Renate Krüger
Nürnberger Tand
Historia eines Narren, eines Stummen und dreier gottloser Maler
ISBN 978-3-86394-326-4 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes aus der Schedelschen Weltchronik von 1493
Das Buch erschien erstmals 1974 im Union Verlag Berlin.
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GRAUWEISS LEGT SICH DER HIMMEL ÜBER DIE Puszta. Wieso grauweiß? Der Himmel ist doch blau, das weiß jedes Kind. Aber in dieser Steppe würde jedes Kind andere Erfahrungen machen. Gibt es hier überhaupt blaue Farben? Doch ja, manche Blumen sind blau, aber nur manchmal, nur dann, wenn sie nicht gerade vertrocknet oder von einer dicken Staubschicht überzogen sind. Jetzt, unter dem bleiernen Augusthimmel, sind alle Farben mit Grauweiß vermischt, wer hat das gemacht? Das Gras ist längst nicht mehr grün, die Sonne hat es verbrannt. Es müsste braun sein, aber es ist nicht braun. Seine Farbe kann man gar nicht beschreiben. Jedenfalls ist es tot, und mehr kann man darüber nicht sagen.
Später, im September, nach der großen weißgrauen Hitze, wird es vielleicht wieder andere Farbtöne geben. Der Kreis wird sich erneut runden. Dieses unheilvolle Jahr 1514 wird kleiner und kleiner werden und endlich im Nebel verschwinden. Vielleicht sind einige Inseln in diesem Meer von Staub und Tod übrig geblieben, Inseln, auf die sich einige Ertrinkende retten konnten. Vielleicht wird man auf diesen Inseln den Tod vergessen. Man wird wieder anfangen, zuerst wohl so wie ein hölzernes rumpelndes Räderwerk. Danach vielleicht mit einem Blitzen in den Augen und einem ungeduldigen Kribbeln in den Händen, die sich nach einem langen lähmenden Winter nun endlich wieder regen wollen. Fest umgreifen sie den Werkzeugstiel. Tief dringt die Hacke in den braunen Boden, er ist nicht mehr gefroren. Weich ist er und nass und braun und fett. Mit voller Wucht trennt die Axt die morschen Bäume von ihrer Wurzel. Weg mit ihnen, ehe die volle Lebenskraft in Äste und Zweige steigt und doch keine Blüten und Früchte hervorbringen kann! Diese Kraft soll sich nicht vergeblich entfalten. Man muss sparsam mit ihr umgehen. Zuviel an Lebenskraft ist zerronnen, vernichtet, vergeudet, zerstört ... Geduldig warten die Ackergeräte. Neue Zähne hat der Rechen. Das große Hackmesser ist vom Rost befreit. Sense und Sichel haben geschärfte Schneiden. Das Blut ist getrocknet. Man hat die braunen Flecken abgewischt. Sogar ein Pflug ist noch da, der die Erde aufreißen kann, auch diese tote weißgraue Steppenerde.
Auf dieser weißgrauen Erde liegt ein bestaubter Körper. Ein Mensch. Ein Mann. Er heißt Bálint, aber das wird vielleicht nie jemand erfahren. Eigentlich könnte man sagen: er hieß Bálint; seine Vergangenheit trug diesen Namen. Seine Gegenwart ist namenlos, und die Zukunft wird ihm einen anderen Namen geben. Aber immerhin - er hat eine Zukunft. In seiner Vergangenheit hat auch er die Erde aufgegraben und Bäume gefällt, Sensen und Sicheln geschliffen und neue Zähne in den Rechen eingesetzt. Der Bauer Vörös Mihály war stolz auf seinen nunmehr neunzehnjährigen Sohn gewesen. Bálint verstand sich auch darauf, ein kleines Boot aus einem Baumstamm auszuhauen und einen Zaun aus Weidenruten zu flechten. Er konnte einen Hammel schlachten und, wenn man es so weit brachte, auch eine Kuh. Bei der Jagd war er unentbehrlich. Er verstand es, die Schnepfen und Reiher mit seiner Blechscheibe so geschickt aufzuscheuchen, dass der gnädige Herr sie unmöglich verfehlen konnte.
Du bist ein tüchtiger Kerl, Bálint ...
Ja, er hatte sogar einen Namen beim gnädigen Herrn. Elf oder zwölf Jahre alt mochte er wohl gewesen sein, also fast schon erwachsen.
Du bist ein tüchtiger Kerl, Bálint ...
Das ganze Dorf hatte darüber gesprochen.
Einem tüchtigen Kerl gebührt eine goldene Zukunft, in der er die Früchte in reicher Fülle auch ernten darf, deren unscheinbare Samenkörner er hinter Pflug und Egge der braunen Erde anvertraut hat. Einem tüchtigen Kerl gebührt ein eigenes Haus, davor ein rund gemauerter Backofen, aus dem die Frau die duftenden Brote ziehen kann wie Schätze aus einer verborgenen Höhle. Ihm kommt ein Weinberg zu, von einem geflochtenen Zaun umgeben, der unerwünschten Kreaturen den Zutritt verwehrt. Wie gut, dass er ein tüchtiger Kerl war.
Aber nun war er müde und matt und so benommen, dass er nicht denken, sich nicht bewegen konnte.
Steif und schwer lag er auf der Erde, als hätte man ihn von einem hohen Turm herabgeworfen. Arme und Beine waren so liegen geblieben, wie sie zu Boden gefallen waren. Sie hatten so viel Gewicht, dass die verbrannte Erdkruste zu dünn schien, um sie tragen zu können. Es kam dem Bauernburschen Bálint so vor, als hätte er den Sturzweg erst zur Hälfte zurückgelegt, als müsste er noch tiefer eindringen in diesen weißgrauen Staub, als müsste er darin untergehen wie ein Weizenkorn.
Aber ist es möglich, dass aus dieser toten Erde je wieder neues Leben hervorbrechen wird?
