Das Buch

Dem zwielichtigen Harry Rutledge eilt sein Ruf voraus: Er ist reich, er ist mächtig - und er verbirgt so einiges, das nie ans Tageslicht kommen darf. Als Poppy Hathaway ihm das erste Mal gegenübersteht, ahnt sie instinktiv, dass sie die Flucht ergreifen sollte. Stattdessen kommt es ganz anders: Der charismatische Harry zieht die impulsive Poppy sofort in seinen Bann. Und aus einem leidenschaftlichen Flirt erwächst unversehens ein Eheversprechen. Doch wird es Poppy je gelingen, das Herz des undurchsichtigen und einzelgängerischen Harry zu erobern? Denn er vertraut niemandem, auch seiner bezaubernden, jungen Braut nicht ...

Die New York Times-Bestsellerautorin Lisa Kleypas schreibt die Geschichte ihres Erfolgs weiter: die Fortsetzung der großartigen Saga um die Hathaways.

Die Autorin

Lisa Kleypas ist eine Meisterin ihres Fachs: Mit ihren zahlreichen historischen Liebesromanen nimmt sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen für sich ein, sondern auch die internationalen Bestsellerlisten. Die Autorin schreibt und lebt mit ihrer Familie in Washington State.

Lieferbare Titel

978-3-453-77258-8 - Pfand der Leidenschaft

978-3-453-77259-5 - Glut der Verheißung

LISA KLEYPAS

Zärtlicher

Nachtwind

Roman

Aus dem Englischen

von Nadine Mutz

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Original TEMPT ME AT TWILIGHT

erschien bei St. Martin’s Paperbacks, New York.

Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2011

Copyright © 2010 by Lisa Kleypas

Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © Franco Accornero, via Agentur Schlück GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-06321-4

www.heyne.de

Für Teresa Medeiros –

Auf der Straße des Lebens führst du mich an Umleitungen, Schlaglöchern und roten Ampeln vorbei.

Die Welt ist schöner, weil es dich gibt.

In ewiger Liebe

L.K.

Erstes Kapitel

London · Rutledge Hotel

Mai 1852

Ihre Chancen auf eine angemessene Heirat standen auf dem Spiel – und das alles wegen eines Frettchens.

Dummerweise hatte Poppy Hathaway Dodger schon durch das halbe Rutledge Hotel verfolgt, als ihr plötzlich etwas Entscheidendes einfiel: Für ein Frettchen war eine Gerade nicht mehr und nicht weniger als sechs Zicks und sieben Zacks.

»Dodger«, rief Poppy verzweifelt. »Komm zurück. Du bekommst einen Keks, mein Haarband, was du willst! Oh, ich werde einen Schal aus dir machen …«

Sobald sie das Haustier ihrer Schwester eingefangen hätte, schwor sie sich, würde sie das Hotelpersonal darauf aufmerksam machen, dass Beatrix in ihrer Familiensuite wilde Tiere beherbergte, was ganz bestimmt gegen die Hausordnung verstieß. Natürlich könnte es passieren, dass man die gesamte Hathaway-Sippe aufforderte, ihre Zimmer unverzüglich zu räumen.

Aber das war Poppy im Augenblick völlig egal.

Dodger hatte ihr einen Liebesbrief gestohlen, den Michael Bayning ihr geschickt hatte, und nichts auf der Welt war ihr wichtiger, als ihn sich zurückzuholen. Es fehlte nur noch, dass Dodger den verdammten Brief irgendwo versteckte, wo man ihn später finden würde.

Dann wären Poppys Chancen, einen ehrenwerten und einfach wunderbaren jungen Mann zu heiraten, für immer dahin.

Dodger hüpfte kreuz und quer durch die großzügigen Flure des Rutledge Hotels, immer gerade so, dass seine Verfolgerin ihn nicht zu fassen bekam. Der Brief steckte zwischen seinen langen Vorderzähnen.

Poppy betete inständig, dass niemand sie sehen möge. Ganz gleich wie angesehen das Hotel war, eine junge Dame sollte ihre Suite niemals ohne Begleitung verlassen. Ihre Gesellschafterin Miss Marks aber lag noch im Bett. Und Beatrix war mit ihrer gemeinsamen Schwester Amelia zu einem Morgenritt aufgebrochen.

»Dafür wirst du noch büßen, Dodger!«

Dieses durchtriebene Geschöpf bildete sich ein, alles sei ausschließlich zu seinem persönlichen Vergnügen bestimmt. Jeder Korb, jedes Behältnis musste umgekippt und untersucht werden, kein Strumpf, kein Kamm, kein Taschentuch blieben von ihm verschont. Dodger entwendete persönliche Gegenstände und hinterließ sie in Form von kleinen Haufen unter Stühlen und Sofas, er machte seine Nickerchen in Schubladen inmitten frischer Wäsche, und das Schlimmste von allem, er war mit seiner Ungezogenheit so unterhaltsam, dass die gesamte Hathaway-Familie bereit war, über sein Benehmen hinwegzusehen.

Immer wenn Poppy gegen die haarsträubenden Eskapaden des Frettchens protestierte, entschuldigte sich Beatrix bei ihr und versprach hoch und heilig, Dodger würde so etwas nie wieder tun, und sie wirkte jedes Mal ernsthaft überrascht, wenn Dodger ihren ermahnenden Worten keine Beachtung schenkte. Und da Poppy ihre jüngere Schwester sehr liebte, hatte sie bislang versucht, es mit dem unausstehlichen Tierchen auszuhalten.

Diesmal aber war Dodger zu weit gegangen.

Das Frettchen machte an einer Ecke halt, vergewisserte sich, dass es noch immer verfolgt wurde, und gab vor lauter Aufregung einen kleinen Kriegstanz zum Besten, eine Reihe von Seitwärtssprüngen, mit denen es seine helle Freude ausdrückte. Sogar jetzt, als sie Dodger am liebsten den Garaus gemacht hätte, musste sich Poppy eingestehen, dass er entzückend war. »Ich werde dir trotzdem den Hals umdrehen«, warnte sie ihn, während sie versuchte sich ihm so arglos wie möglich zu nähern. »Gib sofort den Brief her, Dodger.«

Das Frettchen flitzte an einem von Säulen getragenen Lichthof vorbei, der das von oben einfallende Sonnenlicht über drei Stockwerke bis zum Mezzaningeschoss hinunterschickte. Poppy fragte sich, wie weit sie wohl noch laufen musste, bis sich das Tier endlich fangen ließ. Ihm schien es nicht an Ausdauer zu fehlen, und das Rutledge war ein gewaltiger Bau, der im Theaterbezirk fünf ganze Blocks einnahm.

