Christian Lehnert

Aufkommender Atem

Gedichte

Suhrkamp

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-76300-1

www.suhrkamp.de

I

Jahrein

Vorfrühling

Die Amsel zögert noch in einer Welt,

die innen stumm ist, außen kaum zu fühlen,

im Schnee. Als hätte sie sich vorgestellt,

zum Fliegen sei ein Ton herabzukühlen,

 

der Wind sei ein bestimmtes Intervall,

so klar wie Eis. Im Schwarm allein, das eine

gefiederte Erwachen, Widerhall –

wie Schatten gleiten Vögel über Steine

 

in gläsernes Gezweig, in hartes Moos.

Noch scheint die Sonne aus der Luft gegriffen,

noch wirkt die Scheune völlig schwerelos,

fossiler Zahn von Zeit und Traum verschliffen.

 

Ich hab geschlafen, ich war wach,

ein langes Flügelschlagen.

Man hat gesucht nach mir, ganz schwach

beginnt es blau zu tagen.

 

Der Tag ist eine hohe Wand.

Ich bin nicht dort, nicht hier.

Mich nahm der Nordwind bei der Hand,

und keiner weiß von mir.

 

In mich hinein sieht eine klare Nacht.

Ich bin ihr Wort und fange eben an,

es zu verstehen, und sie wartet, wacht

bei meinem Herzen, daß ich ruhen kann.

 

Vögel, diese Vögel, ohne Halten,

blau und grau, wie sie verfliegen!

 

Wie sie nahen, maßlos, wie Gestalten

von Welten, die im Dunkeln liegen!

 

Jählings, mit der Seele irgendwo,

ein warmer Flügel, eine Kralle –

 

ich wart auf nichts, weiß nichts zu sagen, roh

liegt alles Land, in das ich täglich falle.

II

Aufkommender Atem

Und was ich glaube, ist ganz unverstanden,

das Sterben zweier Störche im November,

die nie die Kraft für ihren Heimflug fanden,

 

nie den Instinkt. Ich habe ein Geländer,

das ich mir selber halte, es ist fest.

Ich folge Spuren, die sich schnell verlaufen,

 

auf einem Pfahl am Weg ein leeres Nest,

das liegen bleibt, und warme Federhaufen.

 

30. November 2008, Wittenberg

 

Dort liegen meine Hände auf der Bank.

Sie bitten etwas, wovon ich nichts weiß.

Es werden Schwäne sein. Ein Schweigen sank

ins dürre Schilf, durchbrach das Dickicht, Eis.

 

Was dort gewesen ist, ich hab’s verloren.

Ein Kind, das an mich glaubte? Eine Nacht,

 

die sternenklar erstrahlte, »oh wie lacht«?

Ich gleite durch ein Leben, ungeboren.

 

25. Dezember 2008

 

Du sprichst noch, Wasser, sprichst noch immer weiter,

und mit dem Strom lauschst du ins Weite, sprichst

mit dem Gesträuch, und immer noch verzweigter,

an langen Deichen, die du sickernd brichst

 

wie Schweigen, Häuserreihen. Dort der Mond,

er nennt dich »Spiegel«, doch er schaut ins Leere.

Noch ist mir, was du bittest, ungewohnt,

und hab doch Durst auf meiner stillen Fähre.

 

27. Dezember 2008, Elbe bei Wittenberg

 

So unbefestigt sind die vielen Zeichen.

Ein Geldschein zählt Verluste auf und geht

in andre Länder. Meine Wörter reichen

für keinen Abend mehr und kein Gebet.

 

»Noch« ist die Hast da, Erblast, ungebrochen.

»Noch« hängt Metall als Schriftzug aus zur Wehr.

»Noch« ragen Pläne in den Wind und Wochen.

»Noch« ziehen Menschen zahllos übers Meer.

 

30. Dezember 2008, Wittenberg

 

Zuletzt im Frost, da sind die Blätter klar