Inhalt

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Einleitung

TEIL I UNCLE SAM IN SCHIEFLAGE
Auf Schlingerkurs ins 21. Jahrhundert

Rückkehr in ein »neues« Land

Messias ohne Wundertaten? Die Ära Obama

Die Geteilten Staaten von Amerika?

Rassismus – eine alte Wunde reißt wieder auf

Amerikanische Ungereimtheiten – ein Land voller Gegensätze

Land of the Free? Ja, aber …

TEIL II NEW WORLD ORDER
Die neue geopolitische Rolle der USA

Der Mann, der die Kriege beenden wollte

NSA und Antiterrorkampf – Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Der Streit um TTIP – nur Chlorhühnchen und Genmais?

Das pazifische Jahrhundert? Amerikas Pivot to Asia

TEIL III UNTERSCHIEDE UND GEMEINSAMKEITEN
Was können wir von den USA lernen?

Immigration – aus der Krise eine Chance machen

Das Geberland – Philanthropie im Alltag

Silicon Valley – die Kultur des Scheiterns und die Welt von morgen

Was wir nur gemeinsam schaffen

Schlussgedanke

Dank

Anmerkungen

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Eigentlich müsste ich Donald Trump ja dankbar sein. Denn seine Kandidatur, sein Wahlkampf, ja, das ganze Phänomen Trump haben im Herbst 2016 nicht nur dazu geführt, dass das Interesse an den Entwicklungen jenseits des Atlantiks gigantisch anwuchs, sondern auch, dass der Titel dieses Buches noch aktueller, noch treffender erschien. Sicher, es gab schon in den Jahren zuvor hierzulande immer wieder Unverständnis, Kopfschütteln und Ablehnung gegenüber Entscheidungen und Ereignissen in den USA – ein gewisser latenter deutscher Antiamerikanismus kommt nicht von ungefähr. Aber ein solches Befremden wie über diese unwahrscheinliche Figur, die zunächst nur wie ein Clown im amerikanischen Politzirkus wirkte, um dann tatsächlich als maßgebliche Figur ins Zentrum der Macht zu rücken, hat es wohl noch nicht gegeben. Keine Frage, die USA sind durch die Wahl von Donald Trump zu ihrem 45. Präsidenten für viele weltweit ein »Noch fremderes Land Amerika« geworden – und für einen Großteil der Amerikaner ebenfalls.

Das Phänomen Trump ist ja auch in vielerlei Hinsicht unglaublich. Der rasante Aufstieg eines Immobilien-Tycoons und Reality-TV-Stars, der zuvor noch nie irgendein politisches Amt bekleidet und auch keinen Militärdienst geleistet hatte, zum Oberbefehlshaber und Staatschef der Weltmacht, dies auch noch gleich im ersten Anlauf, sucht seinesgleichen. Und was nach seinem Amtsantritt folgte, bestätigte viele Befürchtungen.

Das Unverständnis für diese Vorgänge bei uns rührt zum einen aus dem Vergleich zum Vorgänger. Barack Obama verkörperte alles, was wir Deutsche an einem mächtigen Politiker lieben: besonnen abwägend, multilateral handelnd, gepaart mit einer gewissen Gelassenheit, einer gewissen Coolness. Noch bevor er Präsident wurde, kamen Zehntausende an die Berliner Siegessäule, um ihn reden zu hören – er wurde geradezu als Heilsbringer verehrt nach der düsteren Ära des George W. Bush. Trump mit seiner brachialen America first-Botschaft könnte gegensätzlicher zu Obama nicht sein: aufbrausend, eigensinnig, eigenmächtig.

Zum anderen empören gerade wir Deutschen uns über die Wahl dieses Präsidenten, weil wir meiner Meinung nach zu oft dem verfallen, was ich im ursprünglichen Vorwort als Vertrauensillusion bezeichne: Wir meinen die USA gut zu kennen, aus Urlauben, aus Filmen, aus Berichten, und sie daher einschätzen zu können – und sind dann umso enttäuschter, wenn die Amerikaner sich mitunter ganz anders verhalten, als von uns erwartet.

Fest steht: Trump hat das Amt nicht durch einen Putsch oder Betrug errungen, sondern durch eine legitime Wahl. Er hat Strömungen erkannt, die keiner sonst so ansprechen konnte – oder wollte. Zwar hat Hillary Clinton insgesamt fast drei Millionen Stimmen mehr geholt als er, aber so ist das amerikanische Wahlsystem mit seinen Wahlmännern und –Frauen im Electoral College nun mal. Wäre es andersherum gelaufen, hätten wir uns sicher nicht beschwert.

Wohl wissend, dass der Wahlkampf und die Wahl, die ja zwei Monate nach Erscheinen von Fremdes Land Amerika stattfand, bald nicht mehr aktuell sein würden, bin ich beim Schreiben dieses Buches bewusst weniger auf die Auseinandersetzung Trump-Clinton eingegangen als vielmehr auf die Gründe und Entwicklungen, die letztlich zu diesem Ergebnis geführt haben. Denn diese Verschiebungen sind tiefgreifender. Meiner Meinung nach ist Trump nicht die Ursache für das, was derzeit in den USA passiert, sondern ein Symptom. Er hat es geschickt verstanden, vor allem die Wut und den Frust der weißen Wählerschaft anzuzapfen und zu verstärken. Dadurch, dass ich in erster Linie auf die Ursachen für diesen Zorn, auf die sich vertiefende Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und auf die dafür verantwortlichen Hintergründe geblickt habe, hat das Buch, wie ich finde, wenig von seiner Aktualität und Aussagekraft eingebüßt, auch knapp zwei Jahre nach seiner Erstausgabe nicht.

Gleichwohl lässt sich nicht ausblenden, dass die Präsidentschaft Trump inzwischen eine tiefgreifende Zäsur darstellt, die fast alle Bereiche des amerikanischen Alltags betrifft. Als ich daher mit meinem Verlag über eine Taschenbuchausgabe von Fremdes Land Amerika sprach, waren wir uns rasch einig, dass es einer gewissen Aktualisierung bedürfe sowie eines weiteren Kapitels über Donald Trump, den Präsidenten. Doch recht schnell wurde klar: Ein einzelnes Kapitel würde niemals reichen, um den mitunter atemberaubenden Drehungen und Normverschiebungen dieser Präsidentschaft, dem Chaos, aber auch den erfolgreichen Umsetzungen vieler Wahlversprechen auch nur ansatzweise gerecht zu werden. So entstand die Idee, all diese Aspekte lieber gleich in einem neuen, eigenen Buch zu beleuchten: Anderland. Die USA unter Trump – ein Schadensbericht. Wenn man so will, handelt es sich um die Fortsetzung des Buches, dass Sie, liebe Leser, gerade in den Händen halten. Es liest sich quasi als nächste Folge in dem Politdrama, dass sich derzeit auf der anderen Seite des Ozeans abspielt – nicht nur in der Hauptstadt Washington, DC, sondern im ganzen Land, quer durch die amerikanische Gesellschaft.