Sie alle hier sind von schlechten Ackersleuten ausgesät, hingestreut auf einen unbestellten Acker. Welch ein Wahnsinn! Sie sind nur Fraß für die Vögel. Wann werden sie kommen? Noch haben sie die Beute nicht erspäht, oder es ist selbst ihnen dieses Land zu unwirtlich. Auch Vögel lieben bunte Farben.
Bálint öffnet mühsam die Augen, um nach den Vögeln auszuschauen. Leer ist der Himmel. Bálint sieht in die Ferne. Der Horizont ist keine verschwommene Linie, sondern eine Brücke in neue Fernen, in denen Tausende von Vögeln leben. Nicht die schwarzen Aasvögel, die den Himmel verdunkeln, wenn sie in der Luft verharren und mit ihren durchdringenden Augen nach Beute spähen. Nein, dort in der Ferne gibt es noch die kleinen frohen Farbflecken, die leben und sich bewegen, auch auf kahlen Bäumen und im Schnee, die kleinen bunten Vögel, die vielen Familien der Meisen und Finken und Rotkehlchen. Schon ihre Namen zaubern ein Lächeln auf das Antlitz des Alltags. Bunt sind die Vögel, bunt wie der türkische Teppich, den Bálint im Zelt des Feldhauptmanns gesehen hat.
Bálint meint aus der Ferne riesige Farbflächen auf sich zuströmen zu sehen. Ist es ein Heer von winzigen Vögeln? Ein unbeschreiblich großer türkischer Teppich? Oder gar das türkische Heer? Nun, dann kann diese sinnlose Saat völlig zerstört werden, dann wird man sie in den verkrusteten Boden einstampfen, tief, immer tiefer ... Die Farben wachsen und wechseln. Bald schiebt sich das aufdringliche Gelb in den Vordergrund, bald leuchtet allein das satte volle Rot. Bald spannt sich eine blaue Wand auf, als wolle sie den weißgrauen Himmel trösten. Nun schieben sich grüne Streifen dazwischen, gleich wieder verdrängt von kaltem Weiß. Bálint schließt die Augen, aber auch so kann er sich gegen das Gaukelspiel der Farben nicht wehren. Sie sind ja nicht in der Ferne, sondern in ihm selbst. Sind es die Schmerzen, die in seinem hingestreckten Körper wühlen? Plötzlich wird es ihm wieder bewusst, dass er Schmerzen leidet, nein, dass er selbst ein einziger großer schreiender Schmerz ist. Er schreit, und es löst sich doch kein Ton von seinen Lippen. Das Schreien rieselt in das Innere des Mannes zurück, verdichtet und verhärtet sich dort, legt sich um Herz und Lungen wie ein Panzerkleid. Und nichts dringt hindurch, nicht nach innen und nicht nach außen. Oder fast nichts ...
Irgendwo spürt Bálint einen Druck. Dieses Gefühl breitet sich auf seiner linken Seite aus und stellt eine Verbindung her zu der Erde, auf die Bálint fiel. Vielleicht sogar eine Verbindung zu dem Leben, aus dem er kam? Nach vielen Stunden bewegt er wieder seine Finger, den Daumen, den Zeigefinger, versucht, die linke Hand im Gelenk zu drehen, es gelingt. Er hebt den Unterarm, und langsam, ganz langsam tastet er sich an die Druckstelle heran. Seine Linke greift an die Hosentasche, es ist etwas Langes, Hartes darin. Einzelne Gedankenfetzen tauchen in seinem Gedächtnisfeld auf, wie kleine dünne Dunstschwaden, die danach trachten, sich zu einer großen Wolke zu vereinen. Es ist so etwas wie ein Rohr, das ihn drückt, ein durchlöchertes Rohr. In seine Gedankenfetzen strömen Bilder ein, angenehme Bilder, viel Blau und Grün.
Es ist noch vor der sengenden Sommerglut. Die Wiesen sind noch saftiggrün. Der Himmel ist noch nicht von der weißlichen Auszehrung befallen. Jeder leise Windhauch bringt den Duft von Kräutern heran. Still und gleichmütig fressen die Kühe das saftige Grün in sich hinein. Sie brauchen nur selten ihren Standort zu wechseln, es ist genug da. Keine Kuh geht hungrig oder neugierig auf die Suche nach besseren Futterstellen. Besseres gibt es nicht. Doni, der gelblich weiße Hund, hat nichts zu tun. Es stört ihn nicht, dass ihm die Haare tief in die Augen hängen, dass er fast nichts sehen kann. Er hat den Kopf auf die Pfoten gelegt und dämmert vor sich hin, lauscht den Tönen, die der Hirte aus seiner Flöte herauslockt. Und sie lassen sich locken, fallen in langen Ketten auf den Boden ringsum. Wohin mit all dem Überfluss? Sie schnellen in spitzen Sprüngen nach oben, drehen sich zu verschnörkelten Schleifen, klettern in sanften Rundungen wieder herunter. Manche Wendungen sind neu, und Doni spitzt die Ohren. Dann sinken die Töne langsam und schwermütig in die Tiefe. Doni wird traurig. Er hebt den Kopf und lässt ein leises Winseln hören.
Bálint weiß jetzt, was in seiner Hosentasche steckt: es ist seine Flöte. Natürlich, ein Rohr mit Löchern. Es lässt sich ziemlich leicht herausziehen. Bálint fühlt das Glatte, Runde in seiner Hand. Es ist so gut, das zu fühlen. Er streckt den Arm wieder aus, und die Flöte bleibt in seiner Hand. Er möchte gern wieder die Augen öffnen und versuchen, einen Blick auf die Flöte zu werfen, aber er fürchtet, er könnte dabei auch die schwarzen Aasvögel sehen - irgendwann müssen sie ja kommen ... Er öffnet die Augen dennoch und sieht in den leeren weißen Himmel. Dann sieht er nach links, und nun hat er sie nicht nur in der Hand, sondern auch im Blick, seine Flöte ... Er hätte lächeln mögen, aber sein Blick gleitet über die Flöte hinaus in die Ferne und fängt ein Bild ein, das ihn die Flöte sogleich wieder vergessen lässt. Sie kommen ... Wer? Das ist ja ganz gleich, entweder die Herren oder die Türken. Dieses Bild muss wahr sein, denn es dringt sogar durch den Panzer der Schmerzen und setzt sein Gedächtnis in Bewegung. Es beginnt sich zu drehen, Bálint weiß plötzlich wieder etwas. Er weiß, dass der Wagenzug dort in der Ferne - und so fern ist er nicht einmal - auf ihn zukommt, und er weiß, dass er nicht aufstehen und fliehen kann.