»So etwas«, murmelte sie vor sich hin, »kann auch nur einer Hathaway passieren. Ein Missgeschick nach dem anderen … wilde Tiere … Hausbrände … Flüche … Skandale …«

Poppy liebte ihre Familie sehr, aber sie sehnte sich nach einem ruhigen, friedlichen Leben, das für eine Hathaway offenbar unmöglich war. Sie wünschte sich Normalität. Vorhersehbarkeit.

Dodger schlüpfte durch einen Türspalt ins Büro von Mr Brimbley, dem Etagenbutler im dritten Stock. Mr Brimbley war ein älterer Herr mit einem buschigen weißen Schnurrbart, dessen Enden zu sorgfältigen Spitzen gedreht waren. Da sich die Hathaways bereits einige Male im Rutledge einquartiert hatten, wusste Poppy, dass Brimbley seinen Vorgesetzten über alles, was auf seiner Etage passierte, bis ins kleinste Detail Bericht erstattete. Wenn der Butler erfuhr, wohinter sie her war, würde er den Brief augenblicklich konfiszieren. Dann wäre Poppys Verhältnis mit Michael für niemanden mehr ein Geheimnis. Und Michaels Vater, Lord Andover, würde der Verbindung niemals zustimmen, wenn ihr auch nur der leiseste Hauch eines Skandals anhaftete.

Poppy hielt den Atem an und stellte sich mit dem Rücken zur Wand, als sie Brimbley mit zwei Angestellten aus seinem Büro kommen sah. »… dass Sie unverzüglich zur Rezeption gehen, Harkins«, sagte der Butler. »Außerdem möchte ich, dass Sie die Kosten von Mr W. überprüfen lassen. Er kommt uns ständig mit Behauptungen, die Rechnungen stimmten nicht. Obwohl alles korrekt abgerechnet ist. Am besten lassen wir ihn von jetzt an immer sofort unterschreiben, wenn wir ihm etwas in Rechnung stellen.«

»Jawohl, Mr Brimbley.« Die drei Männer gingen in die andere Richtung davon.

Vorsichtig schlich sich Poppy zur Tür und spähte hinein. Die beiden miteinander verbundenen Räume schienen leer zu sein. »Dodger«, flüsterte sie mit Nachdruck und konnte gerade noch sehen, wie er unter einen Stuhl flitzte. »Dodger, komm sofort wieder her!«

Woraufhin er nur noch aufgeregter umhersprang und –tanzte.

Poppy biss sich auf die Unterlippe und trat über die Schwelle. Der Hauptraum war großzügig geschnitten und mit einem gewaltigen Tisch ausgestattet, auf dem sich Papier und Geschäftsbücher stapelten. Hinter dem Tisch stand ein burgunderfarbener ledergepolsterter Lehnstuhl, ein weiterer befand sich neben einem leeren Kamin mit Marmorsims.

Dodger wartete neben dem Tisch, die funkelnden Augen unablässig auf Poppy gerichtet. Die Schnurrhaare zuckten über dem begehrten Brief. Er verharrte reglos und hielt Poppys Blick stand, während sie langsam immer näher kam.

»So ist es gut«, beschwichtigte sie ihn und streckte vorsichtig die Hand aus. «So ein braves Kerlchen, so ein lieber Kleiner … bleib schön da sitzen, dann hole ich mir den Brief, und ich bringe dich zurück in unsere Suite und übergebe dich meiner … Verdammt!«

In dem Moment, als sie sich den Brief schnappen wollte, war Dodger damit unter dem Tisch verschwunden.

Rot vor Wut sah sich Poppy im Zimmer um, auf der Suche nach etwas – irgendetwas! –, mit dem sie Dodger aus seinem Versteck locken konnte. Da entdeckte sie auf dem Kaminsims einen silbernen Kerzenleuchter und versuchte ihn herunterzuziehen. Aber er bewegte sich nicht. Der Leuchter war am Sims befestigt.

Stattdessen begann vor Poppys erstaunten Augen der gesamte Kamin zu rotieren, ohne auch nur das leiseste Geräusch von sich zu geben. Sie hielt den Atem an angesichts einer solchen Zauberei, während mit einer geschmeidigen, automatisierten Drehbewegung eine Türöffnung zum Vorschein kam. Was wie Klinker aussah, war in Wirklichkeit nur Fassade.

Begeistert schoss Dodger unter dem Tisch hervor und sprang in die Öffnung.

»Verflucht!«, keuchte Poppy atemlos. »Dodger, ich warne dich!«

Doch das Frettchen schenkte ihr keine Beachtung. Und zu allem Überfluss vernahm sie nun auch noch die polternde Stimme von Mr Brimbley, der soeben in sein Büro zurückkehrte. »… selbstverständlich muss Mr Rutledge darüber in Kenntnis gesetzt werden. Nehmen Sie es in den Bericht auf. Und vergessen Sie unter keinen Umständen …«

Poppy hatte keine Zeit, über Alternativen oder die entsprechenden Konsequenzen nachzudenken. Sie stürzte sich in den Kamin, und die Tür schloss sich hinter ihr.

Absolute Finsternis hüllte sie ein, während sie reglos dastand und lauschte, was im Büro vor sich ging. Offensichtlich hatte niemand sie bemerkt. Mr Brimbley redete weiter über Berichte und sonstige organisatorischen Belange.

Poppy kam der Gedanke, dass sie womöglich eine ganze Weile würde ausharren müssen, bis der Butler sein Büro wieder verließ. Oder sie musste einen anderen Ausweg finden. Freilich könnte sie wieder durch die Kaminöffnung hinausklettern und Mr Brimbley ihre Anwesenheit preisgeben. Doch sie scheute den Gedanken an die Erklärungen, die sie würde vorbringen müssen, und daran, wie peinlich alles wäre.

Als sie sich umwandte, stellte sie fest, dass sie sich am Anfang eines langen Ganges befand, durch den von oben diffuses Licht drang. Sie blickte nach oben. Der Gang wurde von einem Tageslichtschacht erhellt, wie ihn schon die alten Ägypter zur Lagebestimmung von Sternen und Planeten einsetzten.

Sie hörte das Frettchen in ihrer Nähe umhertapsen. »Da hast du es, Dodger«, meinte sie. »Du hast uns in diese verflixte Lage gebracht. Warum hilfst du mir nicht, einen Ausgang zu finden?«

Bereitwillig machte sich Dodger auf den Weg und verschwand vor ihr im Dunkel. Poppy stieß einen Seufzer aus und beschloss ihm zu folgen. Sie weigerte sich, in Panik zu geraten, denn eins hatte sie bei den vielen Katastrophen und Schicksalsschlägen, die die Hathaway-Familie in der Vergangenheit schon ereilt hatten, auf jeden Fall gelernt: dass es nichts half, die Nerven zu verlieren.