Aber wie gesagt, jenseits der Causa Trump und dem, was dieser Präsident heute für sein Land bedeutet oder symbolisiert, bieten die folgenden Seiten von Fremdes Land Amerika viele grundsätzliche Beobachtungen über die USA und schildern zugleich sehr persönliche Erfahrungen, die ich sowohl durch meine Arbeit als Korrespondent als auch im Austausch mit meiner eigenen amerikanischen Familie gemacht habe. Die Themen, denen ich hierbei nachgegangen bin, bewegen nach wie vor Amerika und den Rest der Welt: Einwanderung, Waffengewalt, Rassismus, ehrenamtliches Engagement, Handel, Anti-Terrorkampf, Klimaschutz oder die tiefgreifenden Umwälzungen, die von den Machern im Silicon Valley angeschoben werden. Dazu immer wieder die spektakuläre Landschaft, die Natur und das Licht in diesem gigantischen Land.

Vor allem aber bleibt das Ziel dieses Buches das gleiche wie bei seiner Premiere: zu versuchen, den Lesern diese widersprüchliche, extreme, faszinierende Nation so weit es geht ein Stückchen verständlicher zu machen. Das ist heute wohl gebotener denn je. In diesem Sinne wünsche ich spannende Lektüre.

Teil I

UNCLE SAM
IN SCHIEFLAGE

Auf Schlingerkurs
ins 21. Jahrhundert

Rückkehr in ein »neues« Land

»Das Leben ist oft wie Jazz:
Der klingt am besten, wenn man improvisiert.
«

George Gershwin

Da war sie gleich wieder, diese legendäre Freundlichkeit, die so typisch für die Amerikaner ist. Es war ein klirrend kalter Wintertag im Januar 2014. Der Schnee türmte sich entlang der Gehwege und Straßen, knirschte unter jedem Schritt, aber die Sonne strahlte hell vom gänzlich wolkenfreien Himmel. Ich war mit meiner Familie zwei Tage zuvor in Washington gelandet, wir waren kaum dem monatelangen grauen Nieselwetter des Hamburger Winters entkommen, und schon jetzt, bei der Ankunft, wusste ich, was ich an Washington eines Tages mit am meisten vermissen würde: das Wetter. Oder, besser gesagt: das Licht. Denn auch wenn es mal stürmt, regnet oder schneit, dauert es selten länger als zwei, drei Tage in Amerikas Hauptstadt, bis der Himmel wieder stahlblau leuchtet. In Norddeutschland vergisst man schnell, dass milchig-grau und nass nicht der Normalzustand sein muss.

Unseren Umzugscontainer hatten wir schon Wochen zuvor auf die Reise über den Atlantik geschickt, und glücklicherweise war er fast zeitgleich mit uns angekommen. Nun standen wir also im Eingangsbereich unseres neuen Zuhauses und dirigierten die Möbelpacker mit den Kisten in die jeweiligen Zimmer. Der Container war noch nicht zur Hälfte leer, da kam auch schon von gegenüber die erste Nachbarin mit einem Körbchen voller Blaubeermuffins als Begrüßungsgeschenk vorbei. Die Nachbarn links neben uns stellten uns eine Flasche Wein hin mit der Botschaft: »Willkommen in der tollsten Straße Washingtons!« Und eine weitere Nachbarin steckte uns ihre Visitenkarte mit der Bemerkung zu: »Ich sehe, ihr habt Kinder im selben Alter wie meine, vielleicht wollen sie mal zum Spielen rüberkommen, während ihr die Kisten auspackt. Hier ist meine Nummer.« Später sollte sich noch ein Herr vorstellen, der uns in den nachbarschaftlichen E-Mail-Verteiler aufnehmen wollte, damit man sich besser austauschen könne in der community, der Gemeinschaft – ein Begriff, der mir in diesem Land noch oft zu Ohren kommen sollte. Kurz gesagt, wir waren baff. Und begeistert.

Diese Offenheit, Freundlichkeit und einnehmende Herzlichkeit wird von uns Deutschen ja gerne belächelt und als fast schon naiv oder gerne auch als oberflächlich abgetan. Und tatsächlich muss in diesem Land nicht jede Einladung oder jedes Angebot wörtlich und verbindlich genommen werden, ebenso wenig, wie die Begrüßungsformel »How are you?« ernsthaft nach einer minutenlangen Darlegung der tatsächlichen Befindlichkeit verlangt. Hin und wieder mache ich mir einen Spaß daraus, beispielsweise Kassierern im Supermarkt auf diese Frage ernsthaft zu antworten, nur um in ihrem Gesicht die Verwirrung darüber zu sehen, wie denn nun mit mir und meinen Ausführungen umzugehen sei. Dennoch habe ich mich über diesen von deutscher Seite erhobenen Vorwurf immer gewundert. Uns jedenfalls war am Tage unseres Einzugs völlig egal, ob etwa die Offerte zum play date, zur Verabredung der Kinder, aufrichtig gemeint war oder nur als freundliche Floskel – sie und all die anderen herzlichen Gesten unserer neuen Nachbarn sorgten nämlich vom ersten Moment an für ein wunderbares Willkommensgefühl in unserer neuen Heimat. (Unsere Kinder gingen dann tatsächlich zum Spielen zu den Nachbarn und sind bis heute mit deren Kindern befreundet.)

In Washington, D.C., hatte ich, wie erwähnt, bereits um die Jahrtausendwende anderthalb Jahre gelebt und als Producer im ARD-Studio gearbeitet. Insofern empfand ich unsere Ankunft in vieler Hinsicht auch als Homecoming, wie ein Wandeln auf alten Pfaden im und um das Viertel Georgetown, wo sich das Studio befindet. Gleichzeitig war es auch ein ganz neues Abenteuer. Damals lebte ich als Single in einer Wohngemeinschaft, nun kehrte ich mit Familie zurück. Damals lieferte ich Korrespondenten wie Claus Kleber, Tom Buhrow, Christoph Lütgert oder Uli Adrian zu, nun war ich selbst verantwortlich für die Beiträge aus diesem riesigen Berichtsgebiet.