Narren, Narreteien, Narrenkappen ... Die ganze Welt ist ein Narrenhaus. Und ich bin der Narrennachrichter, trage die Kunde von allen diesen Narrheiten von einem Narren zum anderen. Und sollte der eine gar unter dem Bett des großmächtigen Kaisers Maximilian sitzen und der andere bei den gottlosen Türken. Jetzt aber will ich den zukünftigen Lesern der edlen Narrenzunft erst einmal sagen, wo ich selber sitze und so durchgeschüttelt werde, dass meine Gedärme ihren Weg fast nicht mehr wissen: auf einem Nürnberger Rumpelwagen. Diese über eierförmige Räder gelegten Bretter hier gehören meinem Vater, und der ist nicht etwa ein Narr wie ich, sondern ein Nürnberger Goldschmied und Handelsherr. Er könnte ein Nürnberger Fugger sein, wenn er nicht eine gar so schwere Zunge hätte, von der die Worte so langsam tropfen, dass der andere seinen Sack nicht lange darunterhalten mag und seine Geschäfte woanders erledigt.
O Fortuna ...! Das, was sie meinem Vater verweigerte, gab sie mir im Übermaß. Von meiner Zunge ergießt sich der Sturzregen in solcher Fülle, dass die aufgehaltenen Säcke im Nu überfließen, und die Narren, die sie in den allzu gierigen Händen hielten, sind sogleich wie betrunken. Aber es kommt auf das gleiche hinaus: auch sie erledigen ihre Geschäfte lieber woanders und mit anderen.
Da mir nun in den ehrbaren Kreisen meines Vaters Gefäße fehlen, in die ich mich ergießen kann, habe ich mich auf den Stand der Schreiber, Narren und Dichter herabfallen lassen. Ich schreibe auf, was mir vor die Augen kommt, ich schreibe auch auf, was mir nicht vor die Augen kommt, wie es einem Narren und Dichter gebührt. Als Schreiber stehe ich nicht hoch im Kurs. Man glaubt mir nicht so recht. Als Narr ernte ich meine höchsten Zinsen, obwohl ich manchmal Schläge davontragen muss. Von meiner Rolle als Dichter weiß niemand etwas. Das ist gut so. Wüssten sie es, würden sie mich noch in ihre Meistersingerschule zerren, und dort wäre ich - weiß Gott! - fehl am Platz.
Hier aber fühle ich mich ganz wohl, obgleich ich auf meines Vaters schlechtestem Fahrzeug sitze, das mit seinem Rumpelpumpel alle meine guten und schlechten Säfte miteinander vermengt, und mein Inneres erscheint mir wie ein Hexenbräu, das tagelang geschüttelt werden muss, ehe es die erwünschte Wirkung zeigt. Aber das ist dann auch eine Wirkung! Niemand kann sich davon ein Bild machen, nicht einmal unser hochgefeierter und hoch bezahlter Stadtobermaler Albrecht Dürer, der mich wegen meiner losen Reden aus seinem Haus geworfen hat, das nicht einmal so groß ist wie das meines Vaters. Dabei wollte ich ihm doch nur wohlwollend erklären, dass seine nackten Frauengestalten durchaus nicht die ideale Form haben ... Der Arme! Woher soll er es denn wissen? Von seiner vertrockneten Agnes vielleicht? Von der bestimmt nicht! Eher schon von seinem Freund Willibald Pirckheimer. Der hat Erfahrung, gewiss mehr als ich, der ich doch noch immer unter der Aufsicht meines schweigsamen, aber strengen Herrn Vaters stehe. So streng, dass er es nach jenem Hinauswurf für angebracht hielt, mich für einige Zeit aus der schönen bunten Stadt Nürnberg zu entfernen. Er fürchtet für seinen stillen Namen, der Arme. Und ich kann nur voller Mitleid meine scheckige Narrenkappe darüber schütteln, dass er einen so ungeratenen Sohn hat. Der redet zu viel. Der redet viel zu viel. Er liebt den Wein, die Würfel und das Geld. Er liebt auch die Frauen, sogar die in den gelben Kleidern, pfui, wie kann man nur! Und er will überhaupt nicht arbeiten. Ehe er mir hier noch einen Skandal macht - ab mit ihm zu den gottlosen Türken! Die werden ihn vielleicht zur Vernunft bringen.
Mein ehrenwerter Vater tat sich also mit anderen Nürnberger Handelsherren zusammen, wie das denn so üblich ist.
Sie beluden ihre Wagen mit dem üblichen Nürnberger Tand und auch mit ihren handfesten und zuverlässigen Knechten, denen man die Waffen und das Geld anvertrauen konnte. Auch allerhand leichtfertiges und unzuverlässiges Volk schloss sich an, so der ehrbare Tagedieb und Gauner Kaspar und ich, der Narr mit dem völlig unpassenden Namen Hieronymus.
Nürnberger Tand - wandert durch alle Land ...
Hieronymus - der heilige Name ... Ich muss lachen, wenn ich das so vor mir geschrieben sehe. Hieronymus nannten sie mich wohl nur, um dem berühmten Hieronymus Holzschuber zu gefallen. Nun sehen sie, was sie an mir haben - jedenfalls nichts von einem Heiligen.