Während sich Poppy ihren Weg durch die Finsternis bahnte, berührte sie die Wände mit den Fingerspitzen, um die Orientierung zu behalten. Sie hatte kaum ein paar Meter zurückgelegt, als sie ein schabendes Geräusch vernahm. Sie blieb wie angewurzelt stehen und lauschte angestrengt.

Alles war still.

Ihre Nerven kribbelten vor Anspannung, und ihr Herz begann wie wild zu schlagen, als sie plötzlich in einiger Entfernung den schwachen Schein einer Lampe erspähte. Das Licht erlosch.

Sie war nicht allein in dem Gang.

Die Schritte kamen immer näher, zielstrebig wie ein Raubtier, das die Fährte aufgenommen hat. Jemand kam direkt auf sie zu.

Jetzt, entschied Poppy, war der richtige Zeitpunkt, um in Panik zu geraten. Blind vor Entsetzen, wirbelte sie herum und rannte den Weg, den sie gekommen war, so schnell sie konnte zurück. In dunklen Fluren von einem Unbekannten verfolgt zu werden, war sogar für eine Hathaway eine ganz neue Erfahrung. Sie verfluchte die schweren Röcke, die sie mit beiden Händen krampfhaft versuchte zusammenzuraffen, während sie durch den Gang hastete. Doch ihr Verfolger war zu schnell, als dass sie ihm hätte entkommen können.

Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle, als jemand sie mit einem gekonnten Griff von hinten packte. Es war ein Mann, ein recht großer noch dazu, und er hielt sie so fest, dass ihr Rücken nach hinten gebogen auf seiner Brust lag. Mit einer Hand drückte er ihren Kopf grob zur Seite.

»Sie sollten sich darüber im Klaren sein«, erklang eine tiefe, furchteinflößende Stimme dicht an ihrem Ohr, »dass ich Ihnen mit ein klein wenig mehr Druck das Genick brechen könnte. Nennen Sie mir Ihren Namen und was Sie hier zu suchen haben.«

Zweites Kapitel

Poppy konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, so laut war das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, und der feste Griff des Mannes tat ihr weh. Seine Brust war hart wie Stahl. »Das ist ein Missverständnis«, brachte sie mit Mühe hervor. »Bitte …«

Er drückte ihren Kopf noch ein wenig mehr zur Seite, bis sie ein schmerzhaftes Ziehen in der Halswirbelsäule verspürte. »Ihr Name«, beharrte er mit sanfter Stimme.

»Poppy Hathaway«, keuchte sie. »Es tut mir wirklich leid. Es war nicht meine Absicht …«

»Poppy?« Er löste seinen Griff.

»Ja.« Er hatte ihren Namen ausgesprochen, als würde er sie kennen. »Sind Sie … Gewiss sind Sie ein Mitglied des Personals?«

Er ignorierte ihre Frage. Mit einer Hand strich er ihr vorsichtig über die Arme und den Oberkörper, als suchte er etwas. Ihr Herz begann wild zu schlagen wie die Flügel eines jungen Vogels.

»Bitte nicht«, sagte sie matt und versuchte seiner Berührung auszuweichen.

»Was machen Sie hier?« Er drehte ihr Gesicht so, dass sie ihn direkt ansah. Niemand in Poppys Bekanntenkreis hatte sie jemals auf so vertraute Weise behandelt. Sie befanden sich in unmittelbarer Nähe zum Lichtschacht, so dass Poppy im Halbdunkel die Umrisse eines kantigen, hageren Gesichts mit harten Zügen und das Funkeln tief liegender Augen ausmachen konnte.

Poppy versuchte Atem zu schöpfen, zuckte aber zusammen, als sich ein stechender Schmerz in ihrem Nacken bemerkbar machte. Unwillkürlich fasste sie sich an die schmerzende Stelle, in der Hoffnung, den Schmerz zu lindern, während sie nach den richtigen Worten rang. »Ich bin … Ich habe versucht, ein Frettchen einzufangen, und da öffnete sich auf einmal der Kamin in Mr Brimbleys Büro, das Frettchen sprang hinein und ich bin ihm gefolgt. Nun wollte ich einen anderen Ausgang finden.«

So absurd die Erklärung auch klang, dem Fremden gelang es offenbar, sich einen Reim darauf zu machen. »Ein Frettchen? Ein Haustier Ihrer Schwester?«

»Ja«, erwiderte sie verblüfft. Sie rieb sich den Nacken und stöhnte auf. »Woher wissen Sie … haben wir uns schon einmal kennengelernt? Nein, bitte fassen Sie mich nicht an, ich … Au

Er hatte sie zu sich herumgedreht und ihr die Hand auf den Nacken gelegt. »Halten Sie still!« Mit geschickten Fingern massierte er den empfindlichen Nerv. »Wenn Sie versuchen, vor mir davonzulaufen, werde ich Sie nur wieder einfangen.«

Mit zittrigen Knien ließ Poppy die knetenden, forschenden Finger über sich ergehen und fragte sich, ob sie wohl auf Gnade oder Ungnade einem Verrückten ausgeliefert war. Er bohrte seine Finger noch fester in ihren Nacken und rief damit ein Gefühl hervor, das weder Wohltat noch Schmerz war, sondern eine ungewohnte Mischung aus beidem. Zu ihrer Überraschung ließ das Stechen tatsächlich bald nach, und die verhärtete Muskulatur entspannte sich wieder. Sie atmete langsam und tief aus, während sie den Kopf nach vorn hängen ließ.

»Besser?«, erkundigte er sich und nahm die zweite Hand hinzu, um ihren Nacken mit beiden Daumen auszustreichen, wobei er ein wenig unter die weiche Spitze glitt, in die das hoch geschnittene Korsett ihres Kleides eingefasst war.

Zutiefst erschöpft versuchte Poppy, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie mit beiden Händen am Nacken fest. Sie räusperte sich und versuchte entschlossen zu klingen. »Sir, ich … Bitte bringen Sie mich hier heraus. Meine Familie wird Sie belohnen. Niemand wird Fragen stellen …«

»Selbstverständlich.« Zögernd ließ er von ihr ab. »Dieser Gang wird von niemandem ohne meine Erlaubnis benutzt. Ich nahm an, jemand, der hier herumschleicht, führt sicher nichts Gutes im Schilde.«

In dieser letzten Bemerkung lag eine gewisse entschuldigende Geste, obwohl seine Stimme nicht das leiseste Bedauern ausdrückte.

»Ich versichere Ihnen, dass ich nichts anderes im Schilde führte, als dieses entsetzliche Tier einzufangen.« Sie spürte Dodger um ihre Beine streifen.

Der Fremde bückte sich, packte das Frettchen im Nacken und reichte es Poppy.

»Vielen Dank.« Der weiche Körper des Frettchens wurde in Poppys festem Griff willenlos und fügsam.

