlig ruhig fuhr er fort: »Ich werde das Land verlassen, das wollte ich dir sagen.« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Du weißt ja, daß ich einmal dachte, du und ich, wir gehörten zusammen. Aber ich habe in der letzten Zeit begriffen, daß du das schon immer ganz anders gesehen hast. Ich fühle mich jetzt wieder frei und werde mir die Welt ansehen. Zunächst einmal gehe ich ein Jahr in die USA. Ich bin nur gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«
Ihre Haltung hatte sich geändert, ihr Blick war ungläubig geworden. »Du gehst weg?« fragte sie. »Aber… aber du gehörst doch nach Berlin, Achim!«
Er schüttelte den Kopf. »Genaugenommen gehöre ich nirgendwo hin. Ich denke, ich werde mich in den USA sehr wohl fühlen.«
Auf einmal wurde ihr bewußt, daß er noch immer im Treppenhaus des eleganten Hauses stand, in dem sie eine ganze Etage bewohnte. Annette Hartmann stammte aus einer wohlhabenden Familie. Als einzige Tochter eines Juwelenhändlers war sie behütet aufgewachsen und sehr verwöhnt worden. Schon früh hatte sie angefangen, sich ebenfalls für Edelsteine zu interessieren, und so war sie nach ihrer Ausbildung in das Geschäft ihres Vaters eingestiegen, das sie eines Tages zweifelsohne übernehmen würde. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt, aber mit Macht und Geld wußte sie bereits umzugehen.
Achim Randstetts Eltern waren mit den Hartmanns seit langem befreundet – alle in der Familie waren Juristen. Achims Eltern führten gemeinsam eine Kanzlei, er selbst lehrte an der Universität. Trotz seiner Jugend hatte er bereits eine Professur inne.
»Aber deine Stelle?« fragte Annette und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als wolle sie ihn nun doch noch hereinbitten.
Er machte keinerlei Anstalten, ihr zu folgen. »Ich habe mich freistellen lassen«, sagte er, »es ist bereits alles geregelt.«
»Das heißt, du weißt das schon länger?« fragte sie, und plötzlich blitzte Zorn in ihren Augen auf. »Du weißt es schon länger, aber du kommst erst jetzt, um es mir zu sagen?«
Es verstrichen einige Sekunden, bevor er antwortete. »Ich hätte es dir schon früher gesagt, wenn du nicht so schrecklich beschäftigt gewesen wärst, Annette«, sagte er dann mit sanfter Stimme. »Aber so wie heute Abend war es in letzter Zeit doch eigentlich immer: Jedes Mal, wenn ich mit dir reden wollte, hattest du schon etwas vor. Also, nun habe ich es dir gesagt. Falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Alles Gute für die Zukunft und einen schönen Abend wünsche ich dir.« Er lächelte ihr noch einmal zu, drehte sich um und war bereits verschwunden, bevor sie reagieren konnte.
Es dauerte lange, bis sie endlich die Tür schloß. Er hatte ihr nicht einmal die Hand gegeben! Keinerlei Versuch, sie zu umarmen, nichts. Er hatte sich verabschiedet und war gegangen, Achim Randstett, der Mann, von dem sie angenommen hatte, er werde sie bis an sein Lebensende lieben. Denn daß er sie liebte, wußte sie. Oder geliebt hatte. So sicher war sie seiner gewesen, daß sie sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht hatte, die Freundschaft zu ihm zu pflegen – Achim würde sowieso immer für sie da sein. Er war der Typ, der einem fürs ganze Leben blieb, wenn er sein Herz einmal verschenkt hatte. Doch nun hatte sich herausgestellt, daß das ein Irrtum gewesen war.
Nachdenklich kehrte sie in ihr Wohnzimmer zurück. Sie hatte sich einen amüsanten Abend mit einem ihrer zahlreichen Verehrer vorgestellt – mit Peter Grunert, einem bekannten Schauspieler, der seit einigen Monaten in der Stadt Theater spielte und ihr heftig den Hof machte. Das war sie gewöhnt. Sie spielte mit den Männern – ernst war es ihr nie. Wenn ihre Freundinnen ihr von der großen Liebe erzählten, konnte sie nicht mitreden. Was das war, hatte sie bisher nicht erfahren.
Sie schenkte sich ein Glas Champagner ein und wartete. Ihre Haushälterin, Frau Elbermann, hatte an diesem Abend frei, es kam ihr schrecklich still in der Wohnung vor. Auf einmal verspürte sie das dringende Bedürfnis zu weinen, doch im selben Augenblick klingelte es. Einen verrückten Augenblick lang hoffte sie, daß Achim zurückgekehrt war, um ihr zu sagen, daß er natürlich in Berlin bleiben würde und daß seine Gefühle für sie sich nicht geändert hatten.