Manchmal, wenn mir niemand mehr zuhören wollte, bin ich in unseren Turm gegangen. Unser Haus ist nämlich an einen alten Turm angebaut. Dort habe ich mir selbst Geschichten erzählt. Rund ist der Turm. Ich liege rücklings in seiner Mitte und fühle mich als Mittelpunkt der Welt. Diese Welt schildere ich so, wie ich sie nun einmal sehe, als ein einziges großes Narrenhaus. Da ich aber kein Maler bin - eigentlich schade! -, schildere ich sie nicht mit dem Grabstichel, dem Silberstift oder gar mit dem Pinsel, sondern nur mit Worten. Doch es blieb nicht nur beim Erzählen. Irgendwohin muss die angestaute Flut abfließen, sonst gibt es eine Überschwemmung, und ich ersaufe dabei. Und das wäre schade. Ich begann zu schreiben. Eine Weltchronik. Nicht eine solche, wie Schedel geschrieben hat, fromme Betrachtungen über die Geschichten und Geschehnisse in der Welt seit der Erschaffung Adams bis zum heutigen Tag. Das ist doch nur eine Art Bibel mit Anhang und hübschen Bildchen darin, etwas für die züchtigen Söhne und Töchter aus den Patrizierhäusern. Eine höhere Art von Nürnberger Tand.
Ich will eine andere Weltchronik schreiben, will beschreiben, wie es zugeht in diesem Narrenhaus, das wir Welt nennen. Und nun, da mein Vater mich mit strafenden Worten aus Nürnberg verbannt und mir damit einen großen Gefallen getan hat, will ich ernsthaft damit beginnen. Ich soll ja wirklich einen Bericht schreiben über diese Reise, mit der zugleich Leute gestraft, Gelder verdient, himmlische Verdienste erworben und Nürnberger Tändlerwaren in die Welt verstreut werden sollen. Doch ich sehe schon: es wird nichts mit einem Bericht, der in die Archivschränke der ehrsamen Nürnberger Kaufmannschaft eingehen könnte. Ich kann Nürnberg keine Lobhudelei zu Füßen legen. Aus meinem Schreibstift fließen Bericht und Narrenrede, Ereignis und Gedanke, und sie werden sich nicht interessieren für Narrenreden und Gedanken, ganz gewiss nicht. Später werde ich mich in meinen Nürnberger Turm setzen und aus allen diesen losen Seiten einen Bericht zusammenstellen, der keinen Anstoß erregt.
An welcher Stelle hatte ich mit meinem Bericht begonnen? Ach ja, ich sitze auf einem Nürnberger Rumpelwagen. Ich muss froh darüber sein, dass es ein Planwagen ist, dass ich wenigstens so etwas wie ein Dach über dem Kopf habe und mir diese feindselige Feuerkugel, die wir daheim Sonne nennen, nicht direkt auf den Schädel brennt. Übrigens bin ich nicht allein auf diesem Wagen. Hinter mir auf dem Stroh liegt ein Mann, dem ich so viel erzählen kann, wie ich weiß oder möchte: er versteht sowieso nichts. Er reagiert nicht auf meine Reden, denn er ist schwer krank, und immer, wenn ich mich nach ihm umdrehe, muss ich mich überzeugen, ob er noch lebt. Denn einen Toten auf diesem schrecklichen Wagen - nein - das möchte ich nicht ... Es wäre schade um den jungen Mann, ebenso schade, wie es um mich wäre, wenn ich hier jetzt plötzlich irgendwo ins Gras beißen müsste. Es würde mir nicht schmecken, dieses graubraune verbrannte Zeug. Die anderen, die um ihn herum lagen, hatten diesen unangenehmen Geschmack schon hinter sich gebracht. Dieser hier hat sich lange genug gewehrt, so lange, bis wir kamen. Er ist wohl ebenso alt wie ich, vielleicht sogar etwas jünger? Höchstens neunzehn. Man hat ihn schrecklich zugerichtet und entstellt, aber es muss ein hübscher Mensch sein. Er erinnert mich an unseren eitlen Stadtmaler Albrecht Dürer. Nun ja, es gehen Gerüchte, dass auch dessen Vorfahren aus dieser gottverlassenen Gegend hier gekommen sein sollen. Kein Wunder, dass sie dieses schreckliche Land verließen und sich in unserer schönen Stadt Nürnberg niederließen. .
Einen Bericht soll ich schreiben ... Und dabei fange ich immer von anderen Dingen an. Aber kann man es mir verargen? Ich kann die Dinge nicht packen. Ich weiß so wenig. Was weiß ich von diesem stöhnenden Mann hinter mir? Nichts. Wir fanden ihn halb tot in der Steppe. Er kann nicht sprechen, er hat keine Zunge mehr. Man hat ihn verstümmelt. Wer? Und wer hat die anderen getötet? Die Antwort liegt doch ganz klar auf der Hand. Jedenfalls sagen das die klugen Leute aus den anderen Wagen. Die Türken natürlich. Der Türke - das ist der Teufel höchstpersönlich. Beide fangen mit dem Buchstaben T an. Der Teufel ... Man ist daran gewöhnt, für jede Schwierigkeit, für jeden Misserfolg, für jedes eigene Versagen den Teufel verantwortlich zu machen.
Gehen die Pferde durch - dann hat sie eben der Teufel geritten.
Verliert einer seinen Geldbeutel - dann hat der Teufel ihn abgeschnitten.
Wird einer beim Lügen ertappt - dann saß eben gerade der Teufel auf seiner Zunge.
Was soll man gegen den Teufel tun?
Hier ist es der Türke. Was soll man gegen den Türken tun?
Aber - der Türke ist ebenso unsichtbar wie der Teufel. Während der ganzen langen Fahrt durch das Ungarland habe ich nicht einen einzigen Türken gesehen. Darüber wird mein Herr Vater mitsamt der Nürnberger Kaufmannschaft sehr betrübt sein. Denn man hat uns ja auch darum auf die Reise geschickt, damit wir mit den gottlosen Türken verhandeln. Es wäre den Türken so gut bekommen! Wir hätten sie dadurch bekehrt. Denn wenn man mit Gottlosen erst einmal Handel treibt, dann sind sie nicht mehr gottlos, jedenfalls spricht man nicht mehr davon. Mit Nürnberger Tand, mit Seide, Wein und Geld kann man eine Menge Gottlosigkeit entfernen. Deshalb wohl werden die Kaufleute von den Priestern so hoch geachtet. Aber ich schweife schon wieder ab. Es liegt gewiss an dieser endlosen Steppe, durch die wir hier fahren, nachdem wir nirgends einen Turban, einen Halbmond oder gar einen Harem gesehen haben. Nicht einmal einen Harem ... Können diese teuflischen Türken sich unsichtbar machen? Sich wie Geister und Dämonen auf die Menschen stürzen, sie verstümmeln und töten und dann wieder davonreiten, ungesehen, ungehört, ohne Spuren?