Sie hätte es ahnen können: Der Brief war verschwunden. »Dodger, du verfluchter Dieb – wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?«

»Darf ich fragen, was Sie suchen?«

»Einen Brief«, antwortete Poppy angespannt. »Dodger hat ihn gestohlen und hierherverschleppt … er muss irgendwo in diesem Tunnel sein.«

»Er wird ganz bestimmt wieder auftauchen.«

»Aber er ist sehr wichtig.«

»Offensichtlich. Bei dem Aufwand, den Sie betreiben, um ihn sich zurückzuholen. Kommen Sie mit.«

Widerstrebend willigte Poppy ein und gestattete ihm ihren Ellbogen. »Wohin gehen wir?«

Der Fremde gab keine Antwort.

»Es wäre mir sehr recht, wenn niemand außer uns von dieser Sache erführe«, erlaubte sich Poppy zu bemerken.

»Verständlich.«

»Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen, Sir? Ein Skandal muss um jeden Preis vermieden wer-den.«

»Eine junge Dame, die einen Skandal vermeiden will, sollte vielleicht besser in ihrer Suite bleiben«, bemerkte er wenig hilfsbereit.

»Ich wäre liebend gerne in meinem Zimmer geblieben«, protestierte Poppy. »Dodger ist schuld, nur seinetwegen musste ich die Suite verlassen. Ich brauche diesen Brief unbedingt zurück. Und ich bin sicher, meine Familie wird Sie dafür entschädigen, wenn Sie die Güte hätten …«

»Still!«

Mit erstaunlicher Sicherheit geleitete er sie durch den dunklen Gang mit den unzähligen irritierenden Schatten, wobei er sie sanft, aber unerbittlich am Ellbogen führte. Sie gingen nicht in Richtung Mr Brim-bleys Büro, sondern in die andere, und es kam ihr so vor, als würde der Gang niemals enden.

Schließlich blieb der Unbekannte stehen und stieß eine Tür auf, die wie aus dem Nichts in der Mauer auftauchte. »Treten Sie ein.«

Zögernd betrat Poppy den hell erleuchteten Raum, eine Art Gesellschaftszimmer mit palladianischen Fenstern, die zur Straße hinausgingen. Auf der einen Seite stand ein schwerer Zeichentisch aus Eichenholz, und die Wände waren über und über mit Bücherregalen bedeckt. Ein angenehmer und sonderbar vertrauter Geruch nach Kerzenwachs, Pergamentpapier, Tinte und Bücherstaub stieg ihr in die Nase – es roch wie in dem alten Arbeitszimmer ihres Vaters. Poppy wandte sich zu dem Fremden um, der nach ihr den Raum betreten und die geheime Tür hinter sich geschlossen hatte.

Sein Alter war schwer zu schätzen – er sah aus wie Anfang dreißig, doch seine beherrschte, ja unerbittliche Art ließ erkennen, dass er genug vom Leben gesehen hatte, als dass ihn noch irgendetwas hätte überraschen können. Er hatte kräftiges, gut geschnittenes rabenschwarzes Haar und dunkle Brauen, die in starkem Kontrast zu seinem hellen Teint standen. Tatsächlich sah er ungemein gut aus. Die dichten Augenbrauen, die wohldefinierte Nase und die sinnlichen Lippen – so musste Luzifer ausgesehen haben. Der markante Kiefer unterstrich den eisernen, unnachgiebigen Ausdruck eines Mannes, der alles, einschließlich sich selbst, ein wenig zu ernst nahm.

Poppy spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als sie in diese auffallend schönen Augen starrte … kräftiges Hellgrün mit dunklen Rändern, und dichte schwarze Wimpern. Ihr war, als würde sie mit Haut und Haaren in seinem Blick versinken. Sie bemerkte leichte Schatten unter seinen Augen, aber selbst die schmälerten sein makelloses Aussehen mitnichten.

Ein echter Gentleman hätte jetzt etwas Freundliches gesagt, eine beliebige Höflichkeit, der Unbekannte aber schwieg.

Warum starrte er sie so an? Wer war er, und welche Autorität übte er in diesen Räumlichkeiten aus?

Sie musste etwas sagen, irgendetwas, um die Situation zu entspannen. »Dieser Geruch nach Büchern und Kerzenwachs«, bemerkte sie albern, »… er erinnert mich an das Arbeitszimmer meines Vaters.«

Der Fremde trat auf sie zu, und Poppy wich instinktiv zurück. Sie schwiegen. Es war, als füllte sich der Raum zwischen ihnen mit Fragen, die mit unsichtbarer Tinte geschrieben waren.

»Ihr Vater ist vor einiger Zeit gestorben.« Seine Stimme passte zum Rest, sie war geschliffen, dunkel, unerbittlich. Er hatte einen interessanten Akzent, nicht ursprünglich britisch, die Vokale klangen flach und offen, das R rollte er schwer.

Poppy nickte bestürzt.

»Und kurz darauf Ihre Mutter«, fügte er hinzu.

»Woher … woher wissen Sie das?«

»Es ist meine Aufgabe, so viel wie möglich über die Hotelgäste zu wissen.«

Dodger wand sich in ihrem Arm. Poppy bückte sich, um ihn auf den Boden zu setzen. Das Frettchen hüpfte auf einen Sessel neben einer kleinen Feuerstelle und machte es sich auf den Samtpolstern bequem.

Poppy überwand sich, den Fremden noch einmal anzusehen. Er trug elegante dunkle Kleider, die auf eine raffinierte Weise locker saßen. Ein edler, maßgeschneiderter Anzug, aber nur eine schlichte schwarze Krawatte ohne Nadel. Auf seinem Hemd waren weder Goldknöpfe noch andere Verzierungen zu sehen, die ihn als einen vermögenden Gentleman ausgezeichnet hätten. Eine einfache Uhrkette an seiner grauen Weste war der einzige Schmuck.

»Sie haben einen amerikanischen Akzent«, sagte sie.

»Buffalo, New York«, erwiderte er. »Aber ich lebe schon eine ganze Weile hier.«

»Sind Sie ein Angestellter des Hotels?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

Er nickte knapp.

»Einer der Manager, nehme ich an?«

Seine Miene war unergründlich. »So etwas in der Art.«

Sie bewegte sich langsam in Richtung Tür. »Dann will ich Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten, Mister …«

»Sie werden eine angemessene Begleitung brauchen, die Sie zurückbringt.«

Poppy überlegte kurz. Sollte sie ihn bitten, ihre Gesellschafterin kommen zu lassen? Nein … Miss Marks schlief womöglich noch. Immerhin hatte sie eine harte Nacht hinter sich. Miss Marks neigte zu Alpträumen, aus denen sie am Morgen völlig erschöpft erwachte. Es kam nicht oft vor, aber wenn es geschah, bemühten sich Poppy und Beatrix, sie danach so lange wie möglich schlafen zu lassen.

Der Fremde betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich. »Soll ich ein Dienstmädchen rufen lassen, damit sie Sie begleitet?«

Poppys erster Gedanke war, das Angebot anzunehmen. Doch war es ihr gar nicht recht, auch nur eine Minute länger in Gegenwart dieses Mannes zu warten. Sie traute ihm nicht im Allergeringsten.

Als er ihre Unschlüssigkeit bemerkte, verzog er den Mund zu einem ironischen Lächeln. »Wenn ich die Absicht hätte, Sie zu belästigen«, erklärte er, »hätte ich es längst getan.«

Das Blut schoss ihr in die Wangen angesichts dieser Unverblümtheit. »Das sagen Sie! Woher soll ich denn wissen, dass Sie nicht ein ganz langsamer Belästiger sind.«

Nachdenklich wandte er den Blick ab, und als er sie wieder ansah, glänzten seine Augen vor Belustigung. »Sie sind in Sicherheit, Miss Hathaway.« Seine Stimme klang so, als müsste er jeden Augenblick laut loslachen. »Im Ernst. Ich werde Ihnen ein Dienstmädchen rufen.«

Der überraschende Humor hatte seinen Ausdruck völlig verändert, es ging eine Wärme und ein Charme von ihm aus, dass Poppy vor Verblüffung wie gelähmt war. Sie spürte, wie ein ganz neues, angenehmes Gefühl durch ihren Körper floss.

Als sie ihn zum Glockenzug gehen sah, fiel ihr plötzlich wieder der verschwundene Brief ein. »Sir, während wir hier warten, wären Sie vielleicht so nett und würden kurz nach dem Brief sehen, der mir in dem dunklen Gang abhandengekommen ist? Ich brauche ihn unbedingt zurück!«

»Warum?«, wollte er wissen und wandte sich zu ihr um.

»Persönliche Gründe«, erwiderte Poppy knapp.

»Ist er von einem Mann?«

Sie bemühte sich, denselben vernichtenden Blick aufzusetzen, mit dem Miss Marks aufdringliche Gentlemen im Allgemeinen bedachte. »Das geht Sie überhaupt nichts an.«

»Alles, was in diesem Hotel geschieht, geht mich etwas an.« Er machte eine Pause und betrachtete sie nachdenklich. »Er ist von einem Mann, sonst hätten Sie meine Frage sofort verneint.«

Poppy kehrte ihm missbilligend den Rücken zu. Sie beschloss, sich eines der vielen Regale, in denen sich allerhand sonderbare Gegenstände befanden, etwas genauer anzusehen.

Sie entdeckte einen vergoldeten, emaillierten Samowar, ein großes Messer in einer perlenbesetzten Scheide, eine Sammlung antiker Steinreliefs und Tongefäße, eine ägyptische Kopfstütze, fremdländische Münzen, Kästchen aus jedem nur erdenklichen Material, etwas, das aussah wie ein eisernes Schwert mit verrosteter Klinge, sowie einen venezianischen Lesestein aus Glas.

»Wessen Kammer ist das?« Poppy konnte ihre Neugier kaum verbergen.

»Mr Rutledges Raritätenkammer. Es handelt sich großteils um private Sammlungen sowie Geschenke ausländischer Gäste. Sehen Sie sich ruhig um, wenn es Sie interessiert.«

Poppy dachte an den hohen Anteil ausländischer Hotelgäste einschließlich der europäischen Königshäuser, Adelsleute und Mitglieder des Diplomatischen Corps. Sicherlich war Mr Rutledge mit einer Reihe außergewöhnlicher Gegenstände beschenkt worden.

Poppy blieb stehen, um sich eine kleine Silberstatue eines galoppierenden Pferdes anzusehen. »Wie hübsch!«

»Ein Geschenk des Kronprinzen Yizhu von China«, erläuterte der Unbekannte hinter ihr. »Ein Himmelspferd.«

Fasziniert fuhr Poppy mit der Fingerspitze über den Rücken des Pferdes. »Gerade wurde der Prinz zum Kaiser Xianfeng gekrönt«, sagte sie. »Ein ziemlich ironischer Herrschername, finden Sie nicht?«

Der Fremde war an ihre Seite getreten und sah sie interessiert an. »Inwiefern?«

»Er bedeutet ›allgemeines Wohlergehen‹. Und davon kann ja wohl keine Rede sein, wenn man an den Aufstand denkt, mit dem er zurzeit konfrontiert ist.«

»Ich würde sagen, die europäischen Forderungen stellen eine weit größere Gefahr für ihn dar.«

»Ja«, antwortete Poppy mitfühlend und schob das Pferdchen wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück. »Man fragt sich, wie lange die chinesische Souveränität derartigen Angriffen standhalten kann.«

Er stand jetzt so nah bei ihr, dass sie den Duft nach frisch gebügeltem Leinen und Rasierschaum riechen konnte. Er musterte sie aufmerksam. »Ich kenne nur sehr wenige Frauen, mit denen man sich über die Politik im Fernen Osten unterhalten kann.«

Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Meine Familie führt immer recht ungewöhnliche Gespräche bei Tisch. Ungewöhnlich in dem Sinne, dass meine Schwestern und ich daran teilnehmen. Meine Gesellschafterin ist der Meinung, dass es zu Hause in Ordnung sei, aber sie hat mir geraten, draußen in der Gesellschaft nicht allzu gebildet aufzutreten. Sie glaubt, es könnte potenzielle Bewerber fernhalten.«

»Dann müssen Sie natürlich vorsichtig sein«, sagte er mit sanfter Stimme und lächelte. »Es wäre eine Schande, wenn Ihnen im falschen Moment ein intelligenter Kommentar entschlüpfen würde.«

Poppy war erleichtert, als sie an der Tür ein vorsichtiges Klopfen vernahm. Das Dienstmädchen war schneller gekommen, als sie es erwartet hätte. Der Fremde ging zur Tür und öffnete einen Spaltbreit. Er murmelte etwas, woraufhin das Mädchen einen Knicks machte und verschwand.

»Wohin geht sie?«, fragte Poppy verdutzt. »Sie sollte mich doch zu meiner Suite begleiten.«

»Ich habe sie gebeten, uns ein Tablett mit Tee zu bringen.«

Poppy fehlten die Worte. »Sir, ich kann keinen Tee mit Ihnen trinken.«

»Es wird nicht lange dauern. Sie schicken ihn mit einem der Speiseaufzüge herauf.«

»Darum geht es nicht. Selbst wenn ich die Zeit hätte, es ist einfach nicht möglich! Ich bin sicher, Sie sind sich darüber bewusst, wie unschicklich das wäre.«

»Fast so unschicklich, wie sich ohne Begleitung durch das Hotel zu schleichen«, konterte er.

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich habe mich nicht herumgeschlichen, ich musste ein Frettchen einfangen.« Als ihr klarwurde, wie lächerlich das klang, stieg ihr erneut das Blut in die Wangen. Sie bemühte sich, einen würdevollen Ton anzuschlagen. »Es war nicht meine Schuld. Und ich werde in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, sollte ich nicht bald in meine Suite zurückkehren. Wenn wir noch länger hierbleiben, werden Sie in einen Skandal verwickelt sein, und ich bin sicher, Mr Rutledge wäre nicht sehr erfreut darüber.«

»Gewiss nicht.«

»Dann rufen Sie bitte sofort das Dienstmädchen zurück.«

»Dafür ist es leider zu spät. Wir werden warten müssen, bis sie mit dem Tee wiederkommt.«

Poppy stieß einen Seufzer aus. »Das ist in der Tat ein sehr unerfreulicher Morgen.« Sie blickte zu dem Frettchen hinüber und erbleichte. Unzählige winzige Stofffetzen und Büschel von Pferdehaar wirbelten durch die Luft. »Dodger, nein!«

»Was ist passiert?«, erkundigte sich der Fremde und folgte Poppy, die sich auf das im wahrsten Sinne des Wortes beschäftigte Frettchen stürzte.

»Er frisst Ihren Stuhl«, sagte sie niedergeschlagen und packte das Tier. »Oder besser gesagt, Mr Rutledges Stuhl. Wahrscheinlich wollte er sich ein Nest bauen. Es tut mir wirklich leid.« Sie starrte auf das klaffende Loch in dem üppigen, komfortablen Samtpolster. »Ich verspreche Ihnen, meine Familie wird in voller Höhe für den Schaden aufkommen.«

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte der Fremde. »In unserem Budget ist ein monatlicher Betrag für Reparaturen vorgesehen.«

Sie ging in die Hocke – kein leichtes Unterfangen für jemanden, der Korsettschnüre und steife Unterröcke trug – und versuchte, die Füllung in das Loch zurückzustopfen. »Wenn nötig, werde ich eine schriftliche Stellungnahme verfassen, die den Tathergang erklärt.«

»Was ist mit Ihrem Ruf?«, erkundigte sich der Fremde rücksichtsvoll und half ihr, wieder in die Senkrechte zu kommen.

»Mein Ruf bedeutet nichts verglichen mit dem Lebensunterhalt eines Mannes. Man könnte Sie wegen dieser Sache entlassen. Bestimmt haben Sie eine Familie zu versorgen, eine Frau und Kinder. Ich würde die Schande wohl überleben, wohingegen es Ihnen vielleicht nicht möglich ist, eine neue Stelle zu finden.«

»Das ist sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte er, nahm Poppy das Frettchen ab und setzte es wieder zurück auf den Stuhl. »Aber ich habe weder eine Familie noch kann ich entlassen werden.«

»Dodger«, rief Poppy besorgt, als erneut Polsterfetzen durch die Luft flogen. Das Frettchen amüsierte sich königlich, so viel war sicher.

»Der Stuhl ist ohnehin ruiniert. Lassen Sie ihm ruhig seinen Spaß.«

Poppy war erstaunt über die Gelassenheit, mit der der Unbekannte ein teures Exemplar der Hoteleinrichtung den Launen eines Frettchens überließ. »Sie«, meinte sie mit Nachdruck, »sind nicht wie die anderen Manager hier.«

»Und Sie sind nicht wie die anderen jungen Damen.«

Ein bitteres Lächeln spielte um ihren Mund. »Das höre ich leider nicht zum ersten Mal.«

Der Himmel hatte sich zugezogen, draußen war alles Grau in Grau. Schwerer Nieselregen fiel auf das mit Schotter bedeckte Straßenpflaster und drückte den beißenden Staub, den vorbeifahrende Fahrzeuge aufgewirbelt hatten, wieder zu Boden.

Vorsichtig, so dass niemand auf der Straße sie sehen konnte, trat Poppy an eines der Fenster und sah zu, wie die Fußgänger in alle vier Himmelsrichtungen davonliefen. Andere spannten ihre Regenschirme auf und gingen einfach weiter.

Straßenhändler bevölkerten die Durchgangsstraße und priesen ungeduldig und mit lautem Geschrei ihre Waren an. Verkauft wurde alles, was man sich nur vorstellen konnte: Zwiebelschnüre, paarweise zusammengebundene tote Wildvögel, Teekannen, Blumen, Streichhölzer, Lerchen und Nachtigallen in Käfigen. Letztere waren für die Hathaways insofern immer wieder ein Thema, als sich Beatrix der Rettung aller und sei es noch so kleiner Tiere verschrieben hatte, die ihr über den Weg liefen. Manch ein Vogel war von ihrem Schwager Mr Rohan schon widerwillig gekauft und auf seinem Landgut ausgesetzt worden. Bisweilen fluchte Rohan, er habe bereits die halbe Vogelfauna von Hampshire freigekauft.

Poppy wandte sich vom Fenster ab und sah zu ihm hinüber. Der Fremde stand gegen eines der Bücherregale gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er betrachtete sie nachdenklich, als wüsste er nicht genau, was er von ihr halten sollte. Trotz seiner entspannten Körperhaltung hatte Poppy das unangenehme Gefühl, dass er sie sofort schnappen würde, sollte sie auch nur versuchen sich aus dem Staub zu machen.

»Warum sind Sie eigentlich nicht verlobt?«, erkundigte er sich ohne Umschweife. »Sie sind doch gewiss schon zwei oder drei Jahre draußen in der Gesellschaft?«

»Drei«, antwortete Poppy und hatte sofort das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

«Ihre Familie ist sehr vermögend. Man würde annehmen, dass Sie eine großzügige Aussteuer haben. Ihr Bruder ist Viscount – ein weiterer Vorteil. Warum haben Sie nicht längst geheiratet?«

»Stellen Sie Leuten, die Sie eben erst kennengelernt haben, immer solche persönlichen Fragen?«, meinte Poppy erstaunt.

»Nicht immer. Sie aber finde ich … interessant.«

Sie dachte über die Frage nach, die er ihr gestellt hatte, und zuckte mit den Schultern. »Von all den Männern, die ich in den letzten drei Jahren kennengelernt habe, hat mir nicht ein einziger gefallen. Keiner war auch nur im Entferntesten ansprechend.«

»Und welche Sorte Mann würde Ihnen denn gefallen?«

»Jemand, mit dem ich ein ruhiges und ganz normales Leben führen könnte.«

»Die meisten jungen Frauen träumen von Leidenschaft und Romantik.«

Sie lächelte gequält. »Ich glaube, ich weiß das Alltägliche sehr zu schätzen.«

»Sind Sie schon einmal auf den Gedanken gekommen, dass London der falsche Ort für ein ruhiges, normales Leben sein könnte?«

»Gewiss. Nur bin ich nicht in der Lage, an den richtigen Stellen zu suchen.« Darauf hätte sie es beruhen lassen sollen. Es gab keinen Grund, noch weiter auszuholen. Doch eine von Poppys Schwächen war ihre Freude an der Konversation, und wie Dodger, wenn er eine Schublade mit Strumpfbändern vor der Nase hatte, konnte sie nicht widerstehen, sich hineinzustürzen. »Das Problem war, dass mein Bruder Lord Ramsay den Titel erbte.«

Der Fremde hob die Brauen. »Das war ein Pro-blem?«

»O ja«, sagte Poppy mit ernster Miene. »In meiner Familie war niemand darauf vorbereitet, wissen Sie. Wir waren entfernte Cousins und Cousinen des früheren Lord Ramsay. Der Titel traf Leo nur wegen einer Serie vorzeitiger Todesfälle. Die Hathaways hatten keine Ahnung von Etikette – wir wussten nichts über die Verhaltensweisen der Oberschicht. Wir waren glücklich in Primrose Place.«

Sie hielt inne, um in den tröstlichen Kindheitserinnerungen zu schwelgen: das freundliche reetgedeckte Cottage, der Blumengarten, in dem ihr Vater seine preisgekrönten Apothekerrosen pflegte, die beiden Belgischen Kaninchen mit den Schlappohren, die in einem Stall hinter dem Haus wohnten, die Bücherstapel in allen Ecken. Nun war das Cottage verfallen und der Garten lag brach.

»Aber es gibt kein Zurück im Leben, nicht wahr«, bemerkte sie nachdenklich. Sie beugte sich herunter, um einen Gegenstand auf einem der unteren Regalbretter zu betrachten. »Was ist denn das? Oh. Ein As-trolabium.« Sie hob eine mehrschichtige Messingscheibe mit eingravierten Ziffern und Zeichen und am Rand eingekerbten Bogengraden auf.

»Sie wissen, was ein Astrolabium ist?«, fragte der Mann und ging zu ihr hinüber.

»Ja, natürlich. Das Instrument wird von Astronomen und Navigatoren verwendet. Und von Astrologen.« Poppy untersuchte die winzige Himmelskarte auf einer der Scheiben. »Dieses ist aus Persien. Ich würde sagen, es dürfte ziemlich genau fünfhundert Jahre alt sein.«

»Fünfhundertundzwölf«, korrigierte er langsam.

Poppy konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. »Mein Vater war ein Kenner des Mittelalters. Er hatte eine ganze Sammlung von Astrolabien. Er hat mir sogar beigebracht, wie man sie selbst herstellen kann, aus Holz, Schnüren und einem Nagel.« Sie drehte vorsichtig an den Scheiben. »Welches ist Ihr Geburtsdatum?«

Der Fremde zögerte, als gebe er nicht gern persönliche Informationen über sich preis. »Der erste November.«

»Dann sind Sie im Zeichen des Skorpion geboren«, sagte sie und drehte das Astrolabium in der Hand herum.

»Sie glauben an Astrologie?«, fragte er mit einem Anflug von Hohn in der Stimme.

»Warum nicht?«

»Sie ist nicht wissenschaftlich fundiert.«

»Mein Vater hat mich immer dazu ermuntert, diesen Dingen gegenüber aufgeschlossen zu sein.« Sie fuhr mit einer Fingerspitze über die Himmelskarte und blickte mit einem verstohlenen Lächeln zu ihm hoch. »Skorpione sind ziemlich skrupellos, wissen Sie. Darum hat Artemis auch einen von ihnen gebeten, ihren Feind Orion zu töten. Und als Belohnung hat sie den Skorpion in den Himmel hinaufgesetzt.«

»Ich bin nicht skrupellos. Ich handle lediglich so, wie es meine Ziele erfordern.«

»Das finden Sie nicht skrupellos?«, meinte Poppy lachend.

»Das Wort impliziert Grausamkeit.«

»Und Sie sind nicht grausam?«

»Nur, wenn es nötig ist.«

Die Belustigung verschwand aus Poppys Gesicht. »Grausamkeit ist niemals nötig.«

»Sie haben noch nicht viel von der Welt gesehen, wenn Sie das glauben.«

Poppy beschloss, es darauf beruhen zu lassen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Gegenstände auf den oberen Regalbrettern zu betrachten. Sie entdeckte eine faszinierende Sammlung von kleinen Objekten aus Weißblech, die wie Kinderspielzeug aussahen. »Was ist das?«

»Automaten.«

»Wozu sind sie gut?«

Er griff hinauf, holte einen der bemalten Metallgegenstände herunter und reichte ihn ihr.

Poppy hielt den kleinen Apparat an seiner kreisförmigen Grundfläche fest und untersuchte ihn behutsam. Das Ding bestand aus einer Reihe winziger Rennpferde, von denen jedes seine eigene Spur hatte. An der einen Seite entdeckte Poppy das Ende einer Kordel. Sie zog vorsichtig daran. Das löste eine komplizierte Mechanik im Inneren des Automaten aus, und ein Schwungrad ließ die kleinen Pferdchen auf ihrer Spur im Kreis herumsausen, so dass es aussah, als rannten sie wirklich.

Poppy lachte vor Entzückung auf. »Wie originell! Ich wünschte, meine Schwester Beatrix könnte das sehen. Woher stammt es?«

»Mr Rutledge fertigt sie in seiner Freizeit an, zur Entspannung.«

»Darf ich noch eins sehen?« Poppy war wie verzaubert von den kleinen Objekten, die nicht so sehr Spielzeug als vielmehr winzige technische Meisterleistungen waren. Als da waren Admiral Nelson auf einem kleinen sturmgebeutelten Schiff, ein Affe, der auf einen Bananenbaum kletterte, eine Katze auf der Mäusejagd oder ein Löwenbändiger, der mit seiner Peitsche knallte, während der Löwe wiederholt den Kopf schüttelte.

Der Fremde schien Poppys Interesse zu genießen und zeigte ihr ein Gemälde an der Wand, ein Tableau, das Walzer tanzende Paare auf einem Ball darstellte. Vor Poppys erstaunten Augen schien die Szene zum Leben zu erwachen, Gentlemen führten ihre Partnerinnen mit geschmeidigen Bewegungen über die Tanzfläche. »Gütiger Himmel«, rief Poppy voller Staunen. »Wie ist das gemacht?«

»Ein Aufziehmechanismus.« Er nahm das Gemälde von der Wand und zeigte Poppy die hohle Rückseite. »Hier. Dieser Riemen verbindet den Mechanismus mit einem Schwungrad. Und die Nadeln betätigen diese Drahthebel … hier … und die aktivieren die anderen Hebel.«

»Bemerkenswert!« Vor lauter Begeisterung vergaß Poppy, dass sie eigentlich zurückhaltend und auf der Hut sein wollte. »Mr Rutledge ist zweifellos ein begabter Mechaniker. Das erinnert mich an eine Biografie, die ich kürzlich gelesen habe, über Roger Bacon, einen Franziskanerbruder aus dem Mittelalter. Mein Vater war ein großer Bewunderer seiner Werke. Bruder Bacon hat eine ganze Reihe mechanischer Experimente angestellt, was gewissen Leuten natürlich Anlass gab, ihn der Zauberei zu bezichtigen. Angeblich hat er einst einen mechanischen Bronzekopf geschaffen, der …« Poppy hielt abrupt inne, als sie sich ihres Mundwerks bewusstwurde. »Da sehen Sie. Genau das passiert mir immer bei Bällen oder Soireen. Das ist einer der Gründe, warum ich als Braut nicht begehrt bin.«

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Und ich dachte, gerade diese Anlässe begrüßen die Konversation.«

»Nicht meine Art der Konversation.«

Tock. Tock. Tock.

Sie wandten sich nach der Tür um. Das Dienstmädchen war zurückgekehrt.

»Ich muss gehen«, sagte Poppy nervös. »Meine Gesellschafterin wird sehr besorgt sein, wenn sie erwacht und ich bin nicht da.«

Der schwarzhaarige Fremde musterte sie aufmerksam, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. »Ich bin noch nicht ganz fertig mit Ihnen«, sagte er schließlich mit verblüffender Lässigkeit. So als würde ihm niemand je etwas abschlagen. Als plante er sie so lange bei sich zu behalten, wie er es wünschte.

Poppy holte tief Luft. »Ich werde trotzdem gehen«, sagte sie ruhig und ging zur Tür.

Er erreichte die Tür zeitgleich mit Poppy und hielt sie mit der flachen Hand zu.

Ein Schrecken durchfuhr sie. Sie wandte sich zu ihm um. Sie spürte ein rasendes, wildes Pochen in ihrer Kehle, an ihren Handgelenken und Kniekehlen. Er stand direkt vor ihr, viel zu nah, beinahe hätte sein großer, stählerner Körper sie berührt. Sie wich zurück an die Wand.

»Bevor Sie gehen«, sagte er mit sanfter Stimme, »gebe ich Ihnen noch einen Rat. Alleine durch das Hotel zu streifen ist für eine junge Frau nicht sicher. Gehen Sie nicht noch einmal so ein törichtes Risiko ein.«

Poppy erstarrte. »Aber das ist ein angesehenes Hotel«, entgegnete sie. »Ich habe nichts zu fürchten.«

»Und ob Sie das haben«, murmelte er. »Es steht direkt vor Ihnen.«

Und bevor sie überhaupt etwas denken, sich rühren oder auch nur Atem schöpfen konnte, beugte er sich zu ihr hinunter und verschloss ihren Mund mit dem seinen.

Poppy verharrte still, wie benommen unter dem zärtlichen, leidenschaftlichen Kuss, der so sanft und zugleich fordernd war, dass sich ihre Lippen unwillkürlich öffneten. Er nahm ihr Kinn sanft in beide Hände und hob ihr Gesicht dem seinen entgegen.

Einen Arm um ihre Taille geschlungen, zog er sie fest zu sich heran. Sein Körper fühlte sich hart und in jeder Hinsicht belebend an. Mit jedem Atemzug sog sie den verführerischen Duft nach Moschus und Bernstein, nach gestärktem Leinen und männlicher Haut ein. Eigentlich hätte sie sich wehren, sich aus seinem Griff befreien sollen … doch seine Lippen waren auf so sanfte Weise überzeugend und erotisch und vermittelten eine Botschaft, die irgendwo zwischen Gefahr und Verheißung lag. Sein Mund glitt hinab zu ihrer Kehle, suchte ihren Pulsschlag und wanderte weiter abwärts. Eine Empfindung legte sich über die nächste wie ein seidener Schleier, bis sie erschauderte und ihn von sich schob.

»Nein«, sagte sie mit schwacher Stimme.

Der Fremde packte sie behutsam am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Sie schwiegen. Poppy begegnete seinem prüfenden Blick, als sie plötzlich eine ratlose Feindseligkeit aufblitzen sah, so als hätte er soeben eine unerwünschte Entdeckung gemacht.

Vorsichtig gab er sie frei und öffnete die Tür. »Stellen Sie es auf den Tisch«, forderte er das Hausmädchen auf, das mit einem großen Silbertablett an der Türschwelle wartete.

Das Mädchen gehorchte flink, sie war zu gut ausgebildet, um sich auch nur das kleinste bisschen Neugier im Hinblick auf Poppys Anwesenheit anmerken zu lassen.

In der Zwischenzeit ging der Fremde das Frettchen holen, das auf dem Stuhl eingeschlafen war. Er überreichte Poppy das schläfrige Tierchen. Mit einem unverständlichen Murmeln nahm sie Dodger entgegen und bettete ihn in ihrer Armbeuge. Die Augen des Frettchens blieben verschlossen, die Lider unsichtbar tief in der schwarzen Maske versteckt, die es quer über dem Gesichtchen trug. Sie spürte das Klopfen seines winzigen Herzens unter ihren Fingerspitzen und den seidenweichen Bauchflaum des Tieres.

»Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir?«, fragte das Hausmädchen.

»Ja. Ich möchte, dass Sie die junge Dame hier zu ihrer Suite begleiten. Und geben Sie mir Nachricht, wenn sie wohlbehalten dorthin zurückgekehrt ist.«

»Jawohl, Mr Rutledge.«

Mr Rutledge?

Poppy wurde bange ums Herz. Sie blickte zurück zu dem Fremden. In seinen grünen Augen blitzte der Schalk. Er schien ihre unverhohlene Bestürzung zu genießen.

Harry Rutledge … der geheimnisvolle, zurückgezogene Hotelbesitzer. Der nicht annähernd so war, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.

Verwirrt und beschämt wandte sie sich ab. Sie trat über die Schwelle und hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloss und der Riegel sanft vorgeschoben wurde. Wie gemein von ihm, sich auf ihre Kosten so zu amüsieren! Sie tröstete sich mit der Gewissheit, dass sie ihn sicher nie wiedersehen würde.

Dann folgte sie dem Hausmädchen den Flur entlang zu ihrer Suite … ohne zu ahnen, dass ihr Leben soeben eine völlig neue Wendung genommen hatte.