Aber als sie die Tür öffnete, stand der blonde Peter Grunert davor, elegant im Anzug mit Fliege. Er zeigte ihr sein charmantestes Lächeln. »Guten Abend, schöne Frau«, sagte er und überreichte ihr einen Strauß dunkelroter Rosen. »Ich habe mich schrecklich auf unser Wiedersehen gefreut.«
Sie lächelte, hielt ihm die Wange zum Kuß hin und bat ihn in die Wohnung. Am liebsten hätte sie ihn weggeschickt.
*
»Und du bist sicher, daß du die richtige Entscheidung getroffen hast, Junge?« fragte Lena Randstett ihren Sohn Achim. Sie war allein zu Hause gewesen, als er auf einen Sprung vorbeigekommen war, und er schien froh darüber zu sein. Mutter und Sohn hatten einander immer gut verstanden, es gab nur wenige Themen, über die sie sich nicht verständigen konnten.
Er lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. »Darüber haben wir jetzt schon so oft gesprochen, Mama«, sagte er. »Natürlich bin ich sicher. Ich muß weg hier, weg aus Annettes Nähe. Sonst schaffe ich es nie, sie zu vergessen.«
»Sie ist unreif«, sagte Lena sinnend, »aber nicht unrecht. Sie spielt mit den Männern, aber mit keinem ist es ihr ernst.«
»Ich weiß«, erwiderte Achim, »aber mir ist es ernst mit ihr gewesen, und das hat sie gewußt. Trotzdem hat sie nicht mit dem Spielen aufgehört. Und in letzter Zeit hat sie mich nicht einmal mehr wie einen guten Freund behandelt – eher wie ein Stück Inventar.«
»Du übertreibst«, protestierte seine Mutter.
Achim schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich übertreibe nicht.«
»Eines Tages wird auch sie erwachsen werden müssen, ich meine, in ihrem Privatleben. In ihrem Beruf ist sie es ja längst, aber was die Liebe betrifft…«
»Da nicht«, sagte er niedergeschlagen.
»Du wirst sie nicht vergessen, ich kenne dich«, meinte Lena besorgt. Sie ging auf die Sechzig zu, ihre ehemals dunklen Haare waren jetzt von vielen grauen Strähnen durchzogen. Die Ähnlichkeit mit Achim war unverkennbar – allerdings war Lena nicht schlank, sondern mollig. Ihre grauen Augen blickten bekümmert. »Weiß sie, daß du ihretwegen das Land verläßt?«
Er schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin? Ich habe ihr gesagt, daß ich mich jetzt wieder frei fühle ihr gegenüber, weil ich begriffen habe, daß wir niemals ein Paar sein werden – und daß ich diese Freiheit nutzen will. Na ja«, schränkte er ein, »so ungefähr jedenfalls habe ich mich ausgedrückt.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Gar nicht, ich habe ihr keine Zeit dazu gelassen. Außerdem erwartete sie Besuch – sie hat mich nicht einmal in die Wohnung gelassen.«
»Ach, Junge!« Lena streckte eine Hand aus und fuhr ihm durch die dichten dunklen Haare. »Ich sähe dich so gern glücklich!«
Für einen kurzen Moment blitzte ein ironisches Lächeln in seinem Gesicht auf. »Ich mich auch, Mama, das kannst du mir glauben. Aber man kann das Glück ja offenbar nicht herbeizwingen, nicht wahr?«
»Nein«, gab sie zu, »das kann man nicht. Aber ob du es in den USA findest?«
»Mal sehen. Noch ist es ja nicht soweit, ich habe noch zwei Wochen, Mama!«
»Ja, aber dann gehst du für ein ganzes Jahr«, erwiderte sie traurig. »Ich darf gar nicht daran denken.«
Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Das Jahr brauche ich«, sagte er mit großem Nachdruck. »Es wird Zeit, daß ich auf andere Gedanken komme.«
Sie nickte. Er hatte Recht. Und vielleicht halfen ihm die Entfernung und das ganze andere Leben jenseits des Atlantiks ja wirklich, seine Gefühle für Annette Hartmann zu überwinden.
*
»Schon wieder die neue Grippewelle«, stöhnte Dr. Julia Martensen am nächsten Morgen, während sie kopfschüttelnd die Patienten zählte, die im Warteraum saßen. Die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg war seit Tagen überfüllt – die meisten Patienten klagten über Gliederschmerzen, Fieber, Übelkeit und Erschöpfung. »Dabei ist es doch gar nicht so lange her seit der letzten.«
Julia Martensen war Internistin. Sie arbeitete normalerweise auf der Inneren Station, ließ sich aber häufig zum Dienst in der Notaufnahme einteilen – genauso wie ihr Kollege, der chirurgische Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer, mit dem sie sich gerade einen Überblick über die Anzahl der noch zu behandelnden Menschen zu verschaffen suchte.
»Ich habe dreißig gezählt«, murmelte Bernd, »und du?«
»Zweiunddreißig – wenn das so weiter geht, kann das ja noch heiter werden, Bernd. Wo ist Adrian?«
»In Kabine zwei. Ein Hundebiss – aber nicht allzu dramatisch zum Glück.«