Furchtbar war es, als wir an das Totenfeld herankamen. Einen solchen Anblick hatte ich bisher noch nicht gehabt. Ich habe zwar schon gesehen, wie ein Dieb gehängt wurde, und ich bin auch dabeigeblieben, als man einen Mörder auf das Rad flocht. Aber diese kleinen Begebenheiten kann man mit solchem Massentod nicht vergleichen, und ich will es gar nicht versuchen. Ich könnte nicht einmal mehr sagen, wie viele Leichen dort lagen. Waren es dreihundert? Oder fünfhundert? Ich will auch nicht beschreiben, wie sie aussahen.
Kaspar entdeckte als erster, dass noch einer lebte. Ich kann den Verdacht nicht loswerden, dass Kaspar auf Schatzsuche gegangen war. Er ist nämlich ein hartgesottener Bursche. Auch für ihn ist diese Reise eine vorübergehende Verbannung, obgleich sie in der Öffentlichkeit als eine Pilgerfahrt zur Sühnung großer Sünden ausgegeben wurde ... Ich war oft genug Zeuge, wie diese Sühne aussah. An jedem Wallfahrtsort - und wir kamen durch viele - wurde Kaspar zu einem reuigen Sünder, fastete, beichtete, geißelte sich ein wenig, stiftete eine Kerze und kaufte sich Ablassbriefe. Manchmal handelte er sich auch Reliquien ein, aber nur, um sie bei passender Gelegenheit mit Gewinn weiterzuverkaufen. Einmal erkaufte er sich mit einer Reliquie eine Frau. Solch ein Bursche ist Kaspar. Im Vergleich zu ihm bin ich harmlos.
Also Kaspar merkte, dass der Mann noch lebte, dass er seine Augäpfel bewegte, atmete, eine Flöte in der Hand hielt. Kaspar redete in seiner lauten Art auf ihn ein, aber der Mann reagierte überhaupt nicht. Wie sollte er auch! Wahrscheinlich verstand er kein Wort, und außerdem fehlte ihm ja die Zunge, wie auch unser Wundarzt schließlich feststellte. Ich hatte es zwar auch schon gesagt, aber mir glaubte man nicht. „Er fällt uns wenigstens nicht mit Schwatzen zur Last“, sagte ich.
„Das sagst ausgerechnet du?“, spottete der Wundarzt. „Einen zweiten von deiner Art könnte niemand vertragen ... Übrigens, was soll das heißen? Willst du diesen Menschen etwa mitnehmen?“
„Natürlich“, sagte ich. „Dann habe ich wenigstens jemandem, dem ich etwas erzählen kann und der sich nicht darüber beklagt.“
„Aber das ist unmöglich!“, mischte sich Kaspar ein. „Der Mann wäre eine Last für uns. Es reicht ja kaum für uns selbst ... Hier scheint ja wohl irgendein Krieg oder ein Aufruhr zu herrschen. Brot ist knapp und sogar Wasser ... Vom Wein ganz zu schweigen!“
„Ist dir der Wein ausgegangen? Ich kann dir helfen. Sieh einmal genau unter dem Stroh deines Wagens nach. Links hinten. Hast du diesen Wein auch für Ablassbriefe oder Reliquien gekauft?
Der Mann hier kommt mit. Und er fährt auf meinem Wagen. Lebensmittel bekommt er von mir. Stirbt er unterwegs, sind wir ihn los. Kommt er durch, hat er Glück gehabt.“
So sprach ich. Alle murrten. Auch der Wundarzt. Er sah wohl mit Unbehagen die viele Arbeit. Aber vielleicht kommt er glimpflich davon. Der Mann sieht wirklich sehr schwach aus. Ich habe ihm schon viel erzählt, um ihn am Sterben zu hindern, so wie man einen am Einschlafen hindern kann. Er versteht zwar nichts davon, aber vielleicht hält ihn das Geräusch am Leben. Es wird langsam finster. Wir müssen uns auf die Nacht einrichten.
Noch immer peitschte das Fieber den entkräfteten Körper des jungen Mannes, der Bálint hieß. Der Wagen rumpelte. Bálints Kopf wurde hin und her geworfen, geschüttelt, als müsse er in immer neuen Wiederholungen NEIN sagen.
NEIN zu den schneidenden, stechenden, bohrenden, zerrenden, nagenden, drückenden, würgenden Schmerzen. In allen Gliedern hatten sie sich festgesetzt wie lästiges Ungeziefer. Ihr Hauptlager aber hatten sie im Kopf errichtet. Dort schlugen sie mit eisernen Hämmern, dort folterten sie mit stählernen Zwingen. NEIN zu den Menschen, die ihm diese Schmerzen und den anderen Tod zugefügt hatten. Unempfindlich waren sie für jedes Mitleid, dazu verängstigt und voll blinden Gehorsams, denn töteten sie nicht, würden sie selbst getötet. Niemanden gab es, der nicht lieber tötete als getötet wurde ...
NEIN zu den grausamen Reden, die sie während ihres blutigen Geschäftes führten. Hatte er sie denn verstanden? Ja, Wort für Wort. Sie sprachen ja seine Sprache, sie sprachen ungarisch.
NEIN auch zu dieser Gemeinsamkeit der Sprache.
NEIN auch zu allem Fremden, das ihn jetzt umgab. Fremd die Gesichter. Er konnte sie ohnehin nicht unterscheiden mit seinen entzündeten Augen. Fremd die Gerüche, die Kleider, die Worte. Ein aufgeregtes Geschrei, das auf ihn niederprasselte wie Hagelschlag. Manchmal hielt er die Hand schützend vor die Augen, als könne er sich dahinter vor dieser Sprache verstecken.