USA-Korrespondent war immer mein Traumjob gewesen. Aber die USA waren inzwischen nicht mehr uneingeschränkt mein Traumland – zu viel war passiert in der Zwischenzeit. Ich betrachte jene Jahre Ende der Neunziger als eine Art goldenes Zeitalter. Das mag viel mit dem nostalgischen Wohlwollen eines jeden Rückblicks zu tun haben. Doch tatsächlich erscheint mir diese Zeit als eine glückliche Ära für Amerika. Geopolitisch war das Land als einzige verbliebene Weltmacht aus dem Kalten Krieg hervorgegangen. Die neue Internet-Industrie boomte und mit ihr der Aktienmarkt. Ein Platzen der New-Economy-Blase konnte sich kaum jemand vorstellen, es ging ja immer nur weiter nach oben an der Börse. Die Flut hebt alle Schiffe, heißt es so schön, und das schien damals ganz besonders zu gelten. Sogar mein Friseur erzählte mir bei jedem Besuch, worin er gerade investiert habe und welche Aktien gerade die heißesten am Markt seien. Es herrschte so etwas wie eine neugierige Vorfreude auf das heraufziehende neue Millennium, selbst bei den Apokalyptikern, die vor den Konsequenzen des wegen der Jahrtausendwende angeblich drohenden Computerfehlers »Y2K-Bug« warnten. Flugzeuge nahm man wie Busse, man konnte nach oberflächlichen Sicherheitskontrollen selbst in letzter Minute noch zusteigen. Das Einzige, was die Nation politisch zu bewegen schien, war die Frage, ob der Präsident nun eine Affäre mit einer Praktikantin gehabt hatte oder nicht. Das Leben hätte gemütlich so weiterplätschern können.

Die verkorkste Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 mit ihrer wochenlangen Hängepartie rund um die Frage, ob denn nun Al Gore oder George W. Bush der 43. Präsident der USA werden würde, sorgte für einen ersten Dämpfer, den das Land aber rasch überwand, auch weil sich eine sehr amerikanische Sichtweise durchsetzte: Es ist egal, wie knapp jemand gewinnt, aber gewinnen muss einer. Let’s move on! – Weiter geht’s! Da sind die Amerikaner kompromisslos. Selbst im Sport gibt es das Konzept des Unentschieden kaum – die Verlängerung geht so lange weiter, bis es einen Sieger gibt. Diese an Wettkampf, Entscheidung und Klarheit orientierte Haltung zieht sich durch alle Lebensbereiche – von der Politik bis zur Freizeitgestaltung.

Deutlich schwerer lastete auf dem amerikanischen Optimismus, dass die New-Economy-Blase schließlich doch platzte. Amerikaner investieren privat deutlich mehr in Aktien als wir Deutschen. Dass zahlreiche Modelle für die Altersvorsorge hauptsächlich auf einem Portfolio basieren, bringt einen stärkeren Glauben an die Kraft der Märkte zum Ausdruck sowie die grundsätzliche amerikanische Überzeugung, dass man besser auf Chancen setzt, als sich von Risiken abschrecken zu lassen (ein weiterer Gegensatz zu uns Deutschen). Aber auch diese Talfahrt erschütterte das Land nur bedingt. Jeder weiß: What goes up, must come down – was aufsteigt, muss wieder herunterkommen. Und aus Erfahrung wissen die Amerikaner, dass sich das irgendwann auch wieder umkehrt.

Doch dann geschahen die Anschläge vom 11. September 2001 – und änderten alles. Denn sie trafen die amerikanische Gesellschaft ins Mark. Man kann die Zäsur, die diese furchtbaren Terrorakte für die USA politisch, gesellschaftlich, psychologisch, ja, in allen Lebensbereichen bedeuteten, nicht deutlich und oft genug betonen.

Mein Sender schickte mich damals mit der ersten Maschine, die in den nach den Anschlägen tagelang gesperrten nordamerikanischen Luftraum einfliegen durfte, nach Washington, um das ARD-Studio bei der umfassenden Berichterstattung über dieses Ereignis und seine Folgen zu unterstützen. Ich erinnere mich noch gut an dieses Nicht-fassen-Können der Amerikaner angesichts der Monstrosität der Anschläge. Am besten beschrieb dies der verdutzt-versteinerte Gesichtsausdruck von Präsident George W. Bush, als er minutenlang fast regungslos vor einer Grundschulklasse in Florida verharrte, während Berater ihm die ersten Details über die Attacken ins Ohr flüsterten. Das bislang weitgehend unbekannte Gefühl der Verwundbarkeit im eigenen Land führte zu den kuriosesten Reaktionen. Selbst in den entlegensten Regionen von Iowa oder Nebraska kam es zu Hamsterkäufen; Menschen deckten sich mit Gasmasken, Munition und Wasservorräten für mehrere Wochen ein, um für weitere Angriffe gerüstet zu sein. Das war absurd, doch schwankte das gesamte Land in den Tagen und Wochen nach den Anschlägen so heftig zwischen Schockstarre und Hysterie, dass nichts mehr ausgeschlossen und undenkbar erschien.

Wir hatten in den folgenden Jahren auch in Europa immer wieder furchtbare Terrorattacken, in London, Madrid oder zuletzt in Paris und Brüssel. Diese Ereignisse haben die Anschläge von New York und Washington, D.C., ein wenig aus unserem europäischen Blickfeld verdrängt. Zudem saß der Schock über 9/11 bei uns nicht genauso tief, obwohl es weitreichende Konsequenzen auch für uns hatte, beispielsweise durch den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. In den USA hingegen sind die einstürzenden Zwillingstürme von New York nach wie vor sehr präsent. Natürlich ist auch dort seitdem viel Zeit vergangen. Der Verarbeitungsprozess ist fortgeschritten – aber eben noch nicht abgeschlossen. Sogar meine Kinder wurden in ihrer amerikanischen Grundschule erstmals damit konfrontiert. Einmal kam meine ältere Tochter am 11. September mit einer Collage nach Hause, über der »Never Forgotten – September 11th, 2001« prangte sowie eine in den amerikanischen Nationalfarben von ihr ausgemalte Schleife. Darunter las man ein in der krakeligen Schrift einer Zweitklässlerin verfasstes Dankesschreiben an die mutigen Feuerwehrleute, die damals so selbstlos ihr Leben riskiert hatten (»Dear firefighters, thank you so much from (sic) saving us«). Ich wusste anfangs nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits war ich etwas befremdet darüber, dass meine Tochter persönlich dankbar sein sollte für etwas, von dem sie bis dahin noch nicht einmal gehört und das noch dazu Jahre vor ihrer eigenen Geburt stattgefunden hatte. Pathos lernt man in diesem Land eben früh. Andererseits hatte die Klassenlehrerin die Ereignisse mit ihren Schülern auch erörtert und sie nicht einfach stumpf eine Collage basteln lassen. Da die Anschläge einen derartigen Einschnitt für dieses Land bedeuteten und aus ihnen so viele Entwicklungen resultierten, die auch Kinder im Alltag mitbekommen, fand ich es nur konsequent, dass sich auch Grundschüler schon mit den Terrorattacken auseinandersetzten. Immerhin weiß meine Tochter jetzt auch, warum man sich in den USA vor jedem Flug die Schuhe ausziehen muss.

Wie sehr der 11. September 2001 einen Bruch bedeutete, spiegelt sich in vielen politischen Entscheidungen, nicht zuletzt in der Verabschiedung des umstrittenen Patriot Act, der den rabiaten Auswüchsen im Antiterrorkampf Tür und Tor öffnete – man denke nur an die Stichworte Guantánamo, Waterboarding oder NSA-Skandal. Aber die politischen Veränderungen waren nicht die einzigen Unterschiede, auf die ich bei meiner Rückkehr in die USA gespannt war. Auch die kleinen Wandlungen im Alltag, die in der Summe doch ein anderes Bild ergaben, fielen mir bald auf. Das konnten mitunter ganz banale Dinge sein, etwa, dass ich den Müll nicht mehr ungetrennt in eine Tonne werfen musste und mittlerweile die Vorkehrungen für Recycling auch zum Standard eines urbanen US-Haushalts gehören. Oder die Radwege, die sich nun durch Washington ziehen und von denen manche sogar besser und breiter sind, als ich es aus Hamburg kannte. Ein Carsharing-System sowie ein stadtweites Leihfahrrad-Netzwerk sind in Amerikas Hauptstadt inzwischen ebenfalls eine Selbstverständlichkeit – oder auch Notwendigkeit: Washington hat nach offiziellen Angaben die schlimmsten Verkehrsprobleme des ganzen Landes. Nirgendwo sonst stecken die Menschen so viel im Stau wie hier: Mit 86 Staustunden im Jahr pro Autofahrer liegen die Washingtoner um das Doppelte über dem nationalen Durchschnitt und damit noch vor den Metropolen Los Angeles und New York. Praktischerweise haben inzwischen alle öffentlichen Busse in D.C. Fahrradträger vor dem Kühlergrill, was auch weiter entfernt lebende Pendler zum Radfahren animieren soll. Überhaupt ist der Gedanke des Umweltschutzes in Zeiten des Klimawandels deutlich präsenter, als er es um die Jahrtausendwende war. Dies mag nicht für alle Regionen der USA gelten, denn es gibt weiterhin genügend Amerikaner, die den Klimawandel leugnen und als Obamas gruselige Gehirnwäsche abstempeln. Washington ist daher in diesen Dingen – wie in vielen anderen – mitnichten repräsentativ für das Land. Aber immerhin mit tonangebend.

In puncto Improvisationskunst hingegen sind sich die Amerikaner treu geblieben. Das wurde mir sogleich schlagartig bewusst, als ich zum ersten Mal in den Keller unseres neuen Zuhauses hinabstieg. Offensichtlich gilt in den USA immer noch: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade, zumindest wenn es um das Verlegen von Kabeln geht. Das unentwirrbare Geflecht von Strom- und Telefonkabeln, schnörkellos und ungeschützt an die Holzwände und Rigipsdecken getackert, würde jeden deutschen Elektro-Azubi zum Schaudern bringen. Ich war nur froh, dass meine Kinder noch nicht an die unverputzt baumelnden Stromkabel heranreichten. Andererseits konnte ich mich nicht beschweren, denn jeder Lichtschalter im Haus funktionierte so, wie er sollte, und irgendwann nahm ich das Kabelgewirr auch nicht mehr wahr. So wie es einem im Straßenbild irgendwann nicht mehr auffällt, dass die Kabelbäume und Stromtrassen sich von Haus zu Haus und von Kreuzung zu Kreuzung manchmal so sehr verknoten, dass man sich an Kalkutta erinnert fühlt. Funktioniert doch. Und wenn ein Sturm die Leitungsmasten mal wieder umreißt und Tausende Amerikaner tagelang ohne Strom und Internet ausharren müssen, dann ist das zwar ärgerlich, aber immer noch günstiger, als Millionen Kilometer Kabel in der Erde zu verbuddeln. Diese stoische Haltung gegenüber einem Baustandard, der eher einem Entwicklungsland denn einer Weltmacht entspricht, ist beneidenswert, weil sie einen die alltäglichen Mängel, die es schließlich überall gibt, gelassener ertragen lässt.

Woran ich mich allerdings wohl nie gewöhnen werde, ist der Zustand vieler Straßen. Ich meine dabei nicht irgendwelche kaum befahrenen, halb zugewucherten Landstraßen, sondern Hauptverkehrsadern wie beispielsweise Washingtons Wisconsin Avenue, die mein täglicher Radweg zur Arbeit wurde – und mich die marode Infrastruktur am eigenen Leibe spüren ließ. Es war, wie jeden Morgen mit einem Presslufthammer zu tanzen, denn die Arme vibrieren noch eine ganze Weile nach der Ankunft. Dabei sind das Schlimmste nicht einmal die Schlaglöcher, in denen ganze Kaninchensippen überwintern könnten, sondern das fast ununterbrochene Grundrauschen der Risse und Spalten im Asphalt. Kein Wunder, dass SUVs mit ihren breiten Reifen und gigantischen Federungen in den USA so beliebt sind.

Wobei meine Probleme auf dem Weg zur Arbeit absolut harmlos sind im Vergleich zu den tödlichen Folgen, welche die bröckelnde Bausubstanz gelegentlich hat. Das wurde mir besonders bewusst, als ich zum zehnten Jahrestag von Hurrikan Katrina in New Orleans im Lower Ninth Ward unterwegs war. Die Naturkatastrophe hatte das traditionsreiche schwarze Armenviertel, mehr als ein Meter unter dem Meeresspiegel gelegen, am heftigsten getroffen. Noch heute ist es kaum wiederhergestellt. Unzählige der fast 2000 Opfer kamen dort ums Leben, als unter der Last der Wassermassen mehrere Flutmauern brachen. Das US Army Corps of Engineers, das diese Mauern einst gebaut hatte, wusste, dass manche von ihnen einem größeren Sturm nicht standhalten würden, und musste das in einer anschließenden Untersuchung auch zugeben. Dabei hätten zwei Drittel der Überflutungen in der zu 80 Prozent unter Wasser gesetzten Stadt verhindert werden können, wären die Deiche und Mauern ausreichend in Schuss gewesen.

Eine bessere Überprüfung durch die Aufsichtsbehörden hätte wohl auch den Tod von 13 Menschen verhindern können, als im August 2007 eine Brücke über den Mississippi bei Minneapolis unter dem abendlichen Berufsverkehr einstürzte. Die New York Times rechnete vor, dass jedes Jahr Hunderte von Todesfällen, Krankheiten oder Verletzungen dem Verfall von Brücken, Dämmen und Straßen zuzuschreiben sind.1 Immerhin ist dies ein Missstand, den die Amerikaner nicht so ohne Weiteres hinnehmen. Aber die jahrelange Vernachlässigung, die sich jetzt rächt, lässt sich so schnell nicht aufholen, zumal Bundes- und Landesregierungen immer noch viel weniger investieren, als nötig wäre.

Was sich auch nicht geändert hatte, war, dass die amerikanische Bürokratie nach wie vor für Zugezogene allerlei Überraschungen parat hält. Dass es kein Meldewesen gibt, mag ja historische Hintergründe haben. Und dass man daher bei der Führerscheinbehörde seinen Wohnort mit einer Strom- oder Wasserrechnung nachweist, weil sich darauf die Adresse nachlesen lässt, ist ebenfalls kein neues Phänomen. Aber angesichts der Tatsache, dass der Führerschein mangels Personalausweis ein so zentrales Dokument für jeden Einwohner dieses Landes ist, geht man beim Department of Motor Vehicles in Washington, D.C., verblüffend lax damit um. Obwohl ich felsenfest überzeugt war, beim Ausfüllen des Antragsformulars alles korrekt angegeben zu haben, und auch die – allerdings nicht sehr motiviert dreinschauende – Sachbearbeiterin noch einmal einen prüfenden Blick darauf geworfen hatte, war ich auf dem ersten mir zugesandten Exemplar plötzlich eine braunäugige Frau. Was mich persönlich nicht weiter gestört hätte, aber auf langwierige Erklärungen beim Check-in am Flughafen oder bei einer Polizeikontrolle auf dem Highway hatte ich dann doch keine Lust. Auf der zweiten, »korrigierten« Fassung stand unter dem Punkt Geschlecht diesmal immerhin ein M, aber braune Augen hatte ich nach wie vor. Erst im dritten Anlauf war es dann so weit: männlich, blaue Augen. Wenigstens verliefen die Umtauschvorgänge unbürokratisch. Ein Anruf, bei dem ich nicht einmal irgendwelche persönlichen Angaben machen musste, um mich zu identifizieren, genügte – prompt kam die nächste Version per Post. Übrigens scheint das kein Einzelfall gewesen zu sein, denn meinem Kollegen Holger Stark vom Spiegel ist eine solche »Geschlechtsumwandlung« auf dem Papier ebenfalls widerfahren.

Wenn ich mich aber festlegen müsste, welche der mir aufgefallenen Veränderungen die größte darstellt, dann wäre dies wohl das Lebensgefühl der Amerikaner, ihr Selbstverständnis – die Auffassung, was für ein Land die USA sein sollen und wollen. Ich merkte ziemlich bald, dass die George-W.-Bush- und Obama-Jahre in dieser Hinsicht Spuren hinterlassen hatten. Oder vielmehr: tiefe Furchen. Nichts ist von der wuchtigen Euphorie geblieben, die den so jugendlich-dynamisch wirkenden Barack Obama einst ins Weiße Haus gespült hatte. Und der allgemeine Optimismus der neunziger Jahre kommt mir nicht nur kalendarisch gesehen wie aus einem anderen Jahrtausend vor. Stattdessen spürt man heute allenthalben Zweifel, Verunsicherung. Egal welche Umfrage man sich ansieht, ob eine von CBS News, Bloomberg oder der New York Times – auf die Frage, ob das Land in die richtige Richtung steuere oder nicht, ist die Antwort eindeutig. Nur etwa ein Drittel der Befragten ist zufrieden mit der State of the Union. Zwei Drittel dagegen empfinden die Lage der Nation und ihre Entwicklung als negativ. Zum Vergleich: 1999 waren laut PEW Research Center 70 Prozent der Befragten zuversichtlich, was die Zukunft ihres Landes betraf.2 Die heutige pessimistische Sichtweise hält sich in den Umfragen seit einigen Jahren hartnäckig auf hohem Niveau. Ein Land, gefühlt auf Abwegen, verängstigt, orientierungslos – das Selbstbewusstsein der USA hat gelitten.

Diese subjektive Sichtweise ist umso erstaunlicher, wenn man sich die wirtschaftlichen Rahmendaten anschaut. Dem Land geht es rein nach den Zahlen nämlich alles andere als schlecht. So haben die USA in jüngster Vergangenheit durch das Frackingverfahren eine Energieunabhängigkeit erlangt, von der sie lange Zeit nur träumen konnten. Der weltweit gesunkene Ölpreis macht den Unternehmen wegen des aufwendigen Förderverfahrens zwar zu schaffen, aber erstmals seit mehr als vierzig Jahren sind die USA sogar wieder Ölexporteur. Ende 2015 hob der Kongress den nach der Ölkrise 1973 verhängten Exportstopp für amerikanisches Rohöl auf. Die Spritpreise an der Tankstelle sind geradezu unverschämt tief gesunken. Davon profitiert die US-Autoindustrie, die 2015 ein Rekordjahr hatte und so viele Autos verkaufte wie seit 15 Jahren nicht mehr. Und nach wie vor kommt ein Großteil der digitalen Innovationen aus den USA. So viele Amerikaner wie nie sind krankenversichert. Im Grunde herrscht Vollbeschäftigung, denn unter Präsident Obama ist die Arbeitslosenquote auf knapp unter fünf Prozent gefallen. »Seit 2010«, verkündete Obama stolz in der State of the Union-Rede, »haben wir mehr Jobs geschaffen als Europa, Japan und jede andere entwickelte Wirtschaft zusammen.«3

Dennoch herrscht eine greifbare Zukunftsangst. Die Politikverdrossenheit, ja der Hass auf das »System« Washington, das sich lieber ideologisch blockiert, als Kompromisse zum Wohl der Bürger zu schmieden, ist gewaltig. Diese Wut ist ein Hauptgrund, warum im Präsidentschaftswahlkampf 2016 die Anti-Establishment-Kandidaten so sehr gepunktet haben. Und das auf beiden Seiten des Spektrums: Donald Trump wie auch Ted Cruz bei den Republikanern, Bernie Sanders bei den Demokraten. Es gibt in der Politikwissenschaft das schöne Bild vom Hufeisen, dessen entgegengesetzte Enden sich näher sind als die Mitte. Hier trifft dieses Bild zu: Denn die politische Mitte erntet von den erstarkten, sich in ihrer Ablehnung einigen Rändern die Früchte des Zorns. Immer mehr Menschen, die ökonomisch zur Mittelschicht zählen, fühlen sich als Verlierer, als Abgehängte, die in Zeiten der Globalisierung nicht mehr mitkommen. Trump etwa streute unaufhörlich Salz in diese vermeintliche Wunde (»Amerika gewinnt nicht mehr!«, lautete eine seiner Parolen) und begeisterte seine Anhänger, indem er mit einfachen Botschaften den starken Mann gab und großspurig versprach, Amerika wieder groß zu machen – was immer das auch heißen mag. Wie kein Zweiter hat Trump die Wählerwut geschickt angezapft und entfesselt. Und er lieferte mit nationalistischen Tönen praktischerweise die Sündenböcke gleich mit: illegale Einwanderer, China, Muslime.

Sanders wiederum wetterte ohne Unterlass gegen die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich, gegen die ungezügelten Auswüchse des amerikanischen Kapitalismus. In der Tat: Das eine Prozent der reichsten Familien Amerikas besitzt laut einer Studie der University of California mit 42 Prozent fast die Hälfte des Vermögens im Land.4 Der winzige Teil der Bevölkerung, der sowieso alles Erdenkliche besitzt, hat die Verluste der erschütternden Wirtschaftskrise von 2008 längst wieder eingefahren, während all diejenigen, die mit ihren geringen Investments viel weniger zur Schieflage am Kapitalmarkt beitrugen und nichts für diese Krise konnten, immer noch unter den Folgen leiden. Sanders traf einen Nerv, vor allem bei jungen Wählern, wenn er anprangerte, wie die Mittelschicht erodiert und immer weniger Menschen eine realistische Chance auf die Verwirklichung des amerikanischen Traums haben.

Die politischen Pole üben eine immer stärkere Sogwirkung aus und drohen die Mitte des Landes auseinanderzureißen. Das Kernwort einer jeden Demokratie – »Kompromiss« – gilt in den USA fast schon als Schimpfwort.

Bei Minderheiten, die seit jeher Grund dazu hatten, überrascht eine pessimistische Sicht auf die Zukunft weniger. Die Ausschreitungen von Afroamerikanern in Ferguson oder Baltimore haben die jahrelang aufgestaute Wut über eine Gesellschaft entfesselt, in der diese Gruppe nach wie vor benachteiligt ist. Aber erstaunlicherweise ist es vor allem das große Segment weißer Amerikaner in den mittleren Jahren, das vor Wut zu schäumen scheint. Diese zornige Ablehnung der Verhältnisse hat fatale Folgen, wie Ende 2015 eine bemerkenswerte Studie zweier renommierter Professoren der Princeton University zeigte.5 Die Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton und Anne Case haben herausgefunden, dass die Sterblichkeit unter weißen Amerikanern zwischen 45 und 55 Jahren dramatisch gestiegen ist. Bis zur Jahrtausendwende sank die Sterberate im Einklang mit vergleichbaren Industrienationen wie Großbritannien oder Deutschland stetig – aufgrund gesünderer Lebensweise, medizinischer Fortschritte, sicherer Verkehrsmittel. Doch dann fing diese Kurve bei den weißen Amerikanern mittleren Alters plötzlich an zu steigen, und das sowohl bei Männern als auch bei Frauen – allerdings mit Schwerpunkt in der unteren Mittelschicht, die überwiegend keine höheren Bildungsabschlüsse erreicht hat. Die Todesrate unter allen anderen ethnischen Gruppen wie den Schwarzen (bei denen die absolute Todesrate nach wie vor am höchsten ist), Latinos oder asiatischen Amerikanern sinkt dagegen weiter.

In keinem vergleichbaren Land der industrialisierten Welt ist ein ähnliches Muster feststellbar. Als Gründe nennt die Studie Drogenmissbrauch, Selbstmord und alkoholbedingte Gesundheitsschäden. Vor allem der Anstieg von Vergiftungen durch opioide Schmerzmittel wie Oxycodon ist erschreckend. Dieses Phänomen hat sich zu einer landesweit grassierenden Epidemie entwickelt, denn mittlerweile haben die meisten auf Überdosen zurückzuführenden Todesfälle mit Medikamenten zu tun. Ich habe im ländlichen Kentucky einen Sheriff getroffen, der kaum noch etwas anderes tut, als den illegalen Handel mit verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln zu bekämpfen. Es gibt ganze Landstriche, in denen fast jeder Haushalt auf die eine oder andere Weise von dem Problem betroffen ist. Und dieses spezielle Problem trifft Arme genauso wie Reiche, schlechter Gebildete ebenso wie Eliten.

Parallel dazu ist der Heroinkonsum rapide angestiegen, weil das Rauschgift eine fast identische Wirkung im Körper entfaltet wie die opioiden Medikamente und zudem oft leichter und billiger auf der Straße zu erwerben ist, weshalb Abhängige dann dazu greifen, nachdem der Arzt das Oxycodon-Rezept abgesetzt hat. Hinzu kommt, dass unter Amerikas Weißen auch die Zahl der Depressionen, der psychischen Störungen sowie derjenigen angestiegen ist, die sich nicht mehr imstande sehen zu arbeiten. Eine schockierende Erkenntnis.

Aber was steckt hinter dieser Selbstvergiftung, der immer häufigeren Flucht in den Rausch, dem Anstieg von Suchtkrankheiten aller Art? In einem Interview kann sich auch Professor Deaton nur bedingt einen Reim darauf machen.6 Denn wenn die Schockwellen der Finanzkrise, das Verschwinden von Industriejobs oder sonstige wirtschaftliche Faktoren eine Rolle spielen, warum schlägt sich das nicht auch im ähnlich gebeutelten Europa nieder? Die USA scheinen da auf traurige Weise einzigartig zu sein. Es könnte laut Deaton damit zu tun haben, dass Amerikas Weißen das Narrativ ihres Lebens abhandengekommen zu sein scheint. Alle Generationen vor ihnen, besonders die Baby-Boomer, hatten es jeweils besser als die Generation vor ihnen. So lautete das Versprechen des American Dream, so ist es ihnen vorgelebt und gepredigt worden: Wenn du hart arbeitest und dich an die Regeln hältst, dann wartet ein gutes Leben auf dich. Und ein noch besseres, so die bisherige Gewissheit, später auf deine Kinder.

Mit solchen Hoffnungen, Fortschrittsvorstellungen und Erwartungen ist diese Generation herangewachsen. Nur, um dann bitter enttäuscht zu werden, gerade was sichere Beschäftigung, Jobqualität und allgemeine Zukunftsaussichten angeht. Denn in der globalisierten Wirtschaft gilt die bisher für selbstverständlich gehaltene Aussicht auf ein besseres Leben für viele Amerikaner auf einmal nicht mehr, vor allem nicht für die untere, meist nichtakademische weiße Mittelschicht. Deshalb ist sie auch am wütendsten.

Der aus diesen unerwarteten Enttäuschungen resultierende Stress könnte das selbstzerstörerische Verhalten befeuert haben. Schwarze oder Latinos dagegen haben diese hohen Erwartungen nie gehabt, weil sie generell von »viel weiter unten« starten und dementsprechend weniger tief fallen. Dass Weißen also etwas passiert, was sonst nur die diskriminierten Minderheiten erleiden mussten, schürt unter ihnen eine selbstgerechte Wut. Dass ihnen ein Schicksal droht, das ihrer Meinung nach so nie »vorgesehen« war, löst Ängste aus und führt zu Hass. Die wachsende Zahl der Nichtweißen verstärkt dieses Gefühl. Bald werden Weiße nicht mehr die absolute Mehrheit im Lande stellen, sondern nur noch die relative. Die Zahl etwa der Latinos und der asiatischen Amerikaner steigt rasant, wobei Letztere die am schnellsten wachsende Minderheit stellen. Man könnte dies aus Sicht der Minderheiten »ausgleichende Gerechtigkeit« nennen. Dass die betroffenen Weißen das so nicht sehen, auch wenn sie im Vergleich und trotz allem nach wie vor privilegiert sein mögen, kann man sich denken. Leider schüren solche Einstellungen zusätzlich Ressentiments und Rassismus.

Die nackten Wirtschaftszahlen mögen folglich toll klingen, die Realität aber sieht für Teile der Bevölkerung alles andere als rosig aus. Selbst wer eine sichere Arbeit hat, kommt mit nur einem Job oft kaum über die Runden. So wie Leah Lipska in der Nähe von Madison, die jeden Morgen für ihre Anstellung im öffentlichen Dienst des Bundesstaates Wisconsin um fünf Uhr aufsteht und eine Stunde zur Arbeit fährt, während ihr Mann und die drei kleinen Kinder noch schlafen. Er bleibt zu Hause, weil das Paar sich eine Kinderbetreuung nicht leisten kann. Einen bundesgesetzlich verankerten Mutterschutz gibt es in den USA nicht, Leah hatte kaum Verschnaufpausen nach den Schwangerschaften. Sie vermarktet die Produkte, die Häftlingswerkstätten herstellen – ein Vollzeitjob, aber die umgerechnet etwas mehr als 2500 Euro Bruttoverdienst monatlich sind nicht viel für eine fünfköpfige Familie. Also parkt Leah zwei Straßen vom Büroparkplatz entfernt und läuft den restlichen Weg. Parkgebühren gehören zu den vielen Dingen, die sich die Alleinverdienerin nicht leisten kann: »Das sind zwölf Dollar pro Gehaltsscheck, die ich lieber in Milch und Brot investiere, als sie fürs Parken auszugeben.« Dabei hat Leah einen Zweitjob beim örtlichen Schulamt, um sich etwas dazuzuverdienen.

Amerikas Mittelschicht erodiert und ist vor allem deshalb gebeutelt, weil Löhne und Gehälter seit Jahrzehnten in frappierender Weise stagnieren. Das Bureau of Labor Statistics verfolgt die Entwicklung genau und rechnet vor, dass seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die siebziger Jahre hinein der Stundenlohn für Fabrikarbeiter stetig anstieg und sich in dieser Zeit verdoppelte. Aber seitdem dümpelt er bei zwanzig Dollar vor sich hin. Das sind fast vierzig Jahre Stillstand. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist seit der Wirtschaftskrise 2007/08 sogar um 9,2 Prozent gesunken (es liegt nun um 6113 Dollar im Jahr niedriger).7 Kein Wunder, dass Amerikas Arbeiterschicht wütend ist. Zudem hat auch die Kaufkraft enorm gelitten. Seit 2010 kommt der bescheidene landesweite Lohnanstieg kaum über die Inflationsrate hinaus, und wie robust der plötzlich etwas höhere Lohnanstieg 2016 von rund 2,5 Prozent langfristig ist, muss sich noch zeigen. Die Folge ist, dass Millionen Menschen wie verrückt schuften, aber auf keinen grünen Zweig kommen. Wenn also Sanders gegen einen Kapitalismus wettert, bei dem die sozial Schwachen trotz doppelter Jobs weiter in die Armut rutschen, trifft er einen wunden Nerv.

Denn gleichzeitig sind, von den Benzinpreisen abgesehen, die Lebenshaltungskosten ordentlich gestiegen. Die Lipskas beispielsweise sind trotz zweier Jobs auf Essensmarken angewiesen. Weil sie ihre Situation nicht tatenlos ertragen will, engagiert Leah sich in einer Gewerkschaft – das ist sozusagen ihr dritter Job, wenn auch ein unbezahlter. Einer der Gründe, warum in den USA viele Gehälter stagnieren, liegt darin, dass der Einfluss der Gewerkschaften seit Jahrzehnten dramatisch sinkt. In vielen US-Bundesstaaten, so auch in Wisconsin, haben konservative Regierungen Tarifverhandlungen sogar gesetzlich ausgehebelt, in der Hoffnung, die arbeitgeberfreundlichen Bedingungen würden für neue Jobs sorgen.

Ein weiteres Problem: Die Industriejobs, die früher für ein beschauliches Mittelschichtsleben ausreichten und lediglich einen High-School-Abschluss voraussetzten, gibt es heutzutage vielerorts nicht mehr. Die Automatisierung von Arbeitsprozessen hat viele Stellen überflüssig gemacht. Zudem hat sich die Produktion in einer Welt des weitgehend ungehinderten Warenverkehrs in andere Länder verlagert. Diese Verlagerung spüren wir in Deutschland auch, aber die hohe Spezialisierung deutscher Industrieunternehmen bremst sie, und unsere soziale Marktwirtschaft federt ihre Auswirkungen stärker ab. In Amerika dagegen lässt diese Entwicklung die Schere zwischen Arm und Reich noch viel stärker auseinanderklaffen und rüttelt wie kaum ein anderer Faktor am Fundament der Gesellschaft.

Und die nächste Generation Frustrierter steht schon parat. Denn früher winkte immer ein Ausweg aus prekären Verhältnissen: ein akademischer Grad. Doch die alte Gleichung »Uni-Abschluss = besseres Gehalt« geht nicht mehr automatisch auf. Zwar waren die Studiengebühren in den USA schon immer irrwitzig hoch, vor allem verglichen mit denen in Deutschland. (Meine Frau konnte nur müde lachen, als sie einmal in Hamburg an einer Großdemo vorbeikam, auf der Studierende heftig gegen die Erhöhung der Studiengebühren auf 500 Euro protestierten. Wer wie sie ein gutes Jahrzehnt gebraucht hat, um seine Uni-Kredite zurückzuzahlen, hat wenig Verständnis für die finanziellen Sorgen deutscher Nachwuchsakademiker.) Mittlerweile haben die Gebühren aber selbst für amerikanische Verhältnisse Höhen erreicht, die einfach nur sprachlos machen. Seit ich in den USA studierte, sind die Studiengebühren im Landesdurchschnitt um mehr als die Hälfte angestiegen. Was vor wenigen Jahren noch für ein Jahr an einer elitären Ivy-League-Uni reichte, genügt jetzt nicht einmal mehr für ein Semester an einer deutlich weniger renommierten Hochschule.

Ich habe Anfang 2015 einen 29-Jährigen interviewt, der einen Abschluss an der renommierten University of Chicago gemacht hat, in der Erwartung, dass ihm seine Qualifikation einen gutbezahlten Job einbringen würde. Doch alles, was Roger Ferria diese Ausbildung eingebrockt hat, war ein Schuldenberg von etwa 100 000 Dollar. Und damit hatte er noch »Glück« – manche starten mit einer noch viel höheren Last in ihr Berufsleben. Es geht um Summen, die man sonst von Hypotheken kennt, nicht aber als Bürde für Berufsanfänger. Kein Wunder, dass einem da Zweifel kommen. Auch deshalb löste ein Vorschlag des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders solche Euphorie bei Amerikas Jugend aus: Sanders wollte die Studiengebühren an öffentlichen Unis abschaffen.

Rogers Kumpel Phillipp hat erst einmal Zuflucht an der Uni gesucht und lernt bereits für den dritten Abschluss. Denn solange er eingeschrieben bleibt, muss er keine Kredite abstottern. Es ist nicht das Leben, das die beiden sich vorgestellt hatten. »Ich dachte immer, du musst bestimmte Dinge tun, um Erfolg zu haben in Amerika«, sagt Phillipp, »aber dann habe ich festgestellt, das ist egal, keinen interessiert’s, also mache ich jetzt mein eigenes Ding.« Und Roger fügt hinzu: »Ich werde wohl die nächsten dreißig Jahre meine Kredite abbezahlen. Das ist nicht fair, aber mich groß darüber aufzuregen bringt mich jetzt auch nicht weiter.«

Trotz aller Widrigkeiten – hier zeigt sich dann doch diese gewisse Unerschütterlichkeit, der ich in den USA so oft begegnet bin und mit der mich Roger und Phillipp sehr beeindruckt haben. Mund abwischen, weitermachen, sagen sie sich. Ich wäre verrückt geworden, wenn ich vor meinem ersten richtigen Job schon so in der Kreide gestanden hätte wie diese beiden. Es ist dieser standhafte amerikanische Optimismus, den ich in Deutschland häufig vermisse.

Aber auch dieser hat gewaltige Kratzer bekommen, wie die erwähnten Zahlen und Studien zeigen. Die USA waren immer ein Land im Wandel, daraus haben sie konstant Kraft gezogen. Doch in vielerlei Hinsicht stehen die USA gerade vor einer Weichenstellung wie wohl selten in ihrer Geschichte. Wir erleben ein letztes Aufbäumen der alten, von Weißen dominierten Strukturen, sagen manche. Keine Frage, das Land verändert sich: politisch, gesellschaftlich, ethnisch. Und das macht vielen Angst. Vor allem denjenigen, die meinen, am meisten zu verlieren zu haben. Dies ist der Grund, warum die Stimmung alles andere als euphorisch ist, trotz der auf dem Papier guten Wirtschaftszahlen. Der amerikanische Traum verspricht zwar jedem: Solange du dich anstrengst, kannst du es hier schaffen. doch so wie es für viele aussieht, wird es immer schwerer, aus diesem Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Messias ohne Wundertaten?
Die Ära Obama

»Willst du den Charakter eines Menschen
kennenlernen, so gib ihm Macht.
«

Abraham Lincoln

Es gibt Nachrichten und Ereignisse von solcher Wucht oder historischen Bedeutung, dass man nie vergessen wird, wo man sich gerade befand, als man davon hörte oder sah. Der Fall der Berliner Mauer etwa. Oder der 11. September 2001. Für mich persönlich gehört auch die Wahl von Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der USA dazu (wobei ja nur sein Vater aus Kenia stammte, während seine US-amerikanische Mutter, die ihn maßgeblich prägte, hätte weißer kaum sein können – aber das übersehen auch die Amerikaner regelmäßig).

Ich hatte den 4. November 2008 im ländlichen Virginia verbracht, in einem Kaff namens Culpeper, um eine Reportage für die Wahlberichterstattung in der ARD zu drehen. Den Wahltag über hatte ich einen knorrigen Republikaner begleitet, der in einer alten Scheune eine kleine, malerische Schnapsbrennerei betrieb, die aus einer Jack-Daniel’s-Werbung hätte stammen können. Da der streng konservative alte Herr aber selbst für eine so bedeutsame Wahl nicht seine Gewohnheiten zu ändern gedachte und wie üblich früh zu Bett ging, ohne das Wahlergebnis abzuwarten, verfolgte ich die eintrudelnden Hochrechnungen auf einer Wahlparty seines Sohnes. Und ich werde den Moment nie vergessen, als der junge Senator aus Illinois im Grant Park von Chicago, begleitet von seiner Familie, am späten Abend vor die jubelnde Menge trat, der – wie Millionen vor den Fernsehern – bewusst wurde, dass sie gerade etwas Historisches miterlebten. »An alle, die immer noch daran zweifeln, dass Amerika ein Ort ist, an dem alles möglich ist, die sich immer noch fragen, ob der Traum unserer Gründer noch lebendig ist in unserer Zeit, die immer noch die Kraft unserer Demokratie in Frage stellen – heute Abend habt ihr Eure Antwort bekommen«, begrüßte Obama seine Wähler. In der Menge stand auch der schwarze Bürgerrechtler Jesse Jackson, der als junger Mann noch ein nach Hautfarbe getrenntes Amerika erlebt und bekämpft hatte. Ihm liefen die Tränen herunter. Wie er hatten viele Schwarze Amerikas von diesem Augenblick kaum zu träumen gewagt. Ein wirklich bewegender Moment. »Unser Moment!«, rief der Wahlsieger der Nation zu. »Solange wir atmen, können wir hoffen. Und wenn wir mit Zynismus und Zweifel konfrontiert werden von denjenigen, die sagen, wir schaffen das nicht, dann werden wir ihnen das zeitlose Credo entgegenschleudern, das den Geist unser Nation zusammenfasst: Ja, wir schaffen das! Yes, we can!«

Ich schaute mich um. Selbst in diesem Republikaner-Nest in Virginia nickten sie anerkennend. Währenddessen kamen vor dem Weißen Haus in Washington spontan Hunderte begeisterte Anhänger zusammen und skandierten »USA! USA!«.

Obamas Wahl war nicht bloß eine Abstimmung, sie war Kulminationspunkt einer Bewegung, getragen von der leidenschaftlichen Begeisterung der Minderheiten, von auffallend vielen jugendlichen Wählern, einem beispiellosen Internet-Wahlkampf – und auch einer überzeugenden Mehrheit. Seit Lyndon B. Johnsons Sieg in der noch vom Kennedy-Attentat geprägten Wahl 1964 hatte kein Demokrat mehr so viele Wählerstimmen gewinnen können wie Obama. Auch weltweit schlugen ihm nach der Durststrecke der Bush-Jahre die Sympathien entgegen. Besonders wir Deutschen waren geradezu verliebt in den coolen, schwungvollen Hoffnungsträger. Das zeigte sich eindrucksvoll, als im vorangegangenen Juli mehr als 200 000 Menschen gekommen waren, um Obama vor der Siegessäule in Berlin reden zu hören. Barack Obama Superstar! Geradezu messianisch waren die an ihn geknüpften Hoffnungen und Erwartungen. Der Wahlabend war folgerichtig einer jener Momente, in denen man das Gefühl bekommt, dass alles möglich ist.

Aber wie das so ist mit euphorischen Gefühlen: Sie sind trügerisch. Wie sich herausstellte, konnte Barack Obama doch nicht übers Wasser gehen. Nach dem Anfangszauber entpuppte sich Amerikas 44. Präsident als fähiger, aber eben auch in den Realitäten seines Landes und der Welt gefangener Politiker. Die erste Gelegenheit, bei der offensichtlich wurde, dass die Welle der Begeisterung wohl zu hoch geschwappt war, kam, als das Nobelpreiskomitee Obama, kaum ein Jahr im Amt, den Friedensnobelpreis zusprach. Das waren dann doch arg viele Vorschusslorbeeren, dachten nicht nur politische Gegner. In gewisser Weise kam der Preis Obama aber auch entgegen, denn danach begann man, seine Amtsführung realistischer zu beurteilen.