Der Autor
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden.
Ich begegnete Childe im Denkmal für die Achtzig.
Es war einer der Tage, an denen ich dort fast ganz allein war und durch die Gänge schlendern konnte, ohne auf andere Besucher zu treffen. Nur meine Schritte störten die Grabesstille.
Ich wollte den Schrein meiner Eltern besuchen. Kein prunkvolles Monument, nur ein glatter Obsidiankeil von der Form eines Metronoms, schmucklos bis auf zwei kleine Miniaturen in elliptischen Rahmen. Das einzige Bewegliche daran war ein schwarzer, weit unten an der Fassade befestigter Zeiger, der mit würdevoller Langsamkeit hin und her schwang. In den Tiefen des Schreins verbarg sich ein Mechanismus, der dafür sorgte, dass er immer noch langsamer wurde. Hatte er zunächst mit seinem Ticken die Tage abgezählt, so waren es bald die Jahre, und irgendwann würde man nur noch mit präzisen Messungen feststellen können, dass er sich überhaupt bewegte.
Diesen Zeiger beobachtete ich, als eine Stimme mich aus meinen Gedanken riss.
»Wieder einmal ein Besuch bei den Toten, Richard?«
»Wer ist da?«, fragte ich und sah mich um. Der Sprecher kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht gleich unterbringen.
»Nur ein Geist.«
Verschiedene Möglichkeiten schossen mir durch den Kopf, als ich die tiefe, spöttische Stimme hörte – eine Entführung, ein Attentat –, bis ich einsah, dass ich mich überschätzte, wenn ich mich solcher Aufmerksamkeiten für würdig hielt.
Dann trat der Mann ein Stück weit entfernt zwischen zwei Schreinen hervor.
»Mein Gott«, sagte ich.
»Erkennst du mich jetzt?«, sagte er lächelnd.
Er trat näher: hoch gewachsen und imposant, genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Die Teufelshörner hatte er seit unserer letzten Begegnung abgelegt – sie waren ohnehin nur eine biotechnische Manipulation gewesen –, doch leicht satanisch wirkte er noch immer, und das Spitzbärtchen, das er sich inzwischen hatte stehen lassen, wirkte diesem Eindruck nicht entgegen.
Er wirbelte Staub auf, als er auf mich zuging. Daran erkannte ich, dass er keine Projektion war.
»Ich dachte, du wärst tot, Roland.«
»Nein, Richard«, sagte er und blieb vor mir stehen, um mir die Hand zu schütteln. »Aber natürlich wollte ich genau diesen Anschein erwecken.«
»Wozu?«, fragte ich.
»Lange Geschichte.«
»Dann fang einfach von vorne an.«
Roland Childe legte eine Hand an die glatte Seitenwand des Schreins meiner Eltern. »Hätte nicht gedacht, dass das dein Stil ist.«
»Ich konnte nur mit Mühe verhindern, dass der Stein noch protziger und morbider ausfiel. Aber bleiben wir beim Thema. Was ist mir dir passiert?«
Er nahm die Hand weg. Ein schwacher, feuchter Abdruck blieb zurück. »Ich habe meinen eigenen Tod vorgetäuscht. Die Achtzig waren die perfekte Tarnung. Dass das Experiment so katastrophal danebenging, war ein Glücksfall. Ich hätte es nicht besser planen können.«
Dazu war weiter nichts zu sagen. Es war katastrophal danebengegangen.
Vor mehr als einhundertfünfzig Jahren hatte eine Clique von Forschern den alten Plan wieder ausgegraben, die Persönlichkeit eines lebenden Menschen auf eine computererzeugte Simulation zu kopieren. Das Verfahren – damals noch in den Kinderschuhen – hatte nur einen kleinen Nachteil: die Versuchsperson überlebte nicht. Dennoch hatte es Freiwillige gegeben, und meine Eltern hatten zu denen gehört, die sich gleich zu Anfang meldeten und Calvins Arbeit unterstützten. Sie hatten ihm politischen Schutz angeboten, als sich die mächtige Lobby der Meistermischer gegen das Projekt stellte, und sie waren unter den Ersten gewesen, die sich scannen ließen.
Keine vierzehn Monate später waren auch ihre Simulationen mit unter den ersten gewesen, die zusammenbrachen.
Keine einzige ließ sich neu starten. Den meisten von den Achtzig war es ebenso ergangen, inzwischen gab es nur noch eine Handvoll, die nicht gelitten hatten.
»Du musst Calvin für seine Versuche hassen«, bemerkte Childe, immer noch mit diesem leisen Spott in der Stimme.
»Würde es dich überraschen, wenn ich dir sagte, dass dem nicht so ist?«
»Warum hast du dann nach der Tragödie so lauthals gegen seine Familie polemisiert?«
»Weil ich wollte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde.« Neugierig, ob Childe mir folgen würde, wandte ich mich zum Gehen.
»Verständlich«, sagte er. »Aber deine Opposition kam dich doch teuer zu stehen?«
Empört blieb ich neben einer ungemein realistischen Skulptur stehen, die höchstwahrscheinlich ein einbalsamierter Leichnam war.
»Worauf willst du hinaus?«
»Auf die Resurgam-Expedition natürlich, die zufällig vom Haus Sylveste finanziert wurde. Von Rechts wegen hätte man dich mitnehmen müssen. Mein Gott, du bist schließlich Richard Swift, der Mann, der sich fast sein ganzes Leben lang mit möglichen Formen außerirdischer Intelligenz beschäftigt hatte. Du hättest einen Platz auf diesem Schiff verdient, und das weiß niemand besser als du.«
»So einfach war das nicht«, sagte ich und ging weiter. »Die Anzahl der Teilnehmer war begrenzt, und man berücksichtigte zuerst die Praktiker – Biologen, Geologen und dergleichen. Als die wichtigsten Positionen besetzt waren, gab es für verträumte Theoretiker wie mich einfach keinen Platz mehr.«
»Und dass das Haus Sylveste sauer auf dich war, hatte damit überhaupt nichts zu tun? Willst du mich für dumm verkaufen, Richard?«
Wir stiegen über mehrere Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Über dem Innenhof schwebte eine Wolke aus kunstvoll ineinander verschlungenen, bizarren Metallvögeln. Eine Schar von Besuchern, begleitet von Servomaten und einem Schwarm bunter, murmelgroßer Kameradrohnen, war im Anmarsch. Childe drängte sich rücksichtslos durch die Gruppe. Wir ernteten erboste Blicke, ohne jedoch identifiziert zu werden, obwohl ein oder zwei flüchtige Bekannte von mir darunter waren.
»Was soll das alles?«, fragte ich, als wir im Freien standen.
»Alte Freunde vergisst man nicht. Ich habe dich nie aus den Augen verloren, und dass du tief enttäuscht warst, als man dich nicht für die Expedition auswählte, war ziemlich offensichtlich. Du hattest dein Leben der Erforschung außerirdischer Intelligenz geweiht. Deine Ehe ging den Bach hinunter, weil dich das Thema so völlig ausfüllte. Wie hieß sie doch noch?«
Ich hatte die Erinnerung an meine Ehe so tief vergraben, dass ich mich anstrengen musste, um mir genauere Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen.
»Celestine, glaube ich.«
»Seither hattest du einige Beziehungen, aber keine hielt länger als zehn Jahre. Und ein Jahrzehnt, das heißt in dieser Stadt nicht mehr als ein kurzes Abenteuer, Richard.«
»Mein Privatleben geht niemanden was an«, gab ich verdrossen zurück. »He. Wo ist mein Volantor? Ich hatte ihn hier abgestellt.«
»Ich habe ihn weggeschickt. Wir nehmen den meinen.«
An Stelle meines Volantors stand da ein größeres Modell in Blutrot, prunkvoll verziert wie eine Totenbarke. Auf einen Wink von Childe ging die Tür auf, und ich sah in einen vergoldeten Innenraum mit vier gepolsterten Sitzen. Auf einem davon lümmelte eine schwarz gekleidete Gestalt.
»Was willst du von mir, Roland?«
»Ich habe etwas entdeckt und möchte dich daran teilhaben lassen. Es ist unglaublich, eine Herausforderung, neben der sich die Spiele, die wir beide in unserer Jugend spielten, einfach verstecken müssen.«
»Eine Herausforderung?«
»Die größte überhaupt, glaube ich.«
Er hatte mich neugierig gemacht. Ich hoffte nur, man merkte es mir nicht zu deutlich an. »Die Stadt schläft nicht. Mein Besuch im Denkmal wurde sicherlich aufgezeichnet, und diese Kameradrohnen haben festgehalten, dass wir zusammen waren.«
»Genau«, nickte Childe begeistert. »Du kannst also ohne Bedenken in den Volantor steigen.«
»Und sollte ich irgendwann von deiner Gesellschaft genug haben?«
»Dann lasse ich dich gehen, mein Wort darauf.«
Ich beschloss, zunächst gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Childe und ich nahmen auf den vorderen Sitzen des Volantors Platz, und ich drehte mich um, in der Absicht, mich dem anderen Fahrgast vorzustellen. Doch als ich ihn richtig sehen konnte, fuhr ich zurück.
Er trug eine Lederjacke mit einem hohen Kragen, der die untere Hälfte seines Gesichts fast völlig verdeckte. Die obere Hälfte lag im Schatten eines breitkrempigen Homburgs, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Doch was sichtbar blieb, war schockierend genug. Eine glatte Silbermaske, erstarrt in einem Ausdruck heiterer Gelassenheit. Die Augen waren blanke Silberflächen, und der Mund, so weit ich ihn sehen konnte, ein schmaler, zu einem schwachen Lächeln verzogener Schlitz.
»Doktor Trintignant«, sagte ich.
Er streckte eine behandschuhte Hand nach vorne, und ich durfte sie schütteln wie die Hand einer Frau. Unter dem schwarzen Samt spürte ich Armaturen aus hartem Metall. Metall, das Diamanten zerdrücken konnte.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte er.
Der Volantor war kaum in der Luft, als die barocken Verzierungen verschwanden und der Rumpf so glatt wurde wie ein Spiegel. Childe schob die Steuerknüppel mit den Elfenbeingriffen nach vorne. Wir gewannen an Höhe und Geschwindigkeit. Mir schien, als flögen wir schneller, als die städtischen Vorschriften es erlaubten, und mieden die üblichen Luftkorridore. Ich dachte daran, wie er mir gefolgt war, wie er meine Vergangenheit ausgeforscht und veranlasst hatte, dass mein eigener Volantor mich im Stich ließ. Sicherlich war es auch keine Kleinigkeit gewesen, den öffentlichkeitsscheuen Trintignant ausfindig zu machen und aus seinem Versteck zu locken.
Obwohl Childe so lange fort gewesen war, hatte er deutlich mehr Einfluss in der Stadt als ich.
»Das Nest hat sich nicht sehr verändert«, sagte er und fegte durch eine dichte Gruppe von goldenen Bauwerken mit extravaganten Terrassen, die den Fieberträumen eines pagodensüchtigen Kaisers entsprungen schienen.
»Du warst also wirklich fort? Als du sagtest, du hättest deinen Tod vorgetäuscht, da dachte ich, du wärst nur untergetaucht.«
Seine Antwort klang eine Spur zögerlich. »Ich war fort, aber nicht so weit, wie du vielleicht denkst. Ich hatte eine Familienangelegenheit zu erledigen, die man am besten vertraulich behandelt, und ich hatte wahrhaftig keine Lust, aller Welt zu erklären, warum ich Ruhe und Frieden brauchte und allein sein wollte.«
»Und dich tot zu stellen, war die beste Lösung?«
»Wie gesagt, die Sache mit den Achtzig ging für mich besser aus, als ich sie hätte planen können. Natürlich musste ich eine ganze Reihe von Komparsen in dem Projekt bestechen, und ich will dir auch die Geschichte ersparen, wie wir an eine Leiche kamen … aber letztlich lief doch alles wie am Schnürchen.«
»Ich war völlig überzeugt, du wärst mit den anderen gestorben.«
»Meine Freunde hinters Licht zu führen, war mir nicht angenehm. Aber ich hatte mir zu viel Mühe gegeben, um mit ein paar indiskreten Bemerkungen womöglich den ganzen Plan zu Fall zu bringen.«
»Sie sind also alte Freunde?«, schaltete Trintignant sich ein.
»Ja, Doktor.« Childe sah sich nach ihm um. »Schon seit ewigen Zeiten. Richard und ich sind Kinder reicher Leute – vergleichsweise reich jedenfalls –, und wir hatten nicht genug zu tun. Für die Börse oder den üblichen Partyzirkus hatten wir nichts übrig. Wir interessierten uns nur für Spiele.«
»O wie reizend. Und was für Spiele, wenn man fragen darf?«
»Wir entwarfen Simulationen, um uns gegenseitig zu testen – unglaublich detaillierte Welten voller raffinierter Gefahren und Versuchungen. Labyrinthe aller Art, Geheimgänge, Falltüren, Verliese und Drachen, wir ließen nichts aus. In diesen Welten hielten wir uns monatelang auf und trieben uns gegenseitig zum Wahnsinn. Dann zogen wir ab und dachten uns neue Schwierigkeiten aus.«
»Doch mit der Zeit trat eine gewisse Entfremdung ein«, vermutete der Doktor. Seine synthetische Stimme klang seltsam piepsig.
»Richtig«, sagte Childe. »Aber die Freundschaft blieb. Nur hatte Richard so lange immer fremdartigere Szenarien entwickelt, dass er sich schließlich mehr für die psychologischen Hintergründe hinter diesen Tests interessierte. Und mich fesselten nur noch die Spiele selbst, nicht mehr die Planung. Leider war Richard nicht mehr da, um mich vor weitere Herausforderungen zu stellen.«
»Du warst immer der besseres Spieler von uns beiden«, sagte ich. »Irgendwann war es kaum noch möglich, mir etwas einfallen zu lassen, was dich fordern konnte. Du wusstest zu gut, wie mein Verstand arbeitet.«
»Er hält sich für einen Versager.« Childe drehte sich zu Trintignant um und lächelte.
»Tun wir das nicht alle?«, gab der Doktor zurück. »Und nicht ganz ohne Grund, wie man zugeben muss. Ich durfte meine zugegebenermaßen kontroversen Versuche nie bis an ihr logisches Ende weiterverfolgen. Sie, Mr. Swift, wurden gerade von den Menschen gemieden, die Ihre Verdienste auf dem Gebiet der spekulativen Alien-Psychologie hätten erkennen und würdigen sollen. Und Sie, Mr. Childe, haben nie eine Herausforderung gefunden, die Ihrer unbestrittenen Begabung würdig gewesen wäre.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie mich beobachtet hatten, Doktor.«
»Hatte ich auch nicht. Ich habe mir erst im Lauf unserer Bekanntschaft ein Bild von Ihnen gemacht.«
Der Volantor sank in ein hell erleuchtetes unterirdisches Einkaufszentrum mit vielen kleineren und größeren Geschäften. Childe kurvte unbekümmert zwischen den Fußgängerbrücken hindurch, die den Raum überspannten, und glitt in einen dunklen Seitentunnel. Dort brachte er die Maschine erst richtig auf Touren. Wie schnell wir waren, sah man nur an den vorbeirasenden roten Lichtern in den Tunnelwänden. Hin und wieder kam uns ein anderes Flugzeug entgegen, doch dann verzweigte sich der Tunnel mehrmals hintereinander, und der Verkehr hörte auf. Hier gab es auch keine Beleuchtung mehr, und wo die Scheinwerfer des Volantors die Wände streiften, wurden hässliche Risse und große Lücken in der Verkleidung sichtbar. Diese alten unterirdischen Schächte stammten noch aus den Gründerzeiten von Chasm City, bevor man den Krater mit Kuppeln überspannt hatte.
Selbst wenn ich erkannt hätte, in welchem Stadtteil wir in das Tunnelsystem eingeflogen waren, hätte ich inzwischen jegliche Orientierung verloren.
»Glauben Sie, Childe hat uns nur zusammengebracht, um uns für unsere Schwächen und Niederlagen zu verhöhnen, Doktor?«, fragte ich. Ich hatte mich bemüht, die Fassung zu bewahren, doch allmählich war mir die ganze Sache ganz und gar nicht mehr geheuer.
»Das hielte ich durchaus für möglich, wäre Childe nicht auch seinerseits mit dem Makel des Misserfolgs gezeichnet.«
»Dann muss es einen anderen Grund geben.« »Sie werden ihn in Kürze erfahren«, sagte Childe. »Haben Sie doch bitte noch etwas Geduld. Sie beide sind nicht die Einzigen, die ich aufgestöbert habe.«
Endlich erreichten wir ein Ziel.
Es war eine Höhle, von der Form her eine nahezu perfekte Halbkugel. Der Scheitel der gewaltigen Kuppel befand sich mehr als dreihundert Meter über dem Boden. Wir waren offensichtlich weit unter der Oberfläche von Yellowstone. Möglicherweise hatten wir sogar die Kraterwand der Stadt hinter uns gelassen, sodass nur noch freier Himmel und giftige Atmosphäre über uns lagen.
Dennoch war die Höhle bewohnt.
In die Decke waren unzählige Lampen eingelassen, die das Innere in künstliches Tageslicht tauchten. In der Mitte erhob sich, umgeben von einem Graben mit wenig einladendem Wasser, eine Insel. Sie war nur durch eine einzige Brücke mit dem Festland verbunden, so weiß und leicht gebogen wie ein riesiger Oberschenkelknochen. Die Insel wurde beherrscht von einem Wäldchen aus schlanken, dunklen Pappeln, die ein helleres Bauwerk in ihrer Mitte fast verdeckten.
Childe stellte den Volantor am Rand des Grabens ab und forderte uns zum Aussteigen auf.
»Wo sind wir?«, fragte ich, als ich draußen war.
»Richten Sie eine Anfrage an die Stadt, und Sie werden es erfahren«, riet Trintignant.
Das Ergebnis war anders, als ich erwartet hatte. In meinem Kopf war plötzlich eine schockierende Leere, das neurale Gegenstück zur unverhofften Amputation einer Gliedmaße.
Der Doktor lachte leise, es klang wie ein Arpeggio auf einer Kirchenorgel. »Seit wir dieses Vehikel bestiegen haben, ist die Verbindung zu den städtischen Einrichtungen unterbrochen.«
»Kein Grund zur Beunruhigung«, versicherte Childe. »Die Verbindungen zur Stadt sind gekappt, aber nur, weil ich es vorziehe, diesen Ort geheim zu halten. Ich hatte nicht damit gerechnet, euch beide damit zu erschrecken, sonst hätte ich es schon früher erwähnt.«
»Ich wäre für eine Warnung dankbar gewesen, Roland«, sagte ich.
»Hätte sie dich abgehalten, hierher zu kommen?«
»Denkbar.«
Sein Lachen hallte mehrfach wider. Die Höhle hatte eine eigentümliche Akustik. »Und da wunderst du dich, dass ich dir nichts gesagt habe?«
Ich wandte mich an Trintignant. »Und was ist mit Ihnen?«
»Ich gestehe, dass ich die städtischen Einrichtungen nicht häufiger nütze als Sie, wenn auch aus anderen Gründen.«
»Der gute Doktor musste untertauchen«, sage Childe. »Und deshalb konnte er nicht aktiv in die städtischen Belange eingreifen. Jedenfalls nicht, wenn er nicht aufgespürt und getötet werden wollte.«
Mir wurde allmählich kalt, ich stampfte mit den Füßen. »Schön. Und was jetzt?«
»Bis zum Haus ist es nicht weit«, sagte Childe und schaute zur Insel hinüber.
Alsbald vernahmen wir ein Geräusch, das ständig näher kam, ein altertümliches Poltern, begleitet von einem rhythmischen Trommeln, wie ich es noch von keiner Maschine gehört hatte. Mein Blick fiel auf die Schenkelbrücke. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass sie genau das war, wonach sie aussah: ein riesiger, biotechnisch manipulierter Knochen nämlich, oben abgeflacht, sodass eine Fahrbahn entstand. Auf dieser Fahrbahn bewegte sich etwas: ein schwarzer, vielgliedriger Apparat, wie ich noch keinen gesehen hatte. Auf den ersten Blick erinnerte er an eine eiserne Tarantel.
Ich spürte ein Kribbeln im Nacken.
Das Ding hatte das Ende der Brücke erreicht, schwenkte ab und kam auf uns zu. Gezogen wurde es von zwei mechanischen Pferden, klapperdürren schwarzen Maschinen mit sehnigen, kolbenbetriebenen Beinen. Wenn sie schnaubten, quoll aus den Ansaugöffnungen Dampf. Sie musterten uns mit bösartigen roten Laseraugen. Die Pferde waren vor eine vierrädrige Kutsche gespannt, die etwas größer war als der Volantor, und auf dem Bock hockte ein humanoider Roboter ohne Kopf. In seinen fleischlosen Händen hielt er Steuerseile aus Eisendraht, die in die stählernen Pferdehälse mündeten.
»Hältst du das für Vertrauen erweckend?«, fragte ich.
»Ein altes Familienerbstück«, sagte Childe und öffnete eine schwarze Tür an der Seite der Kutsche. »Mein Onkel Giles war Automatenbauer. Leider war er – aus Gründen, zu denen wir noch kommen werden – auch ein ziemlich mieser Dreckskerl. Aber das soll euch beide nicht weiter stören.«
Er half uns in die Kutsche und stieg als Letzter ein. Dann schloss er die Tür und klopfte gegen das Dach. Die mechanischen Pferde schnaubten und trommelten ungeduldig mit ihren Metallhufen. Das Gefährt setzte sich in Bewegung, wendete und fuhr den sanft gewölbten Brückenbogen wieder hinauf.
»Haben Sie sich hier während Ihrer gesamten Abwesenheit versteckt, Mr. Childe?«, fragte Trintignant.
Childe nickte. »Seit diese Familiengeschichte publik wurde. Hin und wieder erlaube ich mir einen Besuch in der Stadt – so wie heute –, aber ich bemühe mich, solche Ausflüge auf ein Minimum zu beschränken.«
»Hattest du bei unserer letzten Begegnung nicht noch Hörner?«, wollte ich wissen.
Er rieb sich den glatten Schädel an der Stelle, wo die Hörner gesessen hatten. »Musste sie entfernen lassen. Mit ihnen wäre jede Verkleidung hinfällig gewesen.«
Wir überquerten die Brücke. Ein Pfad führte zwischen die hohen Bäume hinein, die das Haus auf der Insel umstanden. Childes Kutsche hielt vor dem Gebäude an, und ich konnte es zum ersten Mal ungehindert betrachten. Es löste nicht gerade Begeisterungsstürme aus. Von der Architektur her war es planlos; was früher einmal an Symmetrie vorhanden gewesen sein mochte, war längst unter einer Fülle von An- und Umbauten verschwunden. Das Dach war ein Sammelsurium von verschieden geneigten Flächen und strotzte nur so von Türmchen, Zinnen und bedrohlich anmutenden Turmverliesen. Nicht alle diese Schnörkel waren streng im rechten Winkel zueinander angeordnet, und zwischen einzelnen Gebäudeteilen bestanden krasse Unterschiede, was den Baustil und das scheinbare Alter anging. Seit wir die Höhle erreicht hatten, waren die Lichter an der Decke schwächer geworden, als bräche die Dämmerung an, aber nur wenige Fenster waren erleuchtet, und sie befanden sich alle im linken Flügel. Der Rest des Hauses wirkte abweisend, der helle Stein, die chaotische Bauweise und die vielen dunklen Fenster vermittelten den Eindruck einer Schädelstätte.
Wir waren noch nicht ganz ausgestiegen, da kam bereits das Empfangskomitee aus dem Haus, eine Gruppe von Servomaten – humanoiden Hausrobotern, wie sie in der Stadt selbst ganz alltäglich gewesen wären –, nur so gestaltet, dass sie als Ghul-Skelette oder Ritter ohne Kopf daherkamen. Auch die Mechanik war verändert worden, sie hinkten und knarrten zum Gotterbarmen, und die Voicebox war bei allen deaktiviert.
»Dein Onkel muss viel freie Zeit gehabt haben«, sagte ich.
»Du wärst von Giles begeistert gewesen, Richard. Er war zum Schreien komisch.«
»Das glaube ich dir aufs Wort.«
Die Servomaten geleiteten uns in den Mitteltrakt des Gebäudes und durch ein Labyrinth von dunklen, kalten Korridoren.
Schließlich betraten wir einen großen Raum, der ganz mit rotem Samt ausgeschlagen war. In einer Ecke stand ein Holoklavier, über der Tastaturprojektion schwebte ein aufgeschlagenes Notenbuch. Außerdem registrierte ich einen Schreibsekretär aus Malachit, eine Reihe wohl gefüllter Bücherregale, einen Kronleuchter, drei kleinere Kerzenständer und zwei offene Kamine in unverkennbar gotischem Stil. In einem davon prasselte sogar ein Feuer. Das wichtigste Möbelstück war jedoch ein Tisch aus Mahagoni, um den sich drei weitere Gäste versammelt hatten.
»Bedauere, dass Sie so lange warten mussten«, sagte Childe und schloss die zwei schweren hölzernen Türflügel hinter uns. »Schön. Machen wir uns miteinander bekannt.«
Die anderen sahen uns mit eher mäßigem Interesse entgegen.
Der einzige Mann unter den Gästen trug ein kunstvoll verziertes Exoskelett: eine barocke Stützkonstruktion aus Streben, beweglichen Platten, Kabeln und Servomotoren. Sein Gesicht glich einem Totenschädel, über den sich papierdünne, totenbleiche Haut spannte, die Backenknochen sprangen so weit vor, dass sie schwarze Schatten warfen. Die Augen waren hinter einer Schutzbrille verborgen, das schwarze Haar hatte er zu steifen Dreadlocks geflochten, die nach allen Seiten auseinanderstrebten.
Hin und wieder atmete er durch ein Glasrohr, das zu einer blubbernden Miniaturraffinerie führte, die vor ihm auf dem Tisch stand.
»Darf ich Captain Forqueray vorstellen«, sagte Childe. »Captain – das sind Richard Swift und … hm, Doktor Trintignant.«
»Sehr erfreut«, sagte ich, beugte mich über den Tisch und schüttelte Forqueray die Hand. Sie fühlte sich so kalt an wie der Fangarm eines Tintenfischs.
»Der Captain ist ein Ultra; der Führer des Lichtschiffs Apollyon, das sich derzeit im Orbit um Yellowstone befindet«, fügte Childe hinzu.
Trintignant verzichtete darauf, ihn zu berühren.
»Schüchtern, Doktor?«, fragte Forqueray. Seine Stimme war tief und zugleich misstönend wie eine gesprungene Glocke.
»Nein, nur vorsichtig. Dass ich unter den Ultras Feinde habe, ist schließlich allgemein bekannt.«
Trintignant nahm seinen Homburg ab und strich sich leicht über den Kopf, als wolle er sich das Haar glätten. In seine Kopfmaske waren silberne Wellen eingearbeitet, sodass er aussah wie ein Perücke tragender Dandy aus dem Regency, den man in Quecksilber getaucht hatte.
»Sie haben überall Feinde«, bemerkte Forqueray zwischen zwei gurgelnden Atemzügen. »Aber ich persönlich nehme Ihnen Ihre Gräueltaten nicht übel und verbürge mich dafür, dass auch meine Besatzung sich neutral verhalten wird.«
»Sehr freundlich«, sagte Trintignant und schüttelte dem Ultra gerade so lange, wie es der Anstand erforderte, die Hand. »Aber was geht mich Ihre Besatzung an?«
»Das reicht jetzt.« Eine der beiden Frauen hatte das Wort ergriffen. »Wer ist der Kerl, und warum hassen ihn alle?«
»Gestatten Sie mir, Sie mit Hirz bekannt zu machen«, sagte Childe und wies auf die Sprecherin. Sie war klein wie ein Kind, hatte aber eindeutig das Gesicht einer erwachsenen Frau. Ihre schlichte, eng anliegende schwarze Kleidung betonte noch ihren zwergenhaften Wuchs. »Hirz ist – ich kenne kein besseres Wort dafür – Söldnerin.«
»Ich betrachte mich allerdings lieber als Spezialistin für Informationsgewinnung, insbesondere durch Infiltration, im Auftrag großer Firmen im Glitzerband. Teilweise geht es dabei um handfeste Spionage. Meistens betätige ich mich freilich als Hacker, wie man früher sagte. Und ich bin verdammt gut in meinem Job.« Hirz hielt inne und nahm einen Schluck Wein. »Aber genug von mir. Wer ist der Silbertyp, und was meinte Forqueray mit Gräueltaten?«
»Wollen Sie ernsthaft behaupten, Sie hätten noch nie von Trintignant gehört?«, fragte ich.
»He, nun mal langsam. Ich lasse mich nach jedem Auftrag einfrieren. Das heißt, ich bekomme vieles von dem Mist, der auf Chasm City niedergeht, nicht mit. Finden Sie sich damit ab.«
Ich zuckte die Achseln und erzählte Hirz – ohne den Doktor selbst aus den Augen zu lassen –, was ich über Trintignant wusste. Ich beschrieb in groben Zügen seine Anfänge als Experimentalcybernetiker und schilderte, wie er als furchtloser Neuerer bekannt geworden und schließlich auch Calvin Sylveste aufgefallen war.
Calvin hatte Trintignant in sein Forschungsteam geholt, aber sie waren nicht gut miteinander ausgekommen. Bei Trintignant war die vollkommene Verschmelzung von Fleisch und Maschine zur fixen Idee geworden; man sprach sogar von einer Perversion. Nach einem Skandal wegen einiger Versuche ohne Einwilligung der Betroffenen hatte Trintignant seine Arbeit notgedrungen allein fortsetzen müssen. Sogar Calvin waren seine Methoden zu radikal geworden.
Also war Trintignant untergetaucht und hatte seine grausigen Versuche mit der einzigen Person fortgesetzt, die ihm noch geblieben war.
Sich selbst.
»Also«, sagte der letzte Gast. »Was haben wir denn nun? Einen Cybernetiker mit einer Vorliebe für extreme Modifikationen, der seine Besessenheit nicht ausleben kann. Eine Infiltrationsspezialistin, die befähigt ist, auch in hoch gesicherte – und gefährliche – Bereiche einzudringen. Und einen Mann, der über ein Raumschiff und die dazugehörige Besatzung verfügen kann.«
Sie wandte sich Childe zu, und ich nützte die Gelegenheit, um ihr Gesicht im Profil zu bewundern. Die feinen Züge kamen mir irgendwie bekannt vor. Das lange, nach hinten gekämmte Haar war tiefschwarz wie der interstellare Raum und wurde von einer edelsteinbesetzten Spange gehalten, die in allen Regenbogenfarben schillerte. Wer war diese Frau? Ich war sicher, dass wir uns schon ein- oder auch zweimal begegnet waren. Vielleicht zwischen den Schreinen bei einem Besuch der Verstorbenen im Denkmal für die Achtzig?
»Dazu noch Childe«, fuhr sie fort. »Einen Mann, der einmal dafür bekannt war, dass er komplizierte Spiele liebte, inzwischen aber längst als tot gilt.« Nun richtete sich ihr durchdringender Blick auf mich. »Und schließlich dich.«
»Ich glaube, ich kenne Sie …«, sagte ich. Ihr Name lag mir auf der Zunge.
»Natürlich kennst du mich.« Jetzt sprühte Verachtung aus ihren Augen. »Ich bin Celestine. Du warst einmal mit mir verheiratet.«
Childe hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie hier war.
»Dürfte ich erfahren, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte ich so sachlich wie möglich. Ich war schließlich kein Choleriker, der sich in guter Gesellschaft nicht beherrschen konnte.
Celestine zog ihre Hand zurück, kaum dass ich sie berührt hatte. »Roland hat mich hierher geholt, Richard. Ähnlich wie dich, ebenfalls mit geheimnisvollen Andeutungen über irgendeine Entdeckung, die er gemacht hätte.«
»Aber du bist …«
»Deine Exfrau?« Sie nickte. »Wie viel weißt du eigentlich noch, Richard? Ich habe seltsame Gerüchte gehört, du hättest mich aus deinem Langzeitgedächtnis löschen lassen.«
»Nicht löschen, nur unterdrücken. Das ist ein kleiner Unterschied.«
Sie nickte. »Das ist mir klar.«
Ich warf einen Blick auf die anderen Gäste. Sie beobachteten uns. Sogar Forqueray hielt den Atem an, das Glasrohr seines Apparats schwebte zwei Zentimeter vor seinem Mund. Alle warteten darauf, dass ich etwas – irgendetwas – sagte.
»Was genau willst du hier, Celestine?«
»Du weißt es also nicht mehr?«
»Was weiß ich nicht mehr?«
»Womit ich mich beschäftigte, Richard, als wir noch verheiratet waren.«
»Ich gestehe es, nein.«
Childe räusperte sich. »Deine Frau, Richard, war ebenso von Außerirdischen fasziniert wie du. Sie wäre zu bescheiden, um sich selbst so zu bezeichnen, aber sie war einer der ersten Experten für die Musterschieber in dieser Stadt.« Er zögerte, als warte er Celestines Einverständnis ab, bevor er fortfuhr. »Sie hatte die Schieber besucht und lange, bevor sie dich kennen lernte, mehrere Jahre ihres Lebens auf der Forschungsstation auf Spindrift verbracht. Sie sind mit den Schiebern geschwommen, Celestine, nicht wahr?«
»Ein paarmal.«
»Und Sie haben ihnen erlaubt, Ihr Bewusstsein umzugestalten. Dazu werden die Neuralstrukturen so verändert, dass – wenn auch im Allgemeinen nur vorübergehend – zutiefst fremdartige Denkmuster entstehen.«
»Es war keine so große Sache«, sagte Celestine.
»Wenn man das Glück hatte, selbst davon betroffen zu sein, gewiss nicht. Aber für jemanden wie Richard – der sich mit allen Fasern seines Wesens danach sehnte, mehr über Außerirdische zu erfahren – wäre es sicher keine Kleinigkeit gewesen.« Er wandte sich an mich. »Das ist doch richtig?«
»Ich gebe zu, ich hätte viel darum gegeben, mit den Schiebern in Kommunikation treten zu können«, sagte ich. Leugnen wäre zwecklos gewesen. »Aber es war einfach nicht möglich. Meine Familie hatte nicht die Mittel, um mich auf eine der Schieberwelten zu schicken, und die Organisationen, die normalerweise solche Reisen finanzieren könnten – zum Beispiel das Sylveste-Institut –, hatten sich anderweitig orientiert.«
»Das heißt, Celestine war in deinen Augen sehr zu beneiden, nicht wahr?«
»Das will ich gar nicht bestreiten«, sagte ich. »Sich spekulativ mit der Beschaffenheit außerirdischen Bewusstseins zu befassen, ist eine Sache; aber es zu trinken, in seinen Fluten zu baden – es so intim zu berühren wie eine Geliebte …« Ich verstummte. »Augenblick mal. Müsstest du nicht auf Resurgam sein, Celestine? Die Expedition kann unmöglich schon wieder zurückgekehrt sein.«
Sie beäugte mich so scharf wie ein Raubvogel, dann sagte sie: »Ich bin nicht mitgeflogen.«
Childe beugte sich vor und schenkte mir nach. »Ihre Bewerbung wurde im letzten Moment abgelehnt. Sylveste hegte gegen jeden einen Groll, der die Schieber besucht hatte; er entschied ganz plötzlich, solche Menschen wären instabil und nicht vertrauenswürdig.«
Ich sah Celestine nachdenklich an. »Dann warst du die ganze Zeit …«
»… hier in Chasm City. Nun mach nicht so ein zerknirschtes Gesicht. Als ich die Ablehnung erhielt, hattest du schon beschlossen, mich aus deiner Vergangenheit zu streichen. Es war für uns beide besser so.«
»Aber du hast mich hintergangen …«
Childe legte mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Sie hat dich nicht hintergangen. Sie hat sich nur nicht wieder gemeldet. Keine Lügen, keine Täuschung, nichts, was du ihr nachtragen könntest.«
Ich sah ihn wütend an. »Warum, zum Teufel, ist sie dann hier?«
»Weil ich zufällig für jemanden mit genau den Fähigkeiten Verwendung habe, die Celestine von den Schiebern erhalten hat.«
»Nämlich?«
»Besonders ausgeprägtes mathematisches Verständnis.«
»Und was willst du damit anfangen?«
Childe wandte sich an den Ultra und bedeutete ihm, seinen blubbernden Apparat vom Tisch zu nehmen.
»Das sollt ihr gleich sehen.«
Der Tisch enthielt einen antiken Holoprojektor. Childe verteilte Bildbetrachter, die wie Lorgnetten aussahen, und damit studierten wir wie ein Haufen kurzsichtiger Opernfreunde die Erscheinung, die über der polierten Mahagoniplatte schwebte.
Sterne in unübersehbaren Mengen – grellweiße und blutrote Edelsteine –, wie eine Spitzendecke auf tiefblauem Samt.
Childe erzählte:
»Vor fast zweihundertfünfzig Jahren traf mein Onkel Giles – dessen ziemlich pessimistisches Werk Sie ja bereits begutachten konnten – eine Entscheidung von großer Tragweite. Er verschrieb sich dem so genannten ›Programm‹, über das in unserer Familie immer nur im Flüsterton gesprochen wurde.«
Bei diesem ›Programm‹, so erklärte Childe, hätte es sich um eine geheime Expedition zur Erforschung des interstellaren Weltraums gehandelt.
Giles hatte sich das Projekt ausgedacht und direkt aus dem Familienvermögen finanziert. Dabei war er so geschickt vorgegangen, dass der finanzielle Status des Hauses Childe auch dann nicht ins Wanken geriet, als das ›Programm‹ in seine kostspieligste Phase eintrat. Nur einige wenige auserwählte Mitglieder der Childe-Dynastie hatten überhaupt von seiner Existenz gewusst, und deren Zahl war mit der Zeit immer kleiner geworden.
Der größte Teil des Geldes war an die Ultras gegangen, die sich schon damals zu einer starken gesellschaftlichen Kraft gemausert hatten.
Sie hatten nach den Angaben des Onkels autonome Robotsonden gebaut und zu verschiedenen Zielsystemen geschickt. Die Ultras hätten diese Sonden in jedem System absetzen können, das sie mit ihren Lichtschiffen anflogen, aber es ging ja gerade darum, das Wissen um mögliche Funde allein der Familie zugute kommen zu lassen. So durchquerten die Abgesandten mit nur einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit ganz allein das All, und die Ziele, die sie ansteuerten, waren ausnahmslos wenig erforschte Systeme an der Grenze des von Menschen besiedelten Weltraums.
Dort angekommen, bremsten die Sonden mit Hilfe von Sonnensegeln ab, suchten sich die interessantesten Welten aus und gingen in eine Umlaufbahn.
Dann schickten sie Roboter hinunter, die so gebaut waren, dass sie viele Jahrzehnte auf der Oberfläche überleben konnten.
Childe bewegte die Hand über dem Tisch. Von einer der roten Sonnen im Display – vermutlich die Sonne von Yellowstone – strahlten Linien zu anderen Sternen aus, bis ein dreidimensionaler, scharlachroter Löwenzahn mit einem Durchmesser von mehreren Dutzend Lichtjahren entstanden war.
»Die Sonden mussten eine gewisse Intelligenz besitzen«, bemerkte Celestine. »Besonders für damalige Begriffe.«
Childe nickte begeistert. »O ja, und ob. Schlaue kleine Racker. Geschickt, leise und fleißig. Das mussten sie auch sein, wenn sie fernab jeglicher menschlichen Überwachung funktionieren sollten.«
»Ich nehme an, sie haben etwas gefunden?«, sagte ich.
»Ja«, antwortete Childe ärgerlich wie ein Zauberkünstler, dem ein hartnäckiger Zwischenrufer seinen sorgfältig vorbereiteten Text verdarb. »Aber nicht sofort. Giles hatte damit natürlich auch nicht gerechnet – die Abgesandten brauchten schließlich Jahrzehnte, um das nächste System zu erreichen, zu dem man sie schickte, und dann war immer noch die Zeitverzögerung bei der asynchronen Kommunikation zu berücksichtigen. Mein Onkel richtete sich also auf eine Wartezeit von vierzig bis fünfzig Jahren ein, und das war noch optimistisch gerechnet.« Er hielt inne und nahm einen Schluck Wein. »Allzu optimistisch, wie sich herausstellte. Fünfzig Jahre vergingen … dann sechzig … doch nie wurde auf Yellowstone eine wichtige Meldung empfangen, jedenfalls nicht zu seinen Lebzeiten. Gelegentlich fanden die Sonden etwas von Interesse – aber jedes Mal waren andere menschliche Forscher bereits auf die gleiche Entdeckung gestoßen. Und je mehr Jahrzehnte vergingen, ohne dass die Abgesandten ihre Entwicklung gerechtfertigt hätten, desto weinerlicher und verbitterter wurde mein Onkel.«
»Darauf wäre ich nie gekommen«, sagte Celestine.
»Irgendwann starb er – voller Groll und Hass auf das Universum, das sich, wie er fand, einen schlechten kosmischen Scherz mit ihm erlaubt hätte. Mit den entsprechenden Therapien hätte er noch weitere fünfzig oder sechzig Jahre durchhalten können, aber er wusste vermutlich, dass das nur Zeitverschwendung gewesen wäre.«
»Du hast vor einhundertfünfzig Jahren deinen Tod vorgetäuscht«, sagte ich. »Sagtest du nicht, das hätte etwas mit dem Familienunternehmen zu tun?«
Er nickte mir zu. »Damals erzählte mir mein Onkel von seinem ›Programm‹. Ich hatte bis dahin nichts davon gewusst – nicht das leiseste Gerücht war zu mir gedrungen. Und auch niemand sonst in der Familie hatte eine Ahnung. Inzwischen verursachte das Projekt schließlich kaum noch Kosten, es war also nicht einmal mehr nötig, den Geldabfluss zu verschleiern.«
»Und seitdem?«
»Ich gelobte mir, den Fehler meines Onkels nicht zu wiederholen, und deshalb beschloss ich, so lange zu schlafen, bis die Maschinen eine Meldung schickten, und wieder weiterzuschlafen, falls sich die Meldung als falscher Alarm herausstellen sollte.«
»Schlafen?«, fragte ich.
Er schnippte mit den Fingern. Eine Wand der Höhle schob sich vollständig zurück, und ein steriler Raum voller Maschinen wurde sichtbar.
Ich sah mir an, was er enthielt.
Ein Kälteschlaftank, wie ihn Forqueray und seinesgleichen auf ihren Schiffen verwendeten, wurde umringt von vielen blanken grünen Kolossen – komplizierten Lebenserhaltungsgeräten. Mit einem solchen Tank konnte man die normale menschliche Lebensdauer von etwa vierhundert Jahren um viele Jahrhunderte verlängern. Allerdings war der Kälteschlaf nicht ohne Gefahren.
»Ich habe einhundertfünfzig Jahre in diesem Ding gelegen«, sagte Childe. »Alle fünfzehn bis zwanzig Jahre wurde ich geweckt, jedes Mal, wenn eine Meldung von einem der Abgesandten einging. Das Aufwachen ist das Schlimmste. Man fühlt sich, als wäre man aus Glas und würde bei der nächsten Bewegung – beim nächsten Atemzug – in tausend Scherben zerspringen. Es geht vorüber, und eine Stunde später hat man es vergessen, aber beim nächsten Mal wird es dadurch nicht leichter.« Er erschauerte. »Manchmal kommt es mir eher so vor, als wäre es mit jeder Wiederholung schwerer zu ertragen.«
»Dann sollten Sie Ihre Maschinen gründlich warten lassen«, bemerkte Forqueray verächtlich. Vermutlich bluffte er nur. Viele Ultras trugen einen Zopf für jede Durchquerung des interstellaren Raums, bei der sie all die zahllosen Missgeschicke überlebt hatten, die einem Schiff widerfahren mochten. Aber jeder Zopf war auch ein Symbol für die Auferstehung von den Toten am Ende einer Reise.
Und dabei litten sie die gleichen Qualen wie Childe, auch wenn sie es nicht zugeben wollten.
»Wie lange warst du jeweils wach?«, fragte ich.
»Nicht mehr als dreizehn Stunden. Im Allgemeinen genügte das, um festzustellen, ob die Botschaft interessant war oder nicht. Ein paar Stunden gestand ich mir zu, um mich über die aktuellen Geschehnisse im weiteren Umkreis des Universums zu informieren. Aber ich musste mich beherrschen. Wäre ich länger wach geblieben, ich hätte der Aussicht, in die Stadt zurückzukehren, nicht mehr widerstehen können. Dieser Raum kam mir jedes Mal vor wie ein Gefängnis.«
»Wieso?«, fragte ich. »Die subjektive Zeit verging doch sicher sehr schnell?«
»Du hast offenbar nie länger im Kälteschlaf gelegen, Richard. Man ist nicht bei Bewusstsein, wenn man eingefroren ist, zugegeben – aber der Übergang in die Kälte und die Rückkehr scheinen ewig zu dauern, und man hat die ganze Zeit über die seltsamsten Träume.«
»Aber du hofftest, es würde sich auszahlen?«
Childe nickte. »Und diese Hoffnung könnte sich erfüllt haben. Vor sechs Monaten wurde ich zum letzten Mal geweckt, und seither bin ich nicht mehr in den Tank zurückgekehrt. Ich war vollauf damit beschäftigt, die Mittel und die Teilnehmer für eine äußerst ungewöhnliche Expedition zusammenzubekommen.«
Er befahl dem Tisch, die Projektion zu verändern und einen ganz bestimmten Stern aufzufassen.
»Ich will Sie nicht mit Katalognummern langweilen, sondern beschränke mich darauf, dass es sich um ein System handelt, von dem – vielleicht mit Ausnahme von Forqueray – niemand an diesem Tisch jemals gehört haben dürfte. Es wurde nie von Menschen kolonisiert, und kein bemanntes Raumschiff ist ihm auf mehr als drei Lichtjahre nahegekommen. Jedenfalls bis vor kurzem.«
Der Projektor zoomte noch näher heran, das Bild wuchs Schwindel erregend schnell.
Ein Planet schwoll auf Schädelgröße an und schwebte über dem Tisch.
Er war ausschließlich in Grau- und matten Rottönen gehalten. Hier und dort zeigte er Krater und Schrammen, Folgen von Meteoriteneinschlägen und Verwitterungsprozessen, die wohl aus grauer Vorzeit stammten. Zwar gab es einen Hauch von Atmosphäre – ein trüb bläulicher Halo umgab den Planeten – und beide Pole trugen Eiskappen, aber die Welt sah weder bewohnbar noch besonders einladend aus.
»Reizender kleiner Planet, nicht wahr?«, sagte Childe. »Ich habe ihn Golgatha genannt.«
»Hübscher Name«, bemerkte Celestine.
»Aber leider keine sehr hübsche Welt.« Childe vergrößerte das Bild noch einmal. Nun sahen wir die öde, scheinbar leblose Oberfläche wie aus einem Flugzeug. »Ziemlich trostlos, um genau zu sein. Golgatha hat etwa die Größe von Yellowstone und erhält auch etwa die gleiche Menge Sonnenlicht von seinem Stern. Einen Mond gibt es nicht. Die Oberflächenschwerkraft liegt so nahe bei einem Ge, dass man im Raumanzug keinen Unterschied mehr feststellt. Dünne Kohlendioxidatmosphäre, und nichts, was darauf schließen ließe, dass sich hier jemals Leben entwickelt hätte. Die Oberfläche kriegt eine Menge Strahlung ab, aber das ist so ziemlich das einzige Risiko, und damit werden wir leicht fertig. Golgatha ist tektonisch ruhig und wurde seit mehreren Millionen Jahren nicht mehr von größeren Meteoriten getroffen.«
»Klingt ziemlich langweilig«, sagte Hirz.
»Und ist es wahrscheinlich auch, aber darum geht es jetzt nicht. Es geht vielmehr darum, dass es auf Golgatha etwas gibt.«
»Was für ein Etwas?«, fragte Celestine.
»So eines«, antwortete Childe.
Das Etwas stieg über den Horizont.
Es war groß und dunkel und nur undeutlich zu erkennen. Im ersten Moment war es, als tauchte der Turm einer Kathedrale aus dem Morgennebel auf. Das Ding verjüngte sich nach oben hin zu einem dünnen Stängel, der sich zu einer großen Zwiebel erweiterte. Die endete wiederum in einer nadeldünnen Spitze.
Wie groß es war und woraus es bestand, war nicht zu bestimmen, sicher war nur, dass es ein Artefakt war, keine ungewöhnliche biologische oder mineralische Formation. Auf Grand Teton hatten sich riesige Mengen von einzelligen Organismen zu den Schleimtürmen vereinigt, dem berühmtesten Naturschauspiel dieser Welt. Diese Türme erreichten eindrucksvolle Höhen und zeigten oft bizarre Formen, aber sie waren doch unverkennbar durch unbewusste biologische Prozesse entstanden und nicht das Ergebnis bewusster Planung. Der Turm auf Golgatha war dafür zu symmetrisch. Außerdem stand er völlig allein. Bei einem Lebewesen hätte ich Artgenossen und zumindest Spuren einer dazugehörigen Ökologie aus anderen Organismen erwartet.
Selbst bei einem Fossil, das seit Jahrmillionen tot war, hielt ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass es auf dem ganzen Planeten nur dieses eine geben sollte.
Nein. Dieser Turm war ganz sicher von irgendjemandem aufgestellt worden.
»Ein Bauwerk?«, fragte ich Childe.
»Ja. Oder eine Maschine. Das ist schwer zu sagen.« Er lächelte. »Ich habe ihm den Namen Blutturm gegeben. Sieht ganz harmlos aus, nicht wahr? So lange man nicht genauer hinsieht.«
Wir kreisten um den Turm oder was immer es sein mochte, und betrachteten ihn von allen Seiten. Aus der Nähe zeigte sich, dass die Oberfläche deutlich strukturiert war; um geometrisch komplexe Muster und Reliefs herum schlängelten sich darmähnliche Schläuche und dicke, vielfach verästelte Adergeflechte. Ich begann, an meinem ersten Eindruck zu zweifeln. Vielleicht hatte ich es doch mit einer Lebensform zu tun?
Das Sehnengewirr wirkte eher wie eine Verschmelzung von Lebewesen und Maschine: ein groteskes Mischwesen, das Childes wahnsinnigen Onkel vermutlich entzückt hätte.
»Wie hoch ist er?«, fragte ich.
»Etwa zweihundertfünfzig Meter«, antwortete Childe.
Jetzt entdeckte ich auf Golgathas Oberfläche winzige Lichtpunkte, fast als wären von dem Bauwerk Metallschuppen abgefallen.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Ich zeige es dir«, antwortete Childe.
Er vergrößerte das Bild noch stärker, bis sich die Lichtpunkte zu erkennbaren Formen auflösten.
Es waren Menschen.
Genauer gesagt die Überreste von Menschen. Wie viele es gewesen waren, ließ sich nicht mehr feststellen. Alle waren irgendwie verstümmelt worden: zerquetscht, amputiert oder durchgeschnitten. Da und dort waren noch Fetzen von Raumanzügen zu sehen. Die Gliedmaßen lagen oft zwanzig, dreißig Meter vom zugehörigen Rumpf entfernt.
Als hätte man sie in einem Wutanfall weit fort geschleudert.
»Wer war das?«, wollte Forqueray wissen.
»Die Besatzung eines Raumschiffs, das zufällig in dieses System einflog, um Reparaturen am Hitzeschild vorzunehmen«, erklärte Childe. »Der Captain hieß Argyle. Sie fanden den Turm und wollten ihn erkunden, in der Hoffnung, irgendeine Technologie von unschätzbarem Wert zu finden.«
»Und was geschah dann?«
»Die Raumfahrer gingen in kleinen Gruppen hinein, manchmal auch alleine. Drinnen wurden sie vor eine Reihe von Aufgaben gestellt, die mit jedem Mal schwieriger wurden. Wenn sie einen Fehler machten, wurden sie vom Turm bestraft. Anfangs waren die Strafen noch leicht, doch mit der Zeit wurden sie immer härter. Wichtig war zu erkennen, wann man sich geschlagen geben musste.«
Ich beugte mich vor. »Woher weißt du das alles?«
»Argyle überlebte. Nicht lange, zugegeben, aber doch so lange, dass meine Maschine einiges aus ihm herausbekommen konnte. Sie war nämlich schon die ganze Zeit auf Golgatha gewesen – hatte beobachtet, wie Argyle eintraf, und heimlich aufgezeichnet, wie sich seine Mannschaft mit dem Turm herumschlug. Sie sah auch, wie er herausgekrochen kam und wie wenig später der letzte von seinen Leuten ausgeworfen wurde.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich auf die Aussagen einer Maschine oder eines Sterbenden verlassen kann«, sagte ich.
»Das brauchst du auch nicht«, gab Childe zurück. »Halte dich nur an das, was du mit eigenen Augen siehst. Zum Beispiel diese Spuren im Staub. Sie führen alle auf den Turm zu, aber zu den Leichen führt so gut wie keine.«
»Und das heißt?«, fragte ich.
»Das heißt, dass sie hineingingen, genau wie Argyle sagte. Achte auch darauf, wie die Überreste verteilt sind. Sie liegen nicht alle in der gleichen Entfernung vom Turm, sondern wurden wohl aus verschiedenen Höhen abgeworfen. Daraus kann man schließen, dass einige der Leute weiter nach oben zur Spitze vordrangen. Auch das passt zu Argyles Geschichte.«
Jetzt begriff ich, worauf das Ganze hinauslief, und mir wurde himmelangst. »Du willst, dass wir zu diesem Planeten fliegen und herausfinden, was für die Raumschiffbesatzung so interessant war? Richtig?«
Er lächelte. »Du kennst mich eben zu gut, Richard.«
»Ich dachte eigentlich, dass ich dich kenne. Aber du müsstest schon völlig verrückt geworden sein, um auch nur in die Nähe von diesem Ding zu gehen.«
»Verrückt? Mag sein. Oder nur sehr, sehr neugierig. Die Frage ist …« Er hielt inne, beugte sich über den Tisch und füllte noch einmal mein Glas, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Wie steht es mit dir?«
»Ich bin keins von beiden«, sagte ich.
Aber Childe konnte sehr überzeugend sein. Einen Monat später war ich auf Forquerays Schiff und lag im Kälteschlaf.