NEIN auch zu diesem rumpelnden Gefährt.
NEIN zu dem bitteren Durst, der ihn quälte.
Nur dem jungen Mann, der ihm geduldig das Wasser einflößte, vermochte er keines seiner stummen NEIN ins Gesicht zu schleudern. Dieser Mann sprach anders als die anderen. Seine Worte tropften gleichmäßig und stetig und ununterbrochen wie ein warmer Regen. Manchmal zwitscherten sie wie Vögel, manchmal klapperten sie wie ein Mühlrad, dann wieder murmelten sie wie ein sanft dahinfließender Bach. Dann und wann glätteten sich sogar die Schmerzwogen beim Klang dieser Stimme. Sie sollte weitersprechen, auch wenn er nichts verstand. Eine Stimme ist mehr als eine Kette unverständlicher Worte ... Ein Glied dieser Kette lernte er bald verstehen. Das Wort fiel immer, bevor sich der große blonde Mann mit seiner Feldflasche über ihn beugte und seine brennende Mundhöhle anfeuchtete. WASSER ... Wie oft hatten sie dieses Wort geschrien, gestöhnt, geflüstert, als sie dort auf dem graugelben verkrusteten Boden lagen. Nach und nach war eine Stimme nach der anderen verstummt.
Bálint hatte nicht schreien können, aber er bekam es nun, dieses schmerzende und doch Leben spendende Nass. Er ließ auch die kleinen Brotstückchen in sich hineinschwemmen, die der blonde Mann zuvor im Wasser aufgeweicht hatte. Es schien ihm, als könnten eines Tages neue Kräfte in seinen Körper zurückkehren. Manchmal nahm er schon mit Bewusstsein wahr, ob es Tag war oder Nacht. Und einmal schoss ihm die Frage durch den Kopf: Wer waren eigentlich diese Leute, was hatte er mit ihnen zu tun, und wohin brachten sie ihn? Sie waren keine Bauern, sie waren keine Herren, sie waren keine Türken. Priester waren sie auch nicht. Andere Gruppen von Menschen kannte Bálint nicht.
Sie hatten endlich die Steppe verlassen, und sogar Koberger war froh darüber. Es war ein Land, in dem nur der große Niemand wohnen konnte, ein Niemandsland. Vor dem großen Niemand fürchtete sich auch Koberger.
Alle Dörfer am Rande der Steppe waren niedergebrannt. Es sah aus, als habe jemand einen genauen Brandplan ausgeheckt. Alle sagten, es waren die Türken ... Nur ein Narr könnte andere verdächtigen.
Nun hatten sie nach langer Zeit die erste Stadt betreten. Leider gelang es Koberger nicht zu erfahren, wie diese Stadt hieß. Jedenfalls hatte sie einen langen Namen.
Die Leute waren dabei, alle Wagen auf einem weiten Hof unterzubringen. Koberger konnten sie bei dieser Arbeit nicht gebrauchen. Sie sagten, er habe zwei linke Hände. Und er rede zu viel. In der Zeit, während sie ihm zuhören müssten, könnten sie schon dreimal mit ihrer Arbeit fertig sein. Koberger fragte, wie man das mache: dreimal fertig sein ... Einmal genüge doch auch!
„Nun fängt er schon wieder an mit seiner schrecklichen Rederei! Erzähle das alles deinem Türkenopfer, den störst du damit nicht!“ Aber sein Türkenopfer schlief gerade.
Da kam ein Mann auf den Hof, der auch nach Nürnberg gepasst hätte. Ein Priester. Einer von denen, die im Allgemeinen nur in Begleitung zu gehen pflegen, damit sich die anderen als unbedeutend von ihnen abheben. Dieser ging allein, aber das war wohl nur ein Zufall. Sogleich beschloss Koberger, sich selbst zur Begleitung anzubieten. Der Priester war hochgewachsen und hager, glatt rasiert. An seinem Gesicht konnte man sehen, dass er scharfe Reden zu führen pflegte, aber auch, dass ihm Wein und Wildbret gut mundeten, womöglich täglich. Es ist nämlich gar nicht so, dass Schlemmer und Prasser und Tagediebe immer dick sind.
Koberger kletterte also aus seinem Wagen heraus. Er trug noch immer die Kleider, in denen er durch die Puszta gefahren war. Seine Haare und auch seine Hosen waren voller Stroh. Breitbeinig stellte er sich vor den erlauchten Prälaten, oder was er immer sein mochte, und sagte in fließendem, tadellosem Latein:
„Gruß und Segen Euch, edler Herr und Gefäß der göttlichen Gnade ...!“
Der Mann schnitt ein Gesicht wie der alte Koberger, wenn ihn sein Sohn um Geld bat. So fügte der junge Koberger hinzu: „Oder irre ich mich? Seid Ihr ein Gefäß des göttlichen Zornes? Dann verschont mich gnädig. Denn ich bin nun schon von Nagyvárad bis hier durch die Puszta gefahren, um den gottlosen Türken zu entkommen.“
„Was für ein komischer Vogel bist du!“
Er hatte eine angenehme Stimme. Wenn er beim alten Koberger arbeitete, würde er alle Verhandlungen führen müssen. Mit dieser Stimme könnte er immer den doppelten oder dreifachen Preis herausschlagen.
„Ja, ein Vogel bin ich, hochwürdiger Herr! Ein Adler mit Narrenfedern, hergeflogen aus der herrlichen Reichsstadt Nürnberg, wo es viele Meistersinger, Maler und gelbe Dirnen gibt.“
Diese Zusammenstellung schien dem Priester nicht zu gefallen.
„Es war mir bisher nicht bekannt, dass die ehrsame Stadt Nürnberg solche Galgenvögel hervorbringt, und gar noch mit lateinischem Geschnatter!“
„Aber hochwürdiger Herr! Meinem Gönner und Lehrer Herrn Doktor Willibald Pirckheimer würde das Wort Geschnatter ganz und gar nicht gefallen. Das hat er um mich nicht verdient. Wenn er Euch hören könnte, würde er den Klerus in Ungarn zu seinem ausgezeichneten Latein beglückwünschen.“
Der Prälat war stehen geblieben. Offensichtlich wusste er nicht, was er von Hieronymus halten sollte.
„Wer bist du - wer seid Ihr eigentlich?“
„Eines Nürnberger Kaufmannes ehrbarer Sohn. Mein Vater ist zwar kein Fugger, aber wenn es einmal bergab gehen sollte mit dem geistlichen Handwerk, dann könntet Ihr gut und gerne in seinen Diensten Euer Auskommen finden.“
„Ich liebe eine scharfe Zunge, verachte aber freche Reden! An einem Hofnarren ist mir nichts gelegen. Es fällt mir schwer genug, deinesgleichen am Hofe des Böhmen Ulászló zu ertragen, den wir jetzt über uns dulden müssen - alles wegen der Türken. Mir wäre es lieber, wir könnten uns anders mit ihnen einigen. Ist es ein Unterschied, ob wir die böhmischen Narren haben oder die Türken? Und nun gar noch die deutschen Narren ...!“
„Eure Reden gefallen mir, hochwürdiger Herr, wirklich, sie gefallen mir, obgleich ich sehr wählerisch bin. Könnte ich Euch doch noch weiter lauschen! Ich soll ja einen Bericht schreiben über diese unsere Reise und finde fast niemanden, der mir etwas Gescheites berichtet.“
„So seid Ihr ein Schreiber oder fühlt Euch gar als ein Gelehrter?“
„Ich höre mir die seltsamsten Lehren an und schreibe sie auf. Zum Beispiel lehrt unser Quacksalber, der sich selbst freilich als Arzt bezeichnet, dass die Türken mit ihren krummen Säbeln den besiegten Ungarn die Zunge aus dem Mund schneiden. Habt Ihr je solche seltsamen Lehren gehört, Doctissime?“
„Was nennt Ihr mich Doctissimus? Ich bin kein Erasmus! Und Eure Rede kann ich mit all meinem Scharfsinn nicht verstehen.“
So erzählte Hieronymus von seinem übel zugerichteten Reisegefährten. Die Fuhrknechte und Kaufleute sahen mit bösen Blicken auf ihn.
Da haben wir es ja wieder einmal ... Wir arbeiten, und dieser Kerl da schwätzt und ist faul wie immer. Biedert sich bei den Herren an. Glaubt, dass er uns mit seinem bisschen Latein überlegen ist. Wir aber verdienten das Geld, mit dem sein Vater ihn Latein lernen ließ. Wozu eigentlich? Er ist ja nicht einmal Priester wie dieser da!
„Was schwätzt Ihr mir von Leichenfeldern? Kein angenehmes Gespräch, nicht einmal in lateinischer Sprache. Die Toten begraben, das ist freilich ein Werk der christlichen Barmherzigkeit, doch es liegt ja ganz klar auf der Hand, dass längst nicht alle diese Barmherzigkeit verdienen.“
Nun glaubte sich Hieronymus den Rätseln auf der Spur.
„Aber die Opfer? Die unschuldigen Opfer der gottlosen Türken, die mit dem Teufel im Bund stehen?“
Der Priester lachte bitter.
„So lasst die Türken aus dem Spiel! Die sind weit hinten jenseits der Grenzen. Wir haben weit gefährlichere Feinde. Davon könnt Ihr freilich keine Ahnung haben.“
„Gefährlicher noch als die Türken? Die Welt ist doch närrisch, mehr als närrisch. Lasst mich raten! Sind die Tataren oder gar die Hunnen wieder aus der Hölle aufgetaucht?“
„Was wisst Ihr von Tataren und Hunnen? Das ist zu viel für einen Nürnberger! Nein, die Feinde sind unsere eigenen Bauern.“
„Aber Nobilissime! Bauern sind doch lustige Leute. Wie sollten sie Feinde sein? Sie wohnen in lustigen kleinen Häusern, haben drollige Namen, bei uns heißen sie alle Hinz und Kunz, sie singen und pfeifen bei der Arbeit. Sie verkaufen uns Würste und Wein, damit auch wir lustig sein können. Das sind Eure Feinde? Ich kann es nicht glauben. Vielleicht habt Ihr Ärger mit Euren Stiftsbauern, aber habt nur Geduld, sie beruhigen sich wieder. Da geht es den Menschen wie den Leuten.“
Der Priester runzelte die Stirn und wollte gehen. Aber Hieronymus ließ ihn nicht fort.
„So ist der Mann in meinem Wagen ein Opfer der Bauern? Haben sie ihn mit einem Schlachtvieh verwechselt? Ich kenne mich nicht aus mit den Bräuchen in diesem seltsamen Land.“
„Euer Pirckheimer hätte Euch etwas weniger Latein und etwas mehr Vernunft beibringen sollen! Ein Opfer der Bauern ... Er wird wohl selbst ein verdammter Bauer sein, den endlich die wohlverdiente Strafe erreicht hat.“
„Wer hat denn die Bauern bestraft? Die Türken vielleicht?“
Dem Prälaten brach der Schweiß aus. Es war auch wirklich sehr heiß. Und dazu diese dicke Kleidung! Er trug mitten im August einen weißen Pelzumhang, der ihm bis zum Bauch reichte. Unzählige kleine Schwänze baumelten daran - oder sollte man sie doch zählen können? Schon wollte Hieronymus damit beginnen, aber es wäre doch wohl nicht so wichtig für seine Weltchronik, wie viele Schwänze ein hoher Prälat hat. Unter dem Pelz trug er ein reich gefälteltes halblanges Gewand, darunter ein langes Brokatkleid. Den Kopf bedeckte ein violettes Barett. Koberger wollte schon wieder anfangen zu reden, wollte sagen: Ihr seid so schön angezogen, Reverendissime, und ich? Ich sehe aus wie ein Bauer, habe sogar Stroh an den Kleidern. Aber fürchtet Euch nicht, ich bin kein Bauer, ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Nürnberger Narr. Harmlos, überhaupt nicht gefährlich!
Er sagte aber nichts, denn der Prälat dachte ja nach, und Koberger wollte ihn nicht stören und gar zu gerne wissen, was für ein Mann da in seinem Wagen lag.
„Die Türken, die Türken ... Sind wir Ungarn nur noch wegen der Türken interessant? So geht doch zu ihnen! Euch tun sie bestimmt nichts. Vielleicht könntet Ihr sogar Hofnarr im Harem des Sultans werden, wenn man die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen trifft. Geht doch dorthin, wo der Pfeffer wächst! Aber zuvor will ich Euch sagen, wer hier das Recht zu strafen hat und wer es deshalb ausübte und noch an verschiedenen Orten ausübt: die Herren des Landes, gegen die sich die räuberischen Rotten der Bauern erhoben haben, angeführt von dem verräterischen György Dózsa, den wir als unseresgleichen anerkannt hatten, weil er so tapfer und so erfolgreich gegen die Türken gekämpft hatte.“
„O Carissime, wie sehr bedaure ich Eure Herren ... In gerechtem Zorn müssen sie ihre eigenen Bauern strafen! Wer schneidet ihnen nun das Korn? Wer tritt ihnen die Kelter?“
„Was geht das Euch an! Wir werden uns Brot und Wein woanders kaufen.“
„Ja, von uns Nürnbergern, nicht wahr? In diesen schlechten Zeiten müssen wir zusammenhalten. Da darf nicht jeder nur an sich denken. Ich denke auch an Euch und Eure bedauernswerten Herren und werde Euch von diesem räuberischen stummen Bauernlümmel befreien und ihn mit nach Nürnberg nehmen. Das ist wahrhaftig eine Strafe für ihn. Und Euch bitte ich, eine Messe für mein Seelenheil zu lesen.“ Über die Gegenrede des Prälaten war Hieronymus Koberger so erstaunt, dass er beschloss, sie in seine Weltchronik aufzunehmen.
„Ihr hättet es zwar bitter nötig bei Eurem losen Mundwerk, aber was denkt Ihr von mir? Sehe ich aus wie ein gewöhnlicher Messpriester? Und - im Vertrauen gesagt – ich habe in meinem ganzen Leben noch keine einzige Messe gelesen, und - mit noch mehr Vertrauen - ich weiß gar nicht, wie man das macht ... So, und jetzt geht zu den Türken oder nach Nürnberg. Ich habe mit dem Herrn dieses Hauses zu reden.“
Niemals eine Messe gelesen? Aber ihm klingelt gewiss so viel Geld im Beutel, dass er das Messelesen gar nicht nötig hat. Unsere Nürnberger Pfaffen haben es nicht so gut. Ich wollte ihm das noch erzählen, aber schade, er ging. Ich hatte ihn nicht einmal fragen können, wie diese Stadt heißt. Seinen eigenen Namen wusste ich auch nicht. Aber Namen interessieren mich nun einmal. Nur der Narr hat das Recht, anonym zu bleiben. Seine Opfer aber müssen ihre Namen nennen. Nur bei ihrem Namen kann er sie packen, nirgends sonst. Es ist schon schwierig genug, dass der Mann in meinem Wagen keinen Namen hat. Ich werde mir einen für ihn ausdenken müssen. Wie wäre es mit Valentin? Ja, der Mann sieht aus, als ob er Valentin heißen könnte. Valentin Stumm ... Damit lässt sich schon etwas anfangen. Nicht, dass er mein Opfer werden soll, beileibe nicht. Er ist schon Opfer genug.
Aber der andere, der Herrenpfaffe oder Pfaffenherr - zu gerne wüsste ich, wie er heißt ...
Bálint hätte es gewiss höchst verwunderlich gefunden, dass jemand für ihn, den Namenlosen, den alten Namen, seinen eigenen Namen wiedergefunden hatte. Valentin, ungarisch Bálint ... Das war der Name, mit dem der Priester ihn bei seiner Taufe Gott dem Herrn vorgestellt hatte. Wirklich höchst verwunderlich, wenn er schon wieder fähig gewesen wäre, sich zu wundern.
Mit den langsam, sehr langsam wiedererwachenden Kräften flossen auch jüngere Bilder, jüngere Erinnerungen wieder in sein Gedächtnis zurück, und je jünger sie waren, desto schrecklicher. Plötzlich war es wieder da, das grausamste Bild von allen ... Er stöhnte laut auf vor Schmerz und Verzweiflung, warf sich hin und her, riss die Arme hoch und setzte die Beine an, als wolle er augenblicklich fliehen.
Hieronymus fuhr erschrocken von seinem Lager hoch. Es war Nacht, und er hatte fest geschlafen.
„Ist was, Valentin, was hast du?“
und dich, seinen Beschützer, dann aufnimmt ... Ich weiß es am besten, wie man mit solchen verfährt, die sich gegen die Ungerechtigkeit auflehnen.“
„Du hast dich doch immer nur gegen die Gerechtigkeit aufgelehnt“, entgegnete ich.
„Also gibst du mir nun den stummen Valentin oder nicht?
Soll ich daheim erzählen, in welchen Misskredit du uns wieder einmal gebracht hast? Dass man dich sogar aus einem Kaufherrenhof hinauswarf? Dein Schuldkonto in Nürnberg ist ja auch nicht gerade klein ..."
„Also nimm den Stummen auf deinen Wagen!“
Aber das wollte er nicht. Bei mir auf dem Wagen sei mehr Platz. Ich wisse am besten mit der Pflege des Kranken Bescheid. Erst kurz vor Nürnberg sollte ich ihm dieses Faustpfand der christlichen Barmherzigkeit und der bürgerlichen Tugend überlassen.
Ja, die Welt ist ein Narrenhaus. Jeder, der einen Todwunden von der Erde aufhebt, um ihn dem Leben zurückzugeben, ist ein Meisternarr. Aber das scheint mein Anteil am Lose Fortunas zu